eJournals ZNT – Zeitschrift für Neues Testament 21/42

ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
2018
2142 Dronsch Strecker Vogel

Martin Karrer Johannesoffenbarung. Teilband 1: Offb 1,1 – 5,14 Ostfildern: Patmos-Verlag, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht (Evangelisch-Katholischer Kommentar zum Neuen Testament XXVI / 1)

2018
Stefan Alkier
Buchreport Stefan Alkier Martin Karrer Johannesoffenbarung. Teilband 1: Offb 1,1-5,14 Ostfildern: Patmos-Verlag, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht (Evangelisch-Katholischer Kommentar zum Neuen Testament XXVI / 1) 487 Seiten, kartoniert ISBN 978-3-8436-0607-3 (Patmos Verlag) ISBN 978-3-7887-2930-1 (Vandenhoeck & Ruprecht) 124 Marco Frenschkowski sondern im Gegenteil eine chaotische und bedrohlich-bösartige Wirklichkeit für Gottes Herrschaft in Anspruch genommen und geordnet� Alles findet seinen Ort vor dem großen Thron, der damit zur stabilen Sinnmitte der Welt und ihrer kontingenten Geschichte wird� Die Thronsymbolik hat einen deutlich anderen Akzent als Ez 1-3, dem wichtigsten literarische Prätext von Offb 4 und 5. Bei Hesekiel geht es um die Mobilität Gottes, inszeniert in dem kuriosen Zug, dass Gottes Thron dort bekanntlich Räder hat und in alle Richtungen fahren kann� Anders in der Johannesoffenbarung: Gottes Thron ist die Axis mundi, um den sich die Welt der Himmelswesen, Engel und eben auch Menschen strukturiert� Der ethische und theologische Rigorismus des Autors disambiguiert dabei die kulturellen Symbolsysteme� Damit inszeniert Johannes ein großes Entweder- Oder, das nun aber nicht einfach eines zwischen Gut und Böse ist, sondern zwischen der Anbetung Gottes und der Verehrung eines Gegenübers, das dieser Verehrung nicht würdig ist� Die Johannesoffenbarung in ihrer komplexen binnentextlichen Konstruktion von Wirklichkeiten bietet sowohl „realistische“ als auch „phantastische“, aber auch dezidiert anti-phantastische Strukturen und Genrebausteine� Sie tut das gerade da, wo sie beansprucht, dass alle spannungsvolle Realität vor dem einen großen Thron Gottes und des Lammes steht� Die „Gewalttätigkeit“ der Apk, oft beklagt, ja als Argument gegen ihre kanonische Dignität ins Feld geführt, ist sehr gut verständlich als ein Aspekt ihrer Realitätsbezogenheit� Mit diesen Beobachtungen wird die Apokalypse noch kein „einfaches“ Buch� Fundamentalistische Lektüre übersieht gerne, dass sich schon die Alte Kirche schwer mit der Offenbarung tat� Sie wurde nicht leicht und auch nicht überall Teil des Kanons (im Gegensatz zu dem gerne in westlichen Kirchen promulgierten Satz, alle Christen hätten die gleiche Bibel, unterscheiden sich die Kanones der orientalischen Kirchen zum Teil beträchtlich von dem uns vertrauten, wenn auch eher zum Alten Testament)� Der himmlische „Applaus“ der Apokalypse ist dabei eine Art eschatologisches Pendant zum „Siehe, es ist alles sehr gut“ des Schöpfungsberichtes� Er überspringt das Böse, das Leid, den Tod gerade nicht� Aber er stellt es in den Kontext einer sehr viel größeren Realität: und in dieser ist die Anbetung Gottes die sich selbstverständlich einstellende Reaktion auf die Vollendung der Welt, die der Seher kommen sieht� Applaus im Himmel? 123 „Wunderbaren“ gedeutet� Es müssen also immer zwei radikal divergierende Realitätssysteme in einem Text präsent sein, damit sinnvollerweise von Phantastik gesprochen werden kann� Das unterscheidet von Fantasy, die in rein fiktionalen Gegenwelten spielt und eine moderne Form des Märchens ist� Beide erheben als Formen von Literatur keinen direkten Wirklichkeitsanspruch: das unterscheidet sie von religiöser, auch von visionärer und prophetischer Literatur, bei aller Berührung im Bereich der Motive� 32 Auch Science Fiction - als modernes Genre potentieller Zukünfte und alternativer Gesellschaften - ist durchaus von prophetischer Literatur zu unterscheiden, so fruchtbar der Vergleich im Einzelnen sein kann (etwa für Lukians „Wahre Geschichten“ 33 )� In Hinsicht auf die Apokalypse führt es jedoch eher auf eine falsche Fährte, sie mit dem Phantastikbegriff deuten zu wollen� Ihr eignet nichts Spielerisches oder Tentatives� In gewisser Hinsicht ist sie geradezu anti-phantastisch, denn die Welt wird in ihr nicht spielerisch entgrenzt, wie wir es für das Phantastische angesetzt haben� Vielmehr werden das Bedrohliche, Chaotische, das Böse und Übermächtige des Imperiums, das Kontingente der Geschichte ebenso wie das Dämonische und Fremde, das Ferne jenseits des Euphrat (9,14; 16,12) 34 ebenso wie die Mächte der Unterwelt in ein gewaltiges Gesamtsystem hinein genommen� Dieses System ist kein diskursiver Raum theologischer Begriffe, sondern ein Symbolraum imaginierter Wesen und Welten� Der Audienzsaal Gottes ist sozusagen der Ort des Kosmos: vor seinem Thron ist das Dach der Himmelskuppel, blau wie ein Meer, und darunter die Menschenwelt mit Christen und Heiden, Imperien und Verfolgungen, Katastrophen und Hoffnungen� Die Welt wird klein vor Gottes Thron: ein Grundgedanke jüdischer Thronmystik, der in der Johannesoffenbarung zumindest angedeutet ist� Andere Aspekte der Apokalypse sind ebenfalls sozusagen Versuche der Ordnung einer wirren Welt: Die komplexe Vielfalt der antiken Großstadt differenziert sich gewissermaßen aus� Babylon und das himmlische Jerusalem werden zu antithetischen Polen urbaner Kultur� Es wird anders als in der Phantastik nicht ein bestehender Symbolkosmos durchbrochen und spielerisch-experimentell außer Kraft gesetzt, 32 Das ist die Forschung zusammenfassend dargestellt in: M� Frenschkowski, Phantastik und Religion, in: H� R� Brittnacher / M� May (Hg�), Phantastik� Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart - Weimar 2013, 553-561. 33 Vgl� A� Georgiadou / D� H� J� Larmour, Lucian’s Science Fiction Novel „True Histories“: Interpretation and Commentary, Leiden u� a� 1998; S� C� Fredericks, Lucian, True History as SF, Science-Fiction Studies 3 (1976), 49-60; R. A. Swanson, The True, the False, and the Truly False: Lucian’s Philosophical Science Fiction, Science Fiction Studies 3 (1976), 227-239; dazu allgemein der detaillierte Textkommentar von P. v. Möllendorff, Auf der Suche nach der verlogenen Wahrheit� Lukians Wahre Geschichten (Classica Monacensia 21), Tübingen 2000� 34 Vgl. dazu M. Frenschkowski, Parthica apocalyptica, 36-39. 122 Marco Frenschkowski das geschlachtete Lamm 28 wie der himmlische Feldherr, dessen Gewand vom Blut seiner Feinde blutrot ist (Offb 19,13)� Im Gegensatz zu verharmlosenden Interpretationen frühchristlicher Christologien kennen diese Bilder Jesus gerade nicht nur als „Opfer“, als Objekt menschlicher Gewalt, sondern auch als „Sieger“ (ein zentrales Wortfeld der Apokalypse)� Dabei werden aggressive Bildlichkeiten nicht vermieden (auch 2 Thess 2 ist es Jesus persönlich, der den Antichrist tötet)� Der „weiße Reiter“ in Offb 6 weist dabei als Antizipationsfigur voraus auf den epiphanen Parusie-Christus Offb 19, der als Reiter auf weißem Pferd die himmlischen Heerscharen in die Schlacht führt� (Der Vergleich mit einem „Triumphator“, gelegentlich zu lesen, ist exegetisch unsinnig, denn Christus reitet aus in die Schlacht, nicht aus dieser zurück, und ein Triumphator reitet nicht, sondern fährt auf einer Quadriga)� 29 Christen sind an diesem quasi-militärischen Geschehen dezidiert nicht beteiligt� Sie sind Zuschauerinnen, Zuschauer beim „Endkampf“ (dessen Imaginarium sich schon deshalb nicht zur Deutung politischer Vorgänge eignet)� Daher fordert die Apokalypse auch zu keinem „Aktionismus“ gegen Rom oder das imperiale System auf� Subjekt der Vernichtung der widergöttlichen Mächte bleiben Gott, Christus und die himmlische Armee (als deren Anführer Offb 12 der Engel Michael gedacht ist: ein antidualistischer Zug; nicht Gott selbst kämpft gegen den Teufel)� Kommen wir zu einer letzte Frage, die in diesem kurzen Essay in den Blick genommen werden soll: Ist die Johannesapokalypse in ihrer Bildwelt „phantastisch“, oder sogar eine Art antiker Fantasy? 30 Das Phantastische ist eine spielerische Entgrenzung und Infragestellung der Wirklichkeit� Im phantastischen Text konkurrieren und unterwandern „andere“ Wirklichkeiten die vertraute� Sie ist aber zuerst ein Textphänomen: Wirklichkeiten konkurrieren im Text, nicht einfach zwischen Text und „unserer“ Welt� 31 Phantastik wird in dieser Sichtweise nicht text-extern als Verstoß gegen naturwissenschaftliche Plausibilitäten o� ä� definiert, sondern als Modus spezifischer text-interner Gestaltungen des 28 Die gelegentlich geäußerte Vermutung, arnion ( tou theou ) solle eigentlich „Widder (Gottes)“ heißen, und metaphorisch auf den Leitwidder der Herde anspielen, ist sprachlich nicht möglich� Vgl� zu den Hintergründen und zur altkirchlichen Auslegungsgeschichte des „Lammes Gottes“ M� Frenschkowski, Art� Lamm Gottes, RAC 22, Stuttgart 2008, 853-882. 29 Dazu M� Frenschkowski, Art� Reiter, in: RAC 28, Stuttgart 2018, 966-992. 30 Vgl� ausführlicher M� Frenschkowski, Apokalyptik und Phantastik� Kann die Johannesoffenbarung als Text phantastischer Literatur verstanden werden? In: S� Alkier / Th� Hieke / T� Nicklas (Hg�), Poetik und Intertextualität der Johannesapokalypse, Tübingen 2015 (WUNT 346), 177-204. Aus dieser Darstellung sind im Folgenden einige Sätze übernommen, jedoch die Akzente etwas anders gesetzt� 31 Es war dies eine zentrale Einsicht der strukturalistischen Studie von U� Durst, Theorie der phantastischen Literatur, Berlin 2 2010� Applaus im Himmel? 121 Heil und Unheil� Gott und Christus ergreifen selbst das Wort, wie ehemals in der alttestamentlichen Prophetie, mit der sich der Seher selbst auf Augenhöhe sieht (darum bedarf er keiner legitimierender Zitationsformeln): er „verschwistert“ sich sozusagen mit der kanonischen Schriftprophetie� 24 Die Apokalypse ist das einzige Buch des Neuen Testaments, das von Anfang an kanonische Geltung beansprucht (22,18 f�)� 25 Es ist insofern auch nicht ganz zutreffend, wenn sie gerne primär als „Trostbuch für eine angefochtene Gemeinde“ u� ä� beschrieben wird� Dann wäre die Intention der Apokalypse nur auf die Leserinnen und Leser ausgerichtet: das ist aber ein Missverständnis� Die literarische Kreation und die in ihr freigesetzte Imagination ist nämlich selbst ein Akt der Anbetung, der Gottesverehrung� In ihm wird den imperialen Leitimaginationen widersprochen� An ihre Stelle tritt eine ganz andere - im buchstäblichen Sinn - „Anschauung“ der Wirklichkeit� Der Vorwurf gegenüber dem Staat ist dabei nicht in erster Linie Grausamkeit oder Unterdrückung, sondern Vergötterung dessen, was keine Götter sind� Die himmlische Welt der Apokalypse ist damit eine Art Subversion� Gerade in ihrer Bildsprache findet sie „Machtworte“ 26 und partizipiert an der Anbetung Gottes und des Lammes� Wie verhält sich der theologische Tenor dieser Anbetung Gottes zur Wirklichkeitskonstruktion der Apokalypse? Diese ist archaisierend-sakral� Sie ist eine Gegenwirklichkeit gegen die sich aufdrängenden Wirklichkeiten des Imperiums und der vereinnahmenden hellenistisch-römischen Kultur� Oben und unten sind Richtungen einer sakralen Topographie: nicht eigentlich einer astronomischen Kosmologie� Die Apokalypse ist dabei kein Dokument der „Lehre“: sie verweigert sich jeder Verrechenbarkeit zu einer beobachtbaren, aufweisbaren Sequenz der eschatologischen Ereignisse� Die Zyklen der Siegel, Posaunen, Zornesschalen, Weherufe haben keinen konsekutiven Charakter, sondern nehmen die gleichen Themen in immer neuer Bildlichkeit auf� Allerdings sind sie zielgerichtet: die Geschichte verläuft nicht zyklisch� 27 Bilder können komplex-paradox koexistieren: Christus ist ebenso 24 Diese treffende Formulierung stammt von M� Karrer, Die Johannesoffenbarung, Teilband 1: Offb 1,1-5,14, Ostfildern / Göttingen 2017, 192, der einen Akzent darauf legen möchte, der Seher bezeichne sich nicht explizit als Propheten� Das dürfte an Stellen wie 1,3; 22,18 doch für jeden Leser deutlich impliziert sein� 25 Vgl� M� Tilly, Textsicherung und Prophetie� Beobachtungen zur Septuagintarezeption in Apk 22,18 f., in: Friedrich W. Horn / M. Wolter (Hg.), Studien, 232-247. 26 Vgl� zum Begriff das originelle Buch von A� Mauz, Machtworte: Studien zur Poetik des ‚heiligen Textes‘ (HUTh 70), Tübingen 2016� 27 Vgl� über die Spannung zwischen zyklischen und linearen Geschichtsmetaphern M� Frenschkowski, Alles schon dagewesen? Zyklische und lineare Geschichtsbilder seit der Antike: ein geschichtsphilosophischer Spaziergang, in: E� Schenkel / K� Voigt (Hg.), Verweile doch … Über die Erforschung der Zeit, Leipzig 2015, 37-74. 