eJournals lendemains 43/170-171

lendemains
0170-3803
2941-0843
Narr Verlag Tübingen
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2018
43170-171

Die Frankfurter Buchmesse 2017 im Spiegel der deutschen und französischen Presse

2018
Meike Hethey
Karen Struve
ldm43170-1710075
75 Dossier Meike Hethey / Karen Struve Die Frankfurter Buchmesse 2017 im Spiegel der deutschen und französischen Presse Die Frankfurter Buchmesse ist im Herbst traditionell Thema im deutschen Feuilleton. Treffen sich in Frankfurt die nationalen wie internationalen Akteur_innen des literarischen Felds, so geht es gleichzeitig um Geschäfte, Glamour und Publicity, um Kraft und Krisen der Literatur. Und damit geht es auch um das Entdecken von literarischen Welten und Überraschungen, ein Lese- und Besuchsvergnügen, das - zumindest im direkten Erleben - nicht vollends aufgeht in ökonomischen und literatursoziologischen Betrachtungen. Buchmesse und Feuilletons Jenseits von Besuchserlebnis und Besucher_innenbefragungen findet die Buchmesse jedoch auch in den Medien statt. Dabei sind zwei Ebenen zu unterscheiden: Einerseits wird über die Buchmesse selbst, das Gastland - 2017 Frankreich -, das gesamte Messegeschäft also berichtet. Andererseits findet die Messe Eingang in das deutsche wie französische Feuilleton durch die Besprechung von präsentierten Neuerscheinungen, durch die Berichterstattung von Preisverleihungen, Lesungen, durch die Live-Sendungen von der Buchmesse selbst, die meist Autor_innen und Verleger_innen zu Wort kommen lassen. Im folgenden Beitrag soll eine erste Sichtung der Berichterstattung über die Frankfurter Buchmesse vorgenommen werden. Aus heuristischen Gründen beschränken wir uns dabei auf die Berichterstattungen in den großen Print-Medien in Deutschland und Frankreich und verzichten auf eine Presseschau der Berichte etwa aus Österreich und der Schweiz bzw. aus der Frankophonie. 1 76 Dossier 1. Die Rezeption der Frankfurter Buchmesse 2017 in der deutschen Presse Die Frankfurter Buchmesse mit ihrem Gastland Frankreich wird in allen überregionalen deutschen Tages- und Wochenzeitungen auf einigen zusätzlichen Seiten des Feuilletons und oftmals in gesonderten Beilagen angekündigt und beleuchtet. Die Zeit widmet ihr eigens eine Ausgabe der Zeit Literatur. Tageszeitungen wie die Süddeutsche Zeitung oder die taz thematisieren die Buchmesse auf einigen Sonderseiten. Im Mittelpunkt stehen hier zwar primär die Neuerscheinungen des Herbstes, aber in beiden Zeitungen wird eine hohe Anzahl französischer und französischsprachiger Bücher rezensiert. Während sich die taz zudem dem Gastland Frankreich im Editorial ihrer Beilage widmet, werden das Nachbarland und seine Beziehung zur Literatur in den Literaturseiten der Süddeutschen Zeitung durch eine Bilderstrecke der französischen Illustratorin Catherine Meurisse vorgestellt (cf. unten, Seite 83). Noch einen Schritt weiter gehen die Frankfurter Allgemeine Zeitung mit einem Frankreich-Spezial und ihre Sonntagsausgabe, die dem Nachbarland und seiner Beziehung zur Literatur das 18-seitige Literatur-Spezial „Frankreich jetzt“ widmet. Es wird an dieser Stelle bereits deutlich, dass mit Frankreich ein besonderer Gast im jährlich wechselnden Pavillon der Buchmesse logiert. Es kommt das Nachbarland, mit dem Deutschland durch eine enge Beziehung und eine von schweren Konflikten, aber auch großer kultureller Nähe geprägte Geschichte verbunden ist. Zu Gast ist einer der wichtigsten Partner in Europa mit einem frisch ins Amt gewählten Präsidenten, der sich als großer Europäer inszeniert und offen um eine enge Zusammenarbeit mit Deutschland wirbt. Sandra Kegel betont in ihren einleitenden Bemerkungen zum Frankreich-Spezial der Frankfurter Allgemeinen Zeitung genau diese Nähe und eine „wiedererwachte Neugier“ auf die Kultur des anderen (Kegel 2017). Als Schlüsselereignis gilt auch ihr die Wahl Emmanuel Macrons zum französischen Präsidenten, die damit verbundene Absage an eine rechtsextreme, populistische Politik und das gleichzeitige Bekenntnis zur deutsch-französischen Freundschaft und zur europäischen Idee. Die Beilage steht daher ganz im Zeichen der deutsch-französischen Beziehungen, die aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchtet werden. Aus der politischen Bedeutung, aus den besonderen historischen, kulturellen und politischen Beziehungen ergeben sich daher auch die Schwerpunkte des folgenden Einblicks in die deutsche Presseberichterstattung zur Frankfurter Buchmesse. Neben einer Hommage an den geschätzten, doch mitunter immer noch unverstandenen Nachbarn hebt das deutsche Feuilleton angesichts der aktuellen gesellschaftspolitischen Herausforderungen die verbindendenen Elemente hervor. Bekenntnisse zur europäischen Idee werden ergänzt um das gemeinsame Nachdenken über einen geeigneten Politikstil. Und in diesem Zusammenhang betonen die deutschen Kulturjournalisten dann doch eine vermeintliche französische Besonderheit: den Typus des intellectuel, der (an gesellschaftlichen Debatten partizipierende) Literaten, Philosophen, Soziologen, sogar Naturwissenschaftler umfasst. 