eJournals lendemains 43/170-171

lendemains
0170-3803
2941-0843
Narr Verlag Tübingen
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2018
43170-171

Einleitung: Formen und Strategien des Gesellschaftsporträts in Literatur, TV, Radio und Internet – eine ‚panoramatische‘ Annäherung

2018
Robert Lukenda
ldm43170-1710145
145 Dossier Robert Lukenda / Lisa Zeller (ed.) Panoramen, Mosaike, Reihen und Serien - aktuelle Formen des Gesellschaftsporträts in Literatur, TV, Radio und Internet Robert Lukenda Einleitung: Formen und Strategien des Gesellschaftsporträts in Literatur, TV, Radio und Internet - eine ‚panoramatische‘ Annäherung 1. À la recherche du peuple… „Le pays ne se sent pas représenté“ (Rosanvallon 2014a: 10) - so lautet eine zumeist in politischen Kontexten gängige Diagnose, mit der heutzutage (nicht nur) in Frankreich gesellschaftliche Entwicklungen wie Politikverdrossenheit, Demokratiemüdigkeit und Ansehensverlust der etablierten Parteien begründet werden, die, so der Vorwurf, sich nur noch mit ihren Interessen beschäftigen und das Volk nicht mehr vertreten. Die französischen Debatten um die Repräsentation betreffen jedoch nicht nur Fragen der politischen Mandatsausübung und Stellvertretung des Volkes durch ihre Repräsentanten. Vielmehr offenbaren sie einen „malaise de la démocratie“ (Rosanvallon 1998: 9), der zugleich auch symbolischer Natur ist, zumal er auf grundlegende Figurationsprobleme moderner Demokratien verweist, sich in und zwischen den Polen der Einheit (le peuple, la nation) und jener Vielfalt zu verorten, die komplexe, individualisierte Gesellschaften charakterisiert. Die von Rosanvallon aufgeworfenen Fragen „Comment représenter une société d’individus? Comment en donner une image fidèle? “ (Rosanvallon 2014a: 15) sind in diesem Zusammenhang auch als narrative Herausforderungen zu verstehen: 1 In dieser Hinsicht geht es maßgeblich auch darum, den Zustand der heutigen Gesellschaft abzubilden und dabei jenes „peuple concret “ (ibid.: 17) in seiner konkreten lebensweltlichen Dimension sichtbar zu machen - ein Vorhaben, das schon im 19. Jahrhundert zu einem gesellschaftlichen „Selbstanalysefieber“ (cf. ibid.: 38) führte. Feuilletonromane, der realistische Gesellschafts- und Sittenroman, aber auch panoramatische Kollektivwerke entstanden, um den gesellschaftlichen Wandel der postrevolutionären Zeit zu beschreiben und nicht zuletzt auch jene sozialen und kulturellen Milieus zu erkunden, die bis dato kaum oder gar nicht literarisch erfasst waren. Fakt ist, dass sich seit geraumer Zeit die französische Literatur auf überaus unterschiedliche Weise mit der skizzierten Repräsentationsproblematik beschäftigt und 146 Dossier auf die Suche nach jenem in öffentlichen Debatten vielbeschworenen, omnipräsenten Volk begibt, das, so die These, in den gängigen politischen, medialen und auch wissenschaftlichen Diskursen zugleich omnipräsent und dennoch letztlich unauffindbar bleibe. 2 So zeugt etwa Éric Vuillards Erzählung vom Sturm auf die Bastille mit dem Titel 14 juillet (Vuillard 2016a) von einer neuen Aktualität historischer Repräsentations- und Figurationsbedürfnisse, die schon im 19. Jahrhundert Geschichtsschreiber wie Michelet bewegten und sich 1940 in Walter Benjamins Notizen zu seinem Aufsatz Über den Begriff der Geschichte ausdrückten: 3 Gemeint sind Repräsentationsformen, in denen jene ,namenlose‘ und stumme foule in den Mittelpunkt rückt, die selbst kaum schriftliche Zeugnisse hinterlassen hat und die sich gemeinhin unterhalb der Aufmerksamkeitsschwelle der traditionellen Historiographie befindet. In der aktuellen gesellschaftlichen Krise, in der, wie Vuillard in einem Interview erklärt, un peuple se cherche, où il apparaît sur certaines places de temps à autre, [il] m’a semblé que la littérature devait redonner vie à l’action, rendre l’événement à la foule et à ces hommes un visage, [et] raconter comment le peuple a surgi brusquement, et pour la première fois, sur la scène du monde (Vuillard 2016b). Die Kritik an der latenten Unsichtbarkeit der Massen in den Medien und Mechanismen der Repräsentation, wie sie Vuillard auf dem Feld der Historiographie, genauer gesagt in den Zeugnissen und Darstellungen der Französischen Revolution, konstatiert, lässt sich im Grunde jedoch auch auf den zeitgenössischen Literaturbetrieb selbst übertragen. Vor den Präsidentschaftswahlen von 2017 hat der selbst aus einfachen Verhältnissen stammende Autor Édouard Louis in einem Interview