120 Marco Frenschkowski die Gemeinschaft der Christinnen und Christen gegenüber den Ansprüchen des vereinnahmenden Staates� Indem das Lamm in eine Throngemeinschaft mit Gott tritt, wird es ebenfalls zum Gegenstand der Ehre und Verehrung, die Gott gebührt� Soll man das eine binitarische Theologie nennen? Tatsächlich ist die Theologie der Apokalypse mit ihren Aussagen zu Lamm und Geist 22 bereits ausgeprägt trinitarisch, obwohl sie noch weit von der theologischen Formelsprache der Alten Kirche entfernt ist� „Unjüdisch“ ist das nicht: tatsächlich denkt das Judentum dem Christentum in der Figur eines „zweiten Gottes“ (wie Philon tatsächlich sehr anstößig vom Logos sagen kann) voraus, eines „kleinen Jahwe“, der auch als Menschensohn, Messias, Metatron, Weisheit usw� auftreten kann� 23 Diese verschiedenen Figuren sind mythologische Ausdrucksweisen für den „Zweiten nach Gott“ (oder die Zweite, wie im Fall der Weisheit) und diesem direkt zugeordnet� Sie wurden offenbar weder von Juden noch von Christen als Konkurrenzfiguren gedeutet� Christologie entwickelt sich in Bahnen, die das Judentum vielfach vorgedacht hat: neu ist vor allem die Identifikation mit dem geschichtlichen Menschen Jesus, dem Gekreuzigten und Auferstandenen� Die Apokalypse ist ohne Frage der am stärksten visuell geprägte Text des Neuen Testaments� Sie ist Literatur als Evokation einer Flut gewaltiger Bilder� „Sehen“ ist in der Apokalypse, auch da, wo es mit einem inneren Auge, mit einer inneren Anschauung geschieht, ein transformativer Akt, der die Sehenden verändert� Damit steht es in einer sowohl jüdischen als auch griechisch-hellenistischen Tradition (exemplarisch: Platon, Phaedrus 251A-C� 255C-D; Achilles Tatius, Leukippe und Kleitophon 5,13,4)� Das Bild des göttlichen Thronsaales ist dabei nicht aus der Audienzsprache des römischen Reiches genommen, sondern aus derjenigen der altorientalischen Großreiche� Im Alten Testament kann man exemplarisch an 2. Chron 9,17-19 denken. Anders gesagt: das Bild hat einen sakralen, altertümlichen Beigeschmack, bzw� (wenn wir es nicht missverstehen) etwas Märchenhaftes (so wie die Königsfiguren der Salomo- oder Arthussage eben keinen realen Königen entsprechen)� In Jes 66,1 war der Himmel selbst als Thron Gottes, die Erde als Schemel vor seinen Füßen bezeichnet worden: hier kündigt sich die Linie an, die in der Apokalypse zu einem Zentrum des Gottesbildes wird� Auch in ihren Hoffnungsbildern ist sie dabei nicht idyllisch� Sie nimmt Gut und Böse sehr ernst: und ohne Frage gibt es Himmel und Hölle, 22 Dieser wird pluralisch entfaltet und auf Gott wie Christus bezogen: Offb 1,4; 3,1; 4,5; 5,6� Prätext ist Jes 11,2� 23 Das ist die Grundthese des Buches von P� Schäfer, Zwei Götter im Himmel: Gottesvorstellungen in der jüdischen Antike, München 2017, das sich freilich in einer Attitüde starker Polemik gegen christliche Theologie gefällt� Einflussreich zur Sache war schon M� Barker, The Great Angel: A Study of Israel’s Second God� London 1992� Applaus im Himmel? 119 politischer Systeme� Sie ist aber nicht sozialutopisch: sie fordert weder zu einem konkreten politischen Handeln heraus (das für Christen in Kleinasien auch gar nicht möglich gewesen wäre), noch entwirft sie eine verwirklichbare utopische Gegenwelt� 19 Offb 19,11-21; 20,7-10 wird der „Endkampf“ gegen das Böse von himmlischen Mächten ausgefochten: eine Beteiligung etwa der Christen ist nicht im Blick� Das Nebeneinander dieser auf den ersten Blick divergierenden Positionen war für frühe Christinnen und Christen offenbar deshalb erträglich, weil es sich auf sehr verschiedene Aspekte der empirischen Realität „Staat“ bezog, und diese jeweils theologisch deutete� Als Ordnungs- und Verwaltungsinstanz konnte auch der römische Staat als gottgegeben qualifiziert werden, als Anmaßung eines absoluten Herrschaftsanspruches über Menschen und Völker dagegen war er eine widergöttliche Angelegenheit� Jeder Vereinnahmung der apokalyptischen Bildwelt zu konkreten politischen oder geschichtlichen Voraussagen setzt sich die Apokalypse durch ihren zyklischen, symbolisch-änigmatischen Charakter entgegen� Nur an einer einzigen Stelle wird die Leserschaft dazu aufgefordert, einen symbolischen Sachverhalt in die politische Realität zu übertragen (Offb 13, 18)� 20 Die Apokalypse wird damit zu einer umfassenden Konkurrenzimagination� Sie spannt im Mittel literarischer Gestaltung eine Gegenwirklichkeit nicht nur gegen Kaiserkult und Romverehrung auf, sondern auch gegen die Kommerzialisierung aller Lebensbezüge, und gegen die angemaßte Allmacht von Militär und Wirtschaft (Offb 17 f�)� Politische, militärische, ideologische und wirtschaftliche Macht gehen eine unheilige Allianz ein: darum sind es die Kaufleute aus aller Welt, die über den Untergangs Roms „wehklagen“ (Offb 18, 15-19). Das römische Reich wird zu einem Imaginarium, aus dem die Apokalypse entheimatet� Sie macht Christen zu Fremden, indem sie sie auf einen sehr aktiven Himmel ausrichtet� 21 Bekanntlich kommt dieser Himmel auf die Erde: er ist nicht Ziel eines „Aufstiegs“ oder einer Seelenreise, sondern vereint sich selbst aktiv mit der Erde, in dem das himmlische Jerusalem auf die Erde herabkommt, ein Bild von seltener Eindrücklichkeit für die inkarnatorische Theologie der Apokalypse� Anbetung oder, um es etwas untheologischer zu sagen, Applaus für Gott werden damit zu einem Politikum: Sie emanzipieren 19 Zum Verhältnis Apokalyptik - Utopie s� M� Frenschkowski, Utopia and Apocalypsis� The Case of the Golden City, in: M� Labahn / O� Lehtipuu (Hg�), Imagery in the Book of Revelation, Leuven 2011 (Contributions to Biblical Theology and Exegesis 60), 29-41. 20 Zu den altkirchlichen Deutungen s. M. Frenschkowski, Nero, 859-861. 21 Zur „Aktivität“ und Dynamik des Himmels in Apk vgl� M� Frenschkowski, Die Entrückung der zwei Zeugen zum Himmel (Offb 11,11-14), JBTh 20, Neukirchen-Vluyn 2005, 261-290. 118 Marco Frenschkowski Ehre� 16 Dazu dient ein elaboriertes System symbolischer Präsenz des Reiches in den Provinzen: auf der Agora, in den städtischen Versammlungen, in Umzügen und anderen öffentlichen Aktionen, in Bauten, Bildern, Stand- und Reiterstatuen, im Münzwesen, in rituellen Akten der Ehrerbietung� Ehre gebührt jedoch nach der Apk vor allem Gott, aber auch dem Lamm� Damit tritt die Ehre Gottes in eine Konkurrenz zur Ehre der imperialen Träger von „Würde“� Aus der Fokussierung auf Anbetung, Ehre, Staunen und Lob, die allein Gott zukommen, resultiert ein in hohem Maße kritischer Blick auf den römischen Staat� Dieser muss ein für frühe Leserinnen und Leser hervorstechender Zug der Apokalypse gewesen sein� Der Propaganda-Apparat des Imperiums ist direkter Ausdruck einer Art teuflischen Epiphanieweise: Satan, die „alte Schlange“, erschafft sich auf der Erde ein dämonisches „Tier“, das alle Züge des Imperiums trägt (Offb 13)� Ein „zweites Tier“ ist offenbar nichts anderes als der Kult um Imperium und Kaiser mit seinen Funktionären� Viele konkrete Züge aus der imperialen Ideologie werden in diese visionäre Staatskritik eingebaut� Das gilt u� a� für die in der paganen Umwelt umlaufenden Geschichten über einen wiederkehrenden Nero, einen „Nero redivivus“ (13,3.12; 17,8-11), 17 welche die Apokalypse in ihrem Sinn deutet� Der aus dem Totenreich wiederkehrende Nero ist der Anti- Christus� Damit wird die politische Bildwelt des Imperiums radikal verfremdet und zur Gegenwelt gegen die himmlische Monarchie� An und für sich weist das Neue Testament ein breites Spektrum an potentiellen Staatstheorien auf, die aber noch nicht entfaltet werden, und immer im Modus der Andeutung bleiben� Von der Unterstützung rechtsstaatlicher Strukturen durch Paulus (Röm 13,1-7) reicht dieses Spektrum über die vorsichtige Annäherung an den Staat in der lukanischen Apostelgeschichte 18 bis zur radikalen Dämonisierung des Staates in der Versuchungsgeschichte der Logienquelle (Mt 4,1-11; Lk 4,1-13). In dieser ist es der Teufel, der die politische Macht (die Königsherrschaft auf der Erde) vergibt� In der Apokalypse wird diese letztere Linie einer Dämonisierung des Imperiums breit ausgebaut, und zu einer umfassenden religiösen, politischen und kulturellen Kritik genutzt� In beiden Fällen macht eine solche Sicht auf den Staat frei von jeder Selbstüberhöhung 16 Vgl� etwa A� Heller / O� M� van Nijf (Hg�), The Politics of Honour in the Greek Cities of the Roman Empire, Leiden 2017� Zum Thema in der Bibel zusammenfassend: C� Janssen / R� Kessler, Art� Ehre / Schande, in: F� Crüsemann u� a� (Hg�), Sozialgeschichtliches Wörterbuch zur Bibel. Gütersloh 2009, 97-100. 17 Vgl� M� Frenschkowski, Art� Nero, RAC 25, Stuttgart 2013, 839-878 und ergänzend ders., Nero Redivivus as a Subject of Early Christian Arcane Teaching, in: M� Labahn / O� Lehtipuu (Hg�), People under Power� Early Jewish and Christian Responses to the Roman Empire, Amsterdam 2015, 229-248. 18 Apg 26,28 wird zum ersten Mal im NT denkmöglich, dass auch Mitglieder der staatstragenden Elite und überhaupt der Herrschaftsschicht Christen werden könnten� Applaus im Himmel? 117 Imperium, den paganen Göttern an Ehre zukommen, was allein Gott gebührt, weil es nur in diesem einer Wirklichkeit korrespondiert� In einem weiteren Schritt ist für uns das Thema der „Anbetung“ (die natürlich etwas ganz anderes ist als Bitte oder Dank, Klage oder Fürbitte) über die Kategorie des Staunens zugänglich� Der Mensch, der nicht staunen kann, hat etwas eingebüßt: oder es ist etwas in ihm oder ihr nicht gewachsen, nicht gereift, noch nicht zur Blüte gekommen� Nicht staunen zu können, ist in einem sehr tiefen Sinn des Wortes „bedauerlich“: wir würden das nicht durch das Wissen um die kulturelle Variabilität aller ethischen Systeme relativieren lassen� Ohne Frage will die Schilderung des himmlischen Thronsaales eine Art Staunen evozieren, auch wenn sich dieses in der Imagination abspielt� Dabei ist das rituelle Inventar der Anbetung Gottes in Apk jedoch nicht einfach eine spontane Reaktion auf die Theophanie Gottes (insbesondere als des Schöpfers), also eines Staunens in direkter Reaktion: es ist vielmehr himmlischer Kult� Träger dieses Kultes sind die Engel, aber die Menschen werden sukzessive integriert� In diesem Kult stabilisiert und perpetuiert sich die „angemessene Reaktion“ auf das Gottsein Gottes, und er hat, über das Staunen hinaus, wie jeder Kult, Elemente des Spieles, der Variation wie auch der Stabilität und des Rhythmus� Es ist nicht „vorauszusehen“, wann die 24 Ältesten ihre Kronen ablegen und vor Gott niederfallen (4,10 f): es bringt dieses Tun der himmlischen Wesen 15 ein dynamisches Element in die Thronsaalszene� Dieses steigert sich dann noch einmal mit der Ankündigung des „Löwen aus dem Stamm Juda“, des messianischen Königs� Doch verwirklicht sich diese Ankündigung in starkem Kontrast und erstaunlicher Paradoxie im Kommen des geschlachteten Lammes (5,5 vs� 6)� Gerade dieses Lamm kann die Schriftrolle öffnen, in der sich die Rätsel der Zukunft enträtseln und der Weltenplan Gottes sichtbar wird (5,2-4). Damit ist die christologische und akklamatorische Mitte der Apokalypse erreicht� Das Ereignis im himmlischen Thronsaal korrespondiert in gewisser Weise der Himmelfahrt und Erhöhung Jesu in anderen neutestamentlichen Ausdrucksweisen� Ein dritter Aspekt ist zu bedenken� Es ist eine konsenshafte Überzeugung der alten Welt: Ehre wem Ehre gebührt� Und wem gebührt Ehre? Aspekte von Scham- und Ehre unterscheiden sich in antiken Gesellschaften durchaus von vergleichbaren Kategorien in unserer Lebenswelt� Ehre ist keine moralische Kategorie, sondern eine soziale� Der Kaiser und seine militärischen und administrativen Vertreter, überhaupt die Träger der imperialen Macht, beanspruchen 15 Die vier Tiere und 24 Ältesten haben offenbar auch Aspekte astraler Symbolik� Dazu M� Frenschkowski, Die Johannesoffenbarung zwischen Vision, astralmythologischer Imagination und Literatur� Perspektiven und Desiderate der Apokalypseforschung, in: F� Wilhelm Horn / M� Wolter (Hg�), Studien zur Johannesoffenbarung und ihrer Auslegung (FS O. Böcher), Neukirchen-Vluyn 2005, 20-45. 116 Marco Frenschkowski und „realistisch“, nicht als Auftrag einer Ethik, sondern als natürliche und selbstverständliche Reaktion auf das Gottsein Gottes� Sich dieser Anbetung zu verweigern - wie es das römische Imperium tut und sich darin gerade als solches definiert - ist im tiefsten nur denkbaren Sinn „unangemessen“, ein Verlassen der Conditio humana � Der Mensch verliert seinen Platz in der Ordnung der Dinge, wenn er nicht staunen, nicht verehren, nicht anbeten kann: oder wenn er sich für diese Objekte sucht, die das nicht wert sind� Das ist die Situation, in welcher der Prophet Johannes seine eigene kleinasiatische Gesellschaft vorfindet� Daher kann die Nachahmung der Gottesverehrung im Kaiserkult, in der Verehrung Roms 12 und im Kult des Imperiums selbst (Offb 13,4.11-18 u. ö.), als Persiflage dessen, was im Himmel geschieht, zu keinem guten Ende führen: Sie ist unangemessen nicht nur in einem ethischen Sinn, sie verweigert sich der größeren Realität Gottes� Nicht die „ewige Stadt“ 13 ist ewig, sondern allein Gott kommt Ewigkeit zu� Daher wird der unausweichliche Untergang Roms in ganz verschiedenen Bildern zur Sprache gebracht: die Stadt wird im Feuer verbrannt (17,16; 18,8 f� 18; 19,3), sie wird von plündernden Armeen aus dem Osten eingenommen (17,16), ein Erdbeben zerstört sie (16,19 und vielleicht 18,21), eine Hungersnot verwüstet sie (18,8) und sie wird ganz allgemein zur Ruinenstätte (18,2.22-24). Offb 18,10. 17. 