eJournals lendemains 43/170-171

lendemains
0170-3803
2941-0843
Narr Verlag Tübingen
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2018
43170-171

Neue Sprachen der Literatur ‚auf Französisch‘

2018
Matteo Anastasio
ldm43170-1710047
47 Dossier Matteo Anastasio Neue Sprachen der Literatur ‚auf Französisch‘ Strategien des Literaturausstellens im Zeichen von Innovation und Kooperation im Rahmen des Ehrengastauftritts Frankreichs auf der 69. Frankfurter Buchmesse (2017) 1 1. Francfort en français: die Sprache im Mittelpunkt Versteht man Literaturvermittlung in Anlehnung an die Sprechakttheorie Austins und Searles als Kommunikationsakt professioneller Akteure (cf. Neuhaus 2009: 16sq.), kann auch die Erforschung von Literaturausstellungen im Rahmen der Ehrengastauftritte auf internationalen Buchmessen von feld- und diskursanalytischen Überlegungen nicht absehen, die hier einleitend zu einer Analyse ästhetisch-semiotischer Strategien führen sollen. Kommunikationskontexte definieren im Vorfeld mit Empfängern und Sendern auch Ziele, Codes und mögliche Signifikanzen. Diese bedingen zugleich Objekte, Medien und Formen des Ausstellens. Vor dem Hintergrund sprachpragmatischer Begrifflichkeiten entwickelte Mieke Bal eine in diesen Kontext passende Theorie des Ausstellens als „act of producing meaning“, bei welchem ein „subject objectifies, exposes himself“ (Bal 1996: 2). Gerade die Definition des Subjekts ‒ und damit auch des Objekts ‒ des Ausstellens erweist sich im Rahmen des Ehrengastauftritts auf der Buchmesse durch die komplexe Vernetzung internationaler Händler, Hersteller und politischer Einrichtungen als eine brisante Frage, die im vorliegenden Fall Frankreichs eine eigenartige Antwort fand. Deren Auswirkungen auf die Ausstellung von Literatur sollen hier dargelegt werden. Mit seiner in Deutschland viel übersetzten und rezipierten literarischen Tradition bereitete Frankreich seinen Weg zum zweiten Ehrengastauftritt auf der Frankfurter Buchmesse im Jahr 2017 2 als starke „Nation von Lesern“ (BuchMarkt 9/ 2017: 30). Dank eines florierenden Verlagsmarktes und wirksamer Kulturpolitiken (cf. Ehling 2017: 16-67; FAZ 2017: 18) präsentierte das Gastland einen Überblick über die Vielfalt seiner verlegerischen Produktion durch ein überwältigendes Kulturprogramm aus über 330 Literaturveranstaltungen auf dem Messegelände und in der Stadt Frankfurt (Fef 2017: 14-71) und mit einer Delegation von rund 170 eingeladenen AutorInnen (ibid.: 85) - fast dreimal so viel, wie Gastländer üblicherweise einladen. 3 Es wurden dennoch „mehr als Neuerscheinungen und Übersetzungen“ von dem Ehrengast erwartet (Roesler-Graichen 2017): In der aufgeheizten Stimmung rund um die Präsidentschafts- und Bundestagswahlen in Frankreich und Deutschland schien der Ehrengastauftritt eine willkommene Gelegenheit, um die deutsch-französische Kooperation als „tragende[n] Pfeiler Europas“ (ibid.) gegen drohenden Rechtspopulismus zu fördern. So sei laut Messedirektor Juergen Boos der französische Auftritt „ein politisches“ und zwar „sehr europäisches Zeichen“ (Die Welt, 23.03.2017) 48 Dossier gewesen. So sehr, dass Staatspräsident Emmanuel Macron und Bundeskanzlerin Angela Merkel die Einladung annahmen, die Buchmesse persönlich zu eröffnen. 4 Mit Blick auf die Zukunft Europas wurden als Themenschwerpunkte für die zweite, von französischer Seite als „invitation“ (Valls 2016: 1) dargestellte Ehrengast-Teilnahme Frankreichs auf der Buchmesse neben der französischen Sprache die miteinander verbundenen Themen der „Innovation“ und „Jugend“ angekündigt. 5 Besondere Beachtung legte daher das Veranstaltungsprogramm auf Digitalisierung und neue Technologien, mit attraktiven Produkten, die sich vor allem an das junge Publikum richteten. Die édition jeunesse, „secteur particulièrement dynamique“ und „créatif“ 6 des französischen Verlagswesens, war im Pavillon an mehreren Stellen präsent: die Ausstellung „ABC der Illustratoren“, mit traditionellen illustrierten Büchern, organisiert vom Salon du Livre et de la Presse jeunesse ( SLPJ ) in Seine- Saint-Denis; der Abschnitt „Französischsprachige Comics von heute“ der Cité Internationale de la Bande Dessinée et de l’Image in Angoulême; „Biblibox“ über innovative, spielerische Buchprodukten sowie die digitale Installation einer Web-Serie für Heranwachsende: Miroirs (SLPJ, 2017). Zudem stellte die Mitwirkung junger Akteure bei der Gestaltung des Veranstaltungsprogramms mit einer Reihe von für Jugendliche und von Jugendlichen gedachten Initiativen einen gewichtigen Punkt dar, darunter der Entwurf des Pavillons aus einem Studentenwettbewerb der École Supérieure d’Art et Design in Saint-Étienne. 7 Am 20. und 21. Januar 2017 eröffnete in Frankfurt die Gesellschaft zur Förderung der Literatur aus Afrika, Asien und Lateinamerika (Litprom e. V.) das ganzjährige Begleitprogramm zum Gastlandauftritt mit der Veranstaltung „Weltwandeln in französischer Sprache“. Dabei diskutierten französischsprachige AutorInnen aus Asien, Afrika und der Karibik über ihr Verhältnis zum Französischen. Nicht unumstritten blieb im Hintergrund der Verweis auf den Begriff der ‚Frankophonie‘, womit sich die Debatte in den Medien beschäftigte. 8 Gegen die Vorstellung eines in Anlehnung an postkoloniale Bezeichnungen definierten Sprachraums unter dem kulturellen Einfluss und Vorbild Frankreichs richtete sich bereits 2007 das von 44 französischsprachigen AutorInnen, darunter dem Nobelpreisträger Jean-Marie Gustave Le Clézio, unterzeichnete Manifest Pour une ‚littérature-monde‘ en français. 9 Der frankreichzentrierten „vision d’une francophonie“ setzt die „littérature-monde en français“ (Le Monde 16.03.2007) die bunte Vielfalt einer Sprache ohne Nation entgegen. Eine Sprache, wie noch das Programm von Francfort en français erklärte, die als „langue de préférence“ (Fef 2017: 35) für viele nicht in Frankreich oder anderen französischsprachigen Territorien geborene SchriftstellerInnen zu verstehen sei. Die Bandbreite der Weltliteratur auf Französisch erweist sich somit deutlich größer als diejenige der Frankophonie. 10 Durch eine 180-Grad-Wende änderte die Organisation des Ehrengastauftritts, unter der Leitung des ehemaligen stellvertretenden Direktors des Institut français in Marokko, Paul de Sinety, das Konzept des Gastlands grundlegend. Kern des Auftritts war nun nicht eine Kulturnation und die Darstellung ihrer literarischen Tradition, sondern eine weltweit verbreitete Sprache, durch all diejenigen vertreten, die 49 Dossier „in ihrer schriftstellerischen Tätigkeit“ diese „zu ihrer Heimat gemacht haben“ (Xavier North in Fef 2017: 9). In den Worten Juergen Boos’ „rückt[e]“ somit der Ehrengast „die Sprache als identitätsprägende Ausdrucksform in den Mittelpunkt“ (Die Welt 15.02.2017: 21). Die große Auswahl an AutorInnen sollte laut Paul de Sinety die „verlegerische Aktualität“ (ibid.) einer Literaturbranche in Frankreich zum Vorschein bringen, die seit geraumer Zeit von Literaturen aus der ganzen Welt bereichert und beeinflusst war. Gastfreundschaft und Offenheit wurden zu Schlagwörtern des Auftritts, als Antwort auf zunehmenden Rechtspopulismus. Als Zeichen ihres Engagements unterzeichneten 52 AutorInnen ein Manifest mit einem Zitat Paul Ricœurs aus Sur la traduction (2004): „Hospitalité où le plaisir d’habiter la langue de l’autre est compensé par le plaisir de recevoir chez soi, dans sa propre demeure d’accueil, la parole de l’étranger“ (Ministère de la Culture et al. 2017: 13). Dementsprechend interpretierte auch das Gastland seine Rolle um und definierte sich zugleich als Gast und Gastgeber, indem es weitere französischsprachige Länder zum gemeinsamen Auftritt ‒ und damit zum Teilen der Kosten ‒ einlud. 