eJournals lendemains 43/170-171

lendemains
0170-3803
2941-0843
Narr Verlag Tübingen
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2018
43170-171

Francfort en français: Et la Belgique francophone?

2018
Karin Houscheid
Céline Letawe
ldm43170-1710095
95 Dossier Karin Houscheid / Céline Letawe Francfort en français: Et la Belgique francophone? Eine Sprache hat nicht nur ein Gesicht. Französisch wird nicht nur in Frankreich gesprochen, und französischsprachige Literatur wird auch in Ländern geschrieben, die in der Peripherie zum Zentrum Frankreich stehen. Auf der Frankfurter Buchmesse 2017 war Frankreich als Ehrengast eingeladen und hat sich zu diesem Anlass mit anderen französischsprachigen Ländern und Partnern wie der Schweiz, Luxemburg, Belgien und der Organisation Internationale de la Francophonie zusammengeschlossen, um ein Francfort en français und die Vielfalt der französischsprachigen Literaturen zu präsentieren. Auf dem Cover des Programmheftes wird lediglich von Frankreich als Ehrengast der Buchmesse gesprochen - und so ist auch in den Vorworten immer wieder vom „Ehrengastauftritt Frankreichs“ (Francfort en français 2017: 2, 4, 5, 6), den „deutschfranzösischen Beziehungen“ (ibid.: 2, 3) und dem „literarischen und verlegerischen Austausch zwischen Deutschland und Frankreich“ (ibid.: 6) die Rede. Gleichzeitig wird aber auch auf die Partnerschaft mit der Fédération Wallonie-Bruxelles, Pro Helvetia, dem Großherzogtum Luxemburg und der Organisation Internationale de la Francophonie hingewiesen (ibid.: 4, 5), die gemeinsam dazu beitragen sollen, „Francfort en français / Frankfurt auf Französisch zum internationalen Schaufenster der französischsprachigen Literatur in ihrer größten Vielfalt“ (ibid.: 2) werden zu lassen, denn die rund 180 eingeladenen Autoren „kommen aus der ganzen Welt, aber sie träumen, schreiben und signieren auf Französisch“ (ibid.: 5). Diese Aussagen der Organisatoren machen deutlich, dass es - wenngleich immer wieder die Rede von Frankreich als Ehrengast ist - dennoch auch darum geht, „den französischen Sprachraum und einige Schwerpunkte seines Facettenreichtums“ (ibid.: 3) zu würdigen, und dies in Zusammenarbeit mit den Partnern aus den verschiedenen Ländern. Dies wirft allerdings auch die Frage danach auf, wie und in welchem Maße die verschiedenen Partner im Rahmen des Ehrengastauftrittes vertreten sind. Dabei möchten wir uns in diesem Beitrag auf den Auftritt der Fédération Wallonie-Bruxelles konzentrieren und der Frage nachgehen, welche französischsprachige Literatur Belgiens in Frankfurt präsentiert wird und mit welchen Mitteln die Fédération Wallonie-Bruxelles ihre Literatur im Rahmen des Gastlandauftrittes einem internationalen Publikum zu vermitteln versucht. 1 Vorab einige Erläuterungen zum Föderalstaat Belgien und der Fédération Wallonie-Bruxelles. Belgien hat drei offizielle Landessprachen, nämlich Niederländisch, Französisch und Deutsch, und ist in Regionen und Gemeinschaften aufgeteilt, die jeweils unterschiedliche Befugnisse und Zuständigkeiten besitzen. Die Regionen (die Flämische Region, die Region Brüssel-Hauptstadt und die Wallonische Region) haben einen territorialen Bezug und sind somit weniger sprachlich oder kulturell als vielmehr geographisch verankert. Die Gemeinschaften (die Flämische Gemeinschaft, die Französische Gemeinschaft und die Deutschsprachige Gemeinschaft) 96 Dossier haben hingegen eine sprachliche Grundlage. In der Region Brüssel-Hauptstadt, die offiziell zweisprachig ist, üben somit sowohl die Flämische als auch die Französische Gemeinschaft Kompetenzen aus. Und während die Deutschsprachige Gemeinschaft zwar zur Wallonischen Region gehört, hat die Französische Gemeinschaft keine Befugnisse im deutschsprachigen Gebiet des Landes, das als eigenständige Gemeinschaft sein eigenes Parlament besitzt. Zu den Befugnissen und Zuständigkeiten, über die die Parlamente der Gemeinschaften befinden können, gehören vor allem solche, die in engem Zusammenhang mit dem Gebrauch der Nationalsprachen stehen: das Unterrichtswesen, die Forschung, die internationalen Beziehungen und natürlich die Kultur. 2 Die Französische Gemeinschaft wird seit 2011 Fédération Wallonie-Bruxelles genannt, wobei deutlich wird, dass sie eben auch das Gebiet Brüssel-Hauptstadt umfasst. Wenn im Folgenden das Adjektiv ‚wallonisch‘ gebraucht wird, dann ist damit das französischsprachige Gebiet Belgiens gemeint, das Brüssel ebenfalls umfasst. Der Text des belgischen Autors Xavier Hanotte, „Sur la place“, der sich in der auf der Frankfurter Buchmesse präsentierten Lesebox Lisez-vous le belge? befindet, ist in Zusammenhang mit der komplizierten sprachlichen Situation in Belgien besonders vielsagend. Er beschreibt die Verwirrung englischer Soldaten, als sie 1914 in der Stadt Mons ankommen: - Wo sind wir denn hier? […] - Na, in Frankreich eben … - Ach ja, bist du dir so sicher? […] - Was wird denn in Belgien gesprochen? […] - Ähm … Keine Ahnung. […] - Ist doch logisch: Belgisch natürlich! Nachdem der Offizier seinen Soldaten erklärt hat, sie seien im französischsprachigen Teil Belgiens, äußert sich ein kleiner Junge in wallonischem Dialekt, was wiederum den Offizier völlig verwirrt: „Mein Fehler, meine Herren … […] Wir sind bereits in Flandern.“ Diese kleine Geschichte bringt uns indirekt zur Frage nach der Identität der belgischen Literatur in französischer Sprache. 1. Die französischsprachige Literatur Belgiens als Peripherie zum Zentrum Frankreich In Histoire de la littérature belge. 1830-2000 wird die Frage zugespitzt formuliert: „[D]ans quelle mesure l’emploi du français détermine-t-il l’appartenance de cette littérature à l’espace culturel français? “ (Bertrand et al. 2003: 9). Diese Debatte sei für die Geschichte der belgischen Literatur konstitutiv. In dem Band wird zu jeder These („l’existence d’une littérature belge autonome“ versus „son appartenance au champ français“ [ibid.: 10]) eine Stellungnahme aus dem 19. Jahrhundert wiedergegeben, die die jeweilige Position sehr schön veranschaulicht: 97 Dossier dès 1866, on vit un fonctionnaire du ministère de l’Instruction publique plaider pour l’invention d’une „langue belge“, au motif „qu’il n’y a point de nation solidement établie sans langue nationale“ […]. À l’autre pôle de ce débat se trouvent ceux qui estiment que l’emploi du français signifie ipso facto que les lettres belges sont pleinement françaises. Affirmé dès 1845 par Hubert-Joseph Évrard, qui estimait que „les Belges qui écrivent en français […] font de la littérature française et point d’autre“ (ibid.: 9sq.). Noch heute sei es für französischsprachige Schriftsteller aus Belgien schwer, das Pariser Zentrum zu ignorieren: „il est difficile, sinon risqué, d’ignorer le centre parisien, qui continue dans une large mesure à réguler l’activité littéraire“ (ibid.: 15). Es bestehe eine Abhängigkeit, „une relation de dépendance, qui se marque à tous les niveaux de l’activité littéraire, des plus matériels (l’édition ou la diffusion) aux plus symboliques (la quête de légitimité ou la recherche de reconnaissance)“ (ibid.). Hier klingt die Polysystemtheorie von Itamar Even-Zohar an, ein funktionaler Ansatz, der auf der Analyse u. a. von literarischen Beziehungen gründet. Even-Zohar definiert das Polysystem als „a system of various systems which intersect with each other and partly overlap, using concurrently different options, yet functioning as one structured whole, whose members are interdependent“ (Even-Zohar 1990: 11). Die