19 vergeht sie in nur einer Stunde (vg. 14,8), wie einst Atlantis in nur einem Tag und einer Nacht untergegangen sein soll� Sehr auffällig ist das Nebeneinander dieser ja durchaus divergierenden Bilder� 14 Das Motiv der Ewigkeit Roms wird damit ad absurdum geführt: Ewig ist allein der über der Welt thronende Gott, und die, welche er daran teilhaben lässt� Daraus folgt für den Propheten Johannes: ein Nicht-Einstimmen in die Anbetung Gottes verschließt die Augen vor der theophanialen Erscheinung, sie verkürzt die Wirklichkeit und stiehlt Gott und dem Himmel, was ihnen zusteht� Sie ist willentliche Blindheit der größeren Wirklichkeit gegenüber� Die Kritik am Imperium ist damit nicht nur eine politische Totalitarismuskritik (wie wir etwas anachronistisch vielleicht doch sagen dürfen), sondern eine Entlarvung einer ontologischen Verweigerung� Wie der Satan aus dem Himmel gestürzt wird (in den er ursprünglich gehört, Offb 12), so fällt das Imperium aus der Ordnung der kreatürlichen Wahrheit heraus� Es lässt dem Kaiser, der Stadt Rom, dem 12 Über die Verehrung der Göttin Roma in Kleinasien s� C� Habicht, Die Augusteische Zeit und das erste Jahrhundert nach Christi Geburt, in: S� R� F� Price (Hg�), Rituals and Power� The Roman Imperial Cult in Asia Minor, Cambridge 1984, 41-88. 13 Zu diesem Motiv (zuerst in dieser Formulierung Tibull, carmen 2,5,23 f�) vgl� B� Kytzler (Hg�), Roma aeterna� Romdichtung von der Antike bis in die Gegenwart, Darmstadt 1984� 14 Ausführlich zu den damit zusammenhängenden Fragen M� Frenschkowski, Parthica apocalyptica� Mythologie und Militärwesen iranischer Völker in ihrer Rezeption durch die Johannesoffenbarung, JAC 47, Münster 2004, 16-57, bes. 40 f. Applaus im Himmel? 115 Dennoch erkennen wir auch hier im Allgemeinen an, dass es gebildete, sensible und sogar „genialische“ Sichtweisen geben kann, oder auch banausische, triviale, bildungsferne, unsensible, unaufgeklärte� Anders gesagt: bei aller Relativität des ästhetischen Urteils können wir nicht umhin, ein besser oder schlechter, eine Entwicklung zum solideren Urteil, oder auch ein Abfallen der Urteilskraft anzunehmen� Das gilt ganz unabhängig davon, welchen ethischen oder ästhetischen Systemen wir Plausibilität zusprechen: und zwar wieder gilt es erst einmal sehr schlicht faktisch, als Beobachtung unseres Umganges mit ästhetischen Urteilen� Wir entkommen der Frage nach dem Angemessenen nicht� Wir entkommen ihr weder in der Ethik noch in der Ästhetik� Die angemessene Reaktion des Menschen auf die Theophanie Gottes hat aber ethische, ästhetische, lebensweltliche, rituelle und andere Aspekte� 10 Das Schöne, das Erhabene, das Majestätische, das Glänzende, das, was den Menschen in der Betrachtung über sich hinaushebt, kann dabei auch Elemente des Numinosen, des Erschreckenden aufweisen� Diese äußern sich auch in seinem Schatten: im Hässlichen, Bestürzenden, Erschreckenden, im Widerwillen und allen anderen Spielarten der dunkleren Seite des Schönen� Mit Rilkes „Das Schöne ist nichts als des Schrecklichen Anfang, den wir noch grade ertragen, und wir bewundern es so, weil es gelassen verschmäht, uns zu zerstören“ (1� Duineser Elegie) sind wir sehr dicht an der theophanialen Ästhetik der Thronsaalszenen der Apk, die eben auch befremdende Elemente enthalten und enthalten wollen� Erinnern wir auch daran, dass ehemals Gerhard von Rad eine biblische Ästhetik primär aus den alttestamentlichen Theophanieszenen entwickelt hat� 11 Das Schöne erhält in solchen Kontexten einen numinosen Grundzug, und sich diesem zu verweigern oder zu öffnen ist nicht nur eine Frage der Ethik� Ein Verständnis der „Angemessenheit“ der Gottesverehrung in Apk ist für uns erschwert, weil diese Angemessenheit weder einfach eine Sache der Ethik noch einfach eine solche der Ästhetik ist� Es wäre für den Seher ohne Frage nicht nur „böse“ oder sogar blasphemisch, Gott nicht anzubeten: es wäre in einem tiefen Sinn absurd, ein Verlust an eigener Menschlichkeit, ein Herausfallen aus dem Angemessenen angesichts einer überwältigenden göttlichen Präsenz� Allein die Anbetung Gottes stellt sich der Wirklichkeit und ist in diesem Sinn angemessen 10 Über die in die Zukunft verlagerte Theophanie Gottes als Grundthema der jüdischen und christlichen Apokalyptik s� A� Scriba, Die Geschichte des Motivkomplexes Theophanie� Seine Elemente, Einbindung in Geschehensabläufe und Verwendungsweisen in altisraelitischer, frühjüdischer und frühchristlicher Literatur (FRLANT 167), Göttingen 1995� 11 G� v� Rad, Theologie des Alten Testaments� Bd� 1: Die Theologie der geschichtlichen Überlieferungen, München 7 1978, 375-379. Jahwebilder wurden im idealtypischen Israel des Alten Testaments nicht angebetet, sondern waren als literarische Bilder selbst Ausdruck der Anbetung, wie von Rad treffend sagt (376 Anm� 18)� 114 Marco Frenschkowski Kategorie erinnert� 9 Im Zentrum dieser Imagination und Einsicht steht für den Seher Gott� Aber wie kann etwas nicht Sichtbares, nur im Modus der Andeutung zu Beschreibendes „schön“ sein? Es kann dies nur, indem es sich symbolisch repräsentiert� Dazu treten andere Aspekte: Gott ist „würdig“ als Schöpfer und Vollender der Welt, und als derjenige, der diese Vollendung durch das „Lamm“ schafft� Die Steigerung des Symbols ist die sakramentale und darüber hinaus die inkarnatorische Repräsentation Gottes und des Lammes� Es ist genau dies, was die Bildwelt der Apokalypse leistet� Nach Coleridge gäbe es gegenüber der Majestät des Naturphänomens eine angemessene und eine unangemessene Reaktionsweise� Ästhetik ist für ihn nicht einfach eine Sache persönlicher Vorlieben, sondern einer kultivierten Sensibilität, die dem Menschen auch ermangeln kann� Mit dem Fehlen dieser Sensibilität (die selbstverständlich etwas mit Erziehung und persönlicher Lebensgeschichte zu tun hat) werde dem Menschen etwas gestohlen, etwas geraubt (so Lewis)� Nun kennen wir als heutige Leserinnen und Leser das Thema der „Angemessenheit“ einer Reaktion vor allem in ethischer Hinsicht� Trotz aller kulturellen Bedingtheit der Ethik (eine Grundüberzeugung der Postmoderne) lassen wir es uns nicht ausreden, dass z� B� bei einem Unfall die Hilfskräfte zu behindern, um zu gaffen, ein „unangemessenes“ Verhalten ist, und in der konkreten Konfrontation mit Leid und Schmerz etwa kein Mitleid zu empfinden als eigentümlich „unmenschlich“ zu gelten hat� Unterlassene Hilfeleistung in lebensbedrohlicher Situation, das Fälschen von Fakten in der Wissenschaft oder im Journalismus, oder auch in einem totalitären System das Fähnlein überhaupt nach dem Wind zu drehen: all das ist für uns ein verächtliches Verhalten, und wir kämen nicht auf die Idee, dies durch die kulturelle Varianz ethischer Systeme in Frage stellen zu lassen� Damit behaupten wir keine „universale“ oder „globale“ Moral: uns ist im Allgemeinen sehr bewusst, dass in vielen Lebensbereichen z� B� naturrechtliche Argumentationen scheitern� Aber es ist doch ein Faktum, das wir in uns selbst vorfinden (auch wenn wir es ganz unterschiedlich begründen, legitimieren oder auch in Frage stellen), dass wir ethische Urteile fällen, an denen zu rütteln uns überhaupt nicht in den Sinn kommt� Es geht dabei an dieser Stelle nicht um die Frage, ob wir das tun sollten oder nicht, sondern um die schlichte Feststellung, dass es so ist� Sehr viel schwieriger wird es, wenn das „Angemessene“ Bereiche betreffen soll, die nicht direkt ethischer Art sind� Ästhetische Urteile etwa sind für uns (sehr plakativ gesagt) in einem postmodernen kulturellen Kontext in hohem Maße relativ, eventuell subjektiv, Ergebnisse eines Konstruktionsdiskurses� 9 N� Kermani, Gott ist schön: Das ästhetische Erleben des Koran, München 1999 (Neuausgabe 2018)� Applaus im Himmel? 113 Abolition of Man“ 8 über die Frage einer objektivierbaren Moral eine Anekdote über den englischen Schriftsteller Samuel Taylor Coleridge� Dieser hatte sich verärgert gezeigt über ein Gespräch bei einem Besuch angesichts eines gewaltigen Wasserfalls in Schottland� Von zwei Beobachtern bezeichnet diesen der eine als „beautiful“, der andere als „majestic“ bzw� „sublime“ (die Anekdote stammt aus Dorothy Wordsworths „Recollections of a Tour in Scotland, A� D� 1803“)� In einer heftigen Diskussion mit einer Dame stellt sich Coleridge ganz auf die Seite des letzteren, und unterzieht das erstere Statement einer scharfen Kritik� Lewis spitzt den Gegensatz etwas zu auf „pretty“ (hübsch) vs� „sublime“, und zitiert dazu neben Augustins Ordo amoris auch Thomas Trahernes „Centuries of Meditations“ (um 1670): „Can you be righteous, unless you be just in rendering to things their due esteem? All things were made to be yours and you were made to prize them according to their value“ (1,12 ed� A� Ridler 1966)� Das bringt es auf den Punkt� „Not pretty but sublime” wurde in der Literaturwissenschaft zu einer Art geflügeltem Wort für das Thema einer unangemessenen Würdigung eines ästhetischen Sachverhaltes� Das Unangemessene kann dabei das Banausenhafte, Bildungsferne, Zynische, Verniedlichende, Vorschnelle genauso sein wie das Überhebliche, Desinteressierte oder Manierierte� Das Unangemessene hat viele Gesichter� Und das Angemessene? Es soll noch einmal betont werden, dass dies in unserem Kontext keineswegs nur eine „ethische“ Frage ist, sondern nicht weniger eine ästhetische, ja eine ontologische� Wie nimmt der Mensch „angemessen“ als wahrnehmendes und denkendes Wesen seinen Platz im Gefüge der Welt ein? Die Johannesapokalypse antwortet: in der Anbetung Gottes angesichts einer theozentrischen Gesamtvision der Wirklichkeit, angesichts der ihrem Ende entgegengehenden Welt, der himmlischen Thronwelt Gottes und angesichts der Weltvollendung in der „goldenen Stadt“, deren Bäume mit ihren Früchten und Blättern „die Völker heilen“ (22,2)� Wer wollte leugnen, dass dies in hohem Maße provozierende, paradoxe, änigmatische Bilder sind? In unserer Situation des interreligiösen Dialogs sind wir auch an das islamische Insistieren auf der „Schönheit Gottes“ als einer zentralen spirituellen 8 C� S� Lewis, The Abolition of Man� Reflections on education with special reference to the teaching of English in the upper forms of schools, Oxford 1943� Das Buch ist vermutlich die einflussreichste britische Schrift zum Thema Moralphilosophie im 20� Jh� gewesen; die vorliegenden deutschen Übersetzungen der Bücher von C� S� Lewis sind jedoch fast ausnahmslos eher dilettantisch angefertigt, was nicht wenig dazu beigetragen hat, dass der Autor in Deutschland nie in dem Maße wahrgenommen wurde wie in der angloamerikanischen Welt� 112 Marco Frenschkowski sich gewissermaßen aus, ohne seinen christologischen Haftpunkt zu verlieren� 7 Tenor dieses gewaltigen Bilderkosmos ist in jedem Fall die Überzeugung, dass alle Kreatur dazu berufen ist, Gott anzubeten� Die Apokalypse bringt es auf eine kurze Formel: Gott ist „würdig“ ( axios )� „Herr, unser Gott, du bist würdig, zu nehmen Preis und Ehre und Kraft; denn du hast alle Dinge geschaffen, und durch deinen Willen waren sie und wurden sie geschaffen“ (4,11)� Es sprechen die 24 Ältesten, eine Art kosmischer Thronrat� Das Stichwort der Würde wird darüber hinaus in zwei weiteren Zusammenhängen eingebracht� Ein Engel spricht vor dem Thron: „Wer ist würdig, das Buch aufzutun und seine Siegel zu brechen? Und niemand, weder im Himmel noch auf Erden noch unter der Erde, konnte das Buch auftun noch es sehen� Und ich weinte sehr, weil niemand für würdig befunden wurde, das Buch aufzutun und hineinzusehen.“ (5,2-4). Wenn es so bliebe, wäre die Zukunft für alle Zeit ein Buch mit sieben Siegeln, und ein verborgener Sinn des Geschehens würde nicht sichtbar� Aber das mythische Szenario im Himmel verbindet sich mit den geschichtlichen Ereignissen auf der Erde, und das „Lamm, das geschlachtet wurde“ ist würdig, das Buch zu öffnen� Von diesem Punkt aus entfalten sich die Zyklen der apokalyptischen Endereignisse mit apokalyptischen Reitern, Siegeln, Weherufen, Posaunen, Zornschalen, und mehreren Einschüben� In einem dritten Zusammenhang werden die Mörder der (öffentlichen) Zeugen des Lammes (das Wort meint noch nicht exklusiv Märtyrer) ebenfalls als „Würdige“ bezeichnet: Die sich gegen diese Zeugen stellen, haben „verdient“, was ihnen im Gericht widerfährt (16,6)� Und die Christen selbst, die sich nicht mit der Welt besudelt haben, sind ihren eschatologischen Lohn „wert“ (3,4)� Das verbindende Schlagwort, mit dem deutschen „würdig“ nur teilweise wiederzugeben, bezeichnet in jedem Fall eine „Angemessenheit“ in hohem Maße, die eine Reaktion erfordert� Und ein Aspekt dieser „Angemessenheit“ in Hinsicht auf Gott ist die Anbetung Gottes: er ist in besonderer und nicht zu überbietender Weise „würdig“� Wie können wir uns ein Verständnis dieser Überzeugung erschließen? Bevor wir in einer intelligenten Wahl in diese Überzeugung einstimmen können, oder aber auch in eine Spannung zu ihr treten, müssen wir sie verstehen� Wählen wir einen indirekten Zugang und beginnen mit einem berühmten Text der britischen Literaturgeschichte� C� S� Lewis erzählt am Beginn seines Buches „The 7 Über das komplizierte Verhältnis zwischen Corpus Ioanneum und Apk vgl� zuletzt M� Karrer, Die johanneischen Schriften und die Apokalypse� Beobachtungen zu einer komplizierten Beziehung, in: M� Labahn (Hg�), Spurensuche zur Einleitung in das Neue Testament: Eine Festschrift im Dialog mit Udo Schnelle, Göttingen 2017, 373-394, dessen Lösung (literarische Unabhängigkeit der Texte) wohl zuzustimmen sein wird� Applaus im Himmel? 