77 Dossier Schließlich geht es tatsächlich auch noch um Literatur, den jeweiligen Stellenwert und die mitunter asymmetrische Wahrnehmung, wie beispielsweise Wolfgang Seidl und Daniel Cohn-Bendit feststellen: Zwar sei die französische Kultur nicht mehr die Leitkultur der Deutschen, das Interesse an der Literatur der Nachbarn sei in Deutschland jedoch nach wie vor ungebrochen. Für Cohn-Bendit liegt dies an der grundsätzlichen Offenheit des deutschen Lesepublikums, die er auf französischer Seite vermisst (cf. Seidl in FAS vom 08.10.2017: 42). Und so schließt unser Einblick in die deutsche Presselandschaft mit einer Betrachtung des Stellenwerts der französischen Literatur. Im Mittelpunkt stehen hier vor allem aktuelle Themen und rezensierte Titel. Wir widmen uns aber auch der Rolle der Literaturübersetzung sowie von Comic und Illustration. 1.1 Frankreich: Unser großer, vielgeliebter und doch so oft unverstandener Nachbar In einem Interview in der Buchmesse-Beilage der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung, an deren Titel sich die Überschrift dieses Abschnitts anlehnt, konstatiert Daniel Cohn-Bendit, dass die französische Republik für die Deutschen ein Buch mit sieben Siegeln sei (cf. ibid: 41). Dieses Gefühl der Fremdheit halte die Deutschen aber nicht davon ab, Frankreich zu lieben (cf. Lepenies in Die Welt vom 07.10.2017: 29). Das Gastland der Frankfurter Buchmesse, da sind sich die Vertreter des deutschen Feuilletons einig, fasziniert das deutsche Lesepublikum nach wie vor. Und so wird eine Reihe von Sachbüchern expliziter ‚Frankreichkenner‘ besprochen, die anlässlich der Buchmesse versuchen, deutschsprachigen Leser_innen die Eigenheiten ihres Nachbarn zu erklären. Neben den Büchern von Ulrich Wickert und Nils Minkmar verweisen die Feuilletonisten auf Joseph Hanimanns Frankreich-Porträt Allez la France! Aufbruch und Revolte, in dem er Frankreich als eine radikale Nation beschreibt, in der das Konzept der Republik mit seinen Idealen und Werten im Verlauf der Geschichte immer wieder als tragende und die Gesellschaft einende Idee Versuchen politischer Lagerbildung entgegengesetzt wird (cf. u.a. Nonnenmacher in FAZ vom 07.10.2017: L5). Frankreich zu verstehen, so wird deutlich, ist ein notwendiges Bestreben im Wahren und Pflegen der so besonderen deutsch-französischen Beziehungen, das nicht nur angesichts aktueller (europäischer) Krisenmomente von Bedeutung ist. Vielmehr wird es, trotz oder auch gerade aufgrund der konflikbehafteten Geschichte, als ein kontinuierliches Bemühen beschrieben. Und in dieser Tradition stehend kann man auch Niklas Benders Hommage an den deutschen Romanisten Ernst Robert Curtius verstehen, der sich vor allem in der ersten Phase des 20. Jahrhunderts beständig für die deutsch-französische Verständigung einsetzte und die Rollen beider Länder dabei auch stets in ihrem europäischen Kontext betrachtete (cf. Bender FAZ vom 07.10.2017: L2). 78 Dossier 1.2 Ein französisches Plädoyer für mehr Europa In einer Vielzahl von Beiträgen zum Gastland betonen die Autor_innen die vor allem mit der Person Emmanuel Macrons verknüpfte neu erwachte Leidenschaft Frankreichs für Europa. Es scheint, als wolle das deutsche Feuilleton angesichts der eher zurückhaltenden Reaktionen aus der deutschen Politik explizit französischen Stimmen zur europäischen Idee eine Plattform bieten, um diese zugleich als ein Deutschland und Frankreich verbindendes Element zu betonen. Als Bekenntnis zu Europa gestaltet Bruno Latour seinen Essay im Frankreich Spezial der FAZ . In seinen philosophischen Überlegungen zeigt Latour, wie gerade der europäische Kontinent in seinem Versuch, sich gemeinsame Strukturen zu geben, eine Antwort auf nationalistische Bestrebungen geben könne (cf. Latour in FAZ vom 07.10.2017: L7). Die Erfahrungen aus zwei Weltkriegen, aus imperialistischen Bestrebungen und der damit verbundenen Kolonialpolitik versetze gerade Europa in die Lage aber auch in die Verantwortung, die Welt zusammenzubringen. Im Kern habe Europa verstanden, dass es erneut diejenigen aufnehmen müsse, die auch auf Grund europäischen Wirkens außerhalb der eigenen kontinentalen Grenzen zu Vertriebenen geworden sind. Die Vielfalt Europas und die inzwischen gewonnenen Erfahrungen im Suchen nach Gemeinsamkeiten sowie im Verknüpfen unterschiedlichster Interessen hätten es Europa erlaubt, unabhängig von potenziellen Schutzmächten zu agieren, ohne umgekehrt selbst als „Weltmacht“ verstanden werden zu wollen. Europa als „offenes Vaterland“ für alle, die sich zu ihm bekennen wollen, ein „Refugium“ vor Nationalismus, Vertreibung, Globalisierung und unkontrolliertem Kapitalismus. Ein ähnlich starkes Plädoyer für ein gemeinsames Europa formuliert Mathias Énard, und auch er blickt dazu weit in die Geschichte zurück. Mit der Metapher des Predigers schreibt er Autor_innen die Möglichkeit zu, gemeinsamen politischen Herausforderungen und Schwierigkeiten mittels der eigenen Texte und im Dialog zu begegnen, mehr noch, die konkrete Aufgabe, sich für gesellschaftspolitische Belange zu engagieren, um Veränderungen herbeizuführen. Wie für Bernhard von Clairvaux und das Schriftstellerduo Dumas und Nerval, die nach Frankfurt reisten - der eine, um für die Kreuzzüge zu werben, die anderen, um eine frühe deutsche republikanische Bestrebung in einem Drama in Szene zu setzen -, biete die Frankfurter Buchmesse heute erneut die Gelegenheit, Partei zu ergreifen gegen Populismus und Nationalismus, für mehr Europa, um „diesen Sockel gemeinsamer Werte, diese Form der offenen demokratischen Kultur“ zu verteidigen (Énard in FAZ vom 07.10.2017: L3). Dies dürfte ganz im Sinne der Feuilleton-Redaktion der Welt sein, die auf dem Titelblatt ihrer Literaturbeilage zur Frankfurter Buchmesse das Schweigen der Schriftsteller_innen zu den ganz großen Fragen anprangert und sich mit nicht immer ganz ernst gemeinten Vorschlägen für eine „Programmschrift zum Selberbasteln“ für eine selbstbewusstere und engagiertere Rolle der Literatur angesichts aktueller Herausforderungen ausspricht (cf. Die Welt vom 07.10.2017: 27). 