mit der SZ beklagt, dass die „Ausgeschlossenen“ der Gesellschaft heutzutage nicht nur von der Politik, sondern auch von der Literatur ignoriert würden: Als ich das ,Eddy‘-Manuskript [gemeint ist Louis’ autobiographischer Roman En finir avec Eddy Bellegueule (2014)] an einen berühmten Pariser Verleger schickte, antwortete der mir, er könne das nicht veröffentlichen, weil es die Welt, über die ich da schrieb, seit Émile Zolas ,Germinal‘ nicht mehr gebe. Niemand würde mir glauben. Und niemand würde das kaufen. Die Ausgeschlossenen kommen in Büchern und Filmen so wenig vor, dass dieser hochgebildete Mann reinen Herzens glaubte, dass es diese Menschen schlichtweg nicht gibt. Und diese sehen, dass der Prix Goncourt jedes Jahr an einen bourgeoisen Autor geht, der über die Probleme der Bourgeoisie schreibt. Also wissen sie, dass Literatur sie einfach nicht angeht (Louis/ Rühle 2017). Spiegelt der französische Literaturbetrieb also schlicht und einfach jene vermeintliche Arroganz gegenüber den sogenannten einfachen Franzosen, die man gemeinhin den nationalen Eliten unterstellt? Auch Annie Ernaux beklagt in ihrer Erzählung Regarde les lumières mon amour (2014) eine Ignoranz der Eliten des Landes, die sich an der fehlenden literarischen Präsenz emblematischer Orte moderner Gesellschaften wie etwa dem Supermarkt ablesen lasse (Ernaux 2014: 12) 4 - ein Repräsentationsdefizit, dem Ernaux selbst mit dieser Erzählung und den darin tagebuchartig festgehaltenen Einkaufserlebnissen in einem hypermarché begegnet. Obwohl 147 Dossier dieser seit etwa 40 Jahren zum festen Bestandteil der französischen Alltagskultur gehört, habe er, so Ernaux, erst in jüngster Zeit seinen Weg ins kulturelle und literarische Gedächtnis gefunden (ibid.: 10), wofür sie eine Reihe literaturhistorischer und sozialer Erklärungshypothesen anführt - z. B. eine traditionelle Vernachlässigung klassisch weiblicher Tätigkeiten in der Literatur sowie die Herkunft und den bürgerlich-lebensweltlichen Horizont der écrivains (ibid.: 43). 5 2. Neue Bemühungen um Repräsentation Ohne an dieser Stelle genauer auf die Rechtmäßigkeit dieser Kritik einzugehen, lassen sich die eingangs erwähnten Fragen nach den adäquaten Darstellungsweisen komplexer Gesellschaften wie erwähnt auch als eine Aufforderung an die Literatur Frankreichs verstehen, sich noch eingehender mit dem Zustand der Gesellschaft zu befassen, sich auf eine historische (Vuillard) wie zeitgenössische (Ernaux) Spurensuche des Volkes zu begeben sowie neue Schreibweisen und Formen zu finden, um neuen bzw. unbekannten Realitäten, die durch den sozialen und ökonomischen Wandel der letzten Jahrzehnte entstanden sind, einen literarischen Ausdruck zu verleihen (cf. Bon 2000: 7). Seit geraumer Zeit schon spricht man diesbezüglich von einem retour au réel (cf. Viart/ Vercier 2008) innerhalb der französischen Literatur, die sich nach der (post-) strukturalistischen Phase der 1960-1970er Jahre wieder zunehmend der außerliterarischen Wirklichkeit und sozialen Themen zuwendet. 6 Ihr Interesse an den Facetten des modernen Alltags, der Arbeitswelt, an randständigen Milieus, sozialen Zerfallserscheinungen bis hin zu Orten oder Nicht-Orten der Gesellschaft, ist dabei nicht ausschließlich bzw. vielfach nicht primär mimetischer, sondern vor allem auch epistemologischer Natur. Um die außerliterarische Wirklichkeit nicht nur möglichst genau zu beschreiben, sondern sie auch in ihrer Widersprüchlichkeit darzustellen und zu verstehen, setzen Schriftsteller_innen dabei seit längerem schon (und dies äußerst erfolgreich) auf Strategien der Pluralisierung und Hybridisierung von Schreibweisen, Gattungen und Erkenntnisansätzen - neue Repräsentationsformen im Zwischenbereich von Literatur und Sozialwissenschaften. 7 Die Einsicht, dass die Realität nicht einfach objektiv gegeben, sondern sprachlich - im weitesten Sinne medial - vermittelt ist, räumt dabei nicht zuletzt der écriture selbst eine exponierte Stellung ein (cf. Asholt 2013: 28). Dieser Umstand illustriert, dass die zeitgenössischen „écritures du réel “ (Viart/ Vercier 2008: 211) nicht einfach an die realistische Tradition des 19. Jahrhunderts anknüpfen, sondern auf einer kritischen Haltung gegenüber den Möglichkeiten und Risiken der literarischen Repräsentation aufbauen. 