11 Daher wurde eine Partnerschaft mit der Fédération Wallonie-Bruxelles, dem Gouvernement du Grand-Duché de Luxembourg und der Stiftung ProHelvetia, in Vertretung der französischsprachigen Schweiz, eingeleitet, die in der Gestaltung von Veranstaltungen, Initiativen und eigenen Ausstellungsräumen im Pavillon mitwirkten. Auf der Ausstellungsebene blieb somit auch die Präsentation der französischen Sprache trotz der gewünschten Offenheit des Ehrengasts prinzipiell von Ländern und Regionen des europäischen Raums gestaltet. Die oft auch von Folklore, Imagotypen und Erwartungen zum Nationalcharakter des Gastlandes geprägte Ausstellung von Literatur- und Buchprodukten des Ehrengasts auf Buchmessen ist wohl an die Vermittlung eines Images (cf. hierzu Fischer 1999, Kölling 2014, Körkkö 2017) geknüpft, welches nicht nur die Auswahl an ausgestellten Themen, exemplarischen Werken und AutorInnen beeinflusst, sondern vielmehr die Gesamtheit der Gestaltung, Erscheinungsformen und Narrative. Welche Dimensionen des Literarischen lassen sich in einer solchen Umdeutung des Ehrengastkonzepts im Sinne einer Sprache (oder mehrerer Sprachen) umsetzen? In Hinblick auf diese Frage wird im Folgenden die gesamte „Komposition“ (Scholze 2004) des Ausstellungsraums im Ehrengastpavillon unter Berücksichtigung von semiotischen, ästhetischen Grundelementen ihrer architektonischen, graphischen Präsentation und Wirkungen analysiert und am Beispiel von drei exemplarischen Ausstellungsbereichen behandelt, die anhand der Motive der ‚Sprache‘ und der ‚Innovation‘ auf besondere Art und Weise das Konzept von Francfort en français versinnbildlichten. 2. Eine Baustelle der Sprache Wer im Ehrengastpavillon mit dem Auftritt Frankreichs eine Darstellung der Grande Nation und ihrer monumentalen Geschichte erwartete, musste enttäuscht werden. 12 Gerade umgekehrt versuchte man bei der Gestaltung des Pavillons unter der 50 Dossier Design-Leitung des Schweizer Architekten Ruedi Baur auf deutlich erkennbare Elemente inklusive farblicher Verweise zu verzichten, die zu weitläufigen Bildern Frankreichs und des Französischen führen konnten. 13 Eine besondere Herausforderung und zentraler Schwerpunkt der Arbeit Ruedi Baurs war dabei, der „Logik der Identität“ 14 zu entkommen, um die dialogische Dimension der Sprache hervorzuheben, damit der Pavillon von einem Inszenierungsraum zu einer offenen, interaktiven Struktur werden konnte, in der verschiedene Ausdrucksformen vieler Gäste und Institutionen miteinander ins Gespräch kommen konnten. Aus diesem Kernmotiv entstand zunächst die Idee des Übersetzens als „Spiel mit den Sprachen“, die die Beziehung zwischen beiden Ländern, Gast und Gastgeber, symbolisierte und das Signet der Veranstaltung prägte (Abb. 1): Die Inschrift mit dem Motto „Francfort en français / Frankfurt auf Französisch“ in Form zweier spiegelbildlicher Buchseiten einer zweisprachigen Ausgabe auf Französisch und Deutsch mit einer leeren Spalte dazwischen, wie ein Buchfalz. Abb. 1: Das Signet. Artwork: Ruedi Baur Dieses ist laut Ruedi Baur nicht im Sinne eines Logos sondern als „visuelle Sprache“ zu verstehen: „das Logo hat als Funktion, die Erkennung zu leisten“ (ibid.). Anstelle von eindeutigen Bildkonzepten oder Marken, die an vorgegebene Bedeutungen, Konnotationen und Werbebotschaften anschließen, wie bei Marketingstrategien des sogenannten cultural und nation branding (Dinnie 2005, Aronczyk 2013) üblich, inszenierte das Signet die komplexe Handlung des Übersetzens. Obschon sich die visuelle Komposition an einer grundlegenden symmetrischen Gestaltung orientiert, versinnbildlichen abweichende Wortlängen und ungleiche Nutzung der Fettschrift die Differenz-Beziehung zwischen beiden Sprachen. Der sich daraus ergebende fettmarkierte Text „Francfort / auf Französisch“ suggeriert die abschließende Hybridisierung beim Lesen und die Übergangsbewegung von einer in die andere Sprache. 15 Vermittelt wurde damit ein Prozess, ein transitorisches Verhältnis zwischen beiden Seiten, nicht gängige Länderbilder. Auch die Beschilderung im Pavillon und das Infomaterial der Veranstaltung waren zweisprachig und typographisch analog gestaltet, wodurch die Werte der Reziprozität und der Gastfreundschaft veranschaulicht werden sollten. Dabei zeigt sich, dass die Tätigkeit des Übersetzens nicht bloß eine Übertragung zwischen vermeintlich feststehenden Systemen ist. 51 Dossier Vor dem Hintergrund ähnlicher Überlegungen entstanden auch das Konzept des Pavillons und der Entwurf für die Gestaltung des Ausstellungsraums im Rahmen eines Wettbewerbs an der École Supérieure d’Art et Design in Saint-Étienne. Die Gewinner-Studentengruppe präsentierte das Projekt einer offenen Baustelle: ein architektonisch minimalistisches Ambiente aus schlichten, identischen Holzgestellen, die den Raum durch Bücherregale trennten. Bei der Präsentation des Projekts ist zu lesen: L’utilisation des échafaudages (type profilés) nous évoque la langue en construction et la langue comme un jeu de construction […]. Nous voyons l’édition 2017 de la foire du livre de Frankfurt comme un vaste chantier littéraire. […] Suite à nos recherches, il nous paraissait évident de travailler sur les jeux de traductions, les transparences entre les langues et aussi les intraduisibles en faisant référence au travail de Barbara Cassin (D’Arondel de Hayes / Graham / Lebret / Pelletier 2017: 5). Der Verweis auf die Arbeit Barbara Cassins scheint nicht zuletzt aufgrund der Tatsache treffend, dass die französische Philosophin und Herausgeberin des Vocabulaire Européen des Philosophies: dictionnaire des intraduisibles (Cassin 2004) bei Francfort en français als eingeladene Autorin und Kuratorin der Ausstellung Les routes de la traduction im Pavillon (Kap. 4) mitwirkte. 16 Mit dem Bezug auf den Begriff der ‚intraduisibles‘ ‒ „ce qu’on ne cesse pas de (ne pas) traduire“ (Cassin 2013: 3), der nicht eine Unmöglichkeit, sondern die unendliche Aufgabe des Übersetzens ausdrückt ‒ wird einmal mehr, wie es das Bild des Baugerüstes suggeriert, an die Dimension der Sprache als Prozess erinnert, welcher vielmehr kreative Baustelle möglicher Deutungen der Kultur als Träger einer historischen literarischen Tradition ist. In der definitiven Umsetzung des Projekts (Abb. 2) ermöglichten die leichten, offenen Regale nach dem Kriterium der ‚transparence‘ durch die verschiedenen Ausstellungsbereiche zu sehen. Das Baugerüst spielte damit auf jene Tiefenstrukturen der Sprache an, welche die Rekonstruktionsarbeit der Übersetzung sichtbar macht. Ein identitätsbildendes Verfahren wurde hier in Alternative zu einem vordefinierten Image in Szene gesetzt. Durch eine in gleiche, sich wiederholende Module gegliederte Architektur teilte sich der Raum in verschiedene Bereiche, in mehrere Richtungen und Wege, ohne dominante Bauelemente und Perspektiven, die den BesucherInnen vorgegebene Rundgänge suggerierten und das Ausgestellte nach hierarchischen Strukturen oder narrativen Leitfäden hätten ordnen können. 