79 Dossier 1.3 Ni de gauche, ni de droite oder das Ringen um Formen gesellschaftspolitischer Debatten Gemeinsame Interessen und die Notwendigkeit eines stärkeren Engagements für eine konstruktive gesellschaftspolitische Debatte als Antwort auf schismatische und exkludierende Bewegungen werden darüber hinaus im Kontext der Reflexion des französischen Politikstils diskutiert. Und wenn Frankreich Gastland der Frankfurter Buchmesse ist, dürfen Stimmen nicht fehlen, die beide Länder, ihre Geschichte und gemeinsame Werte miteinander verbinden. Im Dossier der FAZ kommt daher Gila Lustiger zu Wort. Die jüdische Autorin aus Deutschland, die seit Jahren in Frankreich lebt und sich selbst primär als Europäerin beschreibt, plädiert in ihren neueren Texten für das Festhalten an den freiheitlichen Werten liberaler Gesellschaften (cf. u. a. Lustiger 2016). Im Kontext der Buchmesse stehen aber nicht ihre eigenen Texte im Mittelpunkt, sondern vielmehr ihre Überlegungen zur besonderen Bedeutung symbolpolitischer Ereignisse in Frankreich, die für Lustiger zugleich Ausdruck des ambivalenten Verhältnisses der Franzosen zur staatlichen Autorität sind (cf. Lustiger in FAZ vom 07.10.2017: L6). Kritisch setzt sie sich mit den etablierten Inaugurationsriten der französischen Staatspräsidenten auseinander, die für sie von den notwendigen Inhalten ablenken, die im Mittelpunkt des gesellschaftlichen Diskurses stehen müssten. Für Lustiger sind populistische Strömungen die derzeit größte Bedrohung freier Gesellschaften. Umso mehr kritisiert sie daher Merkmale der noch jungen Präsidentschaft Emmanuel Macrons. Für Lustiger hält er einerseits an den Symbolen staatlicher Autorität fest, inszeniert sich als Europäer, auf der anderen Seite sieht sie in seinem Bestreben, ideologischen Grabenkämpfen zwischen der politischen Linken und Rechten eine Absage zu erteilen, zugleich eine Negation der notwendigen politischen Debatte. Für Lustiger kann politische Inszenierung nicht die Antwort auf Populismus, die Überwindung politischer Lager nicht das Ziel notwendiger politischer Diskussionen sein. Anderer Auffassung ist Daniel Cohn-Bendit, der in seinem Interview zwar einräumt, dass das französische Verhältnis zur ‚Ästhetik des Staates‘ aus deutscher Perspektive vielleicht unverständlich sei, ihm aber dennoch eine gewisse Faszinationskraft zuspricht. Anders als Lustiger bewertet Cohn-Bendit es auch nicht als reine Symbolik, sondern als taktische Grundlage, auf der sich politische Visionen für Europa entwickeln lassen (cf. Seidl in FAS vom 08.10.2017: 41). Lustigers kritische Auseinandersetzung mit dem gegenwärtigen französischen Politikstil erfährt darüber hinaus indirekten Widerspruch in einigen der besprochenen Bücher. So rezensiert Jürgen Kaube beispielsweise Wolfgang Matz’ Analyse ideologischer Einflüsse auf die französische Literatur des 20. Jahrhunderts. Dieser knüpft in seinem Buch selbst an die Wahl Emmanuel Macrons an. Doch im Gegensatz zu Lustiger wertet Matz die Tatsache, dass zwei Drittel aller französischen Wähler einem Mann ihre Stimme gegeben haben, der sich weder dem linken noch dem rechten Lager zurechnen lassen will, als Zeichen geistiger Freiheit. Sein Buch sei eine Hommage an die wenigen freien Geister unter den französischen Intellektuellen des 80 Dossier 20. Jahrhunderts, an die „Einzelgänger des Verstandes“, die ihre politischen Überzeugungen unbeeindruckt von ideologischen Einflüssen erwarben (cf. Kaube in FAZ vom 07.10.2017: L5). 1.4 Der Typus des französischen Intellektuellen Damit rücken zugleich Personen ins Licht, die diese notwendigen gesellschaftspolitischen Diskussionen anstoßen und mitführen sollen. Schriftsteller_innen, die sich, wie bereits in Énards Prediger-Metapher angedeutet (cf. oben, S. 78), ihrer gesellschaftlichen Verantwortung bewusst sind und sich - auch in der Traditionslinie von Jean-Paul Sartre, Simone de Beauvoir und anderen - als engagierte Literaten verstehen. „In Deutschland ist diese Tradition ungewöhnlich. Entweder ist man Schriftsteller oder Philosoph. Das ist in Frankreich anders“ (cf. Mangold in Zeit Literatur 10/ 2017: 23). Dem Typus des französischen Intellektuellen, der fließend zwischen den Genres wechselt, wird in der deutschen Presse besondere Aufmerksamkeit gewidmet, etwa in der Person von Tristan Garcia, der mit seinem Roman Faber und seinem philosophischen Buch Das intensive Leben gleich mit zwei Neuerscheinungen einer der Shootingstars des Gastlandes ist. In seinem Artikel bespricht Mangold beide Texte und reflektiert ihr mögliches Zusammenwirken. Viel mehr interessiert ihn aber das Selbstverständnis Garcias, der die Unterschiede beider Diskurse betont. Während er eine eindeutige philosophische Idee verfolgen müsse, um einen Beitrag zur Rettung des humanen Kerns der Menschheit leisten zu können, könne er als Schriftsteller viele Gedankenwege verfolgen, sich irren und sich selbst widersprechen (cf. ibid.: 25): „Hier ist einer, der sich nicht festnageln lassen will. Nicht darauf, Philosoph oder Schriftsteller zu sein“ (Knipphals in literataz vom 10.10.2017: 3). Ähnlich groß ist das Interesse an intellektuellen Gemeinschaften, die man ebenfalls eng mit der französischen Kultur verbindet. Im Fokus steht hier gegenwärtig die Trias aus Didier Eribon, Geoffroy de Lasagnerie und Edouard Louis: Soziologen, soziologisch ausgewiesene Schriftsteller, Linksintellektuelle (cf. Cammann in Zeit Literatur Nr. 41: 36). Vor allem Eribons Gesellschaft als Urteil aber auch Louis’ Im Herzen der Gewalt werden nicht nur als aktuelle Beispiele autobiographischen Schreibens besprochen, sondern - auch mit Blick auf zuvor erschienene Publikationen - als kritische Auseinandersetzungen mit bestehenden Machtstrukturen und Klassenbewusstsein (cf. u.a. Nachtwey in SZ Spezial Literatur vom 10.10.2017: 18, Staun in FAS vom 08.10.2017: 44). Die Frankfurter Buchmesse mit dem Gastland Frankreich, so wurde bisher deutlich, ist also zugleich Anlass und Ort politischer Reflexion und Diskussion. Es geht in den deutschen Pressestimmen aber auch um die Literatur selbst. 1.5 Der Wiederaufstieg der französischen Literatur? „Frankreich schreibt wieder! “ titelt Zeit Literatur, und Iris Radisch widmet den Einstieg ihres Leitartikels zum Gastland der Frankfurter Buchmesse zunächst der Erklärung der zumindest in Ansätzen provokanten Aussage. Nach einem Einbruch der literarischen Produktion in den 2000er Jahren, der für Radisch in einem unmittelbaren 81 Dossier Zusammenhang mit dem Phänomen Michel Houellebecq steht (cf. Radisch in Zeit Literatur Nr. 41: 20), zeichne sich die gegenwärtige französische Literatur durch ihre Vielfalt aus, auch wenn die für Radisch selbst so prägenden Sartre-Jahre unwiederbringlich vorbei seien, in denen das Zentrum der französischen Literatur sich auf wenige Cafés der Pariser Rive gauche beschränkte (cf. ibid.: 18). Diesen vermeintlichen Einbruch literarischen Schaffens kann Nils Minkmar nicht erkennen. Ganz im Gegenteil. Die politischen, sozialen und auch kulturellen Krisenmomente der vergangenen drei Jahrzehnte sind für ihn vielmehr Grundlage und Motor literarischer Produktion: Die Literatur pflegt die dunkle Seite der oft so strahlenden französischen Kultur und weil die vergangenen Jahrzehnte nicht leicht waren, stand, eine gute und schlechte Nachricht zugleich, selten ein Gastland der Buchmesse in solch einer literarischen Blüte wie das Frankreich des Jahres 2017 (Minkmar in Literatur Spiegel 10/ 2017: 4). In ihrer Einschätzung zum gegenwärtigen Stand der französischen Literatur sind sich die beiden dann immerhin einig. Für Radisch zeichnet sich zudem ein Bild der frankophonen Literatur, deren Stimmen sich in Europa und auch darüber hinaus erheben, die sich nicht um ein eindeutiges Zentrum ansammeln (cf. Radisch 2017: 20). Hier spiegelt sich zugleich die Auffassung Emmanuel Macrons wider, dass die französische Sprache, nicht Frankreich, zu Gast in Frankfurt sei (cf. Macron 2017). Im Fokus der Auseinandersetzung mit der aktuellen französischsprachigen Literatur stehen Formen autobiographischen Schreibens, die Radisch als ein Streben nach einer neuen Aufrichtigkeit versteht (cf. Radisch 2017). Für Martini markieren sie jedoch keine reine Selbstbezogenheit. Vielmehr konstatiert sie, dass die Texte „von einem Ich erzählen, ohne die Geschichte außen vor zu lassen“ (Martini in literataz vom 10.10.2017: 2). Hier fallen Namen wie Annie Ernaux, Didier Eribon, Virginie Despentes, Catherine Millet oder Edouard Louis. Ein kritischer Blick fällt auf die angesprochene Vielfalt der frankophonen Gegenwartsliteratur. Denn obwohl sich die Stimmen des deutschen Feuilletons darin einig sind, dass die Frankfurter Buchmesse einen wahren Publikationsschub französischsprachiger Titel auf dem deutschen Buchmarkt initiiert hat (die Angaben zu den Neuerscheinungen schwanken zwischen 1 200 und 1 400), fällt auf, dass in den Sonderseiten und Beilagen immer wieder die gleichen Titel besprochen werden: Ernaux’ Die Jahre, Louis’ Im Herzen der Gewalt, Millets Traumhafte Kindheit, Eribons Gesellschaft als Urteil, Garcias Faber. Nicht fehlen darf darüber hinaus Michel Houellebecqs In Schopenhauers Gegenwart. Ähnlich fokussiert werden (vermeintliche) Repräsentant_innen der Frankophonie in den Blick genommen. Hier sei vor allem auf Leïla Slimani, Alain Mabanckou, Yasmina Reza, Kaouther Adimi und Gaël Faye mit seinem intensiv besprochenen Roman Kleines Land verwiesen (cf. u. a. Encke in FAS Literatur Spezial vom 08.10.2017: 42, Llanque in literataz vom 10.10.2017: 2). 82 Dossier 1.6 Von Unterschieden, Gemeinsamem und der Notwendigkeit von Vermittlung: Zur Rolle von Literaturübersetzung und Comics Neben einer allgemeinen Reflexion der aktuellen Entwicklung französischer Literatur und der Besprechung von Neuerscheinungen lassen sich im Kontext der Auseinandersetzung mit dem literarischen Feld des Nachbarlandes weitere Exkurse finden. Exemplarisch soll im Folgenden daher ein Blick auf die Rolle von Literaturübersetzung und die französische Welt des Comics geworfen werden. Die Eröffnungsrede Emmanuel Macrons, dies wurde bereits deutlich, wird im deutschen Feuilleton aufmerksam rezipiert. Und so knüpft Cohn-Bendit an Macrons Bild vom Unübersetzbaren, von historisch bedingten intraduisibles (cf. Macron 2017) an und greift seine Idee von der medialen Funktion von Kultur - und damit auch von Literatur - auf, Differenzen und Abstraktes darzustellen und zu vermitteln (cf. Seidl