verschiedenen Systeme sind innerhalb des Polysystems hierarchisiert, mit mehreren Zentren und Peripherien, deren Positionen sich innerhalb des Polysystems im Laufe der Zeit auch verändern können. Even-Zohar betont mit Recht „the long traditional central position of French literature within the European context“ (ibid.: 50) und ihre seit Langem bestehende „establishedness“ (ibid.: 67). Im Gegensatz dazu kann die französischsprachige Literatur Belgiens zu der Peripherie, zu den „dependent systems“ gerechnet werden: „An external system [hier Frankreich] may be a major condition for the very existence and development of such a literary system“ (ibid.: 55). Auch Pascale Casanova zählt Belgien in ihrem Buch La République mondiale des Lettres zu den „dominés littéraires“, genauer zu den „contrées qui sont dominées non pas politiquement mais littérairement, à travers la langue et la culture“, zusammen mit der Schweiz und Österreich zum Beispiel (Casanova 2008: 129). Bevor der Frage nachgegangen wird, wie die französischsprachige Literatur Belgiens in Frankfurt präsentiert wird und mit welchen Mitteln die Fédération Wallonie- Bruxelles ihre Literatur zu vermitteln versucht, soll ein Blick auf die wallonische Presse geworfen werden, um zu zeigen, wie sie sich mit der Frankfurter Buchmesse 2017 auseinandergesetzt und welche Elemente sie thematisiert hat. 2. Der wallonische Pressespiegel zur Frankfurter Buchmesse 2017 Belgien war gleich zwei Jahre in Folge am Ehrengastauftritt der Frankfurter Buchmesse beteiligt. Im Jahr 2016 war Flandern zusammen mit den Niederlanden Ehrengast unter dem Motto „Dies ist, was wir teilen“, wobei Flandern als gleichgestellter Partner zu den Niederlanden aufgetreten ist. Die Resonanz in der belgischen Presse - auch in der französischsprachigen - war ziemlich groß. Im Vergleich dazu waren 98 Dossier die Reaktionen auf den Auftritt der Fédération Wallonie-Bruxelles bei Francfort en français ein Jahr später spärlicher. Während die deutschsprachige belgische Tageszeitung Grenz Echo 2016 noch an zwei Tagen auf jeweils einer halben Seite mit Fotos über den Ehrengastauftritt Flanderns mit den Niederlanden berichtet, erscheinen über den französischen Gastauftritt im Oktober 2017 nur kurze Randnotizen, bei denen es um die Visite der belgischen Königin im Ehrengastpavillon und um die Konfrontation zwischen linken Demonstranten und einem Verlag der Neuen Rechten geht. Fotos von der Buchmesse 2017 werden dort im Gegensatz zum Vorjahr nicht publiziert. Auch in der französischsprachigen belgischen Presse hält sich das Echo zur Frankfurter Buchmesse 2017 in Grenzen. Von den 34 untersuchten regionalen und überregionalen französischsprachigen Zeitungen und Zeitschriften veröffentlichen lediglich fünf (La Libre Belgique, Le Vif / L’Express, Paris Match Belgique, L’Avenir und La Dernière Heure) Artikel zu dem Ereignis. In der Tageszeitung Le Soir sowie in den Zeitungen der Gruppe Sud Presse sind keine Meldungen zu finden. In L’Avenir vom 04.10.2017 und in La Dernière Heure vom 21.10.2017 finden wir kurze Meldungen über den Besuch der belgischen Königin Mathilde auf der Buchmesse. La Dernière Heure berichtet zunächst über das Outfit der Königin, dann auch über ihr Treffen mit belgischen Autoren und Künstlern. Dabei wird ihr Besuch des Standes mit belgischer Kinder- und Jugendliteratur besonders hervorgehoben. Während es sich bei diesen beiden Texten in den belgischen Boulevardzeitungen L’Avenir und La Dernière Heure nur um Kurzmeldungen handelt, die eher der Imagebildung der Königin dienen als von literarischem Interesse zeugen, berichten die Zeitung La Libre Belgique und die Zeitschrift Le Vif / L’Express ausführlicher über die Buchmesse 2017. Alle Artikel sind jedoch erst im Anschluss an diese erschienen. So publiziert La Libre Belgique am 16. Oktober ein kurzes Portrait über den international bekannten Krimi-Autor Paul Colize, der auch auf der Buchmesse in Erscheinung getreten ist, verweist auf seine internationalen Erfolge und hebt hervor, dass sein Roman Back Up im Februar 2018 auch in englischer Sprache erscheinen wird. Die Journalistin Laurence Bertels schreibt als ‚envoyée spéciale‘ von La Libre Belgique am 17. Oktober einen Artikel mit dem Titel „Francfort, la loi du plus fort“, in dem die französische Verlegerin Valérie Miguel-Kraak über ihre Erfahrungen auf der Buchmesse zu Wort kommt. Dabei steht der Kontakt zu den Literaturagenten und Verlegern, die in Frankfurt Lizenzen kaufen und verkaufen möchten, im Mittelpunkt des Artikels. Miguel-Kraak berichtet über das geschäftige Treiben, das Rennen um die begehrtesten Lizenzen und die Höchstpreise, die diese erzielen können, so dass hier stets das „Recht des Stärkeren“ herrsche. Lediglich in einem Satz wird die Delegation aus 45 belgischen Verlagshäusern, dem Ministerpräsidenten Rudy Demotte, der Kulturministerin Alda Greoli und Königin Mathilde erwähnt. Ein weiterer Artikel dieser Journalistin erscheint am 18. Oktober in La Libre Belgique. In diesem geht es um die Sonderausstellung Struwwelpeter recoiffé im Frankfurter Struwwelpeter Museum, bei der frankophone Illustratoren die berühmte Figur ‚neu frisieren‘. An diesem Projekt beteiligten sich auch drei belgische Illustratoren, 99 Dossier nämlich Anne Brouillard, Kitty Crowther und Claude K. Dubois, die den Struwwelpeter, auf Französisch Crasse tignasse genannt, auf ihre Weise interpretierten. In dem Artikel erfahren die belgischen Leser mehr zur Geschichte der bekannten deutschen Kinderbuchfigur und darüber, wie die verschiedenen Illustratoren sie dargestellt haben. Anlässlich der Buchmesse erscheint in der belgischen Wochenzeitschrift Le Vif / L’Express vom 27. Oktober ein längerer Artikel von Ysaline Parisis. In diesem Beitrag dreht sich wieder alles um den Verkauf von Übersetzungslizenzen, für den die Frankfurter Buchmesse immer noch einer der wichtigsten Orte weltweit ist. Parisis begleitet die französische Autorin Annie Ernaux und ihre deutsche Verlegerin, Anna Schneider, auf der Buchmesse. In ihrem Beitrag geht es auch um Gespräche mit Verlegern, die über die steigenden Preise für Übersetzungslizenzen, den wachsenden Einfluss von Literaturagenten und die immer schwieriger werdende Platzierung literarischer Hochkaräter auf dem Markt berichten. Außerdem behauptet ein Verleger, dass Lizenzen von Werken, die für ausländische Verlage ‚zu französisch‘ seien, häufig abgelehnt würden, dass dies für ihn aber kein Grund für eine Ablehnung sein könne, denn genau diese Fremdheit würden verschiedene Leser sich gerade wünschen. Erst in den letzten beiden Abschnitten ihres Artikels schreibt Parisis über die belgischen Autoren, die auf der Frankfurter Buchmesse 2017 vertreten sind, und nennt an erster Stelle Jean-Philippe Toussaint, Paul Colize, Thomas Gunzig und Amélie Nothomb, vier Autoren, die bei französischen Verlagen veröffentlichen und bereits internationale Erfolge feiern. Schließlich werden auch die belgischen Illustratorinnen Kitty Crowther und Anne Brouillard erwähnt, die ebenfalls bereits international und vor allem auch in Deutschland bekannt sind. Amélie Nothomb, die Parisis als „une des rares écrivaines belges à bénéficier d’un passeport international aussi tamponné“ (Parisis 2017: 82) beschreibt, ist die einzige belgische Autorin, die in all den Zeitungs- und Zeitschriftenartikeln zu Wort kommt. So lässt sich für das Echo in der wallonischen Presse festhalten, dass primär über das allgemeine Treiben auf der Frankfurter Buchmesse berichtet wird: Die Journalisten schreiben über den Auftritt der belgischen Königin Mathilde, den Handel mit Übersetzungslizenzen und die wirtschaftliche sowie politische Bedeutung der Messe. Die dort vertretenen wallonischen Autoren werden, wenn überhaupt, nur am Rande erwähnt und nur dann, wenn sie bereits international anerkannte Größen sind. Offenbar wird hier die Idee internalisiert, die eigene Literatur werde erst dann relevant genug, wenn sie durch Übersetzung ‚geadelt‘ wird und sich im Ausland gut verkauft. 