8 Erkennbar wird dies nicht zuletzt in den Texten Annie Ernaux’, in denen sich soziologisches Erkenntnisinteresse, autoreflexives Bewusstsein 9 und formale Experimentierfreudigkeit verbinden, wenn es darum geht, soziale Verhältnisse zu erkunden und zu repräsentieren. Hiervon zeugt, neben der erwähnten autobiographischen, soziologischethnologischen Feldstudie im Supermarkt, nicht zuletzt auch ihr Versuch einer „unpersönlichen“ (Ernaux 2008: 240) und kollektiven Autobiographie mit dem Titel 148 Dossier Les Années, in der die erzählerische Kohärenz traditioneller Lebensschilderungen radikal dekonstruiert wird. Anhand von Textfragmenten und Erinnerungsbruchstücken konstruiert Ernaux ein individuelles wie kollektives Porträt der französischen Nachkriegsgeneration, das durch sprachlichen Minimalismus - kurze, nüchterne und deskriptive Sätze - besticht und die Wirklichkeit als (lose) Sammlung von Momentaufnahmen des Sozialen sichtbar macht (cf. Olivier 2012). Die fragmentarische Form ist dabei im Wesentlichen Ausdruck einer Wahrnehmung wonach sich die Wirklichkeit aufgrund ihrer Kontingenz, Komplexität und Unabgeschlossenheit einer kohärenten, ganzheitlichen (und damit tendenziell romanesken) Erfassung weitgehend entziehe und daher exakter und umfassender in kleineren, seriellen und polyphonen Formen und Schreibweisen (Tagebücher, Kurzgeschichten, Essays etc.) erfasst werden könne. 10 Unverkennbar scheint in Les Années und in Regarde les lumières das Bemühen, kollektive Horizonte der Repräsentation zu erschließen: Durch die Entscheidung, das persönliche je weitgehend durch das unpersönliche elle, das kollektive nous sowie durch das Indefinitpronomen on zu ersetzen (Les Années) oder die Dimensionen des Ichs und des Wirs miteinander zu verschmelzen (Regarde les lumières), 11 rücken geteilte Wahrnehmungen der Zeitgeschichte in den Vordergrund der Texte. Wenn es stimmt, dass sich die zeitgenössische Literatur in Frankreich ausführlich mit den Krisensymptomen der Gesellschaft (cf. Blanckemann 2007: 227) - angefangen bei sozialen Zerfallserscheinungen, Flucht, Rassismus, der kolonialen Vergangenheit bis hin zu Terrorismus - beschäftigt und vielfach das Bild einer von sozialen, kulturellen und politischen Antagonismen bestimmte société en crise zeichnet, manifestiert sich hier neben der sozialepistemologischen zugleich eine engagierte Haltung und solidarische Dimension (cf. Viart 2015), in der es um Identifikation und sozialen Zusammenhalt geht. Wie das Beispiel von Ernaux’ Regarde les lumières zeigt, scheinen Schriftsteller_innen in Anbetracht der zeitgenössischen gesellschaftlichen Krise zunehmend bestrebt, den sozialen (und literarischen) Diskurs wieder näher an die Gesellschaft zu rücken. In den Fokus zeitgenössischer Repräsentationsbemühungen geraten dabei wieder Überlegungen zum sozialemanzipatorischen Potential von Literatur und écriture. Hiervon zeugen die Texte François Bons: in denen dieser Erfahrungen aus Schreibworkshops z.B. mit Häftlingen verarbeitet (Bon 1995, 1997) und, wie in Tous les mots sont adultes (Bon 2000) zu sehen, über Methoden nachdenkt, wie man marginalisierten Existenzen einen Weg aus der sprachlichen und damit auch sozialen Isolation weisen kann. Ziel dieses Engagements ist es, in jenen Milieus Repräsentationsarbeit zu leisten, in denen bisher buchstäblich die Worte fehlten; mit anderen Worten: Menschen aus schwierigen sozialen Verhältnissen soll dabei geholfen werden, ihre Erfahrungen zu artikulieren, um ihre Eindrücke in einen kulturellen und literarischen Horizont einzuschreiben, der den classes populaires bisher weitgehend verwehrt blieb. 12 149 Dossier 3. Repräsentation und Sinnstiftung: kollektive und serielle Formen des Gesellschaftsporträts Dieses narrative Engagement, das letztlich auch historische Anliegen des literarischen Realismus - die Erweiterung des sozialen Repräsentationsspektrums und eine Demokratisierung des Literaturbetriebes - aufgreift, illustriert die Einsicht, dass soziale (wie auch politische) Teilhabe auch erzählerisch erkämpft werden kann. 13 Die Zielsetzung, den Diskurs über die Gesellschaft in die Breite der Bevölkerung zu tragen und narrative Repräsentationsformen zu generieren, die der demokratischen Kultur in Frankreich vitalisierende Impulse verleihen, prägt das wohl größte zeitgenössische Erzählprojekt in Frankreich mit dem Namen Raconter la vie, das von 2013-2017 unter der Federführung Pierre Rosanvallons betrieben wurde (cf. Peretz in diesem Dossier). 