eJournals lendemains 39/153

lendemains
0170-3803
2941-0843
Narr Verlag Tübingen
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2014
39153

‚Studieren‘ versus ‚étudier‘ – aktuelle und historische Perspektiven auf das deutsche und französische Hochschulsystem

2014
Gundula Gwenn Hiller
Thomas Hippler
ldm391530036
36 DDossier Gundula Gwenn Hiller / Thomas Hippler ‚Studieren‘ versus ‚étudier‘ - aktuelle und historische Perspektiven auf das deutsche und französische Hochschulsystem 1. Einleitung Am IEP (Institut d’études politiques Lyon) läuft einiges anders ab als an [meiner Heimathochschule] [ ] Bemerkenswert an den französischen Vorlesungen sind die grotesken Dialoge quer durch den Vorlesungsraum zwischen Studenten und Professor, bei welchen sich mancher Dozent auf das Niveau der Ausrufe der Studenten herunter lässt. [ ] Dieses Spektakel unterbricht auf angenehme Weise den Vorlesungsfluss und ermöglicht es, ab und an den Stift beiseite zu legen und fasziniert den Riten einer fremden Kultur beizuwohnen. 1 Diese Worte aus einem Erfahrungsbericht eines Studenten aus einem deutschsprachigen Land über sein Austauschjahr 2008/ 2009 am Institut d’études politiques (IEP) in Lyon spiegeln gut eine Erfahrung wider, die viele der im deutschfranzösischen Kontext Tätigen gemacht haben und immer wieder machen, seien sie Akademiker, Studierende oder Verwaltungsmitarbeiter: Die Unterschiede in den akademischen Kulturen zwischen beiden Ländern sind so groß, dass sich die Betroffenen manchmal wie Ethnologen vorkommen, die sich auf Feldforschung in völlig unvertrauten Kontexten wiederfinden und grundlegende Kulturkompetenzen neu erlernen müssen. Nicht nur, dass sich institutionelle Strukturen, Kommunikationsformen und der Ablauf von Lehrveranstaltungen unterscheiden, nein, selbst der ‚kulturelle Sinn‘ des akademischen Studiums scheint nicht in gleicher Weise kodiert zu sein. Dies ist insofern bemerkenswert, als einerseits die Hochschulkooperation zwischen beiden Ländern besonders intensiv ist und andererseits der mittlerweile ‚abgeschlossene‘ Bologna-Prozess zum Ziel hatte, einen einheitlichen europäischen Hochschulraum zu schaffen. Was den ersten Aspekt betrifft, so ist, dem politischen Willen entsprechend, die quantitative Dimension der deutsch-französischen Hochschulpartnerschaften, d. h. die Studierendenmobilität zwischen den beiden Nachbarländern besonders hoch. Frankreich ist Deutschlands wichtigster Hochschulkooperationspartner. Mit einer Anzahl von 2753 Partnerschaften 2 zwischen deutschen und französischen Universitäten und Fachhochschulen nehmen die beiden Nachbarländer weltweit eine Spitzenposition ein. Zudem ist rund die Hälfte aller an deutschen Hochschulen überhaupt existierenden binationalen Studiengänge deutsch-französisch. 3 Auch im Bereich des Erasmus-Austauschs nimmt die deutsch-französische Achse eine besonders wichtige Stellung ein. Hinzu kommt 37 DDossier die einzigartige Kooperationsform der Deutsch-Französischen Hochschule (Université franco-allemande). Sowohl die Studierenden in Deutschland als auch die Studierenden in Frankreich sind sehr mobil; so stellten die Franzosen 2010/ 11 die zweitgrößte Gruppe unter den Erasmus-Studierenden dar, gefolgt von Deutschland. Nach Spanien ist Frankreich das beliebteste Land für Erasmusstudierende aus Deutschland, umgekehrt nimmt Deutschland in der Beliebtheitsskala der Franzosen als Erasmus-Studienort die dritte Stelle ein. 4 So kamen im genannten Zeitraum 4555 Studierende aus Deutschland für einen Erasmusaufenthalt nach Frankreich und 2971 Studierende aus Frankreich nach Deutschland. Bei den Dozenten befindet sich Deutschland auf Platz 5 unter den beliebtesten Ländern innerhalb der Lehrendenmobilität. Von insgesamt 2706 Dozenten, die im Jahr 2010/ 11 im Rahmen eines Erasmusaufenthalts an einer deutschen Hochschule lehrten, kamen 200 aus Frankreich. Umgekehrt entschieden sich 220 Deutsche (von 3002) für einen Lehraufenthalt in Frankreich. Das beiderseitige Interesse an Austausch ließe vermuten, dass ebenfalls eine kulturelle Annäherung erfolge. Was die institutionellen Rahmenbedingungen betrifft, so konnte nie vollständig geklärt werden, was mit dem vom Bologna-Prozess intendierten Ziel eines einheitlichen europäischen Hochschulraums eigentlich gemeint war. Ohne die vorläufigen Ergebnisse und Schwierigkeiten dieser Reform diskutieren zu können, sei an dieser Stelle angemerkt, dass grundlegende Koordinaten der Hochschulsysteme in Deutschland und Frankreich unverändert gelassen wurden, so z. B. die Dichotomien zwischen Universitäten und Fachhochschulen oder zwischen universités und grandes écoles. Andererseits wurden die angegangenen Reformen jeweils vor dem Hintergrund eines in den wenigsten Fällen reflektierten nationalspezifischen kulturellen Vorverständnisses davon konzipiert, welche Rolle akademische Bildung überhaupt spielt und spielen soll. 5 Als Folge dessen wird von vielen Kritikern der Reform bemängelt, der bürokratisch gefundene kleinste gemeinsame Nenner betreffe vor allem die Homogenisierung von quantifizierbaren bzw. ökonomischen Kriterien, wobei die kulturelle Substanz der Hochschulen ausgehöhlt worden sei. Angesichts der skizzierten Schwierigkeiten in den trotzdem florierenden binationalen Austauschprogrammen sollen einige Aspekte der sehr unterschiedlichen akademischen Lehr- und Lernkulturen in Deutschland und Frankreich beleuchtet werden. Lehr-/ Lernkultur wird in Anlehnung an die Kultursoziologie als eine besondere Form sozialer Praxis verstanden. 6 Diese verfügt über ein eigenes Sinn- und Bedeutungssystem, manifestiert sich in Kommunikationsstrukturen und -räumen, Diskursen, kontextspezifischen Verhaltensweisen, sowie in ihr eigenen Organisationsformen (z. B. Lern-, Arbeits-, Beratungs- und Prüfungsformen). Die AkteurInnen kultivieren einen bestimmten Habitus, also Handlungs- und Denkschemata, die durch die Sozialisierung in bestimmten Strukturen bzw. eine Verinnerlichung der Erfahrungen und Handlungen der Individuen im sozialen Raum entstehen. Das Zusammenspiel dieser Faktoren prägt die soziale Praxis, d. h. unter anderem die Kommunikation und Interaktion zwischen Studierenden und Lehrenden. 38 DDossier Einige dieser Unterschiede in den sozialen Praktiken sollen im Folgenden dargestellt werden. Das Datenmaterial hierzu setzt sich zusammen aus Interviews mit mobilen Lehrenden und Studierenden, Erfahrungsberichten von Erasmus-Studierenden, dem Protokoll einer Gruppendiskussion sowie einer schriftlichen Befragung von Studierenden des IEP in Lyon nach einem Erasmus-Aufenthalt in Deutschland, einer Befragung ankommender Erasmus-Studierender nach ihren Erwartungen an den Auslandsaufenthalt sowie E-Mail-Kommunikation zwischen Lehrenden und Studierenden. Soweit nicht anders angegeben, wurden die Daten 2010-2013 erhoben. Soziale Praktiken sind natürlich immer abhängig von institutionellen Rahmenbedingungen (Gesetze und Vorgaben), also letztlich nationalen politischen und gesellschaftlichen Faktoren, sowie nationalhistorisch entstandenen Traditionen. Die in einem ersten Schritt erhobenen empirischen Daten zu den Kommunikations- und Interaktionsstilen sowie zu den Lehr- und Lernformen müssen aus diesem Grunde immer an unterschiedliche kulturhistorische Traditionen zurückgebunden werden. Die Bildungsgeschichte geht davon aus, dass sich seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts in Deutschland und Frankreich zwei konträre Idealtypen von Universitäten in Europa entwickelt haben, wogegen man beispielsweise, so der Universitätshistoriker Christophe Charle, in Bezug auf Großbritannien nur im metaphorischen Sinn von einem „Modell“ sprechen könne. 