100 Dossier 3. Die französischsprachige Literatur Belgiens auf der Frankfurter Buchmesse 2017 Die Präsenz im Ehrengastpavillon Der Ehrengastpavillon, der die „große Vielfalt der französischsprachigen Schaffensarbeit“ (Ministère de la Culture et al. 2017: 12) widerspiegeln soll, ist wie eine große Bibliothek mit 23 Themenbereichen aus einer Art hölzernem Baugerüst aufgebaut. Insgesamt acht Bereiche, also etwa ein Drittel der Installationen, setzen sich mit Comics, Illustratoren und Kinder- und Jugendliteratur auseinander, wobei diese einzelnen Bereiche zusammen fast die Hälfte der im Ehrengastpavillon verfügbaren Quadratmeter einnehmen. Die französischsprachige Literatur Belgiens ist im Ehrengastpavillon an drei verschiedenen Stellen vertreten: in der Ausstellung zur aktuellen Comic-Szene, in der Ausstellung „Shapereader“ und im Rahmen des Projekts „Ping- Pong“. Die Ausstellung „Der französischsprachige Comic heute“ Comics gehören zum „canonized repertoire“ (Even-Zohar 1990: 16) der französischsprachigen Literatur Belgiens, zu deren „aggregate of laws and elements […] that govern the production of texts“ (ibid.: 17). Kein Wunder also, dass gerade dieses Genre ins Ausland exportiert wird. Dass dieser Erfolg nicht unbedingt den Transfer von anderen Genres beeinflusst, lässt sich mit einem der von Even-Zohar hervorgehobenen Interferenzprinzipien kommentieren: „Contacts may take place with only one part of the target literature“ (ibid.: 69). Die Ausstellung „Der französischsprachige Comic heute“ hat sich zum Ziel gesetzt, „die ganze Vielfalt französisch-belgischer Comics im 21. Jahrhundert zu präsentieren“ (Francfort en français 2017: 17), und konzentriert sich dabei auf die Comic- Produktion der letzten zwanzig Jahre. Der Kurator der Ausstellung, Thierry Groensteen, ein international anerkannter belgischer Comic-Theoretiker und -Historiker, hat dem Frankfurter Publikum auf etwa 300 Quadratmetern und in 7 thematischen Modulen „24 typische AutorInnen des Comics“ (Ministère de la Culture et al. 2017: 14) vorgestellt, die „ein reichhaltiges, modernes und repräsentatives Abbild von unterschiedlichen Genres und Verfahren aus der aktuellen französischsprachigen Produktion“ (Francfort en français 2017: 17) liefern sollen. Weiterführende Informationen befinden sich auf der Seite http: / / bdfra.fr, die die Ausstellung auf der Buchmesse ergänzt. Diese ist in drei Sprachen verfügbar: Französisch, Englisch und Deutsch. Direkt auf der ersten Seite ist in französischer Sprache die Rede von „La bande dessinée franco-belge: un formidable patrimoine“, auf englischer Sprache von „Franco-Belgian comics: an awesome heritage“, auf der deutschsprachigen Seite jedoch nur von „Der französischsprachige Comic: eine herausragende Kulturtradition“, so dass der Verweis auf die starke belgische Tradition der Comics - genau wie im offiziellen Titel der Ausstellung im Ehrengastpavillon - völlig verschwindet. 101 Dossier Im Rahmen dieser Ausstellung waren insgesamt vier zeitgenössische belgische Comic-Autoren zu sehen: David Vandermeulen, Eric Lambé sowie Valentine Gallardo und Mathilde Van Gheluwe, die hier als Duo präsentiert wurden. Groensteen verweist in seiner Ausstellung vor allem auf die von David Vandermeulen groß angelegte Biographie in sechs Bänden über den deutschen Chemiker Fritz Haber 3 sowie auf dessen Faust, den er gemeinsam mit dem Zeichner Ambre realisierte. In der Ausstellung sind Auszüge aus dem zweiten Band über Fritz Haber sowie aus der Bédéthèque des Savoirs zu sehen, einer enzyklopädischen Sammlung, die verschiedene Themen in Comic-Format didaktisch aufarbeitet. Ein weiteres ausgestelltes Werk ist der Comic Thomas Müntzer, La passion des Anabaptistes II über den gleichnamigen Theologen und Reformator, der gemeinsam mit Martin Luther die Landbevölkerung zur Auflehnung gegen die Kirche aufrief. Von Eric Lambé stellt Groensteen den Comic Paysage après la bataille vor, den Lambé neben drei anderen Werken in Zusammenarbeit mit dem Szenaristen Philippe de Pierpont veröffentlicht hat und der beim Festival in Angoulême als bestes Comic-Album des Jahres 2017 preisgekrönt wurde. Auszüge aus diesem Album sind in der Ausstellung zu sehen und machen deutlich, dass Lambé es hier weniger durch Worte als vielmehr durch seine atmosphärischen Zeichnungen vermag, „ein Universum zu schaffen, Stimmung, etwas, das sich nicht auf einen Punkt bringen lässt…“. 4 Der Comic-Auszug, der in Bezug auf Belgien wohl die meiste Aufmerksamkeit erregt, ist der aus dem Band Pendant que le loup n’y est pas der belgischen Illustratorinnen Valentine Gallardo und Mathilde Van Gheluwe. Beide sind im Belgien der 1990er Jahre aufgewachsen und haben, wie viele Kinder und Jugendliche in jener Zeit, zwar eine ganz normale Kindheit verlebt, die aber dennoch von den Verbrechen Marc Dutroux’ überschattet war. Und so erzählt der Comic, den die beiden Illustratorinnen gemeinsam gezeichnet haben, von den Mädchen Valentine und Mathilde, die in eben jener Zeit auf- und zu Erwachsenen heranwachsen. In dem Präsentationstext der Ausstellung, der den Auszug aus dem Comic begleitet, wird dieser zu den Werken gezählt, in denen die Figuren „mit schwerwiegenden Problemen konfrontiert [werden], mithilfe derer die Autoren versuchen, die Leser zum Nachdenken anzuregen oder Diskussionen mit ihren Eltern anzustoßen“. 5 So lässt sich festhalten, dass der Kurator Thierry Groensteen bei der Auswahl der belgischen Comic-Autoren, die repräsentativ für ihre nationale Comic-Kultur stehen sollen, sich einerseits mit David Vandermeulen für einen Autor entschieden hat, der in den ausgewählten Werken einen direkten Bezug zur deutschen Kultur und zu bekannten historischen Persönlichkeiten herstellt und somit direkte Berührungspunkte mit dem deutschen Publikum schafft. Andererseits setzt Groensteen mit der Wahl von Valentine Gallardo und Mathilde Van Gheluwe auf ein schreckliches Ereignis wie den Fall Dutroux, das für eine ganze Generation prägend war, durch das Belgien weltweit traurige Berühmtheit erlangt hat und mit negativen Klischees behaftet wurde. Es wird also deutlich an das bereits Bekannte und somit an eine bestimmte Erwartungshaltung der deutschen und internationalen Leserschaft angeknüpft, um Berührungs- und Bezugspunkte zwischen dem fremden Publikum und 102 Dossier den belgischen Autoren zu verdeutlichen und die Vermittlung der ausländischen Literatur zu erleichtern. Zudem wird mit Eric Lambé auf einen Autor hingewiesen, der gerade erst mit einem der wichtigsten Preise der Comic-Szene ausgezeichnet wurde und somit für die besondere Qualität der belgischen Comics und Alben steht. Die Ausstellung „Shapereader“ von Ilan Manouach „Shapereader“ ist ein experimentelles Projekt, das von dem belgischen Künstler Ilan Manouach ins Leben gerufen wurde. Manouach ist in Athen geboren, studierte aber in Brüssel und veröffentlicht seine meisten Bücher bei dem Brüsseler Verlag La Cinquième Couche. Das Projekt „Shapereader“ wurde für Menschen mit