14 Ziel des Projekts ist dabei die Ausarbeitung eines möglichst umfangreichen wie detaillierten erzählerischen Porträts der heutigen französischen Gesellschaft. Dieses entsteht unter Beteiligung der breiten Masse, die im Internet Erfahrungen aus dem sozialen Alltag beisteuert, zahlreiche microrécits liefert, die in der Summe den „roman vrai de la société d’aujourd’hui“ verkörpern, wie es bis vor kurzem noch auf der Internetseite des Projekts hieß. 15 Über den dokumentarischen Anspruch hinaus erhebt das Projekt dabei einen sinnstiftenden Anspruch, über das narrative Sichtbarmachen sozialer Erfahrungen Aufmerksamkeit, Gehör und eine Form des solidarischen Miteinanders zu begründen 16 und die Franzosen in einem fiktiven Parlement des invisibles (cf. Rosanvallon 2014a) zusammenzuführen. Das ‚wahre‘ Abbild der gesellschaftlichen Wirklichkeit entspringt hier, so die Logik, nicht mehr der Perspektive eines einzelnen Schriftstellers oder einem Kreis von Spezialisten. Durch seine potentielle Offenheit und den Rückgriff auf das vermeintlich demokratische Medium Internet als zeitgenössisches Medium der (Selbst-)Repräsentation avanciert es vielmehr zu einem kollektiven Unterfangen, das in seiner Stimmen- und Perspektivenvielfalt die französische Gesellschaft abbilden soll. 17 Ziel dieser Pluralisierungsbemühungen ist es, bestehende Repräsentationsmechanismen 18 zu hinterfragen und umzukehren: Letztlich geht es darum, ein diskursives Korrektiv zu abstrakten wissenschaftlichen Theorien oder massenmedialen Repräsentationen des Sozialen zu bilden, die, so Rosanvallon, allzu oft ein verzerrtes, stereotypes und plakatives Bild der Wirklichkeit zeichnen (cf. ibid.: 11). 19 In Anbetracht der konstatierten Spaltung(en) der französischen Gesellschaft und des omnipräsenten ‚Schreckgespensts‘ des communautarisme soll sich im „Parlament der Unsichtbaren“ erzählerisch zugleich auch das republikanische Ideal einer Gemeinschaft der Gleichen realisieren - der einen und unteilbaren Republik, die den allgemeinen Anspruch auf Integration und Teilhabe erfüllt. Man könnte in Raconter la vie diesbezüglich den Versuch sehen, einen historischen Antagonismus der französischen Kultur zu überwinden, den Rosanvallon am Beispiel der Diskussionen um die politische Repräsentation der Arbeiterbewegung im 19. Jahrhunderts ausmacht: „gesellschaftliche Vielfalt und staatsbürgerlichen Universalismus zugleich zu denken“ (Rosanvallon 2014b). 150 Dossier Während man der zeitgenössischen realistischen Literatur gemeinhin das Fehlen einer umfassenden, ja ‚totalen‘ Perspektive auf die Gesellschaft bescheinigt und im Verzicht auf Gesamtdarstellungen des Sozialen (im Stile Balzacs oder Zolas) die Abkehr von den realistischen ‚Illusionen‘ des 19. Jahrhunderts entdeckt (cf. Asholt 2013: 28), stehen jene in der Forschung bisher noch weitgehend unberücksichtigten Kollektivprojekte für den Anspruch auf eine signifikante Ausweitung der Betrachtungsperspektive. Diese zeugt von einer ‚Wiederkehr‘ spezifischer Formen der Repräsentation des Dix-neuvième: Die Frage, wie sich eine société en crise adäquat darstellen und analysieren lässt, führt zu einer Rückbesinnung auf die von Walter Benjamin als panoramatisch bezeichneten Kollektivwerke des 19. Jahrhunderts - allen voran auf die 1840-42 erschienenen neunbändigen Français peints par euxmêmes: Darin erstellte ein Heer von Schriftstellern - darunter etwa Balzac -, Journalisten, Wissenschaftlern und Karikaturisten anhand von über vierhundert Beschreibungen sozialer Typen ein, so das Ziel, vollständiges Porträt der postrevolutionären französischen Gesellschaft (cf. Peretz in diesem Dossier, Kap. 3). Vor Raconter la vie, das sich in seinem Anspruch auf eine umfassende (wenngleich nicht totale) Darstellung der gesellschaftlichen Wirklichkeit in Form von Erzählungen aus dem sozialen Alltag auf das Modell der Français beruft, beauftragte der Verlag La Découverte vierzig Autor_innen mit der Erstellung eines, wie im Begleittext der jeweiligen Bände vermerkt, „Porträts der Franzosen von heute“ (Les Français 2003- 2004). Obgleich sich das vierbändige Werk mit der Übernahme des Titels Les Français peints par eux-mêmes den sozialenzyklopädischen, polyphonen und zugleich feuilletonistischen Blick des Vorbilds auf das Soziale zu eigen macht, strebt es keine allumfassende Repräsentation sozialer Verhältnisse nach dem Muster der Français aus dem 19. Jahrhundert an. Vielmehr werden dort in Kurzgeschichten teilweise aus der Feder bekannter Schriftsteller wie Didier Daeninckx oder François Bon Kernbereiche der modernen Gesellschaft wie das Arbeitsleben, die politische Kultur bis hin zu sozialen Heterotopien anhand von Typenporträts wie dem syndicaliste bis hin zum naturiste dargestellt. 