17 Auf diese Art und Weise fanden die BesucherInnen vor sich eine abwechslungsreiche, mehrfach auslegbare Raumorganisation voller Möglichkeiten, mit unterschiedlichen Angeboten, Ausstellungen, Installationen, Veranstaltungsbühnen und Leseecken (Abb. 3). Das nicht unmittelbar überschaubare Areal inszenierte damit den komplexen, dynamischen Spielraum „eines Stadtzentrums“ (Fef 2017: 15) mit einer Vielzahl von Erfahrungen und Angelegenheiten und ihre innere Diversität. Diese Dimension ermöglichte es auch, den BesucherInnen etwas von der französischen Stadtkultur und ihrem Leben näher zu bringen. Zu diesem Ziel bat auch die Compagnie Ici-Même aus Grenoble tägliche 52 Dossier Abb. 2: Diorama des Ehrengast-Pavillons Art Direcion: Ruedi Baur. Szenographie: Denis Coueignoux und Éric Jourdan (Quelle: Integral Ruedi Baur Zürich/ Paris) Abb. 3: Plan der Ausstellungen im Ehrengastpavillon Art Direction: Ruedi Baur (Quelle: Integral Ruedi Baur Zürich/ Paris) 53 Dossier Abb. 4: Die Bücher-Ausstellung 1000 et une traductions Ballades sonores durch die Wege des Pavillons als akustisches Erlebnis an. (cf. ibid: 22). In dieser labyrinthischen Struktur entstand aus den mit Büchern gefüllten Holzregalen eine umfangreiche Bibliothek der „gesamte[n] Vielfalt der frankophonen Literatur“ (Hierholzer 2017: 35). Im Gegensatz zu einer echten Bibliothek war diese jedoch nicht zu einer gezielten Buchsuche zu nutzen. In der Bibliothèque éphémère von insgesamt 43 000 Bänden aus dem Bestand der Nichtregierungsorganisation Biblionef (cf. Biblionef 2017, Ministère de la Culture 2017) blieben die einzelnen Titel in erster Linie unauffindbar. Mit Ausnahme einzelner thematisch organisierter Kleinbereiche - wie der Auswahl Le cabinet de lecture mit Werken eingeladener AutorInnen zur Lektüre und zum Kauf, den Abteilungen Beaux livres, mit einer Sammlung von 500 Kunstbüchern hinter dem Literaturpodium, und 1000 et une traductions (Abb. 4) mit vom Institut français in über 25 Jahren unterstützten Übersetzungen französischer Werke im Ausland, und schließlich der von der Frankfurter Buchmesse jährlich veranstalteten Ausstellung zum Gastland Books on France (Abb. 3) - wurden die meisten Bücher auf die Trennwandregale des fast 2.200 Quadratmeter großen Pavillons ohne deutlich erkennbare Anordnung verteilt. 18 Die Büchersammlung stellte daher keine organische Ausstellung an sich dar: Sie bildete vielmehr eine zum Kontext der Buchmesse passende Kulisse, die laut Ruedi Baur durch die optische Darstellung von Büchern diverser Art, Genres, Formate und typographischer Vorlagen gleich einen Überblick über die verlegerische Landschaft auf Französisch als Zeichen seiner innerlichen sowie äußerlichen Diversität geben sollte: „Das Buch ist Teil dieser Identität“, sowohl aufgrund des „Inhalts“ als auch der „Ausstrahlung“ 54 Dossier seiner „graphischen Welt“. 19 Dies ermöglichte es den BesucherInnen aber auch, einen Eindruck vom Umfang der literarischen Produktion und Tradition in französischer Sprache zu gewinnen, welche durch die bloße massive Präsenz von Büchern ohne symbolische bzw. historische Einordnung veranschaulicht wurde. Der glücklichen Metapher einer Baustelle der Literatur und der Sprache zum Trotz wurde die Idee der Baustruktur bei vielen BesucherInnen nicht erkannt. Wie die Kommentare des durch die Europa-Universität Flensburg befragten Laufpublikums (cf. Bosshard 2018) bezeugen, hielten BesucherInnen die oft berichtete „Ikea-Optik“ des Pavillons für „sehr verwirrend“ und „irritierend“ aufgrund eines Mangel an bildlichen, kulturellen Bezugspunkten („leider etwas unübersichtlich“, „nicht sinnlicher wie [sic] eine Bücherei“, „es fehlen mir viele Klassiker“). Neben positiven Anmerkungen zu der „interessante[n] Darstellung verschiedener Aspekte der französischen Literatur“ („sehr innovativ, viele verschiedene Angebote“), die die dargestellte „diversity“ schätzten, blieb jegliche Erwartung, das bekannte Bild des Gastlands zu erkennen, unerfüllt: „Erinnert eher an Schweden“, „keine Inspiration für Urlaub“, „nicht typisch französisch“, „keine Repräsentation von Frankreich“ heißt es bei vielen. Einige vermissten dabei die „französische Flagge“, andere „die französische Literaturgeschichte“ oder das „französische Flair“. Allerdings waren unter den am häufigsten genannten Elementen, die im Pavillon erkannt und mit Frankreich verbunden wurden, Essen und Getränke (im französischen ‚Café Strichpunkt‘), Comics und Kinderbücher. An untergeordneter Stelle wurde aber auch die Sprache genannt. Innerhalb dieses Szenarios fanden den ganzen Tag über auf zwei verschiedenen Podien, La grande und La petite scène (cf. Abb. 3), Gespräche, Lesungen und multimediale Aufführungen statt, die dem Publikum in mehr oder weniger konventionellen Formaten Themen, Neuigkeiten und Initiativen der aktuellen Literatur auf Französisch zusammen mit den AutorInnen präsentierten. Im Ausstellungsraum konnten die BesucherInnen hingegen ihr Wissen und ihre Erfahrung mit dieser Literatur in einer Reihe von Ausstellungen und Aktivitäten erweitern, von der Schau zur Geschichte des französischen Verlagswesens des Institut Mémoires de l’édition contemporaine (cf. Fef 2017: 16) mit Chronik-Tafeln und typographischen Exponaten bis zum virtuellen Besuch des Online-Katalogs der BNF und zum Ausprobieren mit neuen digitalen, innovativen Leseproduktionen. Dazu gesellten sich etliche Installationen, darunter auch La Cabine L.I.R. des Théatre Nouvelle Génération in Lyon, eine Lesekabine mit einer kleinen Auswahl an Büchern, die durch die dreidimensionale Aufführung von Theaterperformances die Fiktion des Buches zum Leben erweckte (Fef 2017: 18sq.). Mit einer Reihe unterschiedlicher Präsentationsformen und Aktivitäten forderte der Ehrengastpavillon statt einer „durch die Aura von Exponaten und Räumen abgesicherten, kontemplativen Rezeption von Literatur“ (Seibert 2011: 29) den interaktiven Besuch eines spielerischen performativen Raums, der Literatur zugleich als Kulturerbe, Produkt und kreatives Instrument des Kulturaustausches in Szene setzte. Dabei führte die Initiative des Ehrengasts nicht so sehr zu musealen Modi der Selbstrepräsentation, sondern zu einer reflexiven Herangehensweise, die über 55 Dossier Dimensionen und Handlungsmöglichkeiten des Literarischen reflektierte, indem sie, wie im Folgenden genauer dargelegt wird, mit neuen literarischen bzw. literaturwissenschaftlichen Praktiken, Lese- und Verwendungsarten des Texts experimentierte. Abb. 5: Der Ehrengastpavillon. Fotos: Integral Ruedi Baur Paris/ Zürich 3. Die Gutenberg-Druckerpresse und die Darstellung der Schriftkultur Zweifellos legt der kommerzielle Aspekt der Buchmesse bei der Präsentation von literarischen Neuerscheinungen eine im Vergleich zum Literaturmuseum höhere Aufmerksamkeit auf die Produktionsseite. In der Wahl von Exponaten und Ausstellungstrategien bedeutet dies eine verstärkte Präsenz des Buchs sowie weiterer, im Bereich der digitalen Leseerfahrung einzuordnender ‚neuer Medien‘, welche bereits seit Mitte der 1990er Jahre einen Schwerpunkt der Frankfurter Buchmesse bilden (cf. Götz 1999). Die verschiedenen Ausstellungen im Ehrengastpavillon brachten nicht nur die große Vielfalt der Verlagsproduktion in französischer Sprache zum Vorschein, sondern inszenierten zugleich deren Herstellung und Entwicklungsgeschichte. Beispiel dafür war die Installation der Replik einer alten Druckerpresse im Pavillon, welche die Erfindung Johannes Gutenbergs um das Jahr 1450 bezeugte, die den Einstieg in die Buch-Ära und den Anfang der modernen Lesegesellschaft bedeutet hatte. Das Projekt stammte aus der Ausstellung Print! Les premières pages d’une révolution (04.-31.10.2017) des Musée International de la Réforme der Stadt Genf 20 anlässlich der Feiern des 500-jährigen Jubiläums der Reformation. Martin Luthers 56 Dossier am 31. Oktober 1517 angeschlagene 95 Thesen sowie seine berühmte Bibelübersetzung fanden durch die Druckerpresse weltweite Verbreitung. Mit Verweis auf jene Zeit der Revolutionen, die Europa durch grenzüberschreitende Gedankenwege mithilfe des Buchs in die Modernität versetzte, wurde im Ehrengastpavillon mit Unterstützung von ProHelvetia eine originalgetreue Kopie des drei Meter großen mittelalterlichen Druckgeräts nachgebaut. Die Installation sollte aber auch als eine Hommage an die Geschichte des gegenseitigen Kulturaustausches zwischen Deutschland und Frankreich und seine Zukunft verstanden werden. 