in FAS vom 08.10.2017: 42). Angsichts der hohen Anzahl französischer Neuerscheinungen in deutscher Sprache stellt sich die Frage der (Un-)Übersetzbarkeit sogar in doppeltem Sinne. Anne Weber beantwortet sie unter dem Stichwort „Völkerverständigung“ (cf. Weber in FAZ vom 07.10.2017: L2). Denn nichts Anderes sei der Versuch, in der Übersetzung von Texten aus dem Französischen ins Deutsche (oder auch andersherum), „etwas von den Eigenarten der einen in die andere Sprache hinüberzuretten“ (ibid.). In ihrem sprachtypologischen Ansatz zeigt Weber primär die Unterschiede zwischem dem Deutschen und dem Französischen auf, die für sie vor allem in differenten Sprachentwicklungslinien begründet liegen. Während sich das Französische auf der einen Seite in seinen immer noch engen Bezügen zum Lateinischen eher einer klaren Ausdrucksweise verweigert, sieht Weber auf der anderen Seite in der deutschen Sprache die Möglichkeiten aber auch die Notwendigkeit, auf jegliche „sprachliche Verschleierung“ zu verzichten (ibid.). Für die Autorin und Übersetzerin Anne Weber charakterisieren diese Unterschiede zugleich die verschiedenen Denktraditionen beider Kulturnationen, die es im Streben um die gegenseitige Verständigung zu vermitteln gilt. Nicht fehlen darf darüber hinaus ein Einblick in die besondere Comic-Tradition des Nachbarlandes, der auf der Frankfurter Buchmesse mit einem eigenen Schwerpunkt Tribut gezollt wurde. Für Andreas Platthaus ist dies Anlass für eine kontrastive Betrachtung der französischen und der deutschen Comic-Produktion und -Rezeption. Ausgehend von der unbestreitbaren Tatsache, dass Comcis auf dem deutschen Buchmarkt nur einen geringen Anteil einnehmen, während der neuvième art in Frankreich ein Sechstel des Buchumsatzes ausmacht, begibt er sich in seinem Artikel auf die Suche nach möglichen Ursachen (cf. FAZ vom 07.10.2017: L6). Dabei betont er vor allem eine ähnliche Entwicklung in beiden Ländern, die bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs anhielt, bevor Comic-Produktion und -Rezeption unterschiedliche Wege einschlugen. Während sich der Markt in Frankreich stabilisierte, neue Genres begründet und Lesergruppen gewonnen wurden, erfuhren Comics in Deutschland in Anlehnung an kulturpolitische Strömungen der Weimarer Republik eine Abwertung ihres Prestiges. Für Platthaus wurde hier eine historische Chance vertan. In der 83 Dossier Comic-Entwicklung entfernten sich beide Länder nun schnell voneinander (cf. ibid.). Und so bleiben Comics in deutschen Lesebiographien bis heute vor allem mit Disney- Comics und den Asterix-Heften verknüpft, während sich französische Leser_innen je nach Lesealter spätestens seit den 1960er Jahren mit zunehmend anspruchsvollen Comic-Texten auseinandersetzen können. „Comics bedeuten in Frankreich [eben] die ganze Welt“ (ibid.). In der Berichterstattung zur Frankfurter Buchmesse wird dieser französischen Besonderheit zudem über die Illustrationen der Beilagen Tribut gezollt. Und auch sie vermitteln die Absicht, die Gemeinsamkeiten mit dem Nachbarn zu betonen und Frankreich einem deutschen Lesepublikum nahe zu bringen. Für die FAZ illustriert der auch in Frankreich etablierte deutsche Illustrator Nicolas Mahler das Frankreich Spezial. In seinen Strichzeichnungen konzentriert er sich auf kulturspezifische Symbole und setzt diese miteinander in Verbindung, wenn zum Beispiel der Pariser Eiffelturm nach oben hin in der Spitze des Berliner Fernsehturms am ‚Alex‘ zuläuft (cf. FAZ vom 07.10.2017: L8). Mit dem Grafiker Jean Jullien (cf. Zeit Literatur Nr. 41) und der Zeichnerin Catherine Meurisse (cf. SZ Spezial Literatur Nr. 233) fassen zudem zwei weitere Illustrator_innen ihre Gedanken zur Kulturnation Frankreich in Zeichnungen, die im Kontext der Terrorattacken in Frankreich auch über Frankreich hinaus bekannt wurden. Julliens Peace for Paris-Logo ging als Reaktion auf die Pariser Anschläge von 2015 um die Welt. Meurisse entging dem Anschlag auf ihre Kolleg_innen in der Charlie- Hebdo-Redaktion nur durch Zufall. Ihr eigenes Überleben und ihre Trauer um die Kolleg_innen verarbeitet sie in ihrem Comic La légèreté (2016), der auch bereits in deutscher Übersetzung vorliegt (cf. Meurisse 2016). Für das Literatur Spezial der Süddeutschen Zeitung beleuchtet Meurisse in ihren Zeichnungen die gesellschaftliche Rolle von Literatur und den französischen Literaturbetrieb und zeichnet ein differenziertes Bild von kulturell aufgeladenen Schreib- und Erinnerungsorten sowie der mitunter zweifelhaften Praxis von Literaturpreisen auf der einen und der Möglichkeit, Literatur an gewöhnlichen Orten des Alltags zu begegnen, auf der anderen Seite. 