Sehbehinderung entwickelt, ist allerdings für alle zugänglich. Es geht darum, „eine Leseerfahrung durch Berührung“ zu ermöglichen: Mehrere Platten aus geschnitztem Holz sind in einem bestimmten Bereich des Ehrengast- Pavillons angeordnet. Jede dieser Platten ist in eine Vielzahl von quadratischen Feldern unterteilt, deren mit Laser eingravierten Motive eine genau definierte Bedeutung haben: Orte, Personen, Elemente, Handlungen und Gefühle werden auf diese Art und Weise durch ganz unterschiedliche Formen symbolisiert. Die Formen sind so konzipiert, dass sie leicht verständlich sind. Der Lesende berührt die verschiedenen Motive mit den Händen, und nach und nach öffnet das ‚Formenrepertoire‘ ihre/ seine Wahrnehmung und macht es auf diese Weise möglich, im Kopf eine Erzählung zusammenzufügen, Handlungen und Empfindungen zu verstehen, und schließlich eine Geschichte auf ganz andere Art zu lesen. Dieses Projekt wird von der Fédération Wallonie-Bruxelles unterstützt (Ministère de la Culture et al. 2017). Abb. 1: Auszug aus dem Comic Pendant que le loup n’y est pas von Valentine Gallardo und Mathilde Van Gheluwe, der in der Ausstellung „Der französischsprachige Comic heute“ im Ehrengastpavillon zu sehen war (© 2016 Atrabile) 103 Dossier Auf der Internetseite, die dem Projekt gewidmet ist (http: / / shapereader.org), erhält man weitere Informationen und kann sich konkreter vorstellen, worum es geht. Dort gibt es auch Fotos von der Installation, die in Frankfurt präsentiert wurde. Abb. 2: Foto der Installation „Shapereader“ im Ehrengastpavillon 2017, http: / / shapereader.org/ photos/ portfolios/ buchmesse (17.07.2018) Durch eine „tactile textuality“ wird hier Kritik an der Diskriminierung von Menschen mit Sehbehinderung in der bildenden Kunst geübt. Die Installation richtet sich nämlich an alle „Leser“, ob sehend oder nicht, und ungeachtet ihrer Herkunft, ihrer Sprache und ihres Bildungsniveaus. Als „ever expanding repertoire“ (Manouach 2018) entwickelt sich das Projekt seit 2013 international (hier seien nur die Ausstellungen, Workshops und Präsentationen in New York, Jerusalem, Wien, Angoulême, Athen, Tel Aviv, S-o Paulo und Dubai erwähnt) und wurde auch schon in vielen Zeitungen und Zeitschriften rezensiert (vom New York Magazine über El País bis hin zu World Literature Today). Das Projekt „Ping-Pong“ Bei dem Projekt „Ping-Pong“ sollen Zeichner aus Frankreich, der Schweiz, Belgien und Deutschland die Frankfurter Buchmesse und die dazugehörigen Ereignisse skizzieren. Diese Comics werden in den Monaten vor Beginn der Buchmesse wöchentlich auf die Homepage www.francfort2017.com gestellt und im Digitalatelier des Pavillons präsentiert. In ebendiesem Atelier können die Besucher der Messe auch ausgewählten Autoren dabei zusehen, „wie sie die Buchmesse und den Ehrengastauftritt Frankfurt auf Französisch in Bilder fassen“ (Francfort en français 2017: 19). Diese Comics werden auf der Homepage immer auf Französisch, Deutsch und Englisch veröffentlicht. Insgesamt waren 21 Illustratoren und Zeichner an diesem Projekt beteiligt, davon zwei belgische Comic-Autoren: Romain Renard und Nicolas Wouters. Diese haben sich in ihren Comics für das „Ping-Pong“-Projekt allerdings nicht mit den Ereignissen NMY# Dossier &+(0# +H# 0'/ # =&%(@D+&6/ &# K+-.H/ "/ # %+,/ '(%(0/ &A/ ,/ 6>6C# ,*(0/ &(# ,'-.# 0%>+# / (6B ,-.'/ 0/ (C# / '(/ #)*HH%A/ # %(# / '(/ (# F/ 4A',-./ (#]'-.6/ &# >+# ,-.&/ 'F/ (# V^/ (%&0[# +(0# %+D#0'/ #%@6+/ 44/ #+(0#'(6/ &(%6'*(%4#R'/ 4#0',@+6'/ &6/ #9'6+%6'*(#'(#K&c"/ 4#(%-.#0/ (#k/ &B &*&%(,-.4EA/ (#R*H#LL<#dE&>#LMNZ#%+DH/ &@,%H#>+#H%-./ (#Va*+6/ &,[<# JH#LZ<#9/ : 6/ HF/ &#LMNO#7+&0/ #'H#^%.H/ (#0/ ,#TG'(ABG*(AUBG&*f/ @6,#0/ &#2*H'-# R*(# ^*H%'(# ^/ (%&0# H'6# 0/ H# k'6/ 4# T)*HH%A/ # v#{H'4/ # Q/ &.%/ &/ ( 1 k&'F+6# %(#{H'4/ # Q/ &.%/ &/ (U# R/ &? DD/ (64'-.6<# {H'4/ # J0*4: ./ # ; +,6%R/ # Q/ &.%/ &/ (# 7%&# / '(# D4EH',-./ &# J+6*&#VN`""BN! 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All dies ist vergangen, nur ein paar in Stein gravierte Zitate seiner Gedichte, die schon zu Verhaerens Lebzeiten den Wald schmückten, haben die Zeit überdauert. Und schließlich wird auch Verhaerens Gedicht „Autour de ma maison“ von dem Comic-Autor Renard illustriert und somit in die Gegenwart getragen. Die Übersetzung von Zweig wird in der deutschen Version von Renards Comic in seiner Gänze zitiert, während Renard in der französischen Originalversion einige Passagen, nämlich insgesamt 14 Verse, gestrichen hat. Die düsteren Zeichnungen in Tusche, die hier weniger detailliert sind als für Renard typisch, sind sehr atmosphärisch. Sie erinnern an diejenigen, die seine Fangemeinde aus der multimedial angelegten Comic-Reihe Melvile kennt, die bereits in deutscher Übersetzung vorliegt. Durch diese multimediale Erweiterung der fiktiven Realität des Comics durch Musik, Videos und Hintergrundinformationen kann Renard all seine Talente als Autor, Illustrator und Musiker miteinander in einer Welt verbinden, und der Leser kann Melvile nicht nur literarisch, sondern auch auf interaktive Art erkunden. 6 Zudem können die Fans über die Homepage und die Facebook-Seite zum Comic die Geschichten aktiv mitgestalten. Der zweite wallonische Comic-Autor, der im Rahmen des „Pong-Pong“-Projektes vorgestellt wurde, ist Nicolas Wouters. Sein Comic „Terre d’un jeune homme / Land eines jungen Mannes“ wurde am 10. Oktober veröffentlicht. In seinem kurzen Comic erzählt Nicolas Wouters über das Leben im Europaviertel, nahe der U-Bahn-Station Maelbeek, in der am 22. März 2016 ein terroristisches Attentat verübt wurde. Der Erzähler berichtet darüber, wie sehr es ihn schmerzt, wie Fremde seitdem über das Viertel reden, in dem er lebt. Das Leben in dem Viertel entspreche nicht den Vorstellungen dieser Menschen, denn hier, zwischen Büros und Luxusappartements, lebten die meisten Menschen nur so lange, wie sie dies beruflich müssten. Und wenn er von der Metro-Station spricht, die er jeden Tag nutzt, werde seinen Gesprächspartnern immer unwohl. Unweit dieser Station gibt es einen Park, der nicht beim Namen genannt wird, bei dem es sich aber wahrscheinlich um den Brüsseler Jubelpark, den Parc du Cinquantenaire, handelt. Die Menschen, die dort flanieren, scheinen verloren, und der Ort ist nicht zum Verweilen angelegt. Hundert Meter von diesem Park entfernt befindet sich das Haus des Erzählers, sein Lebensmittelpunkt. Er verweist auf das Werk Terres des hommes von Saint-Exupéry, in dem es darum geht, wie der Mensch sich die Erde und ihr Land zu Eigen macht. In seinem Haus und seinem Garten schafft der Erzähler sich seine eigene heile Welt, in der er allerlei hinter seinen Vorhängen durchlebt hat und von der niemand etwas weiß, auch nicht seine Nachbarn, die es ihm gleichtun. Wouters erzählt von der Einsamkeit und der Anonymität der Menschen in der Großstadt inmitten des geschäftigen, internationalen Trubels. Jeder lebt für sich zurückgezogen in seiner eigenen, heilen Welt, in der auch terroristische Anschläge dem einzelnen Menschen (scheinbar) nichts anhaben können. Auf den Bildern, die das Viertel und den Park abbilden, sind nur wenige Menschen zu sehen: Schulkinder, patrouillierende Soldaten, ein Mann auf einer Parkbank. Sonst ist kein Mensch zu sehen. Der Comic zeigt Skizzen des U-Bahn-Plans, des 106 Dossier Viertels, des Parks, Ansichten von und aus dem Haus, in dem der Erzähler wohnt. Am Ende blicken wir auf den Erzähler, der - dem Leser abgewandt - einsam und wie leblos in seinem Bett liegt. Die wenigen