21 Wie die medienanalytische Theorie Marshall McLuhans bereits 1962 erklärte, trug die Druckerpresse als wesentlicher Bestandteil der technischen und intellektuellen Erneuerung der Moderne nicht zuletzt zum Aufbau des nationalen Bewusstseins und zur „Uniformität der Kultur“ durch die Sprache innerhalb von Nationalstaaten bei (McLuhan 1995: 293). Die historische Bedeutung des Buchdrucks als „Uniformierungsmittel“, das „die Volkssprachen zu Massenmedien machte“ (ibid.), erscheint im Übrigen als Grundlage jener Verbindung von Buchmarkt und Politik, die sich noch heute in der Unterstützung und Mitwirkung der Regierungen im Verlagsmarkt zeigt und die Praxis des Gastlands auf heutigen Buchmessen anregt. Mit dem Ehrengastauftritt beabsichtigten Frankreich und seine Partner, die französische Sprache über nationale Grenzen hinweg neu zu denken und in Bewegung zu bringen. Dafür fungierte die Installation des Druckapparats als Instrument einer einzigartigen Performance, die von der einmaligen Anwesenheit so vieler französischsprachiger AutorInnen im Raum der Buchmesse profitierte. Unter dem Titel Hier drucken die Autor*innen (cf. Fef 2017: 16) konnten etwa 60 eingeladene SchriftstellerInnen die erste Seite eines ihrer Werke zweisprachig auf Französisch und Deutsch vor dem Publikum drucken. 22 Dafür wurde eine spezielle, auf der Basis des Signets und der Grafik des Ehrengasts entworfene Druckmaske verwendet (Abb. 6-7). Die implizite Bedeutung der Performance für die deutsch-französischen Beziehungen wurde schon anlässlich der Eröffnung deutlich, bei welcher Staatspräsident Emmanuel Macron und Bundeskanzlerin Angela Merkel zusammen die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948 auf Französisch und Deutsch druckten (cf. Bayer 2017). Indem Werke der Literatur mithilfe der alten Druckerpresse von ihren Autoren live (wieder)erzeugt wurden, verwies die Performance auf den Prozess des literarischen Schreibens und auf seine Mehrdimensionalität. In der Aktion des Druckens inszenierte sich zum einen der Schöpfer-Gestus der écriture, welcher den Text mit dem Siegel seines Autors stempelte, zum anderen aber auch die Benjaminsche technische Reproduzierbarkeit des Kunstwerkes, welche die materielle Seite des Literarischen zum Vorschein brachte. Zwar besitzt die Literatur, wie Heike Gfrereis geschrieben hat, neben „imäginäre[n]“, „historische[n], „artifizielle[n]“ (also sprachlich-syntaktischen) Dimensionen auch eine „materielle“: „das, was zu sehen ist und da steht, was als Bild (in Zeilen angeordnet) oder Körper (in Buchdeckel gebunden) begreifbar ist“ (Gfrereis 2012: 271). Diese wird aber erst sichtbar, „wenn wir noch 57 Dossier nicht oder nicht mehr lesen“ (ibid.). Die physikalische, greifbare Nähe zu AutorInnen machte aus der Performance ein Event, das die Aufmerksamkeit auf die „außerliterarische Referenzialität“ (ibid.) der Figur des Autors lenkte und zugleich auf den kommerziellen Wert der Literatur: Die einmalige Teilnahme des Autors an der Performance machte aus dem Druckerzeugnis ein Unikat. Die Beteiligung des Publikums an der Performance spielte dabei eine wesentliche Rolle, als Teil des Auftritts und potenzielle Leser. Damit der gedruckte Text nicht lediglich auf dem Papier bleibt, braucht dieser einen Rezipienten, der seine imaginäre, artifizielle Dimension wiedererweckt. Abb. 6-7: Zweisprachiger Druck einer Seite aus Un roman russe (2007) von Emmanuel Carrère Fotos: Integral Ruedi Baur Paris/ Zürich 58 Dossier Die in Zeiten der wachsenden Digitalisierung ‒ in der Buch- und Textherstellung sowie des Lesens (cf. Kuhn/ Hagenhoff 2017) ‒ zwar altmodisch wirkende Maschine stand mit ihrer Aura in Verbindung mit jenen neuen Technologien, die in gewisser Weise die Überwindung des Buchs darstellen und heute seine Existenz gefährden. Die Druckerpresse wurde von der künstlerischen Leitung absichtlich kontrastiv neben das Atelier numérique platziert, eine „permanente öffentliche Redaktions- und Multimediasitzung“ (Fef 2017: 17) im Herzen des Pavillons, aus welcher junge JournalistInnen und KünstlerInnen live Nachrichten und visuelle Beiträge aus dem Ehrengastpavillon mithilfe diverser Medien wie Radio, Internet und Fernsehen verbreiteten. 23 Das direkte Kontrastieren der frühmodernen Praxis des Buchdrucks mit neuen Kommunikationssystemen diente nach Ansicht des künstlerischen Leiters Ruedi Baur der Darstellung einer „Überlappung“ von geschichtlich abwechselnden Formen der Schriftkultur 24 anstelle der Idee einer progressiven Entwicklung. Aus demselben Grund fand im Pavillon während der ganzen Dauer der Buchmesse auch eine Kunstperformance von jungen Kalligraphen der École Estienne in Paris statt, die die freien Fensterscheiben der großen Ausstellungshalle mit Sprüchen und Äußerungen aus den laufenden Podiumsdiskussionen bemalten (Abb. 8-9). Nach dem Prinzip der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, die nach Ernst Bloch im weiteren Sinne als Inbegriff moderner Gesellschaften gelten kann (cf. Dietschty 2012: 590sq.), fanden sich im Pavillon die koexistierenden Momente der Schrifttechnik ‒ Handschrift, Druckkunst und Digitales ‒ ohne Hierarchisierung gleichermaßen vertreten. In dieser Hinsicht erwies sich das urbane Modell mit seinen simultanen Existenzen als Vorbild für den Pavillon: Wie eine Stadt, die im Laufe der Jahrhunderte aus unterschiedlichen Schichten entsteht und die Spuren ihrer Vergangenheit bewahrt, indem sie diese ins Neue verwertet, zeigte sich hier durch eine Ausstellung im Werden die Gesamtheit aktueller Lese- und Schriftmöglichkeiten als sich gegenseitig ergänzende und miteinander im Gespräch befindliche Momente. 4. Literatur(en) zwischen den Sprachen Der für den Ehrengast im Mittelpunkt stehenden Rolle der Sprache und der Übersetzung für die historische (und künftige) Entwicklung des Kulturaustausches widmete sich im Herzen des Pavillons (cf. Abb. 3) die digitale Ausstellung Les routes de la traduction, 25 kuratiert von der französischen Philosophin, Philologin und ehemaligen Forschungsleiterin des CNRS Barbara Cassin. Aus ihren langjährigen Studien zum Begriff und historischen Phänomen der Übersetzung entstand ein epochenübergreifendes Panoptikum, das in Form eines interaktiven Atlas und einer multimedialen Enzyklopädie dem Publikum der Buchmesse auf zwei Bildschirmen und einem großen Touchscreen präsentiert wurde (Abb. 10). Wie andere Installationen im Pavillon, die wie die bereits erwähnte Lesekabine L.I.R. (Livre In Room) oder die Web-Serie Miroirs durch die Anwendung digitaler und audiovisueller Medien einen spielerischen Zugriff auf die Literatur darboten, stellte Les routes de la traduction ein für ein breiteres Publikum zugängliches literaturwissenschaftliches Lehrmittel bereit. 59 Dossier Das wachsende Projekt von Les routes de la traduction begann 2016 als Teil der Ausstellung Après Babel, traduire (14.12.2016-20.03.2017), die im Musée des civilisations de l’Europe et de la Méditerranée ( MuCEM ) unter der Leitung von Barbara Cassin in Marseille veranstaltet wurde. 26 Unter den Mitgliedern des wissenschaftlichen Rats für die Ausstellung war damals der ehemalige Délégué général à la langue Abb. 8-9: Handschriftliche Dekorationen der Fenster des Forums. Fotos: Integral Ruedi Baur Paris 60 Dossier française et aux langues de France im Kulturministerium, Xavier North, welcher als Berater für die französische Sprache bei Francfort en français mitwirkte (cf. Fef 2017: 9). Aufgrund der starken Übereinstimmung mit dem Schwerpunkt des französischen Auftritts wurde Les routes de la traduction in den Ausstellungsraum des Pavillons eingegliedert und mit Blick auf eine kommende Ausstellung bei der Fondation Martin Bodmer in Genf im November 2017 um einige neue Routen erweitert und angepasst. 