2. „Ich bin ein Frankfurter“: Die Rezeption der Frankfurter Buchmesse 2017 in der französischen Presse In der französischen Presse wird die Frankfurter Buchmesse 2017 auch - und vor allem - gemessen an ihrer europa-, kultur- und sprachpolitischen Bedeutung vor dem Hintergrund der deutsch-französischen Freundschaft. Zwar gibt es durchaus Artikel, die die wirtschaftlichen Dimensionen der Buchmesse als Fach- und Branchenmesse ins Zentrum stellen. Neben den ‚harten‘ Fakten der Buchmesse insgesamt (200 Autoren, mehr als 7 000 Aussteller aus mehr als 100 Ländern) befasst sich die Presse mit dem geschäftlichen Teil des Literaturbetriebs: Im Bereich des Ankaufs der Rechte etwa verzeichne die französische Literatur in Deutschland in den letzten drei Jahren eine Steigerung von 48 % (von 231 auf 342 Titel), im Bereich 84 Dossier Essay und Dokumente immerhin noch 20 %. Das deutsche Interesse bezeichnet die Journalistin von L’Express insofern als wahren Glücksfall, als die deutschen Verleger_innen für ihre Zahlkraft bekannt seien: Sie zahlten 5 000 Euro für eine/ n unbekannte/ n Autor/ in, zwischen 15 000 und 20 000 Euro für arrivierte Schriftsteller_innen und 100 000 Euro und mehr für die Literaturstars (cf. Payot 2017). Doch diese ökomonische Seite des Literaturbetriebs auf der Buchmesse steht in den französischen Artikeln nicht im Vordergrund. Es zeigen sich vielmehr sehr deutlich sozio-politische Fokussierungen: Hier dominieren einerseits Artikel über die politischen und literarischen Akteur_innen und andererseits über die vornehmlich gesellschaftspolitischen Themen der Literatur. Als Akteur_innen werden dabei allen voran der französische Präsident Emmanuel Macron und die deutsche Kanzlerin Angela Merkel sowie die ehemalige Actes-Sud-Verlegerin und jetzige französische Kulturministerin Françoise Nyssen genannt. Die thematischen Akzente der in Frankfurt vorgestellten französischsprachigen Gegenwartsliteratur liegen in den deutschen wie französischen politisch-gesellschaftlichen Herausforderungen von Migration und Geflüchteten, von Rechtspopulismus und -radikalisierung. Durch die kulturpolitische Akzentuierung der Berichterstattung über die Frankfurter Buchmesse in der überregionalen wie lokalen französischen Presse ist es auch nicht verwunderlich, dass die Szene aufgegriffen wird, in der Macron und Merkel gemeinsam an der Nachbildung einer Gutenberg’schen Presse die erste Seite der Erklärung der Menschenrechte drucken. Diese Szene findet schnell Verbreitung, da sie als symbolische Handlung unmittelbar offensichtlich ist und als Pressemeldung von der AFP lanciert wird (cf. AFP 2017). Es ist die starke Symbolik, die sich auch in einem weiteren Statement wiederfindet: Wenn einige französische Autoren bereits im Vorfeld der Buchmesse (nicht ohne eine gewisse unbeabsichtigte Komik) „Ich bin ein Frankfurter“ skandieren (cf. Payot 2017), dann wird durch die Anspielung auf John F. Kennedy die politische Dimension der Frankfurter Buchmesse angedeutet. Die Buchmesse ist ein Ort der deutsch-französischen Europa-Politik und erst in zweiter Linie ein Ort, an dem die Sujets, die Erzählverfahren oder ästhetischen Entwicklungen der Literatur die Hauptrolle spielen - und dies auch nur insofern sie politisch wirk- und bedeutsam ist. 2.1 Die Buchmesse als Ort der deutsch-französischen Europa-Politik Als Ort der europapolitischen Statements und der Beteuerung der deutsch-französischen Freundschaft wird die Buchmesse in den französischen Presseartikeln oftmals anhand der Eröffnungsrede des französischen Präsidenten vorgestellt, der die französische Presse einige Aufmerksamkeit schenkt. Hier werden insbesondere drei Aspekte hervorgehoben: Sein Fokus auf die französische Sprache, auf die Dimension des europäischen und insbesondere deutsch-französischen Zusammenhalts und auf die Frankophonie. Dabei ist die Betonung der französischen Sprache zunächst keine Überraschung. Die französische Verfassung weist der französischen Sprache eine zentrale Rolle in der Identitätsbildung der Franzosen und Französinnen zu. Erstaunlich ist, dass 85 Dossier Macron die französische Sprache nicht nur dezidiert vom ius soli abkoppelt, sondern sie allen französischsprechenden Menschen zuschreibt, die sich in ihr artikulieren - inklusive aller Migrierten und Gefüchteten. Damit verbindet der Präsident ein klares Statement gegen die rechtsradikalen und -populistischen Bewegungen in seinem Land mit der Idee, dass die französische Literatur der Ort sein kann, in dem Erfahrungen des Lebens und Überlebens artikuliert werden können: Das Französische „appartient à celles et ceux qui, décidant d’en prendre les mots, décident de dire ce qu’ils ont vu, vécu, imaginé et décident qu’ils n’aboieront plus pour dire dans cette langue, même si c’est la langue d’un refuge“ (Macron 2017). 2.2 Die Buchmesse als Ort der Literat_innen als Intellektuelle In Frankfurt ist ein weites Spektrum an Autor_innen eingeladen, das sich zwischen jenen, die ihr Erstlingswerk präsentieren, und den französischen bzw. vielmehr internationalen Literaturstars entfaltet. Eine Einladung erhielten dabei laut de Sinety nur jene Schriftsteller_innen, von denen bereits ein Buch in deutscher Übersetzung vorliegt. Dabei ist bemerkenswert, dass sich die französische Presse grosso modo auf die Berichterstattung über Literaturstars kapriziert und weniger (noch) Unbekannte ins Licht rückt. Auch dann, wenn Paul de Sinety, zentraler Koordinator und commissaire général für den Gastauftritt Frankreichs auf der Buchmesse und damit Leiter des französischen Pavillons, insistiert, dass insbesondere junge Literat_innen und Intellektuelle eingeladen seien: „Nous avons aussi beaucoup de jeunes auteurs, comme Édouard Louis, car nous voulons favoriser les échanges entre les jeunes intellectuels français et allemands“ (Pitard 2017). Es sind die literarischen Stars wie Édouard Louis (der zwar jung, aber weder in Frankreich noch in Deutschland noch als Newcomer zu bezeichnen ist), wie Michel Houellebecq oder J. M. G. Le Clézio; aber auch jene der Frankophonie, hier etwa Alain Mabanckou, Leïla Slimani (deren Roman Chanson douce im Herbst 2017 auf Platz 9 der Spiegel