111 Thronsaales oft ins Kosmische und Groteske, also Paradoxe steigert� Es ist dies ein wesentliches Thema der präkabbalistischen jüdischen Hekhalot-Literatur (3.-10. Jh.), die einen Aufstieg des Visionärs bis vor den Thron Gottes als Gegenstand einer meditativen Ekstase schildert� 5 Sie ist erst in den letzten Jahren ernstlich in einen Fokus der Forschung geraten� 6 Ähnlichkeiten zur Vision des Johannes liegen auf der Hand (Gottes Thron in einem gigantischen, kosmisch konnotierten Thronsaal, vier mysteriöse Lebewesen und Engelchöre, Qeduscha bzw� Trishagion, Akklamation und Doxologie, Hymnus, Gesang und Gebet, usw�)� Die Irrungen und Wirrungen der irdischen Welt, mit ihren Anfechtungen, Versuchungen und ihrer imperialen Unterdrückung der christlichen Gemeinden laufen wie ein geplantes Theaterstück vor dem göttlichen Publikum des Thronsaales ab� Doch die Grenze zwischen beiden Wirklichkeiten verschwindet, wenn das himmlische Jerusalem auf die Erde herabkommt, und die himmlische die irdische Realität in sich aufnimmt (21,2)� Indem das „himmlische Jerusalem“, ein zentrales Bild eschatologischer Vollendung in der Apokalypse, auf die Erde kommt, und keinen Tempel benötigt, da Gott in ihr allenthalben präsent ist, erhält die Eschatologie selbst einen inkarnatorischen Zug� Im Endzustand aller Dinge ist Gott in unüberbietbarer Nähe bei seinem Volk (Offb 21,3�22)� Was das Johannesevangelium von der Inkarnation Christi sagt ( Joh 1,14�18), weitet 5 Vgl� etwa P� Schäfer, The Origins of Jewish Mysticism� Tübingen 2009; ders� (Hg�), Übersetzung der Hekhalot-Literatur. Vier Bände. Tübingen 1987-1995 (ein abschließender Register-Band ist angekündigt)� 6 Ein erster Versuch, diese Forschungen für die Apk fruchtbar zu machen, war G� Schimanowski, Die himmlische Liturgie in der Apokalypse des Johannes� Die frühjüdischen Traditionen in Offenbarung 4-5 unter Einschluß der Hekhalotliteratur. Tübingen 2002 (WUNT II, 154)� Prof. Dr. Marco Frenschkowski, geb� 1960 in Hamburg, lehrt seit 2011 an der Universität Leipzig Neues Testament unter Berücksichtigung der Religionsgeschichte der hellenistisch-römischen Welt� Forschungsgebiete sind das frühe Christentum und die antike Religionsgeschichte, daneben Religionskulturen der Moderne, neue religiöse Bewegungen, Klischee- und Stereotypforschung, Geschichte magischer und esoterischer Diskurse, Alteritätsforschung, phantastische und imaginative Literaturen, Geschichte der Konzepte von „Wissen“, Bibliotheksgeschichte� Hauptprojekt ist eine Religionsgeschichte des frühen Christentums� 110 Marco Frenschkowski Der Seher der Johannesoffenbarung war der Überzeugung, dass „Verherrlichung“, kultische Verehrung, Anbetung die einzige angemessen Reaktion auf das Gottsein Gottes, seine königliche Stellung im Kosmos sind� Engel, Menschen und alle mythischen Lebewesen des himmlischen Hofstaates treffen sich in dieser Daseinsbestimmung, Gott zu ehren und anzubeten� Gott ist vor allem der himmlische König: eine monarchische Leitmetapher durchzieht das Buch, und Gott auf dem göttlichen Thron ist der Ausgangs- und Zielpunkt allen Geschehens� Als kosmischer Monarch ist Gott Gegenstand der rituellen Verehrung� Diese Anbetung konkretisiert sich in Wort und Lied, im uralten Gestus des sich Niederwerfens (Offb 4,10; 5,14; 7,11; 11,16; 19,4), 2 aber auch, und das ist vielleicht nicht sofort in gleicher Weise sichtbar, im Akt der visionären Imagination selbst� Auch die beschreibenden Passagen über die himmlische Welt in Theophanie-Tradition haben einen Zug der Verherrlichung, einen Grundton der Anbetung� 3 Gott auf seinem Thron, sein Hofstaat mit den ihn umgebenden mythischen Wesen, Christus als Löwe aus dem Stamm Juda und als Gotteslamm sind nur erste hervorgehobene Elemente dieser Imagination einer göttlichen Sinnmitte der Welt, die diese Welt zugleich transzendiert� Die Gott am nächsten stehenden Wesen sind neben dem „Lamm“ ein „Löwe“, ein „Stier“, ein „Mensch“ und ein „Adler“� Das ist bibelkundigen Leserinnen und Lesern zwar aus Hesekiel vertraut, aber doch vor allem ein eindrückliches Signal, dass wir einen Bereich numinoser, nur bildlich zu evozierender Majestät betreten, eines Geheimnisses, das nicht gelöst, sondern verehrt werden soll� Dabei wird von vornherein ein Element des Rätselhaften integriert: Gott wird nicht sichtbar gemacht, nur angedeutet: einer, der „aussieht wie ein Jaspis und Sarder“� Er ist der, „der auf dem Thron sitzt“ (Offb 4,2 f�; 21,5), der von Blitzen, Licht, Feuer umgeben ist, und zu ihm gesellt sich später als Throngenosse das Lamm� Gegenüber jüdischen Thronszenen (1Kön 22,19; Jes 6,1; Hes 1; Ps 97, 2; äthHen 14,15-23; 47,3 f; 90,20 etc.) liegt hierin der eigentlich Clou des Bildes: Gott thront nicht mehr allein 4 (Darauf wird sofort zurück zu kommen sein)� Der Thronsaal Gottes wird dabei in kosmischen Dimensionen geschildert; der gestirnte Himmel, zu dem Menschen aufblicken, stellt nur eine kleine Fläche zu Füßen Gottes dar, die wir sozusagen von der anderen Seite, von „unten“ sehen (4,6)� Die Apk trifft sich hierbei mit jüdischer Literatur, welche die gigantischen Ausmaße des 2 Vgl� zu seiner Geschichte S� Alexopoulos, Proskynesis, RAC 28, Stuttgart 2018, 360-372. 3 Vgl� allgemeiner zu den beschreibenden Elementen der Apk und ihrer spezifischen Rhetorik R� J� Whitaker, Ekphrasis, Vision, and Persuasion in the Book of Revelation (WUNT II 410), Tübingen 2015� 4 Vgl� M� Hengel, Die Throngemeinschaft des Lammes mit Gott in der Johannes-Apokalypse, in: ders�, Studien zur Christologie� Kleine Schriften IV� Hg� von C�-J� Thornton, Tübingen 2006, 368-385 (zuerst 1999). Zeitschrift für Neues Testament Heft 42 21. Jahrgang (2018) Hermeneutik und Vermittlung Applaus im Himmel? Gedanken zum Gott der Apokalypse zwischen Phantastik und Politik Marco Frenschkowski Beginnen wir mit einer etwas anstößigen, in jedem Fall sperrigen und überraschenden Beobachtung zum letzten Buch der Bibel� 1 Man könnte ja meinen, der Gott der Apokalypse sei in besonderer Weise applaussüchtig� Ganze Ordnungen himmlischer Wesen scheinen ihre Daseinsberechtigung v� a� darin zu haben, ihm Beifall zu klatschen bzw� in Wort, Lied und Gestus sein Lob zu singen (Offb 1,6; 4,8-11; 5,9-14; 7,10-12 usw.). Nun ist eine solche Sichtweise polemisch und ein klein wenig zynisch� Sie soll hier aber nicht zu schnell in eine harmonisierende Variante von Theologie aufgelöst werden, sondern in einem weiteren kulturellen Rahmen zur Betrachtung kommen� Das in der religiösen Wahrnehmung Selbstverständliche eines solchen visionären antiken Textes muss erst fremd werden, d� h� erklärungsbedürftig, um ihn auf gegenwärtige Erschließung von Wirklichkeit anwenden zu können� Warum spielen Themen der Anbetung, der Verehrung, oder eben, polemisch-verfremdend gesagt, des Applauses eine solche Rolle? Und wie verhält sich dieser Aspekt zur Bildwelt, zur Gesamtkonstruktion der kulturellen, politischen und kosmischen Wirklichkeit in der Apokalypse? 1 Eine ausführliche Dokumentation ist an dieser Stelle nicht möglich: Vielfach kann hier nur (sehr viel mehr, als mir lieb ist) auf eigene Studien verwiesen werden, die eine solche Dokumentation bieten� Die große Stadt. 107 „Das letzte Buch der Bibel - die Johannesoffenbarung - ermutigt im Alltag der Welt, die so viel Angst und Schrecken erzeugt, zu träumen vom gemeinsamen Leben Gottes und seines Heilands mit allen Völkern� […] Mit den Augen des Johannes lässt sich zuversichtlich sehen, was war und was ist und was sein wird�“ 32 32 Hörbuch „Nacht der Bibel“, Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt, Track 58� 106 Stefan Alkier ihre Interpretation zu investieren, denn das Imperium Romanum ist Vergangenheit� Wenn das Problem, mit dem dieser Text sich abmühte, längst erledigt wäre, wäre die Johannesapokalypse zwar noch philologisch und auch als historische Quelle interessant, sie hätte aber keine theologischen Impulse für die Gegenwart und die Gestaltung der Zukunft zu geben� 31 Die Johannesapokalypse holt aber viel weiter aus und gelangt so zu grundlegenden theologischen und kosmologischen Einsichten in die Problematik von Machtsphären� Gott ist der Johannesapokalypse zufolge der Pantokrator, der Allherrscher (vgl� 1,8)� Es gibt keine von ihm unabhängige Gegenmacht� Das Wirken böser Mächte verdankt sich einem partiellen Machtverzicht Gottes� Er räumt der diabolischen Machtsphäre - symbolisiert durch den Drachen - wenig Zeit ein (vgl� 12,12)� Diese aber nimmt schlimmen Einfluss auf das Prinzip irdischer Weltherrschaft - symbolisiert durch die Verdichtung der vier Tiere aus Dan 7 in das eine Tier aus Offb 13� Auf diesem Prinzip irdischer Weltherrschaft baut die Machtausübung großer Städte - symbolisiert durch Jerusalem und Sodom in Offb 11 und durch Babylon in Offb 14-18 - auf, die überregional herrschen, dann aber selbst zum Opfer dieses unheilvollen Machtprinzips werden (vgl� 17,16)� Erst wenn Gott seine Macht ganz in Anspruch nimmt (vgl� 11,17), wird Gericht gehalten und Gottes Gerechtigkeit wirksam erwiesen� Jede Tränen verursachende Macht wird vernichtet und allen Völkern wird ein heilvolles Leben in unüberbietbarer Gottesnähe eröffnet (vgl. Kap 21,1-22,5). Bis dahin aber gilt es, Zeuge des Zeugen Jesu Christi zu sein, der den Weg der Zeugenschaft der schöpferischen Macht Gottes gegangen ist und sich nicht von den diabolischen Machtsphären beeindrucken ließ, die ihn dann sogar kreuzigten (vgl. 1,1-7). Unrecht klar zu benennen, nicht wegzusehen, wo immer unbarmherzig zerstörerische Macht ausgeübt wird, sei es in Sodom, in Jerusalem, in Babylon, in Rom, in Berlin, in Peking, in Moskau, in Washington, in der eigenen Gemeinde, am Arbeitsplatz, zu Hause - die Wahrheit bezeugen gegen alle Widerstände ist der subversive Aufruf der Johannesapokalypse mit Blick auf jeden Missbrauch von Macht in der visionären Zuversicht, dass das Böse die Macht Gottes nur nachäffen, sie aber niemals bezwingen kann� Wer sich auf den Text der Johannesoffenbarung einlässt, wird das Versprechen des Lektürevertrages in 1,3 nicht als leere Worte empfinden: „Reich beschenkt, der, der liest und die, welche hören die Worte der Prophetie und beachten das, was in ihr geschrieben ist: der günstige Augenblick nämlich - nahe�“ 31 Vgl� aber S� Alkier, Witness or Warrior? How the Book of Revelation can help Christians live their political Lives, in ders� / R� B� Hays (Hg�), Revelation and the Politics of Apocalyptic Interpretation, Waco, Texas 2012, 125-141. Die große Stadt. 105 Die Antwort darauf hat der Text der Johannesapokalypse in Kap 13,1 f� längst gegeben: „Und ich sah aus dem Meer ein Tier heraufsteigen habend 10 Hörner und sieben Köpfe und auf seinen Hörnern 10 Diademe und auf seinen Köpfen Namen der Schmährede� Und das Tier, das ich sah, war gleichend einem Panther und seine Füße wie eines Bären und sein Maul wie das Maul eines Löwen� Und es gab ihm der Drache seine Macht und seinen Thron und Vollmacht, große�“ Die große Vollmacht, die das tierische Mischwesen in die Lage versetzt, in 17,16 sogar die große Stadt zerstören zu können, erhält es vom Drachen, der in 12,9 nach seinem verlorenen Kampf im Himmel auf die Erde geworfen wird und u� a� als Satan und Diabolos (Durcheinanderwerfer) identifiziert wird� Das in Offb 17,3b näher beschriebene Tier ist zusammengesetzt aus den vier Tieren, die in Dan 7 vier aufeinanderfolgende Weltreiche symbolisieren� In Dan 7,2-8 treten die Tiere nacheinander auf, das erste wie ein Löwe, das zweite wie ein Bär, das dritte wie ein Panther� Das vierte, besonders schreckliche Tier ist keinem bekannten Tier vergleichbar, aber es hat zehn Hörner� Dan 7,17 dechiffriert so: „Diese großen Tiere sind vier Königreiche, die auf Erden kommen werden�“ Mit der Verschmelzung der vier Tiere zu einem Tier, das auf diese Weise 7 Köpfe zählt - der Panther hat 4 Köpfe addiert mit den Köpfen der drei anderen Tiere ergibt das 7 Köpfe - und 10 Hörner - die 10 Hörner des vierten Tieres -, wird die diachrone Logik der Weltherrschaft des Danielbuches verdichtet zu einem überzeitlichen diabolisch bevollmächtigten Prinzip der Weltherrschaft, das stärker und dauerhafter ist, als jede noch so große Stadt� Vogel übersieht durch seinen Fokus auf Frau Babylon, dass nicht diese, sondern das vom Drachen mit Vollmacht ausgestattete Tier die diabolische Weltherrschaft repräsentiert, die auch über die Vernichtung Babylons hinausreicht� Babylon, die große Stadt, ist in Offb 18,2 gefallen, nicht aber das Tier, auf dem sie saß und das sich dann gegen sie gewendet hat� Das Tier und seine irdischen Verbündeten werden erst in 19,19 f� vernichtet� Aber damit ist der Kampf immer noch nicht beendet, denn der Drache, die Schlange, der Diabolos, der Satan werden in 20,3 zunächst für 1000 Jahre gebunden und dann erst für immer in den Feuerpfuhl geworfen, wo das Tier bereits