27 Die Grundidee der Software sowie der beiden genannten Ausstellungen basierte auf einem Verständnis des Übersetzens als Praxis des Übertragens und Handelns mit der Differenz, die die historische Überlieferung von Texten in verschiedenen Sprachen ermöglichte: „savoir-faire avec les différences, qui transporte, ‚tra-duit‘, un même ‒ quelque chose comme un ‚original‘ ‒ dans de l’autre“ (Cassin 2017: 9), heißt es im Ausstellungskatalog. Aus diesem Begriff der Übersetzung wurde die graphische Gestaltung des Interface entwickelt. Mit Hilfe einer interaktiven Weltkarte zeigte das Programms die Ein- und Ausfuhrbewegungen eines Textes von einer in die andere Sprache, von einem zum anderen Teil der Welt am Beispiel einiger der am stärksten verbreiteten Werke der Philosophie-, Theologie-, Wissenschafts- oder Literaturgeschichte der Antike und der Moderne. Abb. 10: Die Installation Les routes de la traduction im Ehrengastpavillon In der Synchronansicht der Weltkarte wurden Richtungen und Verästelungen der verschiedenen Übersetzungen eines Werkes im Laufe der Zeit dargestellt. Der Nutzer konnte ihren sich überkreuzendenden Verlauf über Jahrhunderte hinweg verfolgen, als ob sie U-Bahn-Linien mit entsprechenden Haltestellen in den wichtigsten Kulturzentren aller Epochen wären: Athen, Rom, Alexandria, Konstantinopel, Paris, Weimar, London, Moskau, Peking usw. Beim Klicken auf jede Haltestelle skizzierte eine Animation die Bewegung des Werkes im geographischen Raum und in der Zeit. Damit zeigte sich in konkretem Maße auch die Tragweite der Differenz zum Original, 61 Dossier die jede Übersetzung als „réinvention“ (Cassin 2017: 9) mit in den Text einbringt. Literarische Werke (als Schöngeistige Werke im Sinne der lettres) im Hinblick auf den Weg ihrer Übersetzungen und verschiedenen Editionen zu denken, heißt, diese zunächst in ihrer textuellen Materialität als sprachliche, historische Erzeugnisse zu verstehen, welche dem Wandel der Zeiten ausgesetzt sind. Die hier thematisierte und in Form von Bildern und Erklärungstafeln dokumentierte Materialität der Literatur ermöglicht es, hinter jede abstrakte, logozentrische Vorstellung des Werks im Sinne eines reinen Inhalts des Denkens ohne Träger ‒ schließlich auch ohne Sprache ‒ zurückzugehen und es als physisches Artefakt zu erfassen. 28 Die Darstellung der Materialität durch die digitale Distanz befreit zugleich das Werk von der Aura des Originals und verweist exemplarisch auf die Wandlungsformen der Kultur. Der in Frankfurt vorgestellte, mehrsprachige Atlas präsentierte neun Routen nach dem Namen repräsentativer Autoren und Werke verschiedener Bereiche des Wissens und der Kultur, die weltweite Wirkung hatten. Der Nutzer konnte einzelne Linien wählen und so einen Rundgang unternehmen, der dem Weg dieser Übersetzungen folgte. Texte und Bildmaterialien legten dessen Entwicklungsphasen durch verschiedene Manuskripte, Ausgaben, nachfolgende Revisionen und Neufassungen dar. Neben den Routen „Aristoteles“, „Euklid“, „Galen“ und „Ptolemäus“, deren Schriften sich in Griechisch, Latein und Arabisch durch die Knotenpunkte der antiken und mittelalterlichen Gesellschaften am Mittelmeer und in Nahen Osten bis in unsere Zeiten verbreiteten, zeichneten die Linien „Luther“ und „Marx“ mit der Weiterübersetzung der bereits ins Deutsche übersetzten Bibel von Luther und des Marxschen Kapital die Stromketten moderner Revolutionen durch Europa und Asien weit bis zum amerikanischen Kontinent. Die neu hinzugefügte Linie „Rameaus Neffe“ führte bis nach Petersburg in der Zeit der Aufklärung hin und zurück. Diese zeigte den langen Weg des dort gefundenen Manuskripts zu Le Neveu de Rameau (1762-1782) von Denis Diderot bis nach Frankreich, so lang, dass die zweite Satire des Aufklärers erst durch eine rétrotraduction der deutschsprachigen Fassung von Goethe ins Französische bekannt wurde. Von Indien bis Persien, von Bagdad nach Griechenland, von Spanien bis zum Norden Europas wanderten die Erzählungen von Tausendundeiner Nacht („1001 Nacht“) durch die Jahrhunderte, kumulative Änderungen und Erweiterungen, als polymorphes, polyphonisches und mehrsprachig verfasstes Werk der Weltliteratur schlechthin. Als ein riesiges Netzwerk erweist sich schließlich die Linie „Tim und Struppi“. Über die ganze Welt verstreuten sich ab dem Jahre 1946 die Übersetzungen der Comicserie Les aventures de Tintin et Milou (1929-1983) des belgischen Zeichners Hergé (Georges Rémi) in mehr als 40 Sprachen. Vor dem Hintergrund dieses komplexen Netzes drehte Les routes de la traduction das von Goethe formulierte Konzept der „allgemeine[n] Weltliteratur“ (Goethe 1999: 356) um, indem die Ausstellung die „littérature mondiale“ als Ergebnis einer Dynamik der Übersetzung ohne Universalitätsanspruch erfasste: car c’est l’école aussi de Martin Bodmer, lorsqu’il inscrit la traduction dans le ‚fluide littéraire mondial‘: ‚La littérature mondiale est donc, à proprement parler, indirecte ‒ un effet plutôt qu’une réalité (ce serait là le concept même de la traduction) […]‘ (Cassin 2017: 10). 62 Dossier Die Aufgabe der Übersetzung, das Hin- und Hergehen zwischen den Sprachen ist der einzige Spielraum einer Literatur, die eine weltliche Dimension jenseits jeder „pathologie de l’universel“ beansprucht: denn „l’universel est toujours l’universel de quelqu’un“ (Cassin 2016: 36). Als Erfahrung der Vielschichtigkeit der Sprachen hat die Übersetzung nach Cassin gerade die Fähigkeit dazu, das Universelle zu verkomplizieren: „compliquer l’universel“ (ibid.: 12). Jede Sprache, wie potenziell jeder Sprecher, bildet ein eigenes Universum. Wie Les routes de la traduction versinnbildlicht, erweist sich in ähnlicher Weise auch die Tradition im Sinne der schriftlichen Überlieferung eines Korpus von Werken in verschiedenen Sprachen als kein bereits definiertes Absolutum, sondern als ein unendliches Gespräch. Der Aporie der Kommunikation zwischen nicht-austauschbaren Sprachsystemen widmete sich die Arbeit Cassins mit dem Projekt ihres bereits in vielen Sprachen angepassten Dictionnaire des intraduisibles: eines Wörterbuchs unübersetzbarer Begriffe verschiedener Sprachen, die nichtsdestotrotz die Kulturen der Welt wechselseitig prägen (cf. Cassin 2004). 29 Auch die Ausstellung Les routes de la traduction im Ehrengastpavillon, einem Pavillon „dédié à la langue française“ (Fef 2017: 8), ist vor diesem Hintergrund zu lesen. So Barbara Cassin: Le français pour moi c’est plus qu’une langue à l’intérieur, c’est-à-dire qu’il y a des français […]. C’est une langue qui ne se comprend qu’avec les autres langues et en interaction avec elles, et cette interaction s’appelle la traduction. (Barbara Cassin, Interview am 27.05.2018, Kursivierung M. A.) Ähnlich wie die Wege der Übersetzungen und ihre Verkehrssysteme, die die Konsistenz der Tradition in Frage stellten, zeigte sich im Raum des Pavillons eine Ausstellung des Französischen jenseits fester, erkennbarer Identitätsbilder, indem die Sprache als ein in sich und für das Publikum offenes System in Bewegung inszeniert wurde. Ferner deutet Les routes de la traduction auch auf die Möglichkeit hin, dass dieses System durch die Übersetzung zugleich auch immer Teil eines anderen Systems sein kann, wie nach dem Babel-Mythos oder jenem berühmten Satz Umberto Ecos mit Blick auf Europa, der auf einem Schild neben der Installation zu lesen war (Abb. 10): „La traduzione è la lingua d’Europa“ („Die Sprache Europas ist die Übersetzung“) - ein Gesichtspunkt der Pluralität europäischer Kulturen und Sprachen, die bis jetzt von der Politik kaum beachtet und nur von der Kulturbranche herausgestellt wird, wie das Beispiel der Frankfurter Buchmesse zeigt. 30 5. Walden Ausgehend von einer Idee des Pariser Autors Philippe Djian und dessen Sohn, Loïc Djian, Dokumentarregisseur, wurde der Öffentlichkeit im Ehrengastpavillon das Projekt Walden mit der Unterstützung der Fondation Jan Michalski und des Centre National du Livre vorgestellt: eine literarische Plattform zur Internetnutzung und vir- 63 Dossier tuellen Navigation mittels Kopfhörer und VR-Brille. Der Titel verweist auf das gleichnamige Werk Henry David Thoreaus, Walden or Life in the Woods (1854) und auf den Rückzug des amerikanischen Philosophen vom gesellschaftlichen Leben. Auch die Installation ermöglichte den BesucherInnen auf der Buchmesse, mithilfe der VR- Technologie in einen ruhigen, vor der Außenwelt geschützten Raum in Form eines Waldes einzutauchen. In Übereinstimmung mit dem Grundkonzept des Pavillons wandelte sich nun das Flanieren durch die Ausstellung in einen virtuellen Spaziergang durch einen ‚parcours sonore‘. 