Beststellerliste steht) oder Franck Etienne, die die Aufmerksamkeit der französischen Journalist_innen auf sich ziehen: „Il ne s’agit pas seulement de célébrer la littérature française, mais l’ensemble de la littérature francophone“, verkünden Elysée und demgemäß auch AFP (cf. AFP ). Und in diese Vielfalt gehört dann auch ein weites Feld an Textgenres, die in Frankfurt präsentiert werden: Fiktion, Non-Fiktion (Boris Cyrulnik, Didier Eribon), Comics (Riad Sattouf, Pénélope Bagieu), 2 Essays, Kinder- und Jugendliteratur (Albertine, Stéphanie Blake) etc. (cf. Pitard 2017). Der Auftritt Frankreichs auf der Frankfurter Buchmesse dient in dieser Spannbreite auch dazu, in Deutschland publik zu machen, dass der französische Buchmarkt mehr als das zu bieten habe, was sich schlagwortartig unter schillernden Namen wie Foucault oder der französischen Autofiktion subsumiere. So zitiert Payot Jean-Guy Boin, Präsident des Bureau international de l’édition française: „On a répété à nos confrères d’outre-Rhin que la littérature française ne se résumait pas à la seule autofiction et à Michel Foucault“ (Payot 2017). Es geht um mehr als nur um die bloße Wiederholung, dass etwa Houellebecq auf beiden Seiten des Rheins als Weltbestseller gelesen wird, auch wenn dies für die 86 Dossier deutsch-französischen (Kultur-)Beziehungen einen Ausgangs-, aber noch keinen Endpunkt der gegenseitigen literarischen Wahrnehmung darstellen kann. Zu diesen französischen und deutschen Bestsellern gehören die Werke von Emmanuel Carrère, Amélie Nothomb, Guillaume Musso, David Foenkinos, Yasmina Khadra, Anna Gavalda, Yasmina Reza, Mathias Énard, Virginie Despentes und Fred Vargas. De Sinety macht gar eine Wende oder eine Veränderung in der Verlagslandschaft Frankreichs seit der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels 2011 an Boualem Sansal aus: Plus globalement, [...] l’image de notre paysage éditorial s’est transformée depuis l’obtention par Boualem Sansal du prix de la Paix des libraires allemands en 2011. Les Allemands ont compris que nous avions une littérature de la diversité portée par une langue universelle. Ainsi, les trois invités de l’émission de radio Das blaue Sofa du 28 septembre, servant de lancement à la Foire, étaient Marie NDiaye, Leïla Slimani et Gaël Faye (Payot 2017). Gleichwohl diagnostizieren die französischen Presseartikel auch Divergenzen zwischen literarischen Erfolgen in Frankreich und in Deutschland, für die es keine schnellen und plausiblen Erklärungen gibt: So etwa die letzten Texte von Andreï Makine oder Marie Darrieussecq, die in Deutschland keine Abnehmer_innen fanden (was die von Payot bemühte Erklärung „Pas assez français, peut-être“ [cf. Payot 2017] auch nicht zufriedenstellend plausibilisiert), oder die in Frankreich als Bestseller erfolgreichen Romane von Romain Puértolas oder Raphaëlle Giordano, die in Deutschland geradezu ein Flop waren. Umgekehrt stellt Payot aber auch Bestseller in Deutschland fest, die in Frankreich eher mäßigen Erfolg kannten: Didier Eribons Retour à Reims, das insbesondere als Theateradaption an der Berliner Schaubühne ein Riesenerfolg war, die Texte von Jean-Philippe Blondel seit dem Erscheinen von 6h41 (dt. 6Uhr41), und nicht zu vergessen Le Voyage d’Hector von François Lelord, der sich mehr als 2 Millionen Mal verkaufte (laut Sabine Fontaine, scout beim Piper Verlag, cf. Payot 2017). Frage man die deutschen Lektor_innen und Verleger_innen französischer Literatur selbst, wie es Roussel in der Libération tut, so seien die Erklärungen für Erfolg oder Misserfolg französischer Literatur in Frankreich sehr unterschiedlich. Roussel kommt für ihren Artikel mit unterschiedlichen Akteur_innen im literarischen Feld ins Gespräch: mit Frank Wegner, Lektor bei Suhrkamp, der die Faszination für die französische Literatur festmacht am „subjectivisme radical de l’autofiction; les ramifications du Nouveau Roman; la continuation de l’Oulipo et, c’est très frappant actuellement, une sorte de redécouverte de la classe sociale (Eribon, Ernaux, Edouard Louis)“ (Roussel 2017); mit Andreas Rötzer, Verleger bei Matthes & Seitz, der sich gleichzeitig an einer Hommage und der ‚Popularisierung‘ der französischen Literatur versucht: „La littérature française est complexe. Notre travail, c’est aussi de montrer que c’est un plaisir de lire les Français“ (ibid.); und mit Annette Wassermann vom Wagenbach-Verlag, die die ungebrochene existenzialistische Linie seit Sartre betont: „On aime chez vous entre autres une tradition de vision en même temps existentialiste et ironique sur le monde [...] Celle d’un quadragénaire, divorcé, qui se 87 Dossier promène dans les rues de Paris et qui souffre beaucoup… Il y a une sorte de constance qui va de Sartre jusqu’à aujourd’hui“ (ibid.). Und selbstverständlich macht Roussel auch die deutsche (romantische) Faszination für Paris aus, das dann als Hintergrundfolie für Alltags- und tiefgründigere Lebensgeschichten eine/ rs romantisierten Paris-Bewohners_in dient (ibid.). 