Personen, die zu sehen sind, kehren dem Betrachter den Rücken zu und bleiben anonym. Wouters hat seine Werke Les pieds dans le béton (2013) und Totem (2016) zusammen mit dem Berliner Comic-Zeichner Mikaël Ross realisiert, sie sind ebenfalls in deutscher Übersetzung erhältlich. Somit lässt sich für das Projekt „Ping-Pong“ festhalten, dass auf junge wallonische Comic-Autoren gesetzt wurde, deren Werke bereits in deutscher Übersetzung verfügbar und einem deutschen Publikum bereits bekannt sind. Wouters und Renard nutzen die Frankfurter Plattform schließlich, um einen belgischen Dichter zu ehren und auf die besondere Situation in Brüssel nach den Terroranschlägen aufmerksam zu machen. Mit Hilfe dieses Projektes können die beiden Comic-Autoren ein noch größeres Publikum erreichen. Zudem verhilft ihnen die englische Übersetzung auf der Homepage möglicherweise international zu einer größeren Resonanz und erleichtert den Verkauf von Übersetzungslizenzen. Denn beide Autoren setzen auf Berührungspunkte mit einem deutschen bzw. internationalen Publikum: Renard durch den Verweis auf Stefan Zweig und Wouters mit dem Verweis auf die Terroranschläge von Brüssel, die die Stadt und vor allem das Viertel Molenbeek in aller Munde gebracht haben, egal welche Sprache sie auch sprechen mögen. So hat man wie bei der Auswahl der belgischen Autoren für die Comic-Ausstellung im Ehrengastpavillon auch bei der Auswahl der Comic-Autoren für das Projekt „Ping- Pong“ den Eindruck, dass im Wesentlichen schon bereits Bekanntes präsentiert wird. Dies trifft auch auf die eingeladenen wallonischen Autoren zu, wie im Folgenden gezeigt wird. Abb. 4: Auszug aus dem Comic „Terre d’un jeune homme / Land eines jungen Mannes“ von Nicolas Wouters, gezeichnet für das Projekt „Ping-Pong“ der Frankfurter Buchmesse, www.francfort2017.com/ #! / page/ de/ ping-pong.html (17.07.2018) 107 Dossier Die eingeladenen wallonischen Autoren Der Index der anwesenden französischsprachigen Autoren im Programmheft zur Buchmesse umfasst insgesamt 177 Namen und ist in folgende Kategorien aufgeteilt: Comic-Literatur, Kinder- und Jugendbuch, Literatur, SHS / Sach- und Fachbuch, Theater / Drama. Von den 177 Autoren sind neun aus dem französischsprachigen Belgien, darunter vier Autoren der Kinder- und Jugendliteratur (Anne Brouillard, Kitty Crowther, Claude K. Dubois, Eva Kavian), ein Comic-Autor (David Vandermeulen), ein Theater-Szenarist (Thomas Depryck) sowie die Schriftsteller-Größen Thomas Gunzig, Amélie Nothomb und Jean-Philippe Toussaint, der 1985 mit der Veröffentlichung von La Salle de bain beim französischen Verlag Éditions de Minuit direkt zum Exportschlager geworden ist: „Soixante mille exemplaires vendus, des traductions presque immédiates en une dizaine de langues, un engouement certain pour l’auteur […] un phénomène littéraire“ (Bertrand et al. 2003: 513). 7 Sein jetziger Erfolg in Deutschland wird unter anderem daran deutlich, dass seine Romantetralogie MMMM , die die vier Romane Faire l’Amour / Sich lieben, Fuir / Fliehen, La vérité sur Marie / Die Wahrheit über Marie und Nue / Nackt enthält, schon Ende August 2017 auf Deutsch (Frankfurter Verlagsanstalt) erschienen ist, noch bevor sie am 12. Oktober (gerade noch pünktlich zur Frankfurter Buchmesse) auf Französisch veröffentlicht wurde. Im Dossier von Wallonie-Bruxelles International ( WBI) , einer Agentur, die sich um internationale Beziehungen bemüht, wird angemerkt: „L’invitation a été adressée à des auteurs traduits en langue allemande et ayant ‚une actualité littéraire‘“ (Fédération Wallonie-Bruxelles 2017: 10). Alle Autoren waren im Rahmen der Buchmesse an verschiedenen Veranstaltungen wie Workshops, Gesprächen, Lesungen und Signierstunden in und um Frankfurt beteiligt, bei denen sie mit der deutschen und internationalen Leserschaft in Kontakt treten konnten und ihnen eine gewisse Aufmerksamkeit zuteil wurde. Auffällig ist, dass es sich bei diesen offiziell eingeladenen Autoren um solche handelt, die bereits einen internationalen Erfolg verzeichnen können und auch dem deutschsprachigen Publikum bereits bekannt sind. Zudem publizieren sieben der neun Autoren primär in französischen Verlagen (lediglich Depryck und Kavian stellen Ausnahmen dar: Sie publizieren nur oder primär in belgischen Verlagen). Amélie Nothomb durfte auf der Gutenberg-Druckerpresse, die im Ehrengastpavillon aufgestellt war, die ersten Seiten ihres letzten Werks drucken und führte ein Gespräch mit dem deutsch-französischen Kultursender ARTE . Auf der Homepage des Senders, über die man das Gespräch mit Nothomb auch noch zu einem späteren Zeitpunkt nachsehen konnte, wird darauf hingewiesen, dass es sich bei ihr um eine „belgische Bestsellerautorin“ ( ARTE 11.10.2017) handelt. Während des ARTE -Gesprächs mit Jean-Philippe Toussaint wurde hingegen mit keinem Wort erwähnt, dass es sich bei ihm um einen belgischen Autor handelt. Zu diesem Phänomen allgemein kommentiert Marijke Arijs, Kritikerin im Standaard der letteren und Übersetzerin von Amélie Nothomb ins Niederländische: „quand des auteurs belges percent en France, ils deviennent pratiquement français“ (Arijs 2010: 16). 108 Dossier Interessant ist festzustellen, dass Toussaint im Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 08.10.2017, in dem sich 18 Seiten mit der französischen Literatur befassen, fast eine ganze Seite gewidmet wird, gleichberechtigt neben französischen Schriftstellern wie Michel Houellebecq, Gaël Faye, Françoise Sagan und Catherine Millet (Maak 2017). In einer Partizipialgruppe wird nebenbei zwar erwähnt, dass Toussaint in Brüssel geboren ist, aber sein Werk wird explizit als Teil „der französischen Literatur“ betrachtet. Das Bild, das am Anfang des Artikels von ihm entworfen wird, soll an die sehr deutschen Rückenfiguren Caspar David Friedrichs erinnern, wobei Toussaint allerdings nicht auf Rügen, sondern auf Korsika steht: Er habe „die Position des gelassenen, die Welt gewissermaßen von einem korsischen Felskarst aus betrachtenden, umwerfend freundlichen Beobachters gewählt“. Der Schriftsteller erzählt von Korsika, wo er sich einen Teil des Jahres aufhält, und zeigt Fotos, auf denen Frau und Kinder vor einem alten Renault 4 posieren. Für den deutschen Leser wird hier eine typisch französische Familie evoziert. Diesbezüglich ist auch der Eintrag zu Jean-Philippe Toussaints Auftritt auf der Buchmesse interessant, der in der deutschen Version seiner eigenen Homepage wie folgt angekündigt wird: Francfort en français - Jean-Philippe Toussaint auf der Frankfurter Buchmesse: Jean-Philippe Toussaint gehört zu den Autoren, die auf der Frankfurter Buchmesse (11. bis 15. Oktober 2017) anwesend sein und dort die Literatur des Ehrengastlandes Frankreich repräsentieren werden. Am 13. Oktober ist er um 14 Uhr am Arte-Stand zu Gast (www.jptoussaint. com/ allemagne.html, letzter Aufruf am 26.09.2018). Toussaint soll auch laut der eigenen Webseite die Literatur Frankreichs repräsentieren. Dass er Belgier ist, wird hier mit keinem Wort erwähnt. Dies lässt vermuten, dass belgische Autoren, die bei französischen Verlagen und in französischer Sprache publizieren, primär als französische Autoren im Ausland wahrgenommen werden (möchten). Über ihre belgische Herkunft scheint man erst einmal hinwegzusehen, solange sie nicht auch inhaltlich in ihren Werken thematisiert wird oder an ein ‚typisch belgisches‘ Genre wie den Comic - bei dem mit der Nationalität auch an eine gewisse Tradition und Qualität angeknüpft wird - gebunden ist. Der kollektive Messestand Belgique-Wallonie-Bruxelles ADEB und die Lesebox Lisez-vous le belge? Der Messestand Belgique-Wallonie-Bruxelles ADEB (Association des Editeurs belges) ist eine Kollektivausstellung französischsprachiger Verleger aus Belgien mit ca. dreißig Verlagen. Auffällig zahlreich sind dabei die Verlage, die sich explizit an ein junges Publikum richten (À pas de loups, Alice Jeunesse, Kate’Art Editions, Versant Sud Jeunesse) bzw. edukative Zwecke verfolgen (Acrodacrolivres, Fondation Maurice Carême, Plurilingua, De Boeck Education und De Boeck Supérieur). Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang die Präsenz von zwei Universitätsverlagen (Presses Universitaires Louvain und Éditions de l’Université de Bruxelles). Dazu 109 Dossier kommen viele Verlage, die sich auf ‚non-fiction‘ spezialisieren, u. a. mit Büchern zur Geschichte oder Kunst (La Lettre Volée, Mardaga, Mols, Prisme, Racine). Im Vergleich dazu gibt es nur wenige Verlage, die sich auf ‚fiction‘ konzentrieren (hauptsächlich Espace Nord und Les Impressions Nouvelles). Besonders präsent auf dem Stand ist Moulinsart Éditions, die Bücher für Erwachsene und Kinder mit Bezug auf den weltberühmten Tintin (alias Tim und Struppi) vermarkten. Zusätzlich zu dem kollektiven Messestand gibt es noch ca. zehn weitere Verlage, die sich individuell auf eigenen Ständen präsentieren. Es handelt sich dabei jedoch fast nur um Verlage, die Comics und Kinderliteratur publizieren (Éditions Dupuis, Casterman, Hemma, IMPS , Langue au Chat, Lombard, Mijade, Caramel, Pastel / L’école des loisirs). Auf dem kollektiven Messestand wurde auch die zweisprachige Lesebox Lisezvous le belge? (französisch-deutsch) ausgestellt. Es handelt sich dabei um eine von zwei Leseboxen, die 2017 veröffentlicht worden sind - Französisch-Deutsch in 1 000 Exemplaren und Französisch-Englisch in 2 000 Exemplaren. Vorgestellt wurde die französisch-deutsche Lesebox zum ersten Mal am 27. September 2017 in Berlin, auf dem Empfang, den Alexander Homann kurz nach seinem Amtsantritt als Vertreter der Deutschsprachigen Gemeinschaft Belgiens, der Wallonischen Region und der Fédération Wallonie-Bruxelles organisiert hat. Einer breiteren Öffentlichkeit bzw. den ausländischen Verlagsvertretern wurde sie dann auf der Frankfurter Buchmesse präsentiert. Die Lesebox wurde von der Fédération Wallonie-Bruxelles und Wallonie- Bruxelles International, zusammen mit Passa Porta, dem internationalen Haus für Literatur in Brüssel, ins Leben gerufen. In der Präsentationsmappe des WBI wird der Zweck der zweisprachigen Box wie folgt erklärt: Die Lesebox „vise à faire découvrir à un public international, notamment aux professionnels du livre, un échantillon de nos talents graphiques et littéraires“ (Fédération Wallonie-Bruxelles et al. 2017: 17). Die ganze Auswahl (also nicht „majoritairement“, wie es in der Präsentationsmappe irrtümlicherweise heißt [ibid.: 17]) wurde innerhalb der Texte getroffen, die jedes Jahr für das Festival „La Fureur de lire“ selegiert wurden, ein Projekt, das das Lesen im französischsprachigen Belgien fördern soll. Im Rahmen dieses fünftägigen Festivals erscheinen nämlich seit 1997 fünf bzw. sechs sogenannte plaquettes von kurzen und meist unveröffentlichten Texten in mehr als 20 000 Exemplaren, die kostenlos in Bibliotheken, Buchläden und Schulen verteilt werden. Bei diesen plaquettes handelt es sich um kleine Hefte im Lesezeichen-Format, die nicht nur als solches dienen, sondern tatsächlich gelesen werden können. Dies erfolgt in Zusammenarbeit mit der AGERS (Administration générale de l’Enseignement et de la Recherche scientifique) und hängt also eng mit dem Bildungswesen zusammen. Die Auswahl für die Vermarktung im Ausland wurde somit innerhalb einer bereits bestehenden Auswahl getroffen, die ursprünglich zum Ziel hatte, das Lesen bei den französischsprachigen Belgiern zu fördern. Vielsagend ist aber die Entwicklung des Layouts, von den „Fureur de Lire“-Texten zur Lesebox Lisez-vous le belge? : Die kindlich gezeichnete Figur, die auf den ursprünglichen plaquettes unter einem Regenschirm ein Buch liest, wird durch L’introuvable des belgischen Surrealisten Marcel Mariën 110 Dossier (1937) ersetzt: einer Brille aus nur einem Glas. Somit wird auch auf eine der Bewegungen verwiesen, die als typisch für die belgische Literatur gelten. Abb. 5: Links eine sogenannte plaquette im Lesezeichenformat des Festivals „La Fureur de lire“, rechts das Cover eines Heftes aus der Lesebox Lisez-vous le belge? Der Schuber, in dem sich die einzelnen Heftchen befinden, trägt Farben, die an die belgische Flagge erinnern sollen: schwarz, gold (statt gelb), rot, wobei die goldene Farbe für die unterschiedlichen Cover der Hefte verwendet wird, was das Ganze edel wirken lässt. Abb. 6: Die Lesebox Lisez-vous le belge? in den Farben schwarz, rot und gold (Foto: C. Letawe) 111 Dossier Alle Texte werden hier zum ersten Mal auf Deutsch veröffentlicht, übersetzt von einem einzigen Übersetzer, Frank Weigand, der auf der Buchmesse anwesend war (u. a. für eine Performance mit Fabien Cloutier „Theatertexte übersetzen: Lost in Translation“, die am 12. Oktober im Pavillon stattfand) und am 25. November 2017 im Rahmen des Festivals „Primeurs“ für frankophone Dramatik den PRIMEURS - Übersetzerpreis erhalten hat. Interessant ist es dabei zu fragen, welches Bild von der französischsprachigen Literatur Belgiens durch die hier getroffene Auswahl vermittelt wird. Man könnte erwarten, dass hier vielleicht an die fünf Bewegungen bzw. Gattungen angeknüpft wird, die oft als typisch für die belgische Literatur gelten: symbolisme, surréalisme, réalisme magique, fantastique, bande dessinée. 8 Aber das ist nicht der Fall. Die Lesebox enthält insgesamt dreißig einzelne kleine Hefte, von denen achtzehn Kurzgeschichten 9 enthalten, neun Kinderliteratur, 10 zwei Comics 11 und eins Gedichte von zehn unterschiedlichen Lyrikern. 12 Insgesamt werden somit vierzig Autoren vorgestellt (und nicht dreißig, wie auf der WBI -Webseite angekündigt wird [Fédération Wallonie-Bruxelles et al. 2017: 17]). Die Texte sind alle in einem Zeitraum von zwanzig Jahren (1997 bis 2017) entstanden, was dem Bestehen der „Fureur de lire“-plaquettes entspricht. Bestimmte Kriterien zur Auswahl der Autoren für die Lesebox lassen sich herausarbeiten. 13 Es wurden nur Autoren gewählt, die im Jahr 2017 noch leben und schreiben. Auf der Rückseite des Covers stehen immer weitere Titel, die meistens 2016 oder 2017 erschienen sind, und jedenfalls nicht früher als 2008 veröffentlicht wurden. Zudem wurden meistens Autoren gewählt, die Preise bekommen haben (zehn der zweiundzwanzig Prosaautoren haben zum Beispiel den Prix Rossel, den sogenannten ‚belgischen Goncourt‘, und/ oder den Prix Rossel des jeunes bekommen, fünf haben den Prix Marcel Thiry erhalten) oder anders ausgezeichnet wurden (sechs sind Mitglied der Académie royale de langue et de littérature françaises de Belgique). Manche Literaturpreise werden auch auf der Rückseite des Covers genannt. Darüber hinaus wurden Autoren ausgesucht, deren Werk noch nicht ins Deutsche übersetzt wurde (Elisa Brune, Paul Colize, Diane Meur, Thomas Gunzig und Jean Bofane stellen in dieser Hinsicht Ausnahmen dar) - im Gegensatz zu den Autoren, die tatsächlich auf der Buchmesse präsent waren. Nur vier von den auf der Buchmesse anwesenden Autoren befinden sich auch in der Lesebox (Paul Colize, Thomas Gunzig, Eva Kavian und Diane Meur). Das Alter der Autoren ist sehr