20 Mit ihrer arbeitsteiligen Produktionsweise, die verschiedene Schreibweisen, Stile und Wissenskulturen insbesondere von fiktionaler Literatur, Journalismus und sozialem témoignage vereint, macht sich dieses Kollektivwerk jene Sichtweise der panoramatischen Literatur des 19. Jahrhunderts zu eigen, wonach moderne komplexe und heterogene Gesellschaften in ihrer Gesamtheit kaum mehr von einem einzelnen Autor dechiffriert werden können. 21 Dass ‚panoramatische‘, kollektive Repräsentationsformen sozialer und kultureller Verhältnisse in den letzten Jahrzehnten in Frankreich wieder zunehmend gefragt sind, zeigt dabei ein Blick in die Geschichtswissenschaft: Man denke nur an Pierre Noras Studie Les lieux de mémoire (Nora 1984-1992), die als größtes historiographisches Projekt Frankreichs, unter der Beteiligung einer Vielzahl von Historikern, das kollektive Gedächtnis der Nation abbilden soll. Ablesbar ist diese Ausweitung der Perspektive zugleich bei einzelnen Autor_innen: Diese verzichten zwar auf den historisch überholten Anspruch, die Wirklichkeit 151 Dossier vollumfänglich zu durchdringen, 22 jedoch keineswegs darauf, Felder des gesellschaftlichen Lebens, kollektive Befindlichkeiten oder ein breites Spektrum an Figuren und Weltanschauungen sichtbar zu machen. 23 Heutzutage werden dabei vielfach Episoden, Momentaufnahmen und Bruchstücke zu einer - wie Schmidt für die Serien des sogenannten Quality-TV (cf. Schrader/ Winkler 2014), postuliert - „panoramatische[n] Gesamtbetrachtung eines bestimmten Milieus“, einem „additive[n] Gesellschaftsroman“ (Schmidt 2015), zusammengefügt. Mit seiner komplexen narrativen Struktur, die sich angefangen beim episodischen Aufbau, der diegetischen Ausdehnung bis hin zur Vielzahl an Figuren, Handlungssträngen und Digressionen an der zeitgenössisches TV-Serie orientiert, ist nicht zuletzt Despentes’ Romantrilogie Vernon Subutex (Despentes 2015-2017) ein Beleg für den auch im Land der cinéphilie wachsenden Stellenwert dieses Mediums (cf. Despentes/ Sulser 2017), das im Feuilleton oftmals als neuer zeitgenössischer Gesellschaftsroman Balzac’schen Formats gefeiert wird (cf. Kämmerlings 2010). 24 4. Panoramen, Mosaike, Reihen und Serien - aktuelle Formen des Gesellschaftsporträts in Literatur, TV, Radio und Internet: ein Dossier Die zu beobachtende fortschreitende Pluralisierung gesellschaftsdarstellender und -reflektierender Formen, in der kaum mehr ein Leitmedium der Repräsentation erkennbar scheint, bildet den Untersuchungsgegenstand des vorliegenden Dossiers. Ausgehend von der Frage, auf welche Weise heutzutage Bilder, Vorstellungen und Narrative des Sozialen generiert werden und welche narrativen, epistemologischen und medialen Strategien hierbei zum Einsatz kommen, geht es um eine analytische Bestandsaufnahme zeitgenössischer Formen und Strategien des Gesellschaftsporträts 25 in Literatur, TV, Radio und Internet. Zugrunde gelegt wird dabei eine deutschfranzösische Perspektive, die jedoch um weitere Beispiele aus anderen Kulturen ergänzt wird. Die Tatsache, dass die Darstellung einer sich wandelnden Arbeitswelt einen thematischen Schwerpunkt der zeitgenössischen écritures du réel bildet, nimmt Corinne Grenouillet zum Anlass, am Beispiel sogenannter narrations documentaires narrative und ästhetische Modi in der Repräsentation von „communautés de travailleurs“ zu analysieren. Pauline Peretz hingegen beleuchtet in ihrem Beitrag die oben angerissenen grundlegenden politischen und gesellschaftlichen Herausforderungen der Repräsentation von Gesellschaft in Frankreich, die zur Entstehung des kollektiven Erzählprojektes Raconter la vie geführt haben. Lisa Zeller und Hélène Breda wenden sich in ihren Beiträgen jeweils zeitgenössischen TV-Serien und ihrem sozialanalytischen Potential zu: Während Zeller eine Reihe paradigmatischer (Selbst-)Darstellungsformen untersucht, in denen individualisierte Gesellschaften ihre liens sociaux inszenieren, und dem Einfluss narrativer Muster moderner TV-Formate auf literarischem Terrain nachforscht, analysiert Breda Analogien zwischen erzählerischen und sozialen Strukturen in der Inszenierung von (Arbeits-)Gemeinschaften in ausgewählten US-amerikanischen Fernsehserien. Gesellschaftliche Repräsentationsformen in 152 Dossier Zusammenhang mit partizipatorischen Möglichkeiten insbesondere mittels digitaler