7 Walter Rüegg, der Herausgeber des derzeitigen Standardwerks zur Geschichte der Universität in Europa, bringt den Unterschied der zwei Modelle so auf den Punkt: Zu Beginn des 19. Jahrhunderts öffneten zwei neue Hochschulmodelle den Weg zu einer grundlegenden Reform der herkömmlichen Universität. Im französischen Modell unterwarf der Staat die Spezialhochschulen [...] einer bürokratisch geregelten zentralistischen Organisation und Kontrolle. [...] Das Modell konnte auf der tabula rasa der Französischen Revolution aufgebaut und von Napoleon systematisiert werden. [...] Das Modell behauptete sich über alle politischen Veränderungen hinweg und wurde erst im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts unter dem Einfluß des deutschen Universitätsmodells der Wissenschaftsentwicklung angepaßt. [...] Das deutsche Universitätsmodell trägt in jüngster Zeit den Namen der Humboldtschen Universität. 8 Die Unterschiede der beiden Hochschulsysteme und der daraus hervorgegangen sozialen Praktiken (s. u.) werden von den mobilen AkteurInnen (Studierende und Lehrende) heute noch genauso wie vor 200 Jahren wahrgenommen. Dies soll im Folgenden erörtert werden. 2. Gegenseitige Wahrnehmungen Eine genauere Betrachtung der gegenseitigen Wahrnehmungen verweist auf die grundlegenden Unterschiede der beiden Hochschulsysteme. Zunächst soll die Perspektive der deutschen Studierenden erläutert werden: 39 DDossier Schon nach kurzer Zeit bemerkte ich auch, dass die Art und Weise des Lehrens hier ganz anders ist. Es gibt vor allem weniger Dialog zwischen den Professoren und den Studenten als in Deutschland. [An meiner Heimatuniversität] wurden wir als Studenten durch Diskussionen und Projekte wirklich eingebunden und jeder ist aufgefordert, sich einzubringen und Dinge mit zu entwickeln und zu gestalten. Darüber hinaus sind die Kurse [an meiner Heimatuniversität] nur eineinhalb Stunden lang. Am Politikwissenschaftlichen Institut in Lyon IEP dauern die Kurse zwei bis drei volle Stunden und in dieser Zeit spricht in der Regel nur der Professor, und alle Studenten hängen an seinen Lippen, schreiben und tippen alles mit, um es dann für die Klausur auswendig zu lernen. Also ein ziemlich überholtes pädagogisches Konzept. 9 Wie der Schweizer Universitätshistoriker mit Blick auf weite Teile des 19. Jahrhunderts, so hat auch dieser deutsche Student den Eindruck von Anachronismus im französischen Universitätssystem. Des Weiteren wird hier ein Unterschied stark gemacht, der den meisten Akteuren unmittelbar ins Auge fällt: Französische Studierende schreiben in den Lehrveranstaltungen mit, wogegen sich deutsche Studierende diskutierend einbringen. In Frankreich dienen Vorlesungen vor allem der Wissensvermittlung, wobei die Studierenden, so scheint es zumindest den deutschen Austauschstudierenden, dieses Wissen rein ‚passiv‘ mitschreiben und dann für die Klausur auswendig lernen. Eine ganz ähnliche Einschätzung kommt auch in folgendem Erfahrungsbericht zum Vorschein: [T]rotz dem hohem Ansehen der IEPs in Frankreich, für mich war das Studieren am IEP in Lyon etwas enttäuschend, insbesondere betreffend Niveau. Die Vorlesungen sind sehr deskriptiv gehalten und die französischen Studierenden schreiben jedes Wort der Professoren auf. Analytik, Systematik, Theoriebezug oder Wissenschaftlichkeit habe ich fast gänzlich vermisst. Es geht vor allem darum, viel Wissen anzueignen. Damit man nicht alles selber aufschreiben muss (was grundsätzlich möglich ist, da die meisten Professoren ein deutliches und relativ leicht verständliches Französisch sprechen), empfiehlt es sich, andere Studenten um ihr Script zu bitten. [ ] das IEP habe ich mehr als Gymnasium / Schule als als Universität wahrgenommen. 10 Die Einschätzung ist ähnlich: Die Vorlesungen dienen der Wissensvermittlung und die Studierenden sind passiv. Darüber hinaus wird beklagt, dass das Niveau nicht hoch sei, wobei „Niveau“ mit „Analytik, Systematik, Theoriebezug“ und, zusammenfassend, mit „Wissenschaftlichkeit“ gleichgesetzt wird. Generell scheint ein unterschiedliches Verständnis bezüglich der Natur von „Wissenschaftlichkeit“ vorzuliegen, was vermuten lässt, dass es sich hier um ein zentrales Problem handeln könnte. Aus diesem Mangel an dem, was er unter „Wissenschaftlichkeit“ versteht, erklärt sich, dass das Studium in Frankreich diesem Studenten eher wie Gymnasialunterricht vorkam. Aussagen zur „Verschulung“ des französischen Universitätsstudiums bzw. zum „frontalen Unterrichtsstil der französischen Professoren“ kommen in den erhobenen Daten immer wieder vor. 40 DDossier Diese Wahrnehmungen implizieren natürlich eine These: Im Gegensatz zum Unterricht am Gymnasium sollte das Universitätsstudium ‚wissenschaftlich‘ sein. Genau dadurch soll sich das Universitätsstudium vom Schulunterricht unterscheiden, und wo es das nicht tut, wird es als ‚verschult‘ kritisiert. Zum Verständnis dieser Aussagen muss angemerkt werden, dass sich das französische Bildungssystem in der Tat durch eine starke Kontinuität zwischen den verschiedenen Segmenten kennzeichnet, d. h., was unsere Fragestellung betrifft, zwischen Gymnasium und Universität. Dies hat eine lange Tradition, die sich im Sprachgebrauch sedimentiert hat. Charles de Villers, aus Frankreich stammender Göttinger Professor, der sich vor allem um die französische Kantrezeption verdient gemacht hat, bemerkte aus französischer Sicht schon in seiner 1808 erschienenen Apologie der deutschen Universitäten, dass die deutsche Sprache, im Gegensatz zur französischen, mit ‚studieren‘ ein eigenes Wort für das Lernen an Universitäten kennt. 11 Das gleiche gilt für die deutschen Dichotomien wie Lehrer / Dozent oder Unterricht / Lehre, wo die universitäre Sphäre lexikalisch von der der Schule abgegrenzt wird. Noch klarer wird dieser Unterschied, wenn man die Wortbedeutung des deutschen ‚studieren‘ mit der des französischen ‚étudier‘ vergleicht. ‚Étudier‘ bezieht sich auf alle Formen des institutionalisierten Lernens, und man ‚studiert‘ im Sinne von ‚étudier‘ auf einem Gymnasium genauso wie auf einer Universität. Die Kontinuität ähnelt derjenigen zwischen Grundschule und weiterführenden Schulen: Die Inhalte sind natürlich unterschiedlich und die Lernenden sind älter, aber es gibt keinen prinzipiellen Bruch. Zweitens impliziert die Rede von ‚studieren‘ und ‚Studium‘ eine sehr spezifische Rollenerwartung, die das Studium zu einer besonderen Lebensphase macht, die sich sowohl vom vorhergehenden Schulunterricht wie auch vom darauf folgenden Berufsleben klar absetzt. Die Besonderheit des Universitätsstudiums in Deutschland leitet sich traditionellerweise aus dem Begriff der „akademischen Freiheit“ 12 her, der im deutschen Neuhumanismus aufgegriffen wurde und bis heute die Debatten im deutschen Sprachraum strukturiert. So legt z. B. Wilhelm von Humboldt den Akzent seines Universitätsdenkens klar auf den Bruch, der den Schulunterricht von der akademischen Lehre trennen soll. Im ersten Fall haben wir es mit „fertigen und abgemachten Kenntnissen“ zu tun; im zweiten Fall mit „Wissenschaft“, die bekanntermaßen als „etwas noch nicht ganz Gefundenes und nie ganz Aufzufindendes“ beschrieben wird und deshalb völlig anderer Vermittlungsformen bedarf. 13 In Frankreich hingegen gibt es auch auf institutioneller Ebene eine größere Kontinuität zwischen sekundärer und tertiärer Bildung. 