unterschiedlich, von vierunddreißig (Noémie Marsilly, die 1983 geboren wurde) bis achtundsiebzig (Claude Raucy, der 1939 geboren wurde), aber mehr als die Hälfte der Prosaautoren ist in den 1960er bzw. 1970er Jahren geboren. Zwei Fünftel der in der Box vertretenen Autoren sind Frauen (zwölf von dreißig); ein Autor ist türkischer, einer kongolesischer und einer französischer Herkunft. Auch die Auswahl der Texte folgt erkennbaren Kriterien. Die Handlungen von sieben Texten lassen sich explizit in Belgien verorten (Ancion, Lamarche, Lambert, Hanotte, Brune, De Decker, Kavian). Es handelt sich hierbei um Beispiele von dem, 112 Dossier was José Domingues de Almeida „exil interne“ nennt (im Gegensatz zum „exil externe“, nach Frankreich): „mouvement de retour au pays que semblent amorcer les écrivains belges contemporains, davantage enclins à évoquer la réalité intérieure belge et […] à placer tout le cadre de leurs romans en Belgique“ (Almeida 1991: 157). Von diesen sieben Texten enthalten einige auch zahlreiche als belgisch markierte Realia bzw. Toponyme, die in der Übersetzung fast immer beibehalten werden (franc-Münzen, Station de métro Arts-Loi,…). Dies führt für den ausländischen Leser zu einer gewissen Verfremdung, vor der sich die Initiatoren der Lesebox offensichtlich nicht scheuen. Zwei Texte befassen sich mit Alzheimer (Seron, Damas) und einer mit Trisomie 21 (Hoex), mehrere beschäftigen sich allgemein mit dem Anderssein bzw. dem Anderswo. Fünf Texte lassen auch Figuren auftreten, die aus der Immigration stammen (Emmanuel, Meur, De Decker, Bofane, Munoz). Das Phänomen des Alterns und die Sehnsucht nach der Kindheit sind sehr präsent. Nur zwei Autoren experimentieren wirklich mit der Form: Emmanuel, indem er seinen vierseitigen Text „L’invitation“ in einem einzigen Satz schreibt, und Görgun, indem er für „Limite période dépassée“ keine einzige konjugierte Verbform verwendet. Der Text von Ancion „Le chien brun et la fleur jaune de Chine“ steht in der Tradition des magischen Realismus, und es gibt zwei Märchen: Während Norac mit „Merwan, le prince du vent“ ein modernes Märchen schreibt, bietet Rogier mit „Trois malins petits cochons“ eine moderne Version eines traditionellen Märchens. Es gibt zwar schon einige Anthologien der französischsprachigen Literatur Belgiens, aber keine mit so jungen Autoren und so aktuellen Texten. Der Titel von Marc Quaghebeurs Anthologie de la littérature française de Belgique. Entre réel et surréel (2006) verweist schon auf „une période révolue de notre littérature - entre la fin de la première guerre mondiale et le début des années 1970, où nombre d’auteurs d’ici se voulaient plus français que nature et rusaient de diverses façons à seule fin, au fond, de pratiquer le déni de soi“ (Robert 2006). In ihrer Anthologie C’est trop beau! trop! , Cinquante écrivains belges (2015) schließt Pascale Toussaint die Autoren aus, die nach 1945 geboren wurden. Die anderen Anthologien werden von anderen Einschränkungen geprägt: Die Anthologie de littérature francophone de Belgique von Klinkenberg (1994, 2012) enthält nur Texte aus der Kollektion Espace Nord (es handle sich um „la carte de visite d’une autre anthologie plus vaste, qui porte le nom d’Espace Nord“, zum Anlass ihres 10-jährigen Bestehens). Die Auswahl deckt die Zeit von 1830 „bis heute“ ab, aber der jüngste Autor ist dabei Jean-Philippe Toussaint, 1957 geboren. Das Buch Manuel et anthologie de littérature belge à l’usage des classes terminales de l’enseignement secondaire von Paul Aron und Françoise Chatelain (2008) hat eine explizit pädagogische Ausrichtung. Ähnlich die Anthologie von René Godenne, Nouvelles belges à l’usage de tous (Espace Nord 2009), die sich auch explizit an Schüler und Studenten wendet und zu der Vincent Engel in seiner Einführung schreibt: „il y a un aspect qui justifie pleinement cette anthologie, et cet aspect est pédagogique“ (Godenne 2009: 8). Diese Anthologie enthält auch nur Kurzgeschichten, „un choix de textes complets qui permettent de présenter des 113 Dossier univers eux aussi complets et donnent ainsi une idée plus juste de l’œuvre de l’écrivain“ (im Gegensatz zu Romanauszügen). 4. Eine verpasste Chance für die französischsprachige Literatur Belgiens? Die spezielle Position der französischsprachigen Literatur Belgiens als Peripherie zum Zentrum Frankreich macht die Frage nach der Präsenz und Sichtbarkeit ihrer Literatur im Rahmen von Francfort en français bei der Buchmesse 2017 besonders interessant. Dass diese Präsenz kaum Resonanz in der wallonischen Presse gefunden hat, muss festgehalten und bedauert werden. Statt die Gelegenheit zu nutzen, im Rahmen des Gastauftrittes den Zeitungslesern wallonische Autoren zu präsentieren und ihnen ihre Werke näherzubringen, berichten die Journalisten über den Auftritt der belgischen Königin und das allgemeine geschäftige Treiben auf der Buchmesse. Literarisches Interesse zeigen die Zeitungen kaum, was wiederum die Frage aufwirft, ob Kultur- und vor allem Literaturvermittlung im Feuilleton der (wallonischen) Tageszeitungen an Raum, Relevanz und Visibilität verliert - eine Frage die hier nicht beantwortet werden kann, aber weiter zu erforschen ist. Vor Ort sichtbar waren auf wallonischer Seite vor allem die Comics, was nicht verwundert, da sie zum „canonized repertoire“ der französischsprachigen Literatur Belgiens gehören. Sichtbar waren sie zum einen direkt im Ehrengastpavillon, in einer von einem belgischen Kurator geschaffenen Ausstellung, die sich mit dem französisch-belgischen Comic befasste und u. a. vier französischsprachige belgische Comic-Autoren vorstellte. Sichtbar waren sie zum anderen auch in dem Projekt „Ping-Pong“, an dem sich zwei französischsprachige belgische Comic-Zeichner beteiligten, die schließlich die Gelegenheit nutzten, mit ihrer Kunst auf Ereignisse oder Personen hinzuweisen, die konkret an Belgien gebunden sind. Eine zweite Gattung, die auf wallonischer Seite stark repräsentiert war, ist die Kinder- und Jugendliteratur: Beim kollektiven Messestand waren die Verlage, die sich explizit an ein junges Publikum richten, auffällig zahlreich. Zusätzlich zu dem kollektiven Messestand gab es noch ca. zehn weitere Verlage, die auf Comics und Kinderliteratur spezialisiert sind. Diese Gattungen waren auch am stärksten durch die anwesenden Autoren aus dem französischsprachigen Belgien vertreten: Von den neun Autoren vor Ort waren vier aus der Kinder- und Jugendliteratur und ein Comic- Autor (also mehr als die Hälfte). Zu den anwesenden Autoren zählten sonst auch die Schriftsteller-Größen Thomas Gunzig, Amélie Nothomb und Jean-Philippe Toussaint, die alle drei bereits international erfolgreich und ins Deutsche übersetzt sind, primär in französischen Verlagen veröffentlichen und eigentlich selten als Belgier vorgestellt werden. Ganz im Gegensatz dazu steht die Auswahl der zweisprachigen Lesebox, die viele preisgekrönte Autoren enthält, von denen aber noch keiner ins Deutsche übersetzt wurde. Durch L’introuvable des belgischen Surrealisten Marcel Mariën wird auf dem Cover auf eine als typisch belgisch geltende Bewegung verwiesen, aber die Lesebox soll vor allem junge Autoren mit aktuellen Texten an ein fremdsprachiges Publikum annähern. 