31 Die mittlerweile in erweiterter Form im Internet verfügbare Anwendung 32 bestand in der ersten Version in einer freien Route aus neun literarischen Stationen (cf. Walden 2017: 3), die in der Installation im Pavillon als entsprechend nummerierte Etappen mit VR-Ausrüstung aufzufinden waren (Abb. 6) und eigene Erfahrungen und Spiele mit der Literatur anboten. Durch den Wald wandernd konnte der Nutzer sich von visuellen und akustischen Elementen an bestimmte Ecken lenken lassen und interaktive Objekte in der natürlichen Umgebung entdecken, deren Betätigung den Zugang zu Textfragmenten französischsprachiger AutorInnen, sowie Biographien, Zitaten und weiteren Informationen in kreativer Form von Lesetexten, Hörspielen oder Grafik-Animationen ermöglichten. Anders als für den Internetnutzer war der Rundgang für die BesucherInnen des Pavillons auf der Buchmesse durch kleine Unterbrechungen gekennzeichnet, um von einer Station auf die andere zu wechseln. Die Nummerierung gab jedenfalls keine feste Reihenfolge vor, da sich die verschiedenen Inhalte der einzelnen Stationen, wie bei elektronischen Hypertexten üblich (cf. Kammer 2000: 212sq.), nicht nur linear, sondern nach rhizomatischen Strukturen miteinander verknüpfen ließen. Obwohl die schlichte äußerliche Organisation im realen Raum des Pavillons die innere Komplexität der Plattform nicht erkennen ließ (wohl aber ihre immersive Dimension durch das in die virtuelle Realität eingetauchte, abwesend wirkende Publikum), bildete der multilineare Aufbau des Hypertexts ein wesentliches Element des Spiels und deutete auf die Erfahrung des dichterischen Wanderns in der Sprache hin. Der „expérience […] aux frontières de la langue française“ (Walden 2017: 3) widmete sich Walden sowohl formal wie thematisch durch seine neun Kapitel aus Zeugnissen, Experimenten und Hommagen an AutorInnen verschiedener Herkunft, die in der französischen Sprache einen Zufluchts-, Exil-, Entfremdungs- und Liebesort fanden. Beispiel dafür sind die Abschnitte „Aucune langue n’est langue maternelle“ und „La langue et l’exil“ (cf. ibid.: 4-7) mit Zitaten und Aphorismen u. a. von Emil Cioran, Gilles Deleuze, Marcel Proust, Samuel Beckett, Eugène Ionesco, Agota Kristof, Apollinaire; oder „Ce qu’ils battent, Nos coeurs de jeunesse! “ mit Auszügen aus dem ursprünglich auf Russisch verfassten Gedicht „Le Gars“ (1922) von Marina Tsvetajeva, das die Autorin im Französischen neu schrieb; „Le passé est encore à venir“ aus dem Liebes-Briefwechsel zwischen Marina Tsvetajeva und Rainer Maria Rilke; „Ne faites pas de bruit, ne parlez pas“, mit Hörspielen von vier vom kongolesischen Autor Alain Mabanckou gewählten SchriftstellerInnen (Bessora, Édouard Glissant, Aminata Sow Fall, Jean-Joseph Rabearivelo). 64 Dossier Abb. 11-13: Die VR-Installation Walden im Ausstellungsraum des Pavillons Fotos: Walden 2017 / Loïc Djian 65 Dossier Dem Hören und der Musikalität der Sprache waren hingegen folgende Etappen gewidmet (cf. ibid.): „Rainer Maria Rilke, un hommage en musique“, zehn musikalische Bearbeitungen von „Vergers“ (1926), einem der französischen Gedichte Rilkes (Abb. 14); „Générateur de poésie“, mit Audio-Zitaten aus Filmen (Luis Buñuel, Aki Kaurismäki), Gedichten (Henri Michaux) und Interviews (Jean-Luc Godard); „Au-delà du langage (la poétique de l’oralité)“ mit experimentellen Werken der Lautpoesie (Vincent Barras, Jacques Demierre, Anne-James Chaton, Pierre Guéry, Bernard Heidsieck, Michèle Métail, Valère Novarina, Charles Pennequin); „Quand tu aimes il faut partir“, in der die Kombination von verschiedenen Tonumgebungen und Interpreten die visualisierten Verse von „Tu es plus belle que le ciel et la mer“ (1924) des Abb. 14: Ein Poesiebaum mit den Versen vom Rainer Maria Rilkes Gedicht „Vergers“ Bild: Walden 2017 / Philippe und Loïc Djian Abb. 15: Choreographie der Tonumgebungen für das Gedicht „Quand tu aimes il faut partir“ von Blaise Cendrars Bild: Walden 2017 / Philippe und Loïc Djian 66 Dossier Schweizer Schriftstellers Blaise Cendrars (Abb. 15) neu nachstellen. Englische Übersetzungen waren für das nicht französischsprachige Publikum bei jeder Station vorhanden. In ihrer Auffassung ähnlich wie Computerspiele kombinierten die mit der kreativen Mitarbeit von KünstlerInnen, SchauspielerInnen und SchriftstellerInnen entwickelten VR-Erfahrungen von Walden den literarischen Text mit paralleler Anwendung diverser Zeichensysteme wie Sprache, Musik, Grafik und Film, die mit der Lektüre rückgekoppelt waren. Walden lässt sich daher als „Multi-“ und „Mixed-Media-Text“ (Clüver 2001) bezeichnen, in welchem die angewendeten Medien teils selbständig (Text, Musik), teils untrennbar (Ton, Bild und Bewegung) funktionieren. Der literarische Text ist somit um eine augmented reality (cf. Azuma 1997) erweitert, die mit der Imagination und Wahrnehmung des Lesers ins Gespräch kommt und Rezeptionsmechanismen aktiviert. 33 In Form von Musik, Umgebungsgeräuschen und Stimmen von SchauspielerInnen oder AutorInnen ist der Ton überall präsent und verleiht den Textfragmenten einen musikalischen Kontrapunkt, eine lebhafte, auditive Gestalt in der Stille des Waldes, welche die Lekture in einen lauten Dialog des Nutzers, mit sich selbst und zugleich der Umgebung, verwandelt. Mit Blick auf die Forschung um die virtual reality hat Marie-Lauren Ryan die konkurrierenden Kategorien der „immersion“ und „interactivity“ (Ryan 1999: 111sq.) als kritische Grundbegriffe auf die Analyse literarischer Werke angewandt. Fördert traditionelles Erzählen („classical narrative“) (ibid.: 125) durch eine gewisse Breite an Informationen eine mehr oder weniger starke Teilnahme des Lesers an erzählten Welten, also die Immersion in diese, ist die Einstellung des Lesers zum Text eher passiv. Durch ein mimetisches Verfahren bleibt dabei die mediale Funktion des Zeichensystems im Werk verborgen. Umgekehrt bringen postmoderne Werke („postmodern texts“) (ibid.) die eigenen Strukturen, Sprachen- und Zeichenelemente in den Vordergrund und tragen damit zu einer selbstbewussten, reflexiven Haltung des Lesers zum Text bei, womit der Leser eine aktive Rolle im Ordnen und Deuten desselben übernimmt. Elektronische Hypertexte stellen nach Ryan das Vorbild dieser Art von Interaktion mit Texten dar, die zugleich textabstrahierend ist. Durch die Abwesenheit vorgegebener Strukturen überlässt der Hypertext dem Nutzer die Aufgabe, mögliche Vernetzungen und Sinndeutungen zu finden: the physical interactivity of hypertext is a concrete metaphor for the mental interactivity promoted by all texts. While every particular path of navigation through a hypertextual network brings to the screen different chunks of text, every particular reading of a non-electronic text highlights differents episodes, links different images and creates a different web of meaning (ibid.: 127). Auch Walden kann als Metapher auf das Lesen und das literarische Erleben gelten. Als innovativer Zugang zum literarischen Text könnte Walden eine Form von Anthologie darstellen, die ‚Klassiker‘ in einer medienübergreifenden Aufbereitung anbietet. Laut den Autoren des Projekts ist die Initiative nicht als Buch-Ersatz intendiert, 67 Dossier sondern als Einladung zum Buch und zum traditionellen Lesen durch attraktive Darbietungsformen, die auch das junge Publikum anlocken können. 34 Neben der offenen hypertextuellen Struktur erweitert auch die Vielzahl an involvierten Zeichensystemen und Sinnen bei der Wahrnehmung und Rezeption des Textes seine Interpretationsmöglichkeiten. In der immersiven Welt eines Hypertextes stellt Walden die interaktive Nutzungsweise der virtuellen Realität in den Dienst einer literarischen Suche durch Texte. Indem der Nutzer durch die fiktionalisierte Umwelt wandert, bewegt er sich sinnproduzierend durch die intertextuellen Vernetzungen des Hypertextes. So Ryan: „In the absence of the directionality imposed by a dominating storyline, it is hoped that the reader will wander for pleasure through the textual space“ (ibid.). Im rasanten Zeitalter der Apps, Echtzeitupdates und intermedialen Netzwerke soll die Erfahrung in dem entspannten, isolierten Ambiente von Walden den Nutzer in eine „disposition physique différente“ 35 versetzen. In dieser Hinsicht lassen sich die Kategorien der Immersion und Interaktion auch mit jenen zwei Formen der Lektüre in Zusammenhang bringen, die Roland Barthes als „Plaisir/ jouissance, Lust/ Wollust“ (Barthes 2010: 12) bezeichnete. Die beim Lesen erregte „Lust am Text“ (ibid.: 15) befriedigt sich durch das Erfüllen von Lesererwartungen („romanhafte Befriedigung“) (ibid.: 22), die die einzelnen Bruchteile zusammenfügen und zu einer wesentlichen Übereinstimmung von Leser und Text führen. Hingegen entsteht die Wollust aus der Erfahrung des Risses, der sich im Text ergebenden „Verwirrung der Sprache“ (ibid.: 12), welche die Intervention des Lesers für die Konstruktion des Sinnes erfordern. Gerade solch ein literarisches Erlebnis würdigt Walden im interaktiven Wandern durch Textfragmente, ihre Dekonstruktion und Nachstellung in anderen Medien. Wie Christian Metz am Beispiel des Literaturmuseums der Moderne in Marbach zeigte, lassen sich Literaturausstellungen im Allgemeinen nach Barthes Begriff der „lustvolle[n] Lektüre“ (Metz 2011) verstehen: bewegt man sich computergesteuert durch den Vitrinenparcours, bis man das letzte fehlende Exponat in das Puzzle einer vorab entworfenen Lesart eingefügt, so erlebt man die von Roland Barthes so genannte ‚Lust am Text‘ […]. Zum anderen aber kann der Besucher den Computer auch links liegen lassen und sich alleine in das unwegbare Materialiengelände stürzen. In diesem Fall wagt er seine eigene und einmalige Lektüre (ibid.: 90sq.). Eine ähnliche Situation erlebten die BesucherInnen des französischen Pavillons, welche die Möglichkeit hatten, sich autonom den unterschiedlichen Literaturangeboten der Ausstellung zu nähern und nach eigenen Schemata zu deuten. Auf diese Weise erweist sich Walden als Paradigma einer Erfahrung der Literatur, die die gesamte Ausstellung im Ehrengastpavillon durch verschiedene Formen der literarischen Produktion und Rezeption entfaltete. 68 Dossier 7. Fazit Ob der Ehrengastauftritt auf der Frankfurter Buchmesse 2017 inhaltlich der vom Gastland angekündigten nicht-frankreichzentrierten Repräsentation der weltweiten Vielfalt der französischen Sprache mit diesem Programm gerecht wurde oder ob diese umgekehrt auf eine Neupositionierung Frankreichs im Herzen Europas abzielte, bleibt offen. Sicher sind jedenfalls offenkundige Auswirkungen dieser Strategie auf der Ebene des Ausstellens von Literatur, welche, wie hier gezeigt wurde, zu einer grundlegenden Verschiebung des Fokus von symbolischen Selbstrepräsentationsformen mittels der Literatur und des literarischen Erbes hin zur vielschichtigen Prozessualität von Praktiken der Sprache sowie der technischen Erzeugung von Literatur führte. Dazu gehörte neben dem Verzicht auf visuelle sowie rhetorische Bilder und semantische Marker, die die Kultur eines Landes in gängigen Diskursen der Öffentlichkeit konnotieren, auch der Verzicht auf eindeutige narrative Strukturen, die durch die Hierarchisierung von Exponaten und Ausstellungsbereichen die Erfahrung der BesucherInnen auf vorgegebene Wege hätten lenken konnte. Eine vielseitig performative Ausstellung eröffnete hingegen die Möglichkeit, Inhalte in verschiedenen Formen selbst einzuordnen und eigene Erlebnisse in einem großen, kreativen Stadtraum der Literatur über mehrere Wahrnehmungskanäle zu erweitern. 36 Eine Vielzahl an textnahen und digitalen Medien und Performances stellte einen vor dem Hintergrund des Übersetzungsbegriffs spielerischen Umgang mit der Literatur dar, welche in vielfältigen Dimensionen und Erscheinungsformen inszeniert wurde: als historisches Kulturerbe durch die Bibliothekkulisse; als materielles Gut in den verschiedenen Instrumenten und Techniken der Schriftkultur; als künstlerische Nutzung der Sprache(n), wie die Praxis des Übersetzens veranschaulichte; als kreative Umsetzung des Textes in verschiedenen innovativen Formen, wie hier am Beispiel der Installation Walden gezeigt wurde. Wird die Literatur als „Kunst der Sprache“ (Genette 1992: 13) verstanden, wurde im Ehrengastpavillon in erster Linie der Vielfalt möglicher Sprachverfahren Raum gegeben. Sollte in den Intentionen der Veranstalter die Literatur in den Dienst des Pluralismus gestellt werden, erfolgte dies im Ausstellungsraum nicht so sehr auf der semantischen Ebene, sondern letztlich dadurch, dass performativ und selbstreflexiv auf das kreative Handeln der Kulturbranche mit der Literatur im sozialen Raum der Buchmesse verwiesen wurde. Inmitten multimedialer, neuer sowie alter Sprachen der Literatur - in Anlehnung an dem berühmten Titel Nelson Goodmans, Languages of art (1968) - befanden sich die BesucherInnen wie der bereits zitierte Leser Roland Barthes vor einem unerwarteten Text, der Ergebnis seiner Lust ist: „Der Text der Lust ist das glückliche Babel“ (Barthes 2010: 12). 69 Dossier Aa.Vv., „Pour une littérature-monde en français“, http: / / lemonde.fr/ livres/ article/ 2007/ 03/ 15/ desecrivains plaident pour un roman en francais ouvert sur le monde _ 883572 _ 3260 . html (publiziert am 16.03.2007, letzter Aufruf am 17.07.2018). Alliance internationale des éditeurs indépendants (Aiei), „Une opération de dons de livres en Côte d’Ivoire: quels impacts pour la bibliodiversité? “, https: / / alliance-editeurs.org/ IMG/ pdf/ dons_en_cote_d_ivoire_quels_impacts_pour_la_bibliodiversite.pdf (publiziert am 15.06.2017, letzter Aufruf am 10.09.2018). Anastasio, Matteo, „‚México, un libro abierto‘. 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Quelle: Walden/ Loïc Djian. 72 Dossier 1 Dieser Artikel entstand im Rahmen des Forschungsprojektes „Buchmessen als Räume kultureller und ökonomischer Verhandlung“ an der Europa-Universität Flensburg (EUF), gefördert von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) unter der Projektnummer 317687246. Das Bildmaterial in diesem Aufsatz ohne Quellenangabe stammt aus dem Archiv der EUF. 2 Zum ersten Auftritt im Jahr 1989 cf. Hertwig 2018. 3 Unter der Leitung des Generalkommissars Paul de Sinety wurde das Programm und die Organisation des französischen Ehrengastauftritts unter dem Motto „Francfort en français“ vom Institut français mit der Unterstützung des Ministeriums für Europa und Auswärtige Angelegenheiten und dem Ministerium für Kultur gestaltet, in Zusammenarbeit mit dem Centre national du livre, dem Syndicat national de l’édition, dem Bureau international de l’édition française (BIEF) und der Organisation Internationale de la Francophonie (cf. Fef 2017: 72sq.). 4 Cf. hierzu Bosshard 2018 (in diesem Dossier) und 2019. 5 So der ehemalige Premierminister Manuel Valls während der Pressekonferenz im Vorfeld der Buchmesse im Oktober 2016: „Il faut redonner envie de France à la jeunesse allemande… et envie d’Allemagne à la jeunesse française“ (Valls 2016: 2); „La culture […] doit aller aux devants, provoquer l’étonnement, l’émotion, la rencontre avec un public jeune“ (4). 6 Joseph Hirsch, Presserundgang im Ehrengastpavillon am 10. Oktober 2017. 7 In dieser Hinsicht veranstaltete auch der Börsenverein des Deutschen Buchhandels im Sommer 2017 ein Mediencamp zum Thema „Du hast das Wort“ mit Jugendlichen aus Deutschland und Frankreich, das die Diskussion zu geteilten „demokratische[n] Werte[n]“ wie Meinungsfreiheit in Hinblick auf den Ehrengastauftritt anregen sollte (Webseite: https: / / wort-und-freiheit.de/ jugendcamp [letzter Aufruf am 17.07.2018]). 8 Cf. u. a. Breidecker 2017, Pollmeier 2017: 21, Roesler-Graichen 2017b. 9 Publiziert in Le Monde 16.03.2007; später veröffentlicht und erweitert in Le Bris/ Rouaud 2007. 10 Diesen Unterschied machte noch der Komitee-Leiter Paul de Sinety klar: „In den frankophonen Ländern ist das Französische lediglich eine Kolonialsprache, die aufgezwungen wurde […]. Das Französische betrifft die Autoren, welche die französische Sprache freiwillig gewählt haben, um sich in dieser Sprache auszudrücken, weil sie sich darin zu Hause fühlen. Das können mal Inder, Bulgaren, Iraner, Afghanen oder auch Argentinier sein“ (Kamman 2017). 11 Ob diese Gastgeber-Haltung dennoch ungewollt nicht den Eindruck einer erneuten Zentrierung um das alte, wohl europäisch und demokratisch revidierte Zentrum der „Frankophonie“ erwecken könnte, bleibt wohl fraglich. Mit ähnlichen Vorbehalten wurde z. B. auch die lancierte Kampagne zur jährlichen Spende von 5 000 Büchern aus Frankreich in die Republik Côte d’Ivoire kritisiert (cf. Aiei 2017). Zumindest von Seiten der Politik lässt sich die Möglichkeit eines solchen Missverständnisses nicht ausschließen: „Cette Foire, c’est aussi une opportunité exceptionnelle pour mettre la France sur le devant de la scène […] [J]e serai heureux aussi de retrouver les talents français, francophones, parce que ce sera l’une des idées de cette invitation, d’ouvrir aux auteurs francophones, et notamment africains, qui font l’honneur de notre langue, et qui l’enrichissent, bien évidemment. […] [L]e rayonnement de nos créateurs, de nos industries culturelles, nous devons bien sûr les porter, ensemble, au sein de l’Union européenne“ (Valls 2016: 3sq); cf. hierzu Bosshard 2019. 12 „Frankreich, wo bist du? “ fragt z. B. Sabine Kinner (2017: 25). 73 Dossier 13 Eine ganz andere Strategie lag hingegen dem Ehrengastauftritt Frankreichs auf der Frankfurter Buchmesse im Jahr 1989 zugrunde. Dazu cf. Hertwig 2018 (in diesem Dossier). 14 Ruedi Baur, Interview am 20.04.2018. 15 Die Wiederholung des gleichen Stammworts franc möchte vielleicht eine Anspielung auf die historische Verbindung germanischer und galloromanischer Völker im Reich der Franken sein. Bekanntlich wurde unter Karl dem Großen die Stadt am Main als „Frankenfurt“ benannt, als Ende des 8. Jahrhundert das Frankenreich seine breiteste Ausdehnung erreichte (cf. hierzu Stalljohann-Schemme 2017: 72sq.). Auf Karl den Großen verwies Oberbürgermeister Peter Feldmann bei der offiziellen Übergabe der Gastrolle an Frankreich am 20. Oktober 2016: Dem Monarchen, der „die Frankfurter Messen ins Leben rief“, widmete die Stadt ein Standbild als Symbol der „besondere[n] Verbindung zwischen Frankfurt und Frankreich“ (Börsenblatt 20.10.2016). 16 Trotz dieser Verbindung, die eine gewisse Übereinstimmung zwischen der Arbeit Barbara Cassins mit dem Konzept des Ehrengastauftritts bezeugt, gab es über das generelle Gestaltungskonzept des Pavillons zwischen der Philosophin und der künstlerischen Leitung keine direkte Rücksprache (Interview mit Barbara Cassin am 27.05.2018). 17 Als perfektes Gegenbeispiel eines bildlich-narrativ aufgebauten Ausstellungsraums gemäß dem Image des Gastlands konnte hingegen der Mexiko-Pavillon auf der Frankfurter Buchmesse im Jahr 1992 gelten (cf. hierzu Anastasio 2019). 18 Wie der künstlerische Leiter Ruedi Baur erklärte, musste in letzter Instanz der ursprüngliche Plan, die riesige Sammlung gespendeter Bücher nach möglichen Suchkriterien (alphabetisch, chronologisch, nach Gattungen, Autoren, Verlagen…) zu erfassen, die als Bezugspunkte für die BesucherInnen dienen sollten, aus Zeitmangel annulliert werden (Interview am 20.04.2018). 19 Ruedi Baur, Interview am 20.04.2018. Nicht zuletzt erwiesen sich die aufgefüllten Bücherregale aber auch als ein gestaltungstechnischer Vorteil für die Akustik des Raums (ibid.). 20 Informationen zu der Ausstellung kann man der Webseite des Museums entnehmen: https: / / musee-reforme.ch/ fr/ Print-2017 (letzter Aufruf am 17.07.2018). 21 Schon Manuel Valls erinnerte an die Erfindung Gutenbergs in diesem Sinne: „l’histoire d’un attachement commun au livre et à l’écrit […] remonte à l’invention de l’imprimerie avec Gutenberg, entre Strasbourg et Mayence, et sa diffusion grâce à la Réforme protestante - ces bouleversements ne manqueront pas d’être rappelés et mis en valeur, je le sais, lors des célébrations de l’année Luther, en 2017“ (Valls 2016: 2). 22 An der Performance nahmen unter anderem bekannte AutorInnen wie Emmanuel Carrère, Amélie Nothomb, Philippe Claudel, Mathias Énard und Mathieu Riboulet teil. Für die komplette Liste cf. Fef 2017a: 25, 32, 36, 42 und 46. 23 Diese wurde in Zusammenarbeit mit Radio France, ARTE, lemonde.fr, dem Deutsch-Französischen Jugendwerk (DFJW) und der École Estienne organisiert (cf. Fef 2017: 17). 24 „Die Kultur des Geschriebenen hat heute eigentlich drei Facetten […]: das Handgeschriebene, das Gedruckte und das Digitale. Diese mussten zusammen sein“ (Ruedi Baur, Interview am 20.04.2018). 25 Frei zugänglich unter https: / / routes-traductions.huma-num.fr (letzter Aufruf am 16.06.2018). 26 Cf. MuCEM, „Après Babel, traduire“, http: / / mucem.org/ programme/ exposition-et-tempsforts/ apres-babel-traduire (letzter Aufruf am 17.07.2018). 27 Les routes de la traduction. Babel à Genève (11.11.2017-25.03.2018). Cf. Fondation Martin Bodmer, http: / / fondationbodmer.ch/ expositions-temporaires/ les-routes-de-la-traduction (letzter Aufruf 17.07.2018). 74 Dossier 28 Zum Einsatz der Materialität in der Literaturausstellung als „Kritik an einer logozentrischen […] Kulturkonzeption“ cf. Böhmer 2015: 88. Eine ähnliche Neubesinnung auf die Komplexität des logos fordert auch Barbara Cassin als Ausgangspunkt ihres Begriffs der Übersetzung: „Pourtant, c’est du logos grec, mot ô combien propre à signaler la prétention à l’universel - lui que les Latins traduisent par ratio et oratio, deux mots pour un: ‚raison‘ et ‚discours‘ -, que je propose de partir pour compliquer l’universel. C’est très exactement, et dans tous les sens du terme, mon ‚point de départ‘. À tenir, à quitter“ (Cassin 2016: 12). 29 Als Weiterentwicklung des Projekts ist nun ein digitales Netzwerk aller Übersetzungen und Adaptationen des Dictionnaire in verschiedenen Sprachen in Bearbeitung: „une espèce de livre culturel mondial“, das zeigen konnte, „comment ça [sc. les différentes traductions] se croise et quelles sont les différences“ (Barbara Cassin, Interview am 27.05.2018). 30 Nicht zuletzt erlaubt der Satz Ecos, der auch von Manuel Valls in seiner Rede zitiert wurde (Valls 2016: 5), im politischen Kontext der Buchmesse auch andere Interpretationen: gegen die Nivellierung der Differenzen unter der Herrschaft einer lingua franca, beansprucht der Ehrengast die Rechte seiner Sprache und Kultur. 31 Die Ausgangsidee der Autoren, eine interaktive Nouvelle Revue Française zu entwickeln, sei auf Vorschlag Paul de Sinetys zu einenm digitalen Rundgang durch die französische Literatur und Sprache weiterentwickelt worden (Loïc Djian, Interview am 9. Mai 2018). Eine ähnliche Sinneserfahrung bot auf analogen Wegen die von der Compagnie Ici-Même im Pavillon veranstaltete Initiative „Klangpromenade“ (Fef 2017: 22). 32 Frei zugänglich im Netz unter https: / / walden-site.com. 33 Zum Einflusspotenzial der augmented reality auf die Lektüre von intermedialen Werken cf. Scheinpflug 2017. 34 „Walden a plutôt comme désir en fait d’animer les gens à lire […] à découvrir des choses“ (Loïc Djian, Interview am 9. Mai 2018). 35 Loïc Djian, Interview am 9. Mai 2018. 36 Trotz der innerlichen Kohärenz des hier auf der Basis des Ehrengastprogramms und der Aussagen der OrganisatorInnen skizzierten Ausstellungskonzepts wurde von den BesucherInnen des Pavillons die Abwesenheit von symbolischen Elementen und strukturellen Bezugspunkten zum Teil als verwirrend empfunden. Die Strategie des französischen Ehrengasts scheint demnach auf allgemeine, an die Kultur des Gastlands geknüpfte Erwartungen und Vorstellungen zu stoßen, die mit dem Ehrengastmodell verbunden sind.