2.3 Keine Businesssondern Literaturgeschichte(n) Ein besonderer Artikel zur Frankfurter Buchmesse findet sich in Le Monde des Livres, in der der Goncourt-Preisträger Mathias Énard seine Reflexionen über den Auftritt Frankreichs auf der Frankfurter Buchmesse mit einem „Enfin! “ beginnen lässt (Énard 2017). Der Ausruf ist dabei nicht dem Umstand geschuldet, dass seit der letzten Einladung ca. 25 Jahre vergangen waren oder dass Frankreich sich so lange geziert hatte, die Einladung an den Main anzunehmen (cf. dazu das Interview mit dem Buchmessechef Jürgen Boos im Nouvel Observateur, Benyahia-Kouider 2014). Énard zieht vielmehr eine historische Linie bis ins Mittelalter und setzt seinen Fokus auf die rechtspopulistischen, demokratie- und europagefährdenden Strömungen in Frankreich und Europa (cf. oben, Seite 78). 3. Abschließende Bemerkungen Wirft man nun einen abschließenden Blick auf die Berichterstattung zur Frankfurter Buchmesse, so kann man zunächst einmal konstatieren, dass diese ein Spagat zwischen der Betrachtung von Akteur_innen, Literat_innen, Verleger_innen sowie der Literatur selbst, und eine Reflexion des Europagedankens als verbindendes Element angesichts gegenwärtiger Herausforderungen ist. Die Frankfurter Buchmesse mit dem Gastland Frankreich ist ein Politikum, eine Bühne, die der Inszenierung der deutsch-französischen Freundschaft, der kulturellen Verbundenheit und der gemeinsamen Ziele für ein vereintes Europa dient. In diesem Zusammenhang lässt sich auch die Betonung der politischen Rolle von Literatur erklären. Aus deutscher Perspektive vor allem mit einer Hommage an den Typus des französischen Intellektuellen verbunden, wird auf beiden Seiten an maßgebliche philosophische Strömungen, insbesondere den Existenzialismus, einerseits und und die aktuellen Nahaufnahmen soziologischer Couleur à la Eribon oder Louis andererseits angeknüpft. Auffällig ist, dass die in Frankfurt präsentierte Literatur selbst in der französischen Presse keine herausragende Rolle spielt. Dies mag vielleicht daran liegen, dass die Neuerscheinungen in deutscher Sprache dem französischen Lesepublikum bereits gut bekannt sind. Aber auch Berichte über neue Autor_innen und das Ausstellen von Erstlingswerken oder kunstvollen Büchern sucht man vergeblich. Dies scheint zunächst in der deutschen Berichterstattung etwas anders, da sie die Blüte der aktuellen französischen Literatur betont; letztlich konzentriert sie sich dann aber auf die Besprechung einer eher geringen Anzahl von Neuerscheinungen in deutscher Übersetzung. Die französische Literatur wird als eine gehandelt, deren bevorzugter 88 Dossier Gegenstand soziologische Nahaufnahmen sind, die Payot als „radioscopies romancées et sociétales“ (Payot 2017). Damit greift die Presse ein literarisches Phänomen auf, das tatsächlich viele aktuelle französischsprachige (v. a. Erzähl-)Texte ausmacht, nämlich den recht schonungslosen Blick auf die Bedingungen des Subjekts und des gesellschaftlichen Milieus. Ein letzter Blick in die Berichterstattung zur Frankfurter Buchmesse mit dem Gastland Frankreich lässt zudem noch eine Lücke zutage treten. Es fehlen die Stimmen der deutschen Romanistik. Die Beiträge zum Gastland Frankreich, zur Entwicklung der französischen Literatur, zur Besprechung von Neuerscheinungen sind beinahe ausnahmslos von deutschen Kulturjournalist_innen sowie, in Form von Gastbeiträgen, von französischen Intellektuellen verfasst. Und so mag es durchaus als Aufforderung an seine Kolleg_innen gemeint sein, wenn Niklas Bender den Vorbildcharakter des deutschen Romanisten Ernst Robert Curtius betont: Seine Kenntnis sowohl der ‚longue durée‘ als auch spezieller Themen, seine Verbindung von Traditions- und Aktualitätsbewusstsein, seine Wirkung sowohl in der Fachwelt als auch in den Publikumsmedien, schließlich seine europäische Perspektive - all das ist exemplarisch (Bender in FAZ vom 07.10.2017: L2). AFP, „La littérature francophone sur son 31 à la Foire de Francfort”, www.lepoint.fr/ culture/ lalitterature-francophone-sur-son-31-a-la-foire-de-francfort-11-10-2017-2163641_3.php (publiziert am 11.10.2017, letzter Aufruf am 29.06.2018). Bender, Niklas: „Die Kinder des Monsieur Curtius“, in: FAZ Frankreich Spezial, 233, 07.10.2017: L2. Benyahia-Kouider, Odile, „Mme Filippetti a annulé tous nos rendez-vous“, https: / / bibliobs. nouvelobs.com/ actualites/ 20140917.OBS9410/ foire-de-francfort-mme-filippetti-a-annule-tousnos-rendez-vous.html (publiziert am 17.09.2014. letzter Aufruf am 10.07.2018). Camman, Alexander, „Immer schön kritisch“, in: Zeit Literatur, 41, 10/ 2017, 36-37. „Die Literarische Welt“, in: Die Welt, 07.10.2017. Énard, Mathias, „In weiter Ferne, so nah“, in: FAZ Frankreich Spezial, 233, 07.10.2017, L3. —, „Français à Francfort“ https: / / lemonde.fr/ livres/ article/ 2017/ 10/ 05/ francais-a-francfort_ 5196380_3260.html (publiziert am 05.10.2017, letzter Aufruf am 10.07.2018). Encke, Julia, „Rückkehr nach Burundi“, in: FAS Literatur-Spezial, 40, 08.10.2017, 43. Kaube, Jürgen, „Der große Verrat am Verstand“, in: FAZ Frankreich Spezial, 233, 07.10.2017, L5. Kegel, Sandra, „Ziemlich beste Freunde“, in: FAZ Frankreich Spezial, 233, 07.10.2017, L1. 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Ein Spezial zum diesjährigen Gastland der Frankfurter Buchmesse, 41, 10/ 2017. 1 Zur Wahrnehmung der Frankfurter Buchmesse 2017 in frankophonen Ländern außerhalb Frankreichs cf. die Beiträge von Hunkeler sowie Houscheid und Letawe im vorliegenden Dossier. 2 Comics spielen in der französischen Presse nur in der Reihung mit anderen literarischen Genres eine Rolle, sie werden nicht als exponiertes literarisches Phänomen behandelt, obwohl der französische Pavillon den BD schon in seiner Ausstellungskonzeption einen besonderen und sichtbaren Platz einräumte.