gefangen gehalten wird (20,10)� Zuletzt aber folgen dahin Tod und Hades (20,14) und erst dann kommt das neue Jerusalem aus dem Himmel auf die Erde� Ermutigung zur Zeugenschaft Die Johannesapokalypse als „Kampfschrift gegen Rom“ zu verstehen, verstellt den Blick für die theologisch und kosmologisch differenzierende Machtkritik dieses faszinierenden Textes� Arbeitete sie sich nur am Imperium Romanum ab, so hätten wir auch keine theologische Veranlassung, soviel Zeit und Arbeit in 104 Stefan Alkier Münze mit lateinischer Aufschrift nach Ausweis des numismatischen Befundes jedenfalls nicht� Alles, was in Offb 17 und 18 von der großen Stadt geschrieben wird, erklärt sich durch intertextuelle Bezugnahmen auf Sodom, Jerusalem und Babylon in Genesis, Jesaja, Jeremia und Ezechiel� Die Johannesapokalypse ist also keine Kampfschrift gegen Rom� Vielmehr bietet sie eine Analyse großer Städte als Orte menschlicher Machtkonzentration, die mit ihrer ungerechten und unbarmherzigen Herrschaft über andere Städte und Königreiche nicht den Werten Gottes und seiner Schöpfung entsprechen� Leser, die ein negatives Rombild hatten, werden bei der Lektüre von Offb 16-18 sicher auch an Rom gedacht haben, so wie heutige Leser vielleicht an Washington, Moskau oder Peking denken mögen� Aber die Rezipienten zur Zeit des Imperium Romanum, die die prophetischen Schriften Israels kannten, werden die intertextuellen Bezüge ebenfalls wahrgenommen und so ihre Romkritik mit der Kritik an Sodom und Gomorra, an Jerusalem und Babylon zusammengedacht haben - eine Verschmelzungstechnik, die der Verfasser der Johannesoffenbarung in anderer Hinsicht auch in 12,9 expliziert: „Und geworfen wurde der Drache, der große, die Schlange, die alte, der sogenannte Durcheinanderwerfer und der Satan, der durchstreift die bewohnte Welt als Ganze�“ Wie Johannes die diversen Akteure des Bösen als Exemplare ein und desselben Gegenspielers Gottes zu lesen aufgibt, so begreift er Sodom, Jerusalem und Babylon als Exemplare der Gott vergessenden, Unrecht ausübenden, großen Stadt, die mit ihrer Herrschaft überregionalen Schaden anrichtet� Das Tier und die Frau: Das dämonische Prinzip der Weltreiche und die begrenzte Macht der großen Stadt „Und ich sah eine Frau sitzend auf einem Tier, einem scharlachroten, voll hinsichtlich Namen der Schmähungen habend sieben Köpfe und zehn Hörner�“ (Offb 17,3b)� Durch die Farbe Scharlachrot (vgl� 17,4) sind die Frau und das Tier verbunden� Da die Frau auf dem Tier sitzt, scheint sie dessen Herrin zu sein� Sie reitet aber nicht auf dem Tier, gibt ihm nicht die Sporen - vielmehr ist sie als auf ihm Sitzende abhängig von all seinen Bewegungen, eine Abhängigkeit, die in ihrer Zerstörung mündet: „Und die zehn Hörner, die du gesehen hast, und das Tier, diese werden hassen die Hure und verlassen werden sie sie machen und nackt und ihre Fleischstücke werden sie essen und sie verbrennen im Feuer�“ Das Tier und seine Hörner wenden sich gegen die Frau und zerfleischen sie� Wir wissen aus 17,18, dass die Frau die große Stadt symbolisiert, deren Macht soweit reicht, dass sie „über die Könige der Erde“ herrscht� Wer aber ist das Tier, das diese mächtige irdische Stadt zu zerstören in der Lage ist? Die große Stadt. 103 In Offb 17,9 wird sachgemäß das griechische Wort oros für Berg verwendet� Es gibt keinen Beleg dafür, dass irgendeine Stadt in der griechischen Literatur als Stadt auf den 7 Bergen bezeichnet wird, obwohl es für Jerusalem Sinn gemacht hätte, wenn diese 7 Berge Jerusalems geographisch auch eher als Hügel (lophos) zu bezeichnen wären, vergleichbar mit den 7 Hügeln Roms� Für Rom als siebenhügelige Stadt sind 6 Belege bekannt, die sachgemäß das griechische Wort lophos (Hügel) bzw. heptalophos (siebenhügelig) aber eben nicht oros (Berg) verwenden� 3 von diesen 6 Belegen finden sich in den schwer zu datierenden Oracula Sibyllina (2�18; 13�45; 14�108), ein Beleg stammt aus Plutarch, Moralia 2�280d, eine Schrift aus dem Ende des 1� oder Anfang des 2� Jh�s, und ein Beleg aus der Anthologia Palatina (14�121�1), einer späten Gedichtsammlung. Die Epigramme Anth. Pat. 14,116-146 werden in das 4. Jh. n� Chr� zu datieren sein� Der früheste Beleg ist Cicero, Epistula ad Atticum 6�5�2� Bei einem geflügelten Wort dürfte man doch deutlich mehr Belege erwarten, insbesondere wenn man damit Offb 17,9 erklären will, denn dafür käme dann zeitlich gesichert nur noch ein einziger Beleg in Frage, nämlich Cicero, der aber wie die späteren Belege auch das griechische Wort heptalophos mit Blick auf Rom verwendet und nicht von der Stadt auf sieben Bergen spricht� Von einem Sprichwort, das Rom als Stadt auf den sieben Bergen markiert, kann in der griechischen Literatur keine Rede sein� Aber selbst in der lateinischen Literatur gibt es keine sprichwörtliche Rede von Rom als Stadt auf den sieben Bergen� Die dafür in der Kommentarliteratur angeführten Belegstellen, die überwiegend aus der lateinischen Dichtung zur Zeit des Augustus stammen, haben keinen einheitlichen Duktus: Vergil, Aeneis 6.781-783, spricht von sieben Burgen, Horaz, Carmen saeculare 7, spricht von sieben Hügeln, Properz, 3. 11. 55-58, erwähnt sieben Joche, Ovid, Tristia 1. 5. 67-70, und Martial 4,64.11s, sprechen von sieben Bergen� Ein geflügeltes Wort ergibt diese disparate Redeweise nicht einmal in der lateinischen Literatur� In dieses Bild passt auch die von Vogel als Beleg für seine Hypothese einer sprichwörtlichen Rede von Rom als Stadt auf den sieben Bergen herangezogene Dea Roma Münze� Es gibt zahlreiche Dea Roma Münzen zur Zeit Vespasians, die Vogel hier im Blick hat, aber nur eine von ihnen zeigt die wohlgesittete Göttin teils sitzend, teils anlehnend an sieben Hügeln� Es handelt sich um eine 71 n� Chr� in Rom geprägte Münze� Das RIC 30 bemerkt zu dieser Münze: „very few examples known“� Ob es eine dieser Münzen überhaupt bis nach Kleinasien geschafft hat, ist eher fraglich, weite Verbreitung über ihre Prägestätte Rom hinaus, die zu einem „geflügelten Bild“ hätte beitragen können, hatte diese 30 H� Mattingly / E� A� Sydenham et al� (Hg�), The Roman Imperial Coinage, London 1923 ff� 102 Stefan Alkier schändlichen großen Stadt� Aber an keiner Stelle wird in der Johannesapokalypse dazu aufgefordert, den Stadtnamen „Babylon“ allegorisch zu dechiffrieren� Und Rom? Der Name „Rom“ findet sich in der Johannesapokalypse nicht� Er wird hineingelesen durch eine allegorische Interpretation von Offb 17,9: „So der Verstand, der Weisheit hat: Die sieben Köpfe sieben Berge sind sie - wo die Frau sitzt auf ihnen - und sieben Könige sind sie�“ Es geht in 17,9 nicht um eine Ersetzung des Namens Babylon, sondern um eine doppelte Dechiffrierung der sieben Köpfe des Tieres: Die sieben Köpfe sind sieben Berge, auf denen die Frau sitzt� Die Berge fungieren nicht als eine zu entschlüsselnde historische Referenz� Sie sind vielmehr Teil des Bildes der großen Stadt als Hure� Diese Berge werden dann ausgedeutet als Könige� Die Siebenzahl ergibt sich im Allgemeinen aus der Bevorzugung dieser Zahl in der Johannesoffenbarung (sieben Geister Gottes, sieben Sendschreiben, sieben Versammlungen, sieben Siegel, sieben Posaunen, sieben Zornesschalen, sieben Hörner, sieben Köpfe) und im Besonderen durch die nachäffende Inversion von Gott und seinem Böcklein seitens des Drachen und des Tieres� In Offb 5,6 heißt es: „Und ich sah in der Mitte des Thrones und der vier Lebewesen und in der Mitte der Älteren ein Böcklein stehend wie geschlachtet, habend sieben Hörner und sieben Augen, welche sind die sieben Geister Gottes, ausgesandt auf die ganze Erde�“ Während die sieben Hörner des Böckleins die sieben Geister Gottes symbolisieren verweisen die sieben Köpfe des Tieres lediglich auf irdische Könige� Die Pointe dieser Inversion lautet: Das gewaltige Tier, das das kleine Böcklein nachäfft, ist mit weit weniger Machtfülle ausgestattet als das Böcklein selbst� Offb 17,9 verweist deshalb nicht mit historischer Referenz auf eine Stadt, die auf sieben Bergen liegt� Obwohl Babylon in einer Ebene liegt, wird bildlich von Babylon selbst als Berg des Verderbens in Jer 51,25 gesprochen und in Jes 14,13 spricht Babylon: „Ich will in den Himmel steigen und meinen Thron über die Sterne Gottes erhöhen, ich will mich setzen auf den Berg der Versammlung im fernsten Norden�“ Dass Babylon über die Könige der Erde herrscht, ist ebenfalls ein intertextueller Bezug, heißt es doch In Jes 47,1: „[…] du sollst nicht mehr heißen ‚Herrin über Königreiche‘�“ Jerusalem dagegen wird nicht nur symbolisch als Berg begriffen� Der Berg Zion, auf dem König David seinen Palast erbaute, nachdem er die Burg Zion von den Jebusitern erobert hatte (vgl� 2 Sam 5,7), ist mit mehr als 150 Belegen im Alten Testament der zweite Name für Jerusalem� Andere bekannte Berge in und in unmittelbarer Nähe zu Jerusalem sind der Tempelberg, der Ölberg und Golgota� Es sind aber auch noch zu nennen: Goath, Akra Morija und Ophel, das macht zusammen 7 Berge� Die große Stadt. 101 schreibt er: „Die Stadt ist also recht groß� Sie ist aber auch die schönste Stadt von allen, die wir kennen�“ 28 Dieses Geschmacksurteil findet sich auch in Jes 13, das Kapitel gegen Babylon, das Johannes mit seiner intertextuellen Schreibweise in seine Komposition der 7 Zornesschalen eingewoben hat: „So soll Babel, das schönste unter den Königreichen, die herrliche Pracht der Chaldäer, zerstört werden von Gott wie Sodom und Gomorra“ ( Jes 13,19) 29 � Mit dem gemeinsamen Bezug auf Sodom werden Jerusalem (vgl� Offb 11,8) und Babylon intertextuell vernetzt� Wie intensiv die Gestaltung der 7 Zornesschalen in Offb 16-18 sich einer intertextuellen Schreibweise verdankt, wird vollends offensichtlich, wenn man Jer 50-52 hinzuzieht. Der überwiegende Teil von Offb 16-18 kann als rewriting, als generative Intertextualität begriffen werden, wofür ich wegen der gebotenen Kürze nur noch ein Beispiel anführen möchte: In Offb 17,1bf heißt es: „Hierher, zeigen werde ich dir das Gericht der Hure, der großen, die sitzt an vielen Wassern mit der hurten die Könige der Erde und es berauschten sich die, die bewohnen die Erde an dem Wein ihrer Hurerei�“ In Jer 51,7 heißt es: „Ein goldener Kelch, der alle Welt trunken gemacht hat, war Babel in der Hand des Herrn� Alle Völker haben von seinem Wein getrunken; darum sind die Völker so toll geworden�“ Und Jeremia fährt fort: „Wie plötzlich ist Babel gefallen und zerschmettert“ ( Jer 51,8a)� Durch die intertextuelle Schreibweise verbunden mit dem räumlichen Index „die sitzt an vielen Wassern“, ist Babylon in der Johannesapokalypse Babylon, wie es in den intertextuellen Bezugstexten beschrieben wird� Als solches ist es intertextuell verwoben mit Jerusalem ein besonders erschreckendes Exemplar einer großen Stadt, in der es zugeht wie einst in Sodom und Gomorra� Aber nicht nur durch den gemeinsamen Sodombezug werden Jerusalem und Babylon durch die intertextuelle Schreibweise der Apk miteinander verwoben� In Offb 17,4 f� ist zu lesen: „Und die Frau war umkleidet mit Purpurfarbenem und Scharlachrotem und vergoldet mit Goldenem und kostbarem Stein und Perlen habend einen Becher, einen goldenen, in ihrer Hand voll von Abscheulichkeiten und hinsichtlich des Unreinen ihrer Hurerei und auf ihrer Stirn ein Name geschrieben, ein Geheimnis: Babylon, die große, die Mutter der Huren und der Abscheulichkeiten der Erde�“ Die große Stadt als Frau, als auffällig herausgeputzte Hure wird in ganz besonderer Weise in Ezechiel 16 dargestellt - mit Bezug auf Jerusalem! Offb 17 vernetzt Jerusalem und Babylon als zwei Exemplare der Autoren und der Johannesapokalypse� 28 Herodot, Historien I, Gr�-dt�, hg� v� J� Feix, Lizenzausg� Darmstadt 1988, 1,178 (S� 163)� 29 Ich zitiere nach der Lutherbibel 2017, die auf dem hebräischen Text beruht� Es sei hier angemerkt, dass es sachgemäßer wäre, auch die LXX Versionen anzuführen, was zu einer Komplexitätssteigerung führen würde, die hier aber den Raum gesprengt hätte� 100 Stefan Alkier Augen ihre Frauen und Kinder abschlachten; er sah dabei während eines Trinkgelages mit seinen Kebsweibern zu� Das Volk ergriff solch ein Entsetzen, daß von den Gegnern in der folgenden Nacht 8000 aus ganz Judäa entflohen, für die ein Ende des Flüchtlingsdaseins erst bei Alexanders Tod eintrat�“ ( Jos Bell 1,97 f�) 26 Jerusalem, die große Stadt, die unter den Hasmonäern imperiale Expansionspolitik mit grausamer Härte und sogar Massenkreuzigungen unternahm, wenn sie die innere Ordnung gefährdet sah, kann deshalb für den Verfasser der Johannesapokalypse nie wieder zum Ort Gottes werden� Nur ein gänzlich neues, im Himmel errichtetes Jerusalem ohne Tempel kann als Heilsort für alle Völker dienen - auch für die Römer� Babylon Als zweite „große Stadt“ wird in 14,8 Babylon eingeführt: „Gefallen, gefallen ist Babylon, die Große, die von dem Wein des Ingrimms ihrer Hurerei zu trinken gegeben hat allen Völkern�“ Der erste Teil des Satzes wird in 18,2 wiederholt, nun aber mit einer anderen Fortführung� Dabei kann schon hier festgehalten werden, dass beide Verse das Ergebnis der intertextuellen Schreibweise der Apk sind und sich nicht einer erkennbaren Referenz auf Rom verdanken� Offb 14,8 vernetzt Jes 21,9 und Jer 51,7; Offb 18,2 verarbeitet u� a� Jes 21,9; 13,21 und Jer 9,10� Das gleiche gilt für das zweite Auftreten des Städtenamens Babylon� Hier handelt es sich um die intertextuelle Vernetzung u� a� mit Jer 25,15: „Und es wurde die Stadt, die große, zu drei Teilen und die Städte der Bevölkerungen fielen� Und Babylon, die große, wurde bedacht vor Gott ihr zu geben den Becher des Weines des Ingrimms seines Zornes� Und jede Insel floh und Berge wurden nicht gefunden�“ (16,19 f) Nicht nur Babylon wird von der 7� Zornesschale in Mitleidenschaft gezogen, vielmehr fallen ohne jede topographische Beschränkung die Städte� Und im folgenden Vers sind nicht nur Sizilien oder Capri, sondern ohne jede räumliche Begrenzung alle Inseln und alle Berge betroffen� Der räumliche Index „die sitzt an vielen Wassern“ identifiziert die „große Hure“ in 17,1 mit intertextuellem Bezug zu Jer 51,13 als Babylon� Von der mit Wasser umgebenen architektonischen Pracht Babylons, durch die auch der große Euphrat fließt, war auch Herodot zutiefst beeindruckt� In seinen zum griechischen Bildungskanon 27 auch noch des 1� Jh� n� Chr� gehörenden Historien 26 Ich zitiere folgende Ausgabe: Flavius Josephus, De Bello Judaico - Der jüdische Krieg, Griechisch und Deutsch, hg� u� m� e� Einleitung, sowie mit Anm� vers� v� Otto Michel u� Otto Bauernfeind, Darmstadt, 3� Aufl� 1982� 27 Vgl� dazu den Beitrag in diesem Heft von Th� Paulsen, Apollon, Babylon und die Insel der Seligen� Intertextuelle Beziehungen zwischen Werken nichtchristlicher griechischer Die große Stadt. 