Medien (Social Media) stehen im Fokus der Untersuchungen von Julien Bobineau und Ina Schenker. In seiner Analyse der deutsch-französischen ARTE-Serie About: Kate (2013) geht Bobineau der Frage nach, wie sich die cross- und multimedialen Erzählmodi der Serie auf das Porträt einer zeitgenössischen Gesellschaft auswirken. Schenker fokussiert sich auf moderne afrikanische Radioserien, mit denen - über partizipative Formen der Social Media - gesellschaftliche (Wunsch-)Bilder, soziale Normen und Verhaltensweisen vermittelt und hinterfragt werden und die zugleich konkrete Formen der Lebenshilfe bieten. Ergänzt wird das Panorama zeitgenössischer Formen des Gesellschaftsporträts durch einen weiteren Beitrag, der den deutsch-französischen Rahmen überschreitet und dabei sowohl von kulturspezifischen Besonderheiten als auch von der geschichtlichen Dynamik und Vielfalt des Untersuchungsgegenstands zeugt: den historischen Seitenblick auf kollektive Repräsentationen ethnischer und kultureller Minderheiten, den Judith Lindenberg am Beispiel autobiographischer Schreibwettbewerbe aus der jüdisch-polnischen Gemeinschaft zwischen den beiden Weltkriegen vornimmt. Ausgehend vom Thema der zeitgenössischen (politischen wie narrativen) Repräsentationsdebatten in Frankreich entwirft der vorliegende Beitrag ein Panorama aktueller Formen und Strategien der Wirklichkeits- und Gesellschaftsdarstellung. Im Vordergrund stehen dabei insbesondere Fragen nach den (paradigmatischen wie alternativen) narrativen, epistemologischen und medialen Strategien, mit denen Gesellschaften heutzutage repräsentiert werden. 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Vuillard, Éric, 14 juillet, Arles, Actes Sud, 2016a. —, „Le 14 juillet est l'instant où l'on a vu pour la première fois un peuple entrer sur la scène de l'Histoire“, France Culture, 05.09.2016, 2016b, https: / / www.franceculture.fr/ emissions/ pasodoble-le-grand-entretien-de-lactualite-culturelle/ eric-vuillard-le-14-juillet-est (letzter Aufruf am 09.01.2017). —, L’ordre du jour, Arles, Actes Sud, 2017. 1 Zur diesbezüglichen Repräsentationsdebatte, die insbesondere in Frankreich einen engen Zusammenhang zwischen den Dimensionen der (politischen) Vertretung und der (narrativen) Repräsentation/ Figuration von Gesellschaften herstellt, cf. insbesondere Rosanvallon (2014a bzw. 1998). 2 Cf. diesbezüglich Rosanvallon (1998). Schon Benedict Anderson (1983) weist darauf hin, dass mit dem Beginn der Moderne Gesellschaften bzw. Nationen nahezu nur noch als Abstraktionen im Sinne vorgestellter Gemeinschaften existieren. Jenes Paradox, wonach das Volk in den zeitgenössischen Medien überaus sichtbar, jedoch trotz oder gerade deshalb unsichtbar bleibt, beschreibt Didi-Huberman: „Die Völker wie die Menschen aus dem einfachen Volk sind exponiert. Im ,Medienzeitalter‘ hätte man gern, dass dieser Satz meint: Die Völker und die Menschen aus dem einfachen Volk sind heute füreinander sichtbarer denn je. Sind sie nicht Gegenstand aller möglichen Dokumentarfilme, aller Arten von Tourismus, sämtlicher Formen ökonomischer Märkte sowie aller möglichen Tele-Realitäten, die man sich vorstellen kann? Ebenso gern hätte man, dass dieser Satz bedeuten könnte, dass die Völker und die Menschen aus dem einfachen Volk dank des ,Siegs der Demokratien‘ heute besser ,repräsentiert‘ sind als früher. Es geht jedoch um nicht mehr und nicht weniger als das genaue Gegenteil davon: Die Völker wie die Menschen aus dem einfachen Volk sind eben gerade insofern exponiert, als sie in ihrer - politischen, ästhetischen - Repräsentation, ja allzu oft sogar in ihrer Existenz selbst bedroht sind. Sie sind stets der Gefahr ausgesetzt, zu verschwinden [exposés à disparaître].“ (Didi-Huberman 2017: 12, Hervorhebungen im Original). Für wertvolle Hinweise im Rahmen der nachfolgenden Ausführungen danke ich Dr. Lisa Zeller. 155 Dossier 3 „Schwerer ist es, das Gedächtnis der Namenlosen zu ehren als das der Berühmten, {Gefeierten, das der Dichter und Denker nicht ausgenommen. Dem Gedächtnis der Namenlosen ist die historische Konstruktion geweiht. …}“ (Benjamin 1990: 1241). 4 „Les femmes et les hommes politiques, les journalistes, les ,experts‘, tous ceux qui n’ont jamais mis les pieds dans un hypermarché ne connaissent pas la réalité sociale de la France d’aujourd’hui“. 