114 Dossier So lässt sich abschließend festhalten, dass bei der (Selbst-)Präsentation französischsprachiger Literatur aus Belgien primär auf bereits Bekanntes und Bewährtes gesetzt wurde, um Berührungspunkte mit dem deutschen und internationalen Publikum zu schaffen und der (vermeintlichen) Erwartungshaltung der Leser - und somit auch dem Markt - zu entsprechen. Belgien wird nicht nur als das Land der Comics präsentiert, sondern es werden auch Ereignisse thematisiert, die Belgien und das Bild Belgiens im Ausland maßgeblich geprägt haben, wie der Fall Dutroux oder die Terroranschläge von Brüssel. Lediglich mit der Lesebox Lisez-vous le belge? wurde ein zaghafter Versuch unternommen, die Bandbreite der französischsprachigen Literatur Belgiens zu präsentieren und die Plattform der Frankfurter Buchmesse zu nutzen, um ein anderes Bild des Landes zu zeigen. Es ist allerdings schwierig (und zu früh), um ihren Einfluss auf den Verkauf von Lizenzen nach Deutschland oder in andere Länder einschätzen zu können. Almeida, José Domingues de, „Littérature belge de langue française: aux limites d’une spécificité“, in: Intercambio. Nucleo de estudos franceses da universidade do Porto, 157, 1991, http: / / ler.letras.up.pt/ uploads/ ficheiros/ 5597.pdf (letzter Aufruf am 17.07.2018). Arijs, Marijke, „Le succès se vit à Paris ou Amsterdam“, in: Le Soir, 01.12.2010, 16. Aron, Paul / Chatelain, Françoise, Manuel et anthologie de littérature belge à l’usage des classes terminales de l’enseignement secondaire, Bruxelles, Le Cri, 2008. ARTE, „Live von der Frankfurter Buchmesse“, https: / / info.arte.tv/ de/ live-von-der-frankfurterbuchmesse (publiziert am 11.10.2017, letzter Aufruf am 17.07.2018). Belgischer föderaler öffentlicher Dienst, „Über Belgien“, https: / / belgium.be (letzter Aufruf am 17.07.2018). Bertels, Laurence, „Recoiffer Struwwelpeter“, in: La Libre Belgique, 18.10.2017, 32. —, „Francfort, la loi du plus fort“, in: La Libre Belgique, 17.10.2017, 50. —, „L’Entretien“, in: La Libre Belgique, 16.10.2017, 2. Bertrand, Jean-Pierre / Biron, Michel / Denis, Benoît / Grutman, Rainier (ed.), Histoire de la littérature belge. 1830-2000, Paris, Fayard, 2003. Blancart-Cassou, Jacqueline, La littérature belge de langue française: Au-delà du réel…, Paris, L’Harmattan, 1995. Casanova, Pascale, La République mondiale des Lettres, préface inédite, édition revue et corrigée, Paris, Points, 2008. Even-Zohar, Itamar, Polysystem Studies, Durham, NC, Duke University Press, 1990 (= Poetics Today 11: 1). Fédération Wallonie-Bruxelles / Wallonie-Bruxelles International, „La Foire du livre de Francfort. Edition 2017 du 10 au 15 octobre. Editeurs et auteurs de la Fédération Wallonie-Bruxelles à l’honneur à ‚Francfort en français‘. Dossier“, http: / / wbi.be/ fr/ news/ news-item/ wallonie-bruxellesfoire-du-livre-francfort#.WvrokWiFPIU (letzter Aufruf am 17.07.2018). —, Lisez-vous le Belge? , Bruxelles, Sabam, 2017. Francfort en français (Fef) (ed.), Programm(e), Veröffentlichung von Frankreich, Ehrengast der Frankfurter Buchmesse 2017, https: / / buchcontact.de/ wp-content/ uploads/ 2017/ 08/ Programm_ DE_Francfort-en-fran%C3%A7ais.pdf (publiziert 2017, letzter Aufruf am 30.11.2018). Godenne, René, Nouvelles belges à l’usage de tous, Bruxelles, Espace Nord, 2009. Klinkenberg, Jean-Marie, Anthologie de littérature francophone de Belgique, Bruxelles, Espace Nord, 1994, 2012. 115 Dossier La Cité Internationale de la Bande Dessinée et de l’Image, „Der französischsprachige Comic von heute“, http: / / bdfra.fr (letzter Aufruf am 17.07.2018). Maak, Niklas, „Das leise Genie“, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 08.10.2017, 46. Manouach, Ilan, „Shapereader“, http: / / shapereader.org (letzter Aufruf am 17.07.2018). Ministère de la Culture/ Institut français/ Frankfurter Buchmesse (ed.), „Francfort en français. France invitée d’honneur de la Foire du livre de Francfort 2017 / Frankfurt auf Französisch. Frankreich Ehrengast der Frankfurter Buchmesse 2017. Pressedossier“, https: / / buchcontact. de/ wp-content/ uploads/ 2017/ 08/ Presse-Dossier_Francfort-en-français.pdf (publiziert am 20. September 2017, letzter Aufruf am 17.07.2018). N.N., „Les Belges à Francfort“, in: L’Avenir, 4.10.2017, 15. N.N., „Reine Mathilde“, in: La Dernière Heure, 21.10.2017, 15. Parisis, Ysaline, „Salle des ventes“, in: Le Vif / L’Express, 27.10.2017, 82. Quaghebeur, Marc, Anthologie de la littérature française de Belgique. Entre réel et surréel, Bruxelles, Racine, 2006. Robert, Laurent, „Etonnante chrestomanie“, in: Les Carnets et les Instants, 144, 2006, http: / / promotiondeslettres.cfwb.be/ index.php? id=quaghebeuranthologie, (letzter Aufruf am 17.07.2018). Toussaint, Pascale, C'est trop beau! trop! , Cinquante écrivains belges, Bruxelles, Samsa, 2015. 1 Zudem wäre es interessant zu untersuchen, inwiefern innerhalb des Feldes der französischsprachigen Literatur die Literatur aus bestimmten Ländern (u. a. Belgien), die als peripher zu Frankreich gelten können, auch als sogenannte Minderheitenliteraturen wahrgenommen werden. Dieser Frage kann im Rahmen dieses Artikels allerdings nicht nachgegangen werden. 2 Im Zuge der Bemühungen der Gemeinschaften zur Ausweitung ihrer Befugnisse kommen immer neue Zuständigkeiten hinzu, die von den Regionen an die Gemeinschaften abgetreten werden. Weitere Kompetenzen der Gemeinschaften sind somit auch die Gesundheitspolitik, der Jugendschutz, soziale Hilfen, die Aufnahme von Einwanderern usw. Für weitere Informationen zum Föderalstaat Belgien: https: / / belgium.be/ de/ ueber_belgien/ staat. 3 Vier Bände sind bereits beim französischen Verlag Delcourt in der Reihe Mirages erschienen. 4 Präsentationstext zu Eric Lambé in der Ausstellung „Der französischsprachige Comic heute“. 5 Präsentationstext in der Ausstellung „Der französischsprachige Comic heute“. 6 So gibt es zu jedem Band auch einen passenden Soundtrack, der die Lektüre von Kapitel zu Kapitel begleitet, sowie eine App für Mobilgeräte, über die nicht nur der Soundtrack, sondern auch Hintergrundinformationen zu den verschiedenen fiktiven Orten, den Illustrationen und Figuren in Form von kurzen Videos und Audiobeiträgen verfügbar sind. So kann man zum Beispiel in die Bar La Caverne eintreten und einem Live Konzert des Autors zuhören. Außerdem hat Renard mit seiner Band live Auftritte konzipiert, die von Auszügen aus seinen Comics begleitet werden. 7 Die Veröffentlichung dieses Buches gehört auch zu den „dates-repères“ bzw. „événements“, von denen die Autoren der Histoire de la littérature belge. 1830-2000 meinen, dass sie eine besondere Aufmerksamkeit verdienen, und denen sie ein ganzes Kapitel ihrer ‚Geschichte‘ widmen. 8 So die Kategorien, die zum Beispiel den Band La littérature belge de langue française: Audelà du réel… (Blancart-Cassou 1995) strukturieren. 116 Dossier 9 Von Nicolas Ancion, Jean Bofane, Elisa Brune, Paul Colize, Geneviève Damas, Jacques De Decker, François Emmanuel, Vincent Engel, Kenan Görgün, Thomas Gunzig, Xavier Hanotte, Corinne Hoex, Armel Job, Eva Kavian, Caroline Lamarche, Michel Lambert, Diane Meur und Jacques Richard. 10 Von Sophie Daxhelet, Ludovic Flamant, Thomas Lavachery, Noémie Marsily, Carl Norac, Claude Raucy, Françoise Rogier, Mélanie Rutten, Emilie und Eléonore Seron. 11 Von Max de Radiguès und Alain Munoz. 12 Éric Brogniet, Alain Dantine, Laurent Demoulin, Marc Dugardin, Roger Foulon, Agnès Henrard, Paul Mathieu, André Schmitz, Michel Voiturier und Jean-Luc Wauthier. 13 Hier wird das Gedichtheft ausgelassen, da es sich in der Auswahl der Autoren grundlegend von den anderen Bänden unterscheidet und keine Parallelen zu diesen hergestellt werden können: Die Autoren sind älter, drei sind sogar bereits verstorben, und nur eine Frau ist dabei.