99 Die große Stadt Jerusalem Vogel betrachtet Kapitel 17 f� isoliert und vernachlässigt die intra- und intertextuelle Textur des Makrotextes� Dadurch entgeht ihm, dass als erste „große Stadt“ in der Johannesapokalypse Jerusalem eingeführt wird: „Und ihr Gefallenes: auf der Fläche der Stadt, der großen, die genannt wird im geistigen Sinne Sodom und Ägypten, wo auch ihr Herr gekreuzigt wurde“ (11,8)� Jerusalem wird hier kodiert als „Sodom und Ägypten“ und identifiziert durch den Raumindex „wo auch ihr Herr gekreuzigt wurde“� Beide Erläuterungen der „großen Stadt“ assoziieren Jerusalem mit Gewaltgeschichten: „Sodom“ dient als intertextuelle Disposition zu Genesis 19� Die Assoziation von Jerusalem und Sodom ist nicht erst die Idee des Apokalyptikers� Sie findet sich vielmehr bereits in Jesaja 1,9 und Ezechiel 16,46�49� In Ez 16,49 heißt es hinsichtlich Jerusalem: „So wahr ich lebe, spricht Gott, der Herr, Sodom, deine Schwester, samt ihren Töchtern, hat’s nicht so getrieben wie du und deine Töchter�“ Im gesamten Kapitel 16 stellt Ezechiel Jerusalem als große, vielfältig geschmückte und blutrünstige Hure dar, die ihre eigenen Kinder schlachtet und verbrennen lässt� Ezechiel wird mehrfach in der Apk intertextuell eingespielt und das Syntagma „Sodom und Ägypten“ lässt direkt auf Ez 16 schließen: „Zuerst triebst du Hurerei mit den Ägyptern“ (Ez 16,26a)� Jerusalem, personifiziert als Frau, als Hure, als gewalttätig, als Stadt des Unrechts und der wirtschaftlichen Ausbeutung ist ein vielfaches Motiv in Schriften Israels, die in die Johannesapokalypse eingewoben sind� Aber auch in der Evangelienliteratur ist das mörderische Jerusalem Thema: „Jerusalem, Jerusalem, du tötest die Propheten und steinigst die Boten, die zu dir gesandt sind�“ (Mt 23,37; Lk 13,34)� Jerusalem ist nicht nur im Ezechielbuch eine gewaltige, imperiale Stadt mit einem riesigen Tempel, der selbst das große Babylon übertrifft� Von hier aus werden Königreiche okkupiert und an die Stämme Israels verteilt (Vgl� Ez 46,13-48,29). Es blieb in der Gewaltgeschichte Jerusalems, der großen Stadt, aber nicht bei bloßen Machtphantasien: Josephus erzählt in erschütternder Weise, wie der jüdische König und Hohepriester Alexander Jannai (103-76 v. Chr.), der sich innenpolitisch auf die Sadduzäer stützte, aber immer stärker in einen Konflikt mit den Pharisäern und ihren Sympathisanten geriet, der in einen sechsjährigen, blutigen Bürgerkrieg führte, 800 Pharisäer in Jerusalem kreuzigen ließ� Die Pharisäer hatten ihm das Recht des Hohenpriestertums abgesprochen, was er ihnen nun grausam heimzahlte: „Es steigerte sich nun infolge maßloser Wut seine Rohheit zu widergöttlichem Frevel: er ließ von den Gefangenen 800 mitten in der Stadt ans Kreuz binden und vor deren 98 Stefan Alkier turen und vor allem in den vielfältigen Konfliktkonstellationen in der Johannesapokalypse zeigen� Vogel bemüht aber nur Kapitel 17� Warum finden sich in der Eröffnung der Johannesapokalypse und dann in den Sendschreiben kaum Anzeichen eines Konflikts mit dem Imperium Romanum, sondern vor allem vielfältige Antagonismen 23 innerhalb der Versammlungen der Christusanhänger? Warum gibt es keine Hinweise eines die Darstellung leitenden Konflikts zwischen Rom und den östlichen Völkern in den Siegel- und Posaunenvisionen? Die hier beschriebenen Konfliktsituationen laufen quer durch Völker und Stämme� Kein Volk wird negativ hervorgehoben� Vom römischen Kaiser fehlt jede Spur� In den berühmten Reitervisionen der ersten vier Siegel liegen eine Reihe von Anspielungen auf griechische Götter 24 vor, nicht aber auf den römischen Kaiser oder das Imperium Romanum� Ein Konflikt Ost gegen West ist nirgends zu finden� So heißt es bei der Öffnung des zweiten Siegels: „Und heraus kam ein anderes Pferd, ein feuerrotes, und dem auf ihm Sitzenden, gegeben wurde ihm zu nehmen den Frieden von der Erde, und dass sie einander schlachten werden, und gegeben wurde ihm ein Schwert, ein großes�“ (6,4)� 25 Die Menschen schlachten sich gegenseitig ab! Es heißt nirgendwo in der Apk: Und ein Volk aus dem Westen, ein großes, schlachtete die Völker aus dem Osten ab� Die bereits Getöteten verlangen nach der Öffnung des 5� Siegels nicht die Rache an einem Imperium oder an einem bestimmten Volk aus dem Westen, vielmehr schreien sie: „Wie lange, Machthaber, heiliger und wahrer, richtest du nicht und vollstreckst nicht Recht unserem Blut an denen, die auf der Erde wohnen? “ (6,10b) Schauen wir uns die positiven Verheißungen an, so gelten sie „jeder Bevölkerung, sowohl Stämmen als auch Völkern als auch Sprachen“ (7,9b) und in das auf die Erde herabgekommene himmlische Jerusalem ziehen alle Völker und sogar die Könige der Erde ein (vgl� 21,24) und es dienen „die Blätter der Bäume zur Heilung der Völker“ (22,2c) - aller Völker! Wenn man von einem Universalismus der Johannesapokalypse sprechen möchte, so ist es ein Universalismus des Heils, in den auch die Römer integriert sind� 23 Vgl� S� Alkier, Schwerwiegende Differenzen - Vernachlässigte Antagonismen in der Johannesapokalypse, in: S� Alkier / M� Schneider, Ch� Wiese (Hg�), Diversität - Differenz - Dialogizität. Religion in pluralen Kontexten, Berlin / Boston 2017, 247-289. 24 Vgl� dazu S� Alkier / Th� Paulsen, Der kommende Gott und die Götter der Anderen� Beobachtungen zur intratextuellen Komposition und zur intertextuellen Schreibweise der Johannesapokalypse, in: dies� (Hg�), Apollon, Artemis, Asteria und die Apokalypse des Johannes� Eine Spurensuche zur Intertextualität und Intermedialität im Rahmen griechischrömischer Kultur, Kleine Schriften des FB Ev� Theol� des Goethe-Universität Frankfurt a. M. 9, 13-147; insbes.118-138. 25 Alle Zitate aus der Apk wurden übersetzt von S� Alkier und Th� Paulsen� Die große Stadt. 97 muss deshalb eine christliche Quelle aus dem frühen 4� Jh� n� Chr� heranziehen, nämlich die Divinae Institutiones von Laktanz� Vogel fragt nicht quellenkritisch nach dem Interesse des Laktanz 20 an einem solchen Orakel für sein eigenes Anliegen in seinen Divinae Institutiones und gibt es daher ohne Prüfung als persische Quelle aus� Selbst Hans Windisch, der in seiner religionsgeschichtlichen Monographie „Die Orakel des Hystaspes“ aus dem bei Laktanz zu findenden „Hystaspes-Orakel“ mit einem übermäßigen Aufgebot von unkontrollierbaren Vermutungen auf einen parsisch-synkretistischen Ursprung schließen wollte, konstatierte mit Blick auf die Romfrage: „Demgegenüber ist der Untergang Roms, soviel ich weiß, kein nachweisbares Motiv in der parsischen Eschatologie� So scheinen wir hier doch gezwungen zu sein, das ganze Orakel aus jüdischer oder christlicher Feder herzuleiten�“ 21 Vogel hat keinen Beleg für seinen vorderorientalischen Gesamthass auf Rom� Michael Sommer, einer der führenden Althistoriker für den römischen Orient, beschreibt genau das Gegenteil einer gesamtorientalischen Romopposition: „Vor allem der Kult für den römischen Kaiser, den der römische Klientelkönig Herodes seit 31 v� Chr� aktiv förderte, war für gläubige Juden ein beständiger Stein des Anstoßes und trieb viele von ihnen immer weiter in die Radikalität� Allerdings waren die Juden die absolute Ausnahme unter den Bewohnern des Vorderen Orients“� 22 Es bleibt noch hinzuzufügen, dass es auch keine einhellige Ablehnung Roms unter Juden gab� Denken wir nur an Philo von Alexandrien, Paulus, Josephus oder Tiberius Alexander, den jüdischen Statthalter von Ägypten, so wird man zu einem der historischen Diversität angemesseneren Urteil kommen� Konfliktkonstellationen in der Johannesapokalypse Das größte Problem in der Argumentation Vogels sehe ich darin, dass er seine Auffassung nicht exegetisch begründet� Zur Johannesapokalypse schreibt er eine knappe Seite, die aber nicht aus einer Exegese des Textes erwachsen ist, sondern aus seinem breit vorangestellten Geschichtsbild, das ihn zu der allegorischen Auslegung treibt: Babylon ist Rom� Wenn die Johannesapokalypse eine Kampfschrift gegen Rom darstellen würde, so müsste sich das in ihrer Gesamtanlage, in den chronotopischen Struk- 20 Vgl. dazu J. Dochhorn, Laktanz und die Apokalypse: Eine Untersuchung zu Inst. 7.15-26, in: J� Verheyden, T� Nicklas, A� Merkt (Hg�), Ancient Christian Interpretations of „Vilolent Texts“ in the Apocalypse, NTOA 92, Göttingen 2011, 133-160. 21 H� Windisch, Die Orakel des Hystaspes, a� a� O�, 49� 22 M� Sommer: Syria� Geschichte einer zerstörten Welt, Stuttgart 2016, 84� Vgl� auch die weiteren Ausführungen ebd. 83-85. 96 Stefan Alkier haben sie dafür als Gegenleistung erbracht, frage ich? 2. Mitglied : Den Aquädukt� Rech : Was? 2�Mitglied: Den Aquädukt� Rech: Oh� Jajaja� Den haben sie uns gegeben, das ist wahr� 3. Mitglied : Und die sanitären Einrichtungen� Loretta : Oh ja� Die sanitären Einrichtungen� Weißt Du noch, wie es früher in der Stadt stank? Rech: Also gut ja, ich gebe zu, der Aquädukt und die sanitären Einrichtungen, das haben die Römer für uns getan� Matthias : Und die schönen Straßen� Rech : Ach ja, selbstverständlich die Straßen� Das mit den Straßen versteht sich ja von selbst, oder? Abgesehen von den sanitären Einrichtungen, dem Aquädukt und den Straßen … 4. Mitglied : Medizinische Versorgung … 5. Mitglied : Schulwesen … Rech : Naja gut� Das sollte man erwähnen� 6. Mitglied : Und der Wein … Alle : Oh ja! Francis: Ja� Das ist wirklich etwas, was wir vermissen würden, wenn die Römer weggingen� 7. Mitglied : Die öffentlichen Bäder … Loretta : Und jede Frau kann es wagen, nachts die Straße zu überqueren, Rech . Francis : Jaha� Die können Ordnung schaffen, denn wie es hier vorher ausgesehen hat, davon wollen wir ja gar nicht reden� Rech : Also gut� Mal abgesehen von sanitären Einrichtungen, der Medizin, dem Schulwesen, ein, der öffentlichen Ordnung, der Bewässerung, Straßen, der Wasseraufbereitung und der allgemeinen Krankenkassen, was, frage ich euch, haben die Römer je für uns getan? 2. Mitglied : Den Frieden gebracht … Rech : Aach! Frieden! Halt die Klappe� Gibt es Quellen für den „gesamtvorderorientalischen“ „Hass gegen Rom“? Um von einer „gesamtvorderorientalischen Opposition gegen Rom“ 18 sprechen zu können, benötigte man eine Reihe unabhängiger Quellen aus verschiedenen Regionen und Kulturen des vorderen Orients� Vogel hat dafür aber keine Belege und ist daher gezwungen, die Chimäre eines „persischen Hystaspesorakel“ zu bemühen� 19 Alle anderen Quellen, die Vogel anführt, sind nämlich jüdische Quellen aus dem 2� und 1� Jh� v� Chr�: Psalmen Salomos, Habakuk-Pescher aus Qumran und besonders die jüdischen Sibyllinen� Auf dem kurzen Hystaspes-Orakel liegt daher die ganze Last, alle anderen Stämme, Völker, Reiche, Verwaltungsbezirke, Sprachen und Provinzen des vorderen Orients zu repräsentieren� Selbst wenn es ein persisches Hystaspes-Orakel in einer persischen Quelle oder zumindest in einer nicht-jüdischen Rezeption gäbe, die sich zeitlich vor der Johannesapokalypse ansetzen ließe, wäre das für eine kritische historische Bewertung der Quellenlage nicht ausreichend, um die so weitreichende Hypothese vom gesamtvorderorientalischen Hass gegen Rom zu begründen� Allein: ein solches Hystaspes-Orakel ist nicht überliefert� Vogel 18 Manuel Vogel, 81� 19 Ebd� Die große Stadt. 