5 Es ist in dieser Hinsicht durchaus bezeichnend, dass eine, wenn man sie so nennen möchte, literarische Außenseiterfigur wie Virginie Despentes, die in ihren Romanen Phänomene sozialer Randständigkeit, Prostitution, Pornographie und sexuelle Gewalt thematisiert, jüngst mit der Begründung in die Académie Goncourt gewählt wurde, sie „bringe etwas Neues in die Literatur ein“ (cf. Beuve-Méry 2016). 6 Die „Rückkehr des Realen“ gerät dabei auch in anderen nationalen Kontexten zunehmend in den Blick der Forschung. Cf. diesbezüglich etwa Conrad von Heydendorff 2017. 7 Viart/ Vercier zufolge handelt es sich um eine Literatur, die das Soziale auf eine Art und Weise thematisiert, die „moins romanesque, plus en prise sur les sciences humaines, plus ,interrogeante‘“ erscheint (Viart/ Vercier 2008: 212). Um die aktuelle Beliebtheit einer dokumentarischen Literatur zu ermessen, die zwischen Fiktion und Wirklichkeit, wissenschaftlicher Recherche und literarischer mise en forme/ œuvre oszilliert, reicht ein Blick auf die Literaturpreise von 2017: Während Éric Vuillards récit über den Aufstieg Hitlers, L’ordre du jour (Vuillard 2017), den Prix Goncourt erhielt, ging der Prix Renaudot an Olivier Guez und dessen Roman über das Leben des SS-Mediziner Mengele nach dem Holocaust (Guez 2017). 8 Cf. diesbezüglich die in den Begriffen des „réalisme paradoxal“ (Salgas 1997: 31) oder „réalisme subversif“ (Asholt 2013: 27) zusammengefasste Tendenz zur Problematisierung der écriture und kritischen Hinterfragung der dargestellten Wirklichkeit, was den Einfluss des strukturalistischen Erbes illustriert. 9 Abzulesen ist dies unter anderem an den zahlreichen Reflexionen zu écriture und Stil, so z. B. in La Place (Ernaux 1983: 21). 10 „Le principe du morcellement et du montage, celui de la variété (des tons, des figures, des voix, des modalités narratives) […] affiche combien la saisie kaléidoscopique est désormais la seule possible d’un monde privé de tout système d’intellection“ (Viart/ Vercier 2008: 231). Nach Ansicht Viarts gilt dies insbesondere für die (unmittelbare) literarische Erfassung einer absoluten Gegenwart (cf. Viart 2012b: 136). 11 „Pour ,raconter la vie‘, la nôtre, aujourd’hui, c’est donc sans hésiter que j ’ai choisi comme objet les hypermarchés“ (Ernaux 2014: 12; Hervorhebungen vom Vf.). 12 Seine Erzählungen C’était toute une vie (Bon 1995) sowie Prison (Bon 1997) enthalten Textfragmente, die von sozialen Randfiguren wie z. B. Häftlingen verfasst wurden. Bons Gedanken drehen sich letztlich darum, wie man den Marginalisierten der Gesellschaft zu einer Ausdrucksweise verhilft, die möglichst selbstbestimmt ist, das Spezifische der Lebenssituation zum Ausdruck bringt, letztlich aber doch verständlich ist. Schon Bourdieu hat in seiner Studie La misère du monde diesbezüglich von einem Dilemma gesprochen, das bei der textuellen Wiedergabe, z.B. durch die Transkription von Interviews, der paroles brutes entsteht: zwischen dem Willen, den discours möglichst unverfälscht wiederzugeben, und der Notwendigkeit, im Sinne der Lesbarkeit lexikale oder grammatikalische Eingriffe vorzunehmen (Bourdieu 1993: 920sqq.). In Anlehnung an Ernaux hat die écriture in diesem Zusammenhang (idealerweise) eine doppelte Funktion: Sie illustriert eine kulturelle Kluft, überwindet diese jedoch zugleich (cf. Ernaux 2011: 34). 13 Beispielhaft hierfür erwähnt Rosanvallon die Zeitschriften der Arbeiterbewegung und die chansons der poètes ouvriers des 19. Jahrhunderts (Rosanvallon 2014a: 38). 156 Dossier 14 Das Projekt wird mittlerweile unter Federführung der Gewerkschaft CFDT und unter dem Titel Raconter le travail fortgeführt (raconterletravail.fr, konsultiert am 08.01.2018). 15 raconterlavie.fr (letzter Aufruf am 08.04.2016). 16 Dieses gründet auf einem gesellschaftlichen „partage du sensible“ (Poirier 2014 in Anlehnung an Jacques Rancière). 17 Im Vorwort der Comédie humaine findet sich der Gedanke, dass der Autor des Romans der Gesellschaft letztlich diese selbst sei (cf. Balzac 1976: 11). 18 Die hohe Präsenz professioneller Autoren (Schriftsteller, Wissenschaftler, Journalisten) in der Buchreihe von Raconter la vie verdeutlicht in erster Linie bestehende Probleme und Mechanismen der Repräsentation - nicht zuletzt, wenn es um die exponierte Stellung der Intellektuellen geht. Sie zeugt dabei von der Schwierigkeit, jenseits der schreibenden bürgerlichen Mitte, die im Projekt überaus zahlreich vertreten ist, Mittel und Wege zu finden, auch jene vermeintlich unsichtbaren Personen und Milieus anzusprechen, die, wie Ernaux es formuliert, „continuent de vivre au-dessous de la littérature et dont on parle très peu“ (Ernaux, zit. nach Charpentier 2006). 19 Der Versuch, anhand von témoignages zum einen ein vermeintlich authentisches Bild der Wirklichkeit und zum anderen eine eindringliche, sinnstiftende Erzählung zu liefern, die eine Identifikation mit der Zeitgeschichte ermöglicht, hat in der jüngeren Gegenwart zu einer wahren medialen Hochkonjunktur an Alltagsformaten geführt. Hiervon zeugt - neben den zur Zeit international überaus populären 24h-Serienformaten (cf. Zeller Kap. 2f.) - der 2016 im französischen Kino gelaufene Dokumentarfilm Les Habitants, in dem der Regisseur Raymond Depardon mit einem Wohnwagen durch Frankreich fährt (Depardon 2016), um anhand von aufgezeichneten Gesprächen sogenannter normaler Bürger ein Porträt Frankreichs zu erstellen. Cf. in diesem Zusammenhang auch zahlreiche Formate der télérealité, so z. B. die in Frankreich gelaufene 8-teilige Serie Les Français (Delahousse 2016), die zehn Personen über mehrere Monate durch den Alltag begleitet. Zumeist geht es in diesen TV-Formaten darum, individuelle Strategien der Alltagsbewältigung sichtbar zu machen, in denen immer auch ein Spektrum geteilter Befindlichkeiten und Erfahrungen sichtbar wird, wodurch Raum für kollektive Identifikation entsteht. Durch die Montage eines heterogenen Mosaiks aus Figuren, Tagesabläufen und Alltagssituationen wird soziale Komplexität insbesondere in den erwähnten Serienformaten nicht nur nachgebildet, dekonstruiert und lesbar gemacht, sondern - nicht zuletzt auch durch die räumlich und zeitlich konzentrierte Diegese - auch jenes Bild der „vorgestellten Gemeinschaften“ (Anderson 1983) konkretisiert. 20 Historisch betrachtet erweist sich das von den panoramatischen Literaturen bediente Interesse an der „wahren“ Repräsentation der Gesellschaft als Begleitphänomen einer bürgerlichen Kultur: Neben durchaus vorhandenen enzyklopädischen und sozialreformerischen Ansprüchen geht es in diesen Werken vor allem darum, der bürgerlichen Gesellschaft einen Spiegel vorzuhalten, sie jedoch - ähnlich wie die Feuilletonromane eines Eugène Sue oder die Texte Zolas - auf eine Erkundungsreise in die Lebenswelt der basses classes mitzunehmen, die sie sonst nicht betreten würden. 21 Auffällig ist, dass man sowohl bei zeitgenössischen Projekten wie Raconter la vie wie auch im Kontext der panoramatischen Kollektivwerke des 19. Jahrhunderts ähnliche Begrifflichkeiten bemüht, indem man die Unübersichtlichkeit der modernen Gesellschaft beklagt, von sozialer Unlesbarkeit und Obskurität spricht, zugleich aber davon ausgeht, dass diese doch entschlüsselt und repräsentiert werden könne bzw. müsse, um ihrem Zerfall entgegenzuwirken. Sie sind in dieser Hinsicht wohl zuallererst Reaktionen auf soziale Alterität und Kontingenz. Das Typenmodell, dass die Français (2003-2004) von ihrem Vorgängermodell übernehmen, ist aufgrund der feuilletonistischen Ausrichtung zwar gewollt. Jedoch geht es 157 Dossier weniger um eine szientistische Klassifizierung sozialer Spezies, sondern um den Versuch, exemplarische Werdegänge und Lebenssituationen zu beschreiben. 22 Abzulesen ist dies unter anderem in Ernaux’ Text Les Années, in dem die Ich-Erzählerin die Idee, das eigene Leben im Stile eines „roman total“ (Ernaux 2008: 158) des 19. bzw. frühen 20. Jahrhunderts darzustellen, verwirft. 23 Cf. diesbezüglich Jonquets roman noir mit dem Titel Ils sont votre épouvante et vous êtes leur crainte, der mit seiner fragmentarischen, sprunghaften Erzählweise, die zwischen diversen Milieus, Handlungssträngen, Figuren und Wahrnehmungen oszilliert, ein weitgefasstes und kontrastreiches Porträt der banlieue präsentiert (Jonquet 2006). 24 Cf. hierzu Viart: „l’écriture collective du présent n’est pas faite par les historiens, encore moins par les littérateurs, mais […] elle s’effectue sur les écrans de télévision et aujourd’hui de l’ordinateur“ (Viart 2012a: 35). 25 Die Frage, was denn ein literarisches Gesellschaftsporträt ist, führt über den referentiellen Bezug zu Gesellschaft und Wirklichkeit, z. B. der Literatur, unweigerlich zum Balzac’schen Projekt der Comédie humaine zurück, neben einer umfassenden, totalen Darstellung zugleich ein Diagnoseinstrument, einen Schlüssel zum Verständnis des Sozialen zu bieten (cf. Jourdain 2016). Gerade auch mit Blick auf den letzten Punkt erweisen sich die zahlreichen Balzac-Vergleiche, mit denen Werke und Schriftsteller_innen immer wieder belegt werden, als wenig haltbar.