14 Besonders in den Geisteswissenschaften ist es so von jeher üblich, die agrégation - das Äquivalent zum Staatsexamen für das höhere Lehramt - als Bedingung sine qua non für eine Berufung zum Hochschullehrer zu betrachten, und bis vor einigen Jahren war es gang und gäbe, dass Akademiker ihre Laufbahn als Gymnasiallehrer begannen, um, so die Idee, das pädagogische Rüstzeug auch für den Universitätsunterricht zu erwerben. 41 DDossier Da sich diese unterschiedlichen Traditionen sowohl im Lehrstil als auch in der Erwartungshaltung von Studierenden niederschlagen, sind Enttäuschungen auf beiden Seiten vorprogrammiert. So äußert sich ein Student in seinem Erfahrungsbericht folgendermaßen: Das Kurssystem empfand ich mit zunehmender Zeit immer belastender. Es läuft wirklich so ab, dass die/ der Professor/ in zwei bis vier Stunden lang seine Vorlesung hält, die französischen Studierenden jedes Wort auf ihrem Laptop mitschreiben, dies dann auswendig lernen und in der Klausur wiedergeben. Diskussionen finden nicht statt, ebenso wenig werden für die Sitzungen Texte vorbereitet, mit denen mensch sich dann auseinander setzt oder gar Themen mittels Hausarbeiten selbst erarbeitet. Ein kritisches, selbständiges Denken wird am IEP also in keinster Weise gefördert, dementsprechend habe ich auch nicht das Gefühl, mich während der Erasmusjahres am Institut auf intellektuellem Niveau weiterentwickelt zu haben. Das Traurige ist, dass dieses Didaktikmodell wohl an allen Hochschuleinrichtungen in Frankreich vorherrschend ist. 15 Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Austauschstudierende aus deutschsprachigen Ländern das Studium in Frankreich vor allem als monologisch wahrnehmen: Es wird mitgeschrieben und auswendig gelernt, es gibt aber weder Diskussionen noch autonome Durchdringung des Lernstoffes. Des Weiteren gibt es wenig obligatorische Lektüre und keine Hausarbeiten, sondern nur Klausuren. Es fehlt also die Lehrform des (Pro-)Seminars, so wie die Studierenden es aus Deutschland gewohnt sind. Auf der inhaltlichen Ebene wird eine fehlende Wissenschaftlichkeit beklagt und es wird bemängelt, dass kritisches und selbstständiges Denken nicht gefördert werde. Es ist interessant, diese Wahrnehmungen jetzt mit den Einschätzungen französischer Austauschstudierender in Deutschland zu vergleichen. Hier ist grundsätzlich anzumerken, dass die Einschätzungen im Allgemeinen positiver sind. Viele Franzosen sind vom Studium in Deutschland - zumeist nach anfänglicher Irritation - angetan, wohingegen deutschsprachige Austauschstudierende in Frankreich zwar das Leben im Gastland genießen, aber sich selten explizit positiv über das Universitätssystem äußern. Dies bedeutet aber ganz klar nicht, dass am Studium in Deutschland nichts zu bemängeln wäre. Im Gegenteil, auch hier wird mit Kritik nicht gespart. So wendet sich etwa diese Studentin nach zwei Monaten Studium in Deutschland an ihre Ansprechpartnerin an der Heimatuniversität (dem IEP) mit dem Wunsch, das Studium abzubrechen und stattdessen ein Praktikum zu machen. In ihrer Mail schreibt sie: Je suis actuellement à la faculté libre de Berlin, et je me rends compte que le système universitaire allemand, ainsi que le contenu des cours ne me satisfait pas totalement [ ] 16 Auf Nachfrage, warum sie das Auslandsstudium abbrechen wolle, schreibt sie folgendes: Tout d’abord, je me plais quand même à la faculté, mais en raison du système et des méthodes allemandes, j’ai un peu de mal à être satisfaite. Je dois rester trop scolaire et 42 DDossier française, mais j’ai encore besoin d’apprendre des connaissances, de découvrir, et ici, surtout en Seminar (les Vorlesungen sont plutôt rares), il ne se passe pas grande chose [sic] en cours, le professeur n’apporte presque rien, et le cours se constitue d’un exposé fait par des élèves et ensuite d’un amas de commentaires (pour ne pas dire débat) de la part des élèves. Je suis très contente de découvrir un autre système, de voir ce qu’il se passe ailleurs etc., mais ... de mon avis et de celui des camarades, il ne „se passe pas grand chose en cours“ et les débats restent superficiels. Je me rends compte que l’IEP de Lyon me manque au final. 17 Was hier als Hauptquelle der Frustration angegeben wird, ist die weit verbreitete Meinung unter französischen Studierenden, dass man in Deutschland nichts oder nicht viel lerne. Im Folgenden wollen wir der Frage nachgehen, wie dieser Eindruck entsteht. Wie die Studentin bereits angedeutet hat, stört es viele französische Studierende, dass der Professor nicht so viel redet wie in Frankreich, und dass die Studierenden im Verhältnis dazu besonders viel sprechen. In Frankreich wird der Professor als Quelle des Wissens angesehen, und die Studierenden erwarten, dass er das Wissen weitergibt. In den im Rahmen dieser Studie durchgeführten Interviews benutzten die Studierenden Metaphern wie „puits de science“ oder „dépositaire de science“, um die Rolle französischer Dozenten zu beschreiben, was hingegen im neuhumanistischen Diskurs, der die Rollenerwartungen an deutschen Universitäten bis heute maßgeblich strukturiert, ein völliger Widersinn ist, da Wissenschaft, im Gegensatz zum Schulwissen, sich ja gerade durch ihre Nicht-Abgeschlossenheit definiert. Wir luden u. a. auch die oben zitierte Studentin ein zu einem Interview und baten sie, uns ihre Enttäuschung bzw. ihre Erwartungen, Erfahrungen und Eindrücke konkreter zu beschreiben: En France on nous bourre le crâne avec des connaissances, parce que - du coup, moi je trouve ça bien, [ ] j’aime bien apprendre beaucoup [ ] ce qui m’a beaucoup manqué au premier semestre c’est ce [sic] qu’on n’apprenait pas grande chose [sic] au final, bon, on apprend des trucs à travers des textes, mais ça reste oui ça reste enfin je trouve que c’était pas très approfondi. 18 Hier klingt die Erwartung durch, dass der Professor das Wissen eher frontal vermittelt, und dass Lernen als Prozess des „Schädel-Vollstopfens“ angesehen wird (eine ähnliche Metapher verwendete auch eine andere IEP-Studentin in ihrem Interview: „remplir les cerveaux“). Der diskursive Lernstil, der in vielen deutschen geisteswissenschaftlichen Seminaren dominiert, 19 wird nicht als gleichwertig aufgefasst. Bei französischen Studierenden herrscht oft die Meinung, dass die Seminare gerade durch dieses diskursive Lernen oftmals uninteressant sind, und es wird kaum ein inhaltlicher Lernwert darin erkannt. Es scheint lediglich, dass die Studierenden ihre unqualifizierten Meinungen zum Besten geben. Aus französischer Sicht fühlt man sich hier wie in einer Diskussionsrunde, wobei es doch darum gehen sollte, etwas Neues zu lernen. Andererseits erkennen die französischen Studierenden durchaus einen Mehrwert darin, dass man in deutschen Seminaren lernen kann, sich zu äußern (s. u.). 43 DDossier Wie bei ihr der Eindruck von Oberflächlichkeit entstand, schildert die Studentin hier: J’avais l’impression qu’il y en avait qui parlaient sans savoir ou connaître alors qu’en France pour pouvoir parler il faut souvent qu’on s’appuie sur les thèses de machin, de Hobbes, de Rousseau, des choses comme ça. [ ] des fois dans les débats, c’étaient un peu des a prioris, des „moi je pense que, peut-être“, des choses qui ne sont pas vraiment fondées en fait. Also schienen die Äußerungen der Studierenden häufig nicht fundiert, da sie auf keinem Wissensgehalt fußten, sondern eher wie persönliche Meinungskundgaben anmuteten. In Frankreich hingegen sei es so, dass man zunächst die Theorien kennen lernen müsse, um darüber zu sprechen: „En France, on apprend d’abord et puis on parle après, si on l’ose [lacht], et en Allemagne on parle et puis on voit“. Enttäuschend war es für diese Studentin, wenn der / die Lehrende anteilmäßig eher wenig Redebeiträge leistete: Des fois il y avait des profs qui parlaient un peu, qui parlaient pendant un petit quart d’heure et c’était super frustrant, parce que, voilà, c’étaient des puits des science et ils transmettent pas grande chose [sic] finalement et je trouve ça super dommage, quoi, parce qu’on pourrait apprendre plein de trucs. Stattdessen nehmen die Lehrenden aus ihrer Sicht oft keine herausragende Rolle ein, sondern eher die Rolle eines Moderators: Dans les cours de TD ils animent juste le débat, il est juste là pour dire „ah oui“ et „bon“, „d’accord“ et „Qu’est-ce que les autres en pensent? “ [ ] il est vraiment dans le groupe, donc il pourrait être comme un élève. Die Erwartungen an die Rolle des Lehrenden in Frankreich in Bezug auf die Wissensvermittlung werden von einer weiteren IEP-Studentin anschaulich beschrieben: [En France] [ ] pour le contenu des cours, qui apporte [sic] beaucoup de connaissances durant le premier cycle, on ne se sent pas perdu. [Les profs] [ ] on doit aussi reconnaître que beaucoup d’entre eux font des cours vraiment très intéressants en synthétisant pour les élèves beaucoup de connaissances qu’ils auraient trouvés en passant des heures à la bibliothèque sur des dizaines de livres. 20 Auch die anderen Dokumente, die für diese Untersuchung ausgewertet wurden, zeugen davon, dass sich die hauptsächliche Irritation der französischen Studierenden gerade zu Beginn ihres Studiums in Deutschland auf ähnliche Punkte bezieht: Es entsteht der Eindruck, dass man nichts lernt, da der Sinn des diskursiven Lernens häufig nicht erkannt wird. So wird der interaktiv-diskursive Unterrichtsstil oft als wenig konkret erlebt, und die Erwartung, dass der neue Stoff von den Dozenten vermittelt werden sollte, wird hartnäckig enttäuscht. Im Ergebnis erscheinen dann deutsche Seminare inhaltlich nicht als sehr gehaltvoll. Diese Wahr- 44 DDossier nehmung beinhaltet natürlich, dass die selbstständige Textlektüre, die, zumindest in der Theorie, in der deutschen Seminarpraxis einen zentralen Platz einnimmt, in ihrer Bedeutung nicht erkannt wird. Die Rede vom „synthetischen“ Charakter der mündlichen Wissensvermittlung in französischen Lehrveranstaltungen wirft so auch Licht auf einen anderen Punkt: In der französischen Wahrnehmung erfüllt die Vorlesung die Aufgabe, die Komplexität des wissenschaftlichen Lesestoffs zu reduzieren und den Studierenden somit einen Weg zum leichteren Verständnis zu ebnen. Im deutschen Universitätsverständnis gehört andererseits gerade die Konfrontation mit der Komplexität wesentlich zur universitären Bildungserfahrung, und das Studium erfüllt seinen eigentlichen Sinn nur, wenn die Studierenden in der Lage sind, die Reduktionsleistung autonom zu vollbringen. Ein professorales ‚Vorkauen‘ des Lesestoffs steht dem Sinn des deutschen Universitätsstudiums tendenziell entgegen. Aufgrund dieses unterschiedlichen kulturellen Vorverständnisses haben französische Studierende oft den Eindruck, dass die Dozenten an deutschsprachigen Universitäten ihre Kurse gar nicht vorbereiten und nur deshalb die Studierenden reden lassen. Viele französische Studierende beklagen zudem den hohen Abstraktionsgrad akademischer Diskussionen in den deutschsprachigen Ländern („le niveau d’abstraction est encore supérieur qu’en France“ 21 ) und damit die fehlende Anbindung an die Praxis. Im Extremfall haben also mobile Studierende in beiden Richtungen nicht das Gefühl, viel zu lernen. Insgesamt fällt bei der Analyse der Dokumente auf, dass die Studierenden in Bezug auf den Lehr-Lernstil und damit zusammenhängend bezüglich der Rollen der deutschen bzw. französischen Lehrenden (sowie Studierenden) die größten Unterschiede feststellen. 22 Eine Synopse der Datenanalyse zeigt auf, wie die Studierenden den Lehr- und Lernstil des anderen Landes im Kontrast zum eigenen beschreiben, wobei sie auch große Unterschiede in den Arbeits- und Prüfungsformen feststellen. Die folgende Tabelle fasst die zentralen Unterschiede bezüglich der Lehr-Lernbzw. Arbeits- und Prüfungsformen zusammen. Lehr-Lernstil in Frankreich Lehr-Lernstil in Deutschland monologisch frontal Vermittlung eines breiten Wissensspektrums wenig Interaktivität theoretisch dialogisch interaktiv Spezialwissen diskursiv sich entwickelndes Lernen abstrakt Arbeitsformen in Frankreich Arbeitsformen in Deutschland Vorlesungen sind oft sehr lang Studierende schreiben mit Mitschriften anstatt Unterrichtsskripte interaktive Seminare sind sehr häufig mündliche Diskussionen viel Textarbeit 45 DDossier eher keine Begleitlektüre, Reader, Literaturlisten auswendig lernen freie Themenwahl eigenständiges Erarbeiten von Inhalten Prüfungsformen in Frankreich Prüfungsformen in Deutschland finden zu Semesterende statt (Auswendig-)Gelerntes wird in Form von Klausuren abgefragt Lernstoff ist klar definiert Hausarbeiten Referate intellektuelle Eigenleistung wird verlangt oft eigene Zeiteinteilung möglich Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Lehre in Frankreich als strukturierter, gebündelter, vielleicht auch direktiver wahrgenommen wird, d. h. die Lehrenden vermitteln Kenntnisse und leiten die Studierenden an. In Deutschland hingegen beschränkt sich die Rolle der Lehrenden oft darauf, die Zirkulation von Kenntnissen und Ideen zu moderieren. Dementsprechend absorbieren französische Studierende Wissensstoff und verhalten sich in den Lehrveranstaltungen tendenziell ‚passiv‘, während ihnen die deutsche Art der universitären Lehre eine Schlüsselposition zuweist, die sie aktiv auszufüllen haben, indem sie sich einbringen. Die hier identifizierten Rollen von Lehrenden und Studierenden hängen eng zusammen mit den Beobachtungen der unterschiedlichen hierarchischen Strukturen, zu denen sich sowohl die deutschen als auch die französischen Befragten ähnlich äußern: Selon moi, la différence fondamentale entre les enseignements allemands et français réside dans la relation professeur-étudiant. En Allemagne, celle-ci est bien moins hiérarchique qu’en France [ ] Pour en avoir beaucoup discuté avec des étudiants allemands, ils ont tous été très surpris du statut relativement intouchable de l’enseignant français. 23 Der „unglaublichen Hierarchie“, in der französische Professoren wie „Götter“ sind, 24 so eine deutsche Absolventin eines deutsch-französischen Doppelstudiengangs (DFH), steht ein deutsches Hochschulsystem gegenüber, in der „die Beziehungen zu den Lehrern entspannter waren“: „[En Allemagne] les profs sont plus accessibles“. 25 Zu dieser Wahrnehmung eines größeren hierarchischen Gefälles gehört auch die Tatsache, dass in Frankreich Sprechstunden nicht systematisch existieren, was jedoch auch damit zu tun hat, dass nicht alle Dozenten über eigene Büros verfügen, in denen sie Sprechstunden abhalten können. So berichtet eine Studentin aus Lyon nach ihrem Aufenthalt in Deutschland von der „présence des Sprechstunden, concept qui m’a semblé totalement ‚révolutionnaire‘ et que j'ai beaucoup apprécié.“ 26 Dass die Kontaktaufnahme mit Lehrenden in Deutschland anders verläuft als in Frankreich fiel auch Vincent auf, der seine Erfahrungen mit der Sprechstunde weniger enthusiastisch beschreibt: 46 DDossier La Sprechstunde c’est un truc pourri, parce qu’une heure dans la semaine on se bouscule tous pour aller voir un prof qui dit „non, non, il faut venir la semaine prochaine, j’ai plus de temps“. En France, on tape au bureau, le Prof est là ou pas ou on écrit un mail, on le voit. 27 Generell stellen die AkteurInnen fest, dass verschiedene Kommunikationsräume in Deutschland und in Frankreich existieren und dass der Umgang mit diesen Kommunikationsräumen unterschiedlich ist, wobei die Distanz zwischen Studierenden und Dozenten in Frankreich als ausgeprägter wahrgenommen wird. Es liegt auf der Hand, dass dieses hierarchische Gefälle zusammenhängt mit der Rolle der akademischen Lehre. Wenn die Lehrenden wie in Frankreich als Vermittler von Wissen gelten, denn ist es fast unumgänglich, dass die Hierarchie ausgeprägt ist zwischen denen, die das Wissen haben, und jenen, denen es vermittelt werden soll. In Deutschland hingegen sind weder die Studierenden für die Professoren da noch umgekehrt, sondern beide für „die Wissenschaft“. 28 Wissensvermittlung zählt traditionell gerade nicht zu den vorrangigen Aufgaben der Universität, 29 und Lehrveranstaltungen, die sich auf diesen Aspekt konzentrieren, werden als „verschult“ kritisiert. Es liegt auf der Hand, dass ein Begriff wie „verschult“ im Französischen weder existiert noch irgendeinen Sinn ergeben würde. Es folgt daraus, dass Lehrende an deutschen Universitäten ihre Rolle nicht im Hinblick auf Vermittlung von Kenntnissen definieren können; vielmehr haben sie als VermittlerInnen von „Wissenschaft“ („etwas noch nicht ganz Gefundenes und nie ganz Aufzufindendes“) die paradoxe Aufgabe, ein (Noch-)Nicht-Wissen zu vermitteln. Es liegt natürlich auf der Hand, dass dies ein Ding der Unmöglichkeit ist, und der immaterielle „Geist der Wissenschaft“ nur durch die Materialität des Lesepensums vermittelbar sein kann: Das sokratische (Noch-)Nicht-Wissen muss sich immer an positivem Wissen messen lassen können. Zusammenfassend können wir sagen, dass wir es mit sehr unterschiedlichen und in vielen Fällen geradezu konträren Erwartungshaltungen zu tun haben: Wozu dient akademische Lehre und welche Mittel soll sie anwenden, um diesem Ziel nahe zu kommen? Wenn man davon ausgeht, dass es auf beiden Seiten des Rheins das vorherrschende Ziel ist, sich intellektuell weiterzuentwickeln, so ist es dennoch unklar, was das eigentlich bedeutet. Wir werden im nächsten Abschnitt versuchen, einige der längeren Traditionen zu beleuchten, die den unterschiedlichen Stellungnahmen kulturell zu Grunde liegen. 3. Historische Perspektiven auf den kulturellen Sinn des Studiums Einer der Punkte, die unseren Austauschstudierenden immer wieder aufgefallen sind, waren die monologischen Vorlesungen in Frankreich, die mit auf Textarbeit fußenden Diskussionen in deutschen Seminaren kontrastierten. Nicht nur, dass deutsche Studierende mehr reden als ihre französischen Kommilitonen, sie werden auch zu mehr Lektüre angehalten. Auf der anderen Seite gehen deutsche Dozenten, zumindest in den Geisteswissenschaften, oft davon aus, dass ihre Rolle 47 DDossier nicht darin bestehe, in ihren Vorlesungen ein bestimmtes positives Wissen zu vermitteln, sondern darin, dieses Wissen zu hinterfragen und zu problematisieren. Aber Wissen problematisieren zu können, setzt natürlich voraus, dass die Studierenden sich dieses Wissen auf andere Weise aneignen, d. h. konkret durch individuelle Lektüre. Wir haben es also zu tun mit einer symptomatischen Spannung zwischen Lehrveranstaltung und studentischer Lektüre, die sich in beiden Ländern auf je unterschiedliche Weise artikuliert. Dies zeigt ein Blick zurück ins frühe 19. Jahrhundert. Das bekannteste Beispiel aus der deutschen Universitätstheorie ist wahrscheinlich Fichtes Deduzierter Plan für die Berliner Universität, in dem der Autor bekanntermaßen damit anfängt, sich zu fragen, welchen Sinn Vorlesungen nach der Erfindung des Buchdrucks wohl noch haben können. Im Mittelalter gab es kaum Bücher, oder sie waren unerschwinglich teuer. Deshalb waren von Studierenden mitgeschriebene Vorlesungen das bevorzugte Medium der Wissensüberlieferung, aber „auch nachdem durch Erfindung der Buchdruckerkunst die Bücher höchst gemein worden [ ] hält man dennoch noch immer sich für verbunden, durch Universitäten dieses gesamte Buchwesen der Welt noch einmal zu setzen, und eben dasselbe, was schon gedruckt vor jedermanns Auge liegt, auch noch durch Professoren rezitieren zu lassen.“ 30 Vorlesungen als Form der Wissensvermittlung sind laut Fichte nicht nur überflüssig, sondern in einer durch Bücher dominierten Medienlandschaft sogar schädlich. Nur im Lesen ist der Lernende aktiv und eignet sich die Inhalte durch „freitätige Aufmerksamkeit“ an, wogegen die Vorlesung eine Haltung „leidende[n] Hingeben[s]“ fördert, die den „Trieb der eigenen Tätigkeit vernichtet“. 31 In Frankreich gibt es diese Debatte kaum, und das ist wahrscheinlich der Tatsache geschuldet, dass dort die jesuitische Bildungspraxis der rédaction de cours fortlebt: Die Studierenden schreiben anhand ihrer Vorlesungsnotizen den gesamten Kurs für sich ins Reine, und die Professoren lesen diese Vorlesungsnachschrift gegen und verbessern sie, wenn sich Fehler eingeschlichen haben. 32 Auf diese Weise sind die Studierenden gezwungen, die Argumentationswege des Professors aktiv schreibend nachzuvollziehen, und das Ganze hat natürlich auch eine mnemotechnische Dimension. Mit enzyklopädisch ausgelegten und zentralistisch festgelegten Curricula verbunden, also mit dem Anspruch, dass das Studium die Gesamtheit eines kanonischen Wissens umfasst, beherrscht der Student dann also dieses gesamte Wissen. Insofern ähnelt die Verwunderung heutiger mobiler deutscher Studierender vor der französischen Vorlesungspraxis derer, die Fichte vor den Vorlesungen seiner Tage erfasste. Im Mittelalter hatte die Vorlesung eine konkreten Sinn: Der Preis der Bücher machte den Besitz einer Privatbibliothek für die allermeisten Studierenden unerschwinglich - die Vorlesungsmitschrift war das Äquivalent für das fehlende Buch. Aber, so fragen sich mit Fichte unsere deutschen Austausch- oder Programmstudierenden in Frankreich: Was kann ein halbes Jahrtausend nach der Erfindung des Buchdrucks der Sinn einer solchen Vorlesungspraxis sein? 48 DDossier Diese Perplexität hat ebenfalls eine lange Tradition in der Wahrnehmung deutscher Frankreichreisender seit dem 19. Jahrhundert, so zum Beispiel bei Friedrich Thiersch, einem in Göttingen ausgebildeten und in München tätigen Professor für Philologie und wichtigen bayerischen Bildungsreformer. Thiersch unternahm 1836 eine Reise nach Holland, Frankreich und Belgien, um den dortigen Zustand des öffentlichen Unterrichts zu studieren. Der Eindruck der ersten besichtigten Schulen ist katastrophal, aber man sagt ihm, er solle sich in seinem Urteil zurückhalten, bis er die Pariser Eliteschule École normale gesehen habe. Endlich in Paris angekommen, ist sein Urteil umso vernichtender. Er gibt zwar zu, dass die französischen Studierenden ein sehr hohes Niveau in den alten Sprachen haben, aber die Organisation des Studiums ist ihm trotzdem zuwider: [D]er junge Mann wird in noch weichen Jahren aus der Pflege des Collegiums in die Pflege der Normalschule übernommen, genährt, gekleidet, unterrichtet, gehütet und bewacht, damit er sich der Form, der Ansicht, dem Maße biege (qu’il se plie), das für Kenntnisse, Lehre und Methode angenommen ist, und in sich selbst von dem Allem den Typus darstelle, welchen die Universität tragen und in allen ihren Gliedern ausprägen will: ‚Man weiß, denkt, fühlt, handelt und wirkt wie Ein Mann‘ ist das große und hohe Ziel. 33 Die Einförmigkeit, ja sogar Uniformität ist natürlich für den deutschen Neuhumanisten ein Sakrileg an der „Bildung“: Was aber wird diesem Bestreben, dieser Manie des Gleichförmigen aufgeopfert? Vor Allem die ganze sittliche und wissenschaftliche Selbstständigkeit der Individuen. Es ist dieselbe Schraube und Presse, in welche jeder eingedrängt, dasselbe Corset, in welches die ganze Anstalt geschnürt ist. [ ] Nicht den Mann von selbstständiger Gesinnung und eigentümlicher Wissenschaft begehrt man: er würde aus dem scharfgezogenen Zirkel der Einförmigkeit heraustreten, sondern das nach allgemeinen Gesetzen und Ansichten gebildete Werkzeug“. 34 Thiersch sieht hier nicht nur eine „unerhörte Geistestyrannei“ am Werke, „schlimmer als alle politische, weil sie den Geist in dem geistigen Gebiete fesselt“, sondern auch eine Sünde wider den Geist der Bildung, denn „Bildung ist, im Gegensatz von Abrichtung, etwas Selbsttätiges“. 35 Es finden sich zwar „formelle Kenntnisse, Wissen und technische Fähigkeiten“ bei den französischen Studierenden, aber das Wesentliche sei ihnen verloren gegangen: der Geist von freier Wissenschaft, wobei „freie Wissenschaft“ natürlich in der Sprache des deutschen Neuhumanismus eine Tautologie ist, denn Wissenschaft ist definitionsgemäß frei, und mit der Freiheit stirbt auch die Wissenschaft. Was Thiersch hier ausspricht, ist natürlich nichts anderes als die deutsche ‚Wissenschaftsideologie‘ in ihrer reinsten Form - aber vor der Folie eines dem deutschen diametral entgegengesetzten Universitätsmodells. 36 So hatte zum Beispiel Schleiermacher in seiner 1809 erschienenen Programmschrift Gelegentliche Gedanken über Universitäten in deutschem Sinn kategorisch festgestellt, 49 DDossier daß das Lernen an und für sich, wie es auch sei, nicht der Zweck der Universität ist, sondern das Erkennen; daß dort nicht das Gedächtnis angefüllt, auch nicht bloß der Verstand soll bereichert werden, sondern daß ein ganz neues Leben, daß ein höherer, der wahrhaft wissenschaftliche Geist soll erregt werden ... Dieses aber gelingt nun einmal nicht im Zwang; sondern der Versuch kann nur angestellt werden in der Temperatur einer völligen Freiheit des Geistes. 37 Wenn wir uns jetzt der anderen Seite des Vergleichs zuwenden, so entdecken wir die gleiche deutsch-französische Asymmetrie wie in den Wahrnehmungen heutiger Austauschstudierender: Wo die deutsche Wahrnehmung das französische Modell in Bausch und Bogen verdammt, argumentieren die Franzosen differenzierter und nehmen sowohl Vorals auch Nachteile wahr. 38 Um beim Beispiel der „akademischen Freiheit“ als notwendiger Bedingung für die Entwicklung des akademischen Geistes zu bleiben, zeigt sich der Bericht über die Eisenbahnreise, die Victor Duruy, Althistoriker und späterer Bildungsminister Napoleons III im Jahre 1860 von Paris nach Bukarest unternahm, hier aufschlussreich. Duruy war Absolvent, später auch Dozent der École normale und gilt als eine Schlüsselfigur für die Übernahme ‚deutscher Modelle‘ in Frankreich, vor allem durch die Gründung der nach deutschem Muster organisierten École pratique des hautes études. 39 Nachdem er sich über die deutsche Wissenschaft lustig gemacht hat (so erzählt er uns, dass England ganz Europa mit billigen Baumwollprodukten überschwemmt - und Deutschland mit metaphysischen Systemen) erzählt er von seiner Begegnung mit drei jungen Rüpeln - Studenten - in der Eisenbahn. Die jungen Männer reden laut, trinken in drei Stunden zwölf Flaschen Bier und eine Flasche Kirsch, und rauchen dazu zwanzig Zigarren, ohne dass sich irgendwer beschwert. Aber vielleicht, so fügt er hinzu, „findet sich unter diesen drei lustigen Gesellen ja ein zukünftiger Privatdozent oder ein verbissener Kommentator eines lange verschollenen Werkes“. 40 Duruy erzielt seine humoristische Pointe, indem er zwei Gemeinplätze unvermittelt gegenüberstellt: die studentische Freiheit und das damit einhergehende rüpelhafte Betragen einerseits und die pedantische Gelehrsamkeit deutscher Professoren andererseits. Auch diese Wahrnehmung wiederholt sich heutzutage. So sagt eine Studentin aus Lyon: „Les chiens et le tricot en cours de Bourdieu ont été des plus grosses surprises, on avait vraiment l’impression que les élèves faisaient ce qu’ils voulaient.“ 41 Oder eine Professorin wunderte sich über die deutschen Studierenden im Doppel-Master: „c’est qu’ils arrivent avec la Thermos, les gâteaux, les petits pains [ ]. C’est un petit détail, mais qui a choqué des collègues.“ 42 Andererseits äußert sie sich positiv über das Interesse am Fach und die Aktivität, die die deutschen Studierenden an den Tag legen: „Et sinon au niveau de la maturité, c’est des gens qui, ben, déjà ils posent beaucoup plus de questions, il n’y a pas cette barrière de vers l’enseignant [ ] ils viennent, ils réclament et ils insistent jusqu’à ce qu’ils aient compris.“ Die Art von Duruys Wahrnehmung unterscheidet sich deutlich von der Wahrnehmung Thierschs, denn Duruy nimmt natürlich die in seinen Augen fehlende 50 DDossier Erziehungsfunktion der Universität wahr („Ah! les bonnes études qu’ils ont dû faire à l’Université! “), interpretiert die Situation also innerhalb seines französischen Erwartungshorizonts. Anderseits aber entspricht seine Wahrnehmung auch ganz klar der deutschen Universitätstheorie, derzufolge nur studentische Freiheit zur Wissenschaft führen kann. Trunkenheit, Ruhestörung oder respektloses Benehmen, die mit dieser Freiheit einhergehen mögen, sind nichts als unwichtige Begleiterscheinungen, denn es geht um mehr und um Größeres: um die Wissenschaft als solche. Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts wurde der Studienaufenthalt in Deutschland zu einer quasi-obligatorischen Etappe im Ausbildungsgang französischer Akademiker - ungefähr so, wie es der Postdoc in den Vereinigten Staaten heutzutage in einigen Disziplinen ist. Christophe Charle hat die Berichte französischer Stipendiaten ausgewertet, die Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts in Deutschland studiert haben, und ist zu dem Ergebnis gekommen, dass auch hier durchaus nicht mit Kritik am deutschen Universitätsmodell gespart wird, besonders was die fehlende demokratische Öffnung der akademischen Laufbahn anbelangt. 43 4. Zusammenfassung und Ausblick Zusammenfassend ist also eine deutliche Asymmetrie in der gegenseitigen Wahrnehmung zwischen Deutschland und Frankreich zu bemerken. Wo die deutsche Frankreichwahrnehmung in vielen Fällen das Universitätssystem des Gastlandes eindeutig negativ bewertet, sind Franzosen nach anfänglichen Anpassungsschwierigkeiten (s. u.) zwar in den meisten Fällen vom Studium in Deutschland angetan, artikulieren aber auch durchaus Kritikpunkte: C’est ce qu’il manque dans le système allemand où le professeur ne reprend souvent pas assez les concepts clés pour permettre la compréhension de tous et hiérarchiser ce qui est important. En tant qu’étudiante étrangère j’ai trouvé ça difficile, j’aurais eu besoin d’un document écrit pour reprendre les idées importantes. 44 Auffallend ist, dass die Studierenden aus Deutschland größere Mühe haben, Vorzüge der französischen Form der Wissensvermittlung zu erkennen. So gelingt es ihnen beispielsweise häufig nicht, über das in Deutschland zumindest in universitären Kreisen sehr negativ konnotierte Pauschalurteil der „Verschultheit“ hinweg zu hinterfragen, welchen pädagogischen oder auch demokratischen Wert dieser Lehr- Lernstil hat. So schreibt eine Erasmusstudentin aus Frankfurt / Oder in ihrem Abschlussbericht über ihr Jahr am IEP Lyon: „Viele Austauschstudenten konnten mit diesem Unterrichtsstil bis zum Schluss wenig anfangen und haben Austausch und Diskussion vermisst.“ Die französischen Studierenden können dem diskursiven Lehr-Lernstil, den sie in deutschen geisteswissenschaftlichen Seminaren antreffen, nach anfänglichem Kulturschock oft auch etwas Positives abgewinnen. So sagte die in Abschnitt 2 51 DDossier mehrfach zitierte Studentin, die ihr Auslandsjahr nach 2 Monaten abbrechen wollte, nach weiteren 5 Monaten: Du coup ce semestre va beaucoup mieux, parce que j’ai des cours qui me passionnent plus et dans lesquels je suis plus active. Oui je pense que ça ne vient pas spécialement du système allemand qui changeait en quelques mois mais je pense que plus que [sic] c’est moi qui me suis vraiment faite au truc et qui suis moins frustrée, bien que [sic] j’apprenne encore beaucoup de trucs et je suis bien contente. Mais voilà je pense que j’ai trouvé un compromis entre apprendre et puis participer et être active. 45 Wie sich in einer Gruppendiskussion mit ehemaligen Austauschstudierenden des IEP im März 2012 zeigte, waren die Eindrücke über das Studium überwiegend in sehr positiver Erinnerung. Für die jungen Franzosen besteht eher das Risiko eines Re-Entry-shocks 46 bei ihrer Rückkehr nach Frankreich. Eine Studentin sprach während ihres Interviews von einem „sentiment de régression“. Vermutlich erleben die Franzosen hier ähnliches wie die Deutschen, die zum Studium nach Frankreich kommen? Viele der Aussagen in den empirischen Materialien spiegeln sich in folgendem Zitat wider, das zeigt, dass die französischen Studierenden in Deutschland die Freiheit und Selbständigkeit, die sie im deutschen Studiensystem kennen gelernt haben, nach ihrer Rückkehr vermissen: Après la liberté est plus importante que le cadrage je trouve, plus particulièrement après le premier cycle (Bachelor). Mais le plus frustrant c’est de revenir en France et de ne pas pouvoir non plus s’épanouir intellectuellement parce que le système français fonctionne sur un modèle d’apprentissage par cœur du cours qu’on nous dispense. Il faudrait que l’on puisse faire des Hausarbeit ou des Essais pour valider les cours plutôt que d’avoir à répondre en deux heures à 4 ou 5 questions qui cherchent surtout à savoir si on a bien fait ce que le prof voulait qu’on fasse. En rentrant en France je me suis rendue compte que même si le système allemand à des défauts (beaucoup d’étudiants rendent des hausarbeits avec plusieurs semestres de retard et c’est difficile à gérer), au moins il reconnaît aux étudiants une réelle capacité à penser par eux-mêmes et leur accorde de l’importance. C’est assez douloureux quand on revient en France de se rendre compte que ce n’est pas pareil, que sans le vouloir, beaucoup de gens ont finalement peu de considérations pour les réflexions des étudiants, ou alors à la marge. 47 Diese Studentin schlägt gar eine Reform des französischen Systems nach deutschem Vorbild vor: „je crois que l’idée allemande doit nous aider à réformer les choses en France.“ Insgesamt einigten sich die Teilnehmenden der Gruppendiskussion eher darauf, dass eine Mischung der beiden System optimal sei: „un mélange des deux systèmes serait parfait.“ Als Schlussfolgerung scheint es uns wichtig, folgende Punkte bei der Planung, Organisation und Durchführung von Austauschprogrammen oder Doppelprogrammen im deutsch-französischen Bereich zu beachten: Die Studierenden sollten jeweils begleitende Workshops erhalten. 52 DDossier 1) Besonders wichtig wären Vorbereitungsworkshops: Dabei sollten allgemeine interkulturelle Studierkompetenzen trainiert werden, wozu auch eine Reflexion über unterschiedliche Lehr- und Lernstile gehört. Gerade im deutschfranzösischen Bereich hat sich gezeigt, dass es sehr hilfreich ist, wenn auch Wissen über die Grundzüge des anderen Hochschulsystems in seiner historischen und kulturellen Sinnhaftigkeit vermittelt werden. 2) Bei den französischen Rückkehrenden besteht aufgrund der erhöhten Gefahr eines Re-Entry-Shocks großer Bedarf an Nachbereitung. Bei den deutschen Studierenden wiederum besteht dieser Bedarf auch, wobei hier weniger der Re-Entry-Shock im Vordergrund steht als andere Themen. 48 3) Bei Programmstudierenden, die mehrere Jahre in den beiden Systemen verbringen, hat es sich als sehr sinnvoll erwiesen, zu Beginn des Programms einen gemeinsamen interkulturellen Workshop anzubieten, bei dem die beiden Studiensysteme vorgestellt und diskutiert werden. 49 Weitere Workshops im Laufe des Studiums, in denen das Erlebte bzw. Erfahrene reflektiert werden kann, wären sehr empfehlenswert. Zu guter Letzt wäre es auch wichtig, bei den Lehrenden eine größere Bewusstheit für unterschiedliche Lehr- und Lernkulturen zu erzeugen. Hierzu sind verschiedene hochschuldidaktische Formate in Planung. 50 1 Erfahrungsbericht über einen Erasmus-Aufenthalt am Institut d’études politiques (IEP) Lyon, 2008/ 2009. 2 Internetquelle: http: / / www.hochschulkompass.de/ internationale-kooperationen/ kooperatio nen-nach-staaten.html (letzter Aufruf am 07. 06. 2014). Zum Vergleich: Kooperationen mit Polen: 1311; mit Großbritannien: 1709; mit den USA: 2033. 3 Jochen Hellmann (2011); Internetquelle: http: / / ebookbrowsee.net/ 2011-10-14-die-deutschfranzoesische-hochschule-jochen-hellmann-pdf-d206854126 (publiziert 2011, letzter Aufruf am 27.06.2014). 4 Auf Platz 2 befindet sich Großbritannien. Alle Daten entnommen aus DAAD/ HIS (ed.), „Wissenschaft Weltoffen“, Internetquelle: http: / / www.wissenschaft-weltoffen.de (letzter Aufruf am 07.06.2014). 5 So zeigen erste Bilanzen der Bologna-Reform, dass die historisch gewachsenen Traditionen in den nationalen Hochschulkulturen nach wie vor stark verankert sind. Kühl (2012) etwa legt eine spürbare Diskrepanz offen, indem er aufzeigt, dass die abstrakten Zeiteinheiten der Kreditpunkte nicht einmal zwischen europäischen Staaten standardisiert sind. So müssen „für ein formal gleichrangiges Bachelorstudium mit 180 ECTS-Punkten [ ] Studenten in Österreich 900 Stunden weniger aufbringen als ihre Kommilitonen in Deutschland“ (Stefan Kühl, „Schafft die Leistungspunkte ab! Die Bologna-Reform hat das Studium im Ausland systematisch erschwert“, in: Süddeutsche Zeitung, 17. 8. 2012). 6 Cf. Pierre Bourdieu, Esquisse d’une théorie de la pratique, précédé de trois études d’ethnologie kabyle, Genève, Droz, 1972; id., Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt/ Main, Suhrkamp, 1982; Andreas Reckwitz, „Grundelemente einer Theorie sozialer Praktiken. Eine sozialtheoretische Perspektive“, in: Zeitschrift für Soziologie, 4, 32/ 2003, 282-301. 53 DDossier 7 Christophe Charle, „Grundlagen“, in: Walter Rüegg (ed.), Geschichte der Universität in Europa, Bd. 3: Vom 19. Jahrhundert zum Zweiten Weltkrieg, 1800-1945, München, Beck, 2004, 43-80, 59. 8 Walter Rüegg, „Themen, Probleme, Erkenntnisse“, in: id., Geschichte der Universität in Europa, Bd. 3: Vom 19. Jahrhundert zum Zweiten Weltkrieg (1800-1945), München, Beck, 2004, 21-45, 18. 9 Erfahrungsbericht über einen Erasmus-Aufenthalt am IEP Lyon, 2009-10. 10 Erfahrungsbericht über einen Erasmus-Aufenthalt am IEP Lyon, 2009-10. 11 Charles Villers, Coup d’œil sur les Universités et le mode d’instruction publique de l’Allemagne protestante; en particulier du Royaume de Westphalie, Cassel, Imprimerie Royale, 1808, 39. Deutsche Übersetzung: Carl Villers, Über die Universitäten und öffentlichen Unterrichts-Anstalten im protestantischen Deutschland, insbesondere im Königreich Westphalen, übersetzt von Franz Heinrich Hagena, Lübeck, Niemann, 1808. 12 Zu diesem Kernbegriff deutscher Universitätstheorie immer noch fundamental: Ewald Horn, „Akademische Freiheit“. Historisch-kritische Untersuchung und freimütige Betrachtung, nebst einem Anhange über studentische Ausschüsse, Berlin, Trowitzsch & Sohn, 1905. Cf. ebenfalls Friedrich Paulsen, Die deutschen Universitäten und das Universitätsstudium, Berlin, Asher, 1902 und Gustav Rauter, Akademische Freiheit. Ein Wegweiser für Studierende und Abiturienten, Halle, Eugen Strien, 1899. 13 Wilhelm von Humboldt, „Über die innere und äußere Organisation der höheren wissenschaftlichen Anstalten in Berlin“, in: id., Werke in fünf Bänden, Bd. 4: Schriften zur Politik und zum Bildungswesen, ed. Andreas Flitner / Klaus Giel, Darmstadt, Wissenschaftliche Buchgesellschaft,1964, 256-57. 14 Sekundäre Bildung bezeichnet den Bereich im Bildungssystem eines Staates, der im Anschluss an die Grundschulbildung auf höherqualifizierte Berufe vorbereitet; während tertiäre Bildung aufbauend auf einer abgeschlossenen Sekundarschulbildung auf höhere berufliche Positionen vorbereitet. 15 Erfahrungsbericht über einen Erasmus-Aufenthalt am IEP Lyon, 2009-10. 16 E-Mail von P. J., Januar 2013. 17 Ibid. 18 Die folgenden Zitate, sofern nicht anderweitig gekennzeichnet, sind alle dem Interview mit P. J., Juni 2013, entnommen. 19 Vgl. Adelheid Schumann (ed.), Interkulturelle Kommunikation in der Hochschule: Zur Integration internationaler Studierender und Förderung interkultureller Kompetenz. Bielefeld, Transcript, 2012, 63. 20 M. S., März 2012. Im Gegensatz zu der bislang zitierten Studentin äußerte sich M. S. wesentlich positiver über ihren Aufenthalt in Berlin. Hierbei ist jedoch zu bedenken, dass sie im Gegensatz zu P. J. erst nach ihrem Aufenthalt interviewt wurde. Jedoch lässt sich auch bei P. J. eine Entwicklung hin zu einer positiveren Bewertung des deutschen Systems erkennen: Zum Zeitpunkt des Interviews, das 5 Monate nach der oben zitierten E-Mail durchgeführt wurde, berichtete sie, dass sie sich inzwischen gut mit dem deutschen System arrangiert und ihren Kompromiss gefunden habe zwischen „lernen und aktiv teilnehmen“. 21 Teilnehmende der Gruppendiskussion mit ehemaligen Erasmus-Studierenden, IEP Lyon, März 2012. 22 Vgl. Gundula Gwenn Hiller, „Cultures d’enseignement et d’apprentissage en France et en Allemagne dans un contexte universitaire d’internationalisation et de mobilité“, in: Anne- 54 DDossier Catherine Gonnot / Nadine Rentel / Stefanie Schwerter (ed.), Dialogues entre langues et cultures, Frankfurt/ Main, Lang, 2013. 23 P. R., Erfahrungsbericht 2012. 24 Diese Einschätzung ist insofern interessant, als vielen im deutsch-französischen Kontext tätigen AkademikerInnen aufgefallen sein wird, dass das gesellschaftliche Ansehen des Wissenschaftlers im Allgemeinen und des Universitätsprofessors im Besondern in Deutschland deutlich höher ist als in Frankreich. 25 Zitate aus Fragebögen an aus Deutschland zurückgekehrte Erasmusstudierende des IEP. 26 P. R., Erfahrungsbericht 2012. 27 V. V., SciencePo Lille, Interview September 2012. Dazu ist anzumerken, dass es natürlich auch in Frankreich sehr unterschiedliche Arten der Kontaktaufnahme gibt. V. studiert an einer Grande École mit einem besonders guten Betreuungsverhältnis. 28 Von Humboldt, Ueber die innere und äussere Organisation..., op. cit., 256. 29 Cf. Friedrich Daniel Schleiermacher, „Gelegentliche Gedanken über Universitäten in deutschem Sinn. Nebst einem Anhang über eine neu zu errichtende“ (1808), in: Wilhelm Weischedel (ed.), Idee und Wirklichkeit einer Universität. Dokumente zur Geschichte der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin, Berlin, de Gruyter, 1960, 106-192, 160. 30 Johann Gottlieb Fichte, „Deduzierter Plan einer zu Berlin zu errichtenden höhern Lehranstalt, die in gehöriger Verbindung mit einer Akademie der Wissenschaften stehe“ (1807), in: Wilhelm Weischedel (ed.), Idee und Wirklichkeit einer Universität. Dokumente zur Geschichte der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin, Berlin, de Gruyter, 1960, 30- 105, 31. 31 Ibid., 31. 32 Als Beispiel für eine administrative Anweisung, wie die rédaction de cours zu betreiben sei, siehe Archives Nationales 61 AJ - 80: „Règlement des études de l’Ecole normale supérieure“, sans date [15 septembre 1852]. 33 Friedrich Thiersch, Über den gegenwärtigen Zustand des öffentlichen Unterrichts in den westlichen Staaten von Deutschland, in Holland, Frankreich und Belgien, Bd. 2, Stuttgart- Tübingen, Cotta, 1838, 222. 34 Ibid., 222sq. 35 Ibid., 223sq. 36 Siehe Jean Bollack, „Critiques allemandes de l’université de France (Thiersch, Hahn, Hillebrand)“, in: Revue d’Allemagne et des pays de langue allemande, 9 (4), octobredécembre 1977, 642-666. 37 Schleiermacher, „Gelegentliche Gedanken über Universitäten in deutschem Sinn...“, op. cit., 160. 38 Siehe Christophe Charle, La République des universitaires, Paris, Seuil, 1994, 21-59. 39 Siehe Marc Schalenberg, Humboldt auf Reisen? Die Rezeption des „deutschen Universitätsmodells“ in den französischen und britischen Reformdiskursen (1810-1870), Basel, Schwabe, 2002, 154-156. 40 „Ah! les bonnes études qu’ils ont dû faire à l’Université! Après tout, parmi ces joyeux compagnons se trouvait peut-être quelque futur privatdocent ou un commentateur acharné d’un ouvrage perdu“ (Victor Duruy, Voyage dans l’Europe des nationalités. Causeries géographiques de Paris à Bucarest 1860-1861, Bd. 1, Clermont-Ferrand, Paléo, 2008, 100). 41 Interview mit M. S., März 2012. 42 Interview mit M. H., Mai 2013. 55 DDossier 43 Charle, La République , op. cit., 21-59. 44 Interview mit M. S., März 2012. 45 Interview mit J. P., Juni 2013. 46 Damit wird ein ‚umgekehrter Kulturschock‘ bezeichnet, wobei hiermit das Phänomen eines Kulturschocks bei der Rückkehr aus einer fremden Kultur in die eigene Heimat gemeint ist. Dieser ist häufig heftiger als bei Eintreten in die fremde Kultur, da die Individuen bei der Rückkehr in die eigene Kultur nicht mit der Notwendigkeit einer Reintegration in diese rechnen. Cf. z. B. Martin Woesler, A new model of cross-cultural communication, Berlin, European University Press, 2009, 31. 47 Interview mit M. S., März 2012. 48 Z. B. Anhaltende Frustration über das französische Studiensystem oder auch soziale Themen wie etwa die Schwierigkeiten, Freundschaften mit Franzosen zu knüpfen etc. 49 So findet seit 2012 z. B. regelmäßig zu Studienbeginn am IEP Lille ein zweitägiger Workshop statt, der die Studierenden für Unterschiede in den akademischen Systemen sensibilisiert und auf interkulturelle Reflexions- und Handlungskompetenz abzielt. 50 Entsprechende Formate werden am Zentrum für Interkulturelles Lernen der Europa- Universität Viadrina entwickelt und im Rahmen von Weiterbildungen an verschiedenen Hochschulen sowie in Kooperation mit der Internationalen DAAD-Akademie angeboten. Internetquellen: Zentrum für Interkulturelles Lernen der Europa-Universität Viadrina: http: / / www.europa-uni.de/ de/ struktur/ zfs/ interkulturelleslernen/ index.html; Internationale DAAD-Akademie: http: / / www.daad-akademie.de. 2013 wurde darüber hinaus die hochschulübergreifende, interdisziplinäre Arbeitsgruppe „Qualitätsinitiative Interkulturalität“ in der Deutsch-Französischen Hochschule gegründet, die Empfehlungen für Studium und Lehre im deutsch-französischen Kontext erarbeitet.