95 kalypse zumeist angenommen wird, also die Zeit nach Nero bis hin zu Trajan, ist für Kleinasien eine friedliche Zeit mit wachsendem Wohlstand� Sowohl der landwirtschaftliche Ertragsquotient als auch die Bevölkerungszahlen gehen nach Mann dann erst wieder mit dem Ende des Römischen Reiches zurück� „Angesichts dieser beträchtlichen Aktivposten ist es falsch, das Römische Reich, wie einige Klassizisten dies tun, schlicht und einfach als ‚ausbeuterisch‘ zu bezeichnen; es ist falsch, ganz gleich, ob darunter Ausbeutung einer Klasse durch eine andere Klasse oder Ausbeutung der Landregionen durch die Stadt verstanden wird� Es gab Ausbeutung, daran kann kein Zweifel bestehen, aber das […] System der Zwangskooperation profitierte auch von ihr� Worin dieser Profit bestand? Wie die dünnen Bande aussahen, die die Ausbeutung und ihr Nutzen zwischen den bäuerlichen Produzenten und der weiteren Welt knüpften, jene Bande, die so viele Menschen in so dichten Konzentrationen über ein so weites Gebiet verteilt oberhalb des Existenzminimums leben ließen? Es gab sie in zweierlei Form: einmal als horizontale, ‚freiwillig‘ eingegangene Verknüpfungen in der Form des Austauschs und Handels von Gütern und zum andern als vertikale, unfreiwillige Zwangsverknüpfung in Form der Abpressung von Pachten und Steuern�“ 16 Das in den imperial studies weit verbreitete und auch von Vogel propagierte einseitige Rombild hält der kritischen Rückfrage historischer Forschung nicht stand� Mit Blick auf unsere Fragestellung, müsste man doch zumindest die von diversen Bürgerkriegen und lokalen Konflikten geprägte Zeit des 1� Jh� v� Chr� unterscheiden von der weitgehend friedlichen Zeit in Kleinasien im 1� Jh� n� Chr� Bezeichnenderweise scheinen sich die Juden Kleinasiens dann auch nicht an den verheerenden Diasporaaufständen 115-117 n. Chr. beteiligt zu haben, wenn auch die schwierige Quellenlage darüber kein abschließendes Urteil erlaubt� Ein Brandherd des jüdischen bzw� christlichen Romhasses war Kleinasien 17 zur Abfassungszeit der Johannesapokalypse jedenfalls nicht� Es ist schon merkwürdig, dass Vogel fast ausschließlich Quellen aus der republikanischen Zeit anführt, aber keine Quelle findet, die den Romhaß in Kleinasien zur Zeit der Abfassung der Johannesoffenbarung belegen könnte� Man fühlt sich bei Vogels Romkritik unweigerlich an Monty Pythons „Leben des Brian“ erinnert: Rech : Sie haben uns ausbluten lassen, diese Schweine� Sie haben alles genommen, was wir hatten� Und nicht nur von uns� Von unsern Vätern und von unserer Väter Väter� Loretta : Und von unserer Väter Väter Väter� Rech : Ja� Loretta : Und von unserer Väter Väter Väter Väter� Rech : Das reicht� Noch genauer brauchen wir es nicht� Was 16 Ebd�, 36� 17 Vgl� Ch� Marek, Geschichte Kleinasiens in der Antike, a� a� O� 94 Stefan Alkier Jean-Francois Lyotards Programmschrift „Das postmoderne Wissen“ 11 kritische Analysen und theoretische Impulse vor, die reichlich dazu Anlass geben, sich nicht länger im Zeichen einer deduktiven Geschichtsschreibung von universalhistorischen Narrativen wie „Ost gegen West“ blenden zu lassen� Diese Impulse wurden auch in der neueren politikwissenschaftlichen Imperienforschung aufgegriffen, wie sie etwa Herfried Münkler angeregt hat: „Unser Bild von Imperien ist durch die Vorstellung geprägt, dass die Peripherie von ihnen ausgesaugt und ausgebeutet wurde: Sie verarme, und das Zentrum werde immer reicher� Tatsächlich hat es solche Imperien stets gegeben, aber sie waren nur von kurzer Dauer� Nach einiger Zeit nahm der Widerstand gegen das Zentrum überhand, und die Beherrschungskosten überstiegen die aus der Peripherie gezogenen Gewinne� Dagegen hatten diejenigen Imperien eine längere Dauer, die in ihre Randbereiche investierten und so dafür sorgten, dass die Peripherie schließlich am Fortbestand des Imperiums ebenso interessiert war, wie das Zentrum�“ 12 „Im Gegensatz zu den üblichen Vermutungen der Ideologiekritik erwachsen aus den imperialen Missionen gerade auch Selbstbindung und Selbstverpflichtungen, die sich mit den unmittelbaren materiellen Interessen imperialer Akteure nicht erklären lassen, ja, die aus deren Perspektive fast immer als Ressourcenverschwendung erscheinen�“ 13 Der Soziologe Michael Mann hatte bereits 1986 begründet, warum der enorme politische Erfolg des Imperium Romanum nicht monokausal mit der unterdrückenden Macht militärischer Gewalt zu erklären sei� Er zeigt vielmehr das komplexe Ineinander von militärischer, wirtschaftlicher, politischer und ideologischer Macht auf und kommt bezüglich des Imperium Romanum zu einer differenzierten Neubewertung, die die Machtausübung des Römischen Reiches nicht verharmlost, zugleich aber auf ihre allen Bevölkerungsteilen zu Gute kommenden Erfolge in der Institutionalisierung von rechtlichen, politischen und wirtschaftlichen Strukturen hinweist, wovon etwa der enorme Ertragsquotient 14 der Landwirtschaft und die im ganzen Römischen Reich wachsenden Bevölkerungszahlen 15 zeugen� Gerade die Zeit, in der die Abfassung der Johannesapo- Auch Klio dichtet oder Die Fiktion des Faktischen� Studien zur Tropologie des historischen Denkens, aus dem Amerik� v� B� Brinkmann-Siepmann u� T� Siepmann, Einführung v� R� Koselleck, Sprache und Geschichte 10, Stuttgart 1986� 11 J�-F� Lyotard, La condition postmoderne, 1979; dt�: Das Postmoderne Wissen� 12 H� Münkler, Imperien� Die Logik der Weltherrschaft - Vom Alten Rom bis zu den Vereinigten Staaten, Berlin 2005, 9� 13 Münkler, ebd�, 133 14 M� Mann, Geschichte der Macht 2� Vom Römischen Reich bis zum Vorabend der Industrialisierung, aus dem Engl� v� H� Herkommer, Studienausgabe Frankfurt / New York 1994, 33 (i� O� 1986)� 15 Ebd�, 35 f� Die große Stadt. 93 militärischen Reaktionen der USA darauf die bibelwissenschaftlichen imperial studies hervorbrachten� Der von der Raumsoziologie angeregte spatial turn in den Kulturwissenschaften 7 hat den Blick auch für literarische Raumphänomene geschärft� Vogel kann aber gerade nicht zeigen, dass die Topographie der Johannesapokalypse 8 einen Ost-West-Konflikt inszeniert� Damit das universalhistorische Narrativ des Kampfes „Ost gegen West“ mit Blick auf die Johannesapokalypse weitererzählt werden kann, wählt Vogel gleich zweimal das Mittel einer allegorischen Interpretation: „Babylon“ wird ebenso durch „Rom“ ersetzt, wie die umstrittenen „Kittäer“ durch die „Römer“� Vogel interessiert nicht, welche Funktionen das Zeichen „Babylon“ in der Komposition der Johannesapokalypse ausfüllt und welche intertextuellen Bezüge damit hergestellt werden, vielmehr will er die Geschichte vom „Hass gegen Rom“ 9 erzählen� Diesem Narrativ ordnet er quellenkritische Bedenken unter, denn er benötigt für sein Anliegen eine synchrone Perspektive, in die er allegorisch gedeutete jüdische Quellen aus vorchristlicher Zeit mit christlichen Quellen aus dem 4� Jh� n� Chr� in einem antirömischen Amalgam zusammenschmelzen lässt, das dann die Geschichte vom Hass gegen Rom erzählen kann� Gegen solche ideologisch hoch belasteten universalhistorischen Narrative liegen mit Hayden Whites „Metahistory“ 10 aus dem Jahr 1973, spätestens aber seit 7 Vgl� J� Döring, T� Thielmann (Hg�), Spatial Turn� Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften, Bielefeld 2008� 8 Vgl� dazu S� Alkier / T� Nicklas, Wenn sich Welten berühren� Beobachtungen zu zeitlichen und räumlichen Strukturen in der Apokalypse des Johannes, in: S� Alkier, T� Hieke / T� Nicklas (Hg�) in Zusammenarbeit mit M� Sommer, Poetik und Intertextualität der Johannesapokalypse, WUNT 346, Tübingen 2015, 205-226. 9 Manuel Vogel, S� 80� 10 Hayden White, Metahistory� Die historische Einbildungskraft im 19� Jahrhundert in Europa, aus dem Amerik� v� P� Kohlhaas, Frankfurt a� M� 1991, i� O� 1973; vgl� auch H� White, Stefan Alkier ist seit 2001 Professor für Neues Testament und Geschichte der Alten Kirche am Fachbereich Evangelische Theologie der Goethe-Universität Frankfurt / Main� 2009 erschien im Francke Verlag als NET 12 seine Monographie: Die Realität der Auferweckung in, mit und nach den Schriften des Neuen Testaments � 2010 erschien wieder im Francke Verlag sein Lehrbuch: Neues Testament , UTB Basics� Er war bis Heft 39 / 40 der ZNT einer ihrer drei geschäftsführenden Herausgeber� Seit 2008 gibt er zudem den neutestamentlichen Teil des bibelwissenschaftlichen Internetlexikons www�wibilex�de heraus� 92 Stefan Alkier tiv 2 zu erschließen und auf dieser Basis dann induktiv historische Zusammenhänge hypothetisch zu rekonstruieren und die so erschlossenen Geschichtsmodelle auch als das zu behandeln, was sie sind: mehr oder weniger plausible Hypothesengebäude für heuristische Interessen� Gesamtvorderorientalische Opposition im Kampf gegen Rom? Vogel stützt sich für sein Geschichtsbild auf die Hypothese des Religionswissenschaftlers Hans G� Kippenberg, der von einem „gesamtvorderasiatischen Standpunkt im Kampf gegen Rom“ gesprochen hat� Diese Hypothese fand allerdings kaum Eingang in die althistorische Forschung� Kippenbergs Hypothese, die auch ältere Vorläufer hat, wie z� B� Hans Windisch 3 , kann als eine Variante der universalhistorischen Leitperspektive Herodots 4 begriffen werden, der den Konflikt zwischen den griechischen Stadtstaaten mit Persien weltgeschichtlich als Kampf Ost gegen West darstellte und damit bis heute wirksam ist: „Daß diese Aufteilung […] existiert - daß der Osten der Osten ist und der Westen der Westen -, kann ohne weiteres als das beständigste Axiom der Geschichte gelten. Die Einteilung ist älter als die Kreuzzüge, älter als der Islam und älter als das Christentum; seine Ursprünge sind so altehrwürdig, daß sie fast 2500 Jahre zurückreichen� ‚Warum hassen sie uns? ‘ Mit dieser Frage wurde die Geschichte selbst als Disziplin geboren, denn gerade im Konflikt zwischen Ost und West fand der erste Historiker der Weltgeschichte im fernen 5� Jahrhundert v� Chr� das Thema für sein Lebenswerk�“ 5 Nach dem Zerfall des so genannten „Ostblocks“ gegen Ende des 20� Jahrhunderts, der weltgeschichtlich für eine kurze Zeit die Rolle des Ostens „kommunistisch“ ausgefüllt hat, ist der islamische Osten mit den Terroranschlägen vom 11� September 2001 erneut in die Rolle des Gegenspielers zum Westen geraten� Es war auch Thema in dieser Zeitschrift 6 , dass dieses Ereignis und die 2 Vgl� zur Bedeutung der drei Schlußverfahren S� Alkier, Neues Testament (NT basics), Tübingen 2010, 141 f� 3 Vgl� H� Windisch, Die Orakel des Hystaspes� Verhandlungen der Koninklijke Akademie van Wetenschappen te Amsterdam Afdeeling Letterkunde nieeuwe Reeks, DEEL XXVIII, No� 3, 52� 4 Vgl� Herodot, Historien� Erster Band, Bücher I-V, gr� - dt�, hg� v� Josef Feix, 7� Aufl� 2006, I�1 f�; vgl� dazu Thomas Paulsen, Geschichte der griechischen Literatur, Stuttgart 2004, 180 f� 5 T� Holland, Persisches Feuer� Ein vergessenens Weltreich und der Kampf um Europa, aus dem Engl� v� A� Wittenburg u� S� Held, 3� Aufl� Hamburg 2014, 10� 6 Vgl� L� L� Welborn, Vom Unterrichten der Bibel im „Ausnahmezustand“� Reflexionen über die hermeneutische Aufgabe eines neutestamentlichen Historikers nach dem 11� September 2001� Zeitschrift für Neues Testament Heft 42 21. Jahrgang (2018) Die große Stadt. Warum die Johannesapokalypse nicht als „Kampfschrift gegen Rom“ erschlossen werden kann Stefan Alkier Manuel Vogels engagierte Kritik am Imperium Romanum leitet in wünschenswerter Klarheit sein Verständnis der Johannesapokalypse als „Kampfschrift gegen Rom“� Diese beherzte Positionierung eröffnet die Möglichkeit, in der gebotenen Kürze Probleme des imperial criticism zu diskutieren und eine hermeneutisch und exegetisch begründete Alternative vorzuschlagen� Die Argumentation Vogels steht auf tönernen Füßen� Sie zeigt sich abhängig von einer voraussetzungsreichen religionsgeschichtlichen Hypothese� Am Aufbau der Argumentation Vogels wird die hermeneutische und theologische Problematik nicht nur der bibelwissenschaftlichen imperial studies , sondern des entwicklungsgeschichtlichen Paradigmas historisch-kritischer Exegese überhaupt sichtbar: Der Auslegung der Texte wird das Geschichtsbild des Auslegers vorangestellt� Dieses deduktive Verfahren verstellt den Blick auf die Texte� Wenn Exegese inter- und transdisziplinär anschlussfähig bleiben bzw� wieder werden möchte, bedarf es eines Paradigmenwechsels� Es gilt mit dem „Geist der Urteilsfähigkeit und Leidenschaft“ 1 zunächst die Texte selbst als Texte abduk- 1 M� Luther, Assertio omnium articulorum Martini Lutheri per bullam Leonis X� novissimam damnatorum / Wahrheitsbekräftigung aller Artikel Martin Luthers, die von der jüngsten Bulle Leos� X verdammt worden sind (1520), in: Martin Luther, lat-dt� Studienausgabe Bd. 1: Der Mensch vor Gott, hg. v. W. Härle, Leipzig 2006, 71-217, hier: 73. 90 Manuel Vogel barung steht Rom für das schlechthin Unverzeihliche, und das sollte man ihr lassen, auch wenn man sie selbst anders liest� Das letzte Buch der Bibel als Auftakt 89 ein Auftakt ist im erst noch bevorstehenden Konflikt der Christen mit Rom, hat mithin auch einen innerneutestamentlichen Bezug: Die Johannesoffenbarung setzt das Böse jenes Systems mythologisch ins Bild, das gerade diejenigen zu spüren bekommen, die sich mit größtmöglicher Konformität und gutem Willen darin zu bewegen versuchen� 6. Epilog: Der Onkel, der Neffe und der Dom Der ältere wie der jüngere Plinius stammten aus dem oberitalienischen Como� Bis heute sind beide, der Onkel und der Neffe, die berühmtesten Söhne der Stadt� Bereits Ende des 15� Jh� wurden sie an prominenter Stelle mit zwei Statuen geehrt, nämlich an der Fassade des Comeser Doms� 37 Wer informiert oder kundig geführt dieses Gotteshaus besichtigt, stellt verwundert fest, dass zwei Römer, die weder Heilige noch überhaupt Christen waren, ja, deren einer die Christen bekanntermaßen scharf verfolgt hat, einen Ehrenplatz in einer christlichen Kirche erhalten haben� Offenbar hat sich in jener Zeit, da die Figuren in Auftrag gegeben, gefertigt und aufgestellt wurden, der Comeser Klerus so sehr mit der Stadt und ihrer Geschichte identifiziert, in welcher die beiden Plinii einen solch herausragenden Platz einnahmen, dass man sich nicht daran störte, einen Christenverfolger vollplastisch an einer Kirchenfassade zu verewigen� Hier hat nicht nur der (Lokal-)Patriotismus dem Christlichen den Rang abgelaufen, hier firmiert außerdem Rom längst als Größe der Kulturgeschichte, in die man sich mit der eigenen Kultur und Geschichte bis auf den heutigen Tag gern einreiht� Im kulturellen Paradigma des bürgerlichen Bildungsideals, das das antike Griechenland und Rom als seine maßgeblichen Referenzepochen beansprucht, sind römische Kultur und Geschichte hoch geschätzt, seit der Aufklärung außerdem auch als Widerpart zum klerikalen Dogmatismus, der aus aufgeklärter Sicht allzu bald in Rom Einzug hielt� „Das neue Rom, das gottlose aber konsequente“, schrieb Schleiermacher in seiner zweiten Rede, und meinte damit das katholische Rom, „schleudert Bannstrahlen und stößt Ketzer aus; das alte, wahrhaft fromm und religiös im hohen Stil, war gastfrei gegen jeden Gott, und so wurde es der Götter voll“� 38 Dass sich die römische Gastfreiheit an die Götter der von Rom eroberten Länder richtete, die mit dem auferlegten Tribut den römischen Wohlstand sicherten, spielt für Schleiermacher keine Rolle� Es ist eben immer die Frage, wer wem was aus welchen Gründen verzeiht� Für die Johannesoffen- 37 Näheres bei M� Giebel, Treffpunkt Tusculum� Literarischer Reiseführer durch das römische Italien, Stuttgart 1995, 162� 38 F� D� E� Schleiermacher, Reden über die Religion an die Gebildeten unter ihren Verächtern (PhB 255), Hamburg 1958, 36� 88 Manuel Vogel des Neuen Testaments Strategien der Konformität gegenüber, die bereits im hellenistischen Judentum ein gangbarer Weg waren, um eine oft als willkürlich, bedrohlich und gewaltsam erfahrene Obrigkeit gleichwohl als Teil einer von Gott gegebenen Ordnung zu akzeptieren und sich entsprechend mit ihr zu arrangieren. Der prominenteste Text, Röm 13,1-7, steht in einem handgreiflichen Gegensatz zu Offb 13, so wahr man von einem Imperium, das im Bildgewand eines widergöttlichen Tieres auftritt, nicht sagen kann, es sei als Obrigkeit von Gott eingesetzt� 33 Zwei weitere Texte auf der Linie von Röm 13 finden sich im Gefolge paulinischen Denkens: 1 Tim 1,2 f und Tit 3,1-3. Hinzu kommt 1 Petr 2,13-17. Gemeinsam ist diesen Texten, die in der Tradition hellenistisch-jüdischer Loyalitätsparänese stehen, ein subversives und ein in einem weiteren Sinne ironisches Moment: hellenistische Juden und frühe Christen waren „der Obrigkeit treu im Namen des einen Gottes, der als Allherrscher eine Leerstelle markierte, die von keinem menschlichen Herrscher besetzt werden durfte“� Und: „[H]ellenistisch-jüdische und frühchristliche Loyalität gegenüber der Obrigkeit [war] immer schon konflikterprobt und kritikfähig“� 34 Insofern ist Römer 13, wo diese Loylität eingefordert wird, von Offb 13, wo sie nicht in Frage kommt, nicht gar so weit weg, wie es auf den ersten Blick scheinen will� Hierzu passt, dass in einer der ältesten altkirchlichen Märtyrerakten die mutigen Christen nicht mit der Johannesoffenbarung vor dem römischen Statthalter stehen, sondern ausgerechnet mit den Paulusbriefen� In den Akten der Märtyrer von Scilly, die als Prozessprotokoll stilisiert sind, 35 fragt der römische Proconsul die angeklagten Christen: „Quae sunt res in capsa vestra? “, worauf der Christ Speratus antwortet: „ Libri et epistulae Pauli viri iusti “� 36 Der demonstrative Verweis auf Paulus soll deutlich machen, dass die im Römerbrief und in späteren Texten geforderte Loyalität gegenüber der römischen Obrigkeit einschließlich eines moralisch tadelloses Lebens die Ablehnung des kaiserlichen Herrschaftsanspruchs nicht ausschließt, ja, dass die Christen sich darauf gefasst machen müssen, dass ihr untadeliger Wandel nicht konfliktmindernd, sondern im Gegenteil konfliktverschärfend wirkt, denn je deutlicher Versuche der Kriminalisierung einer politischen Fundamentalopposition von Leuten, die sich ansonsten nichts zuschulden kommen lassen, von vornherein als aussichtslos erscheinen, desto gefährlicher muss diese Opposition für das Imperium werden� Dass die Johannesoffenbarung in ihrer Stellung am Schluss des Kanons zugleich tung (FS R. Reinmuth), Leipzig 2017, 221-252. 33 Zum Vergleich beider Texte vgl� auch Berger, Theologiegeschichte, 587 f� 34 Vogel, Römer 13, 248� 35 Vgl� hierzu: R� Seeliger / W� Wischmeyer (Hg�), Märtyrerliteratur (TU 172), Berlin u� a� 2015, 96-100. 36 Text: Seeliger / Wischmeyer, Märtyrerliteratur, 94� Das letzte Buch der Bibel als Auftakt 87 feindselig antirömisch, als sie in den römischen Verhältnissen ihrer unmittelbaren Gegenwart eine nicht mehr steigerbare Steigerung dessen erblickt, was frühere Großreiche und Zentren politischer und ökonomischer Macht an Gewalttat aufgeboten haben: Rom ist Babylon in Potenz, Rom ist Tyrus in unerträglichem Ausmaß� Die Typologie, die hier zum Tragen kommt, relativiert nicht die Gegenwart im Blick auf eine schon immer schlimme Vergangenheit, sondern sie kulminiert Vergangenheit im Jetzt� Rom ist nicht „überall“, und Rom war nicht „immer schon“, sondern was überall und immer schon die Menschen gequält hat, das quält die Menschen unter reichsrömischen Bedingungen in einer Maßlosigkeit, die für den Seher gar keinen anderen Schluss zulässt, als dass es so nicht weitergehen kann und nicht weitergehen wird � Die Naherwartung der Johannesapokalypse fordert also ihre Auslegung auf die reichsrömischen Verhältnisse der Jahrzehnte nach Nero� 5. „Was habt ihr da in eurem Kasten? “: Die Pauluslektüre der Märtyrer von Scilly Die antirömische Position der Johannesoffenbarung liest sich gerade in der kanonischen Schlussstellung des Buches wie eine Anspielung auf die weitere Entwicklung des frühen Christentums in der Zeit nach der Entstehung der im neutestamentlichen Teil des Bibelkanons zusammengefassten Schriften� Diese Entwicklung ist gekennzeichnet durch eine bis zur konstantinischen Wende - nicht kontinuierlich und auch nicht überall in gleichem Maße, stellenweise dafür umso schärfer - sich zuspitzende Konfrontation der frühen Kirche mit dem römischen Kaiser und seinen Akteuren� Insofern markiert die Johannesoffenbarung am Ende des Kanons den Auftakt zu einem Konflikt, der zwar bereits im hellenistischen Judentum eine Vorgeschichte und bereits in den neutestamentlichen Schriften seine Spuren hinterlassen hat, der aber erst in nachneutestamentlicher Zeit voll zum Ausbruch gekommen ist� Zeichnet man die Johannesoffenbarung in dieser Weise in den weiteren Verlauf der Kirchengeschichte des zweiten, dritten und beginnenden vierten Jhs� ein, erhält die antirömische Lektüre des Buches zusätzliche Plausibilität� Die ist umso wichtiger, als die Johannesoffenbarung im binnenneutstamentlichen Vergleich mit Ihrer kategorischen Unduldsamkeit im Blick auf die politische Großwetterlage ihrer Zeit nicht nur allein dasteht, sondern auch Seite an Seite mit anderen frühchristlichen Positionen steht, die auf die römischen Verhältnisse mit Überanpassung reagiert haben� 32 Der apokalyptischen Fundamentalopposition stehen innerhalb 32 Vgl� hierzu M� Vogel, Römer 13 als Lobrede auf die Verfolger, in: S� Alkier / C� Böttrich / M� Rydryk (Hg�), Neutestamentliche Wissenschaft in gesellschaftlicher Verantwor- 86 Manuel Vogel Auch das, was im Jargon der Exegese „Naherwartung“ heißt, hat mithin ein Bewusstsein vom Fortgang von Geschichte selbst dort, wo die Geschichte längst auf die Spitze getrieben ist� Was aber Schreiben, Vorlesen, Hören und Bewahren dringlich macht, ist nicht der Fortgang der Geschichte, sondern ihre baldige Erfüllung: „Die Zeit ist nahe ( ho kairos engys )“ (1,3)� Die Zeitansage der Eingangsverse wird im Schlusskapitel aufgenommen� Die in 22,6 bekräftigte Zuverlässigkeit des Geschriebenen verdankt sich der Beauftragung des Engels durch Gott, „zu zeigen seinen Knechten, was in Bälde geschehen soll“� Es folgt die Zusage des Auferstandenen: „Siehe, ich komme bald ( idou erchomai tachy )“ und wie schon in 1,3 die Seligpreisung derer, die bewahren, was aufgeschrieben wurde� Dass das Buch nicht versiegelt werden soll, erfährt in 22,10 dieselbe Begründung wie die Notwendigkeit das Geschriebene zu bewahren: „Die Zeit ist nahe“ (22,10)� Noch zweimal erklingt nach 22,10 das „Siehe, ich komme bald“ (22,12�20), und am Schluss respondiert die Gemeinde: „Amen, ja, komm, Herr Jesus! “ (22,20)� Nirgends sonst in den neutestamentlichen Schriften wird frühchristliche Zeiterfahrung so eindringlich formuliert� Diese Zeiterfahrung besteht darin, dass die je eigene Gegenwart so erlebt wird, dass die Geschichte so nicht mehr weitergehen kann und so nicht mehr weitergehen wird � Zeit wird mithin erfahren als auf der Kippe stehend� Steigerungen von Unrecht und Leid werden dann als nicht mehr weiter steigerbar wahrgenommen und die sich anbahnende Katastrophe als unmittelbar bevorstehend aufgefasst� Naherwartung ist deshalb ein Modus authentischer Zeiterfahrung, der die Gegenwart auf den Leib rückt in einem Zustand gesteigerter Wachheit� Naherwartung kann sich phasenweise abschwächen, auch enttäuscht werden, für beides gibt es im frühchristlichen Schrifttum genügend Belege� Sie erschöpft oder erledigt sich aber nicht, sondern kann jederzeit neu auftreten� Auch hierfür gibt es Belege, etwa den Montanismus im 2� Jh� Im Rückblick auf Szenarien intensiver Naherwartung kann man fraglos sagen, dass ihre Akteure sich in einem historischen Sinn „getäuscht“ haben - der Seher Johannes stünde dann an erster Stelle, noch vor Jesus -, aber man kann auch unterschiedliche Qualitäten von Zeiterfahrung vergleichen und umgekehrt fragen, welche (in der Regel: materiellen) Faktoren eine Zufriedenheit mit dem status quo erzeugen, die es allererst erlaubt, die Geschichte als ruhigen Zeitfluss zu verstehen und sich selbst darin mit Zins und Zinseszins für Kind und Kindeskind einzurichten� Die Johannesoffenbarung forciert authentische Zeiterfahrung durch eine Deutung ihrer eigenen Gegenwart als unmittelbar bevorstehende ultimative Konfrontation des Unrechts mit dem Recht und der Gewalt mit der Vergeltung� Für unser Thema heißt das: Die römischen Verhältnisse haben die Geschichte nach Auffassung des Sehers auf die Spitze getrieben und die Zeit fast schon zum Kippen gebracht� Die Johannesoffenbarung ist insofern radikal und radikal Das letzte Buch der Bibel als Auftakt 85 Die kritischen Implikationen dessen, was sich zunächst als reine Aufzählung liest, treten am Schluss der Liste zutage, wenn sie nach Rindern, Schafen, Pferden und Wagen abschließend auch „Sklavenleiber, das heißt: Menschenseelen“ nennt� Der griechische Text wirft wegen des nicht leicht nachvollziehbaren Wechsels zwischen Akkusativ- und Genitiv-Verbindungen einige Probleme auf� Charles hat die Auffassung vertreten, dass die Wortfolge „und von Pferden, Wagen und [Sklaven-]Leibern“ in v�13 eine Interpolation darstellt, nicht nur wegen der sperrigen Konstruktion des vorliegenden Textes, sondern auch weil „[Sklaven-]Leiber“ (griech� sōmata ) und „Menschenseelen“ (griech� psychai anthrōpōn ) synonym seien, d� h� eine Doppelung darstellen� 29 Aber gerade die Doppelung ist von Gewicht, dann nämlich, wenn man das „und“ (griech� kai ) zwischen „[Sklaven-]Leibern“ und „Menschenseelen“ wie in der hier gewählten Übersetzung, Bauckham folgend, epexegetisch, d� h� erläuternd auffasst und mit „das heißt“ wiedergibt� 30 Dann ist gesagt: Bei dem, was als Handelsgut technisch unter „Leiber“ geführt wird, handelt es sich um leidensfähige Seelen von Menschen� Die für den antiken Sklavenhandel charakteristische Entmenschlichung und Neutralisierung von Menschen als bloße Handelsware wird dann mit einem kurzen erläuternden Zusatz aktenkundig� 31 4. „Was in Bälde geschehen soll“: Die Zeiterfahrung der Johannesoffenbarung als historischer Index Die Johannesoffenbarung lässt einen intensiven Bezug zu ihrer eigenen Gegenwart erkennen, d� h� zu der Zeit, in der sie entstanden ist: Die Rahmenstücke prägen dem ganzen Buch eine Zeiterfahrung auf, die die eigene Gegenwart nicht anders verstehen kann als auf die Spitze getriebene Geschichte� Das Buch führt sich ein als „Offenbarung Jesu Christi, die ihm Gott gegeben hat, seinen Knechten zu zeigen, was in Bälde geschehen soll ( ha dei genesthai en tachei )“ (1,1)� Gewiss, die Schriftlichkeit des vorzutragenden und zu hörenden Textes, der lesend und hörend „zu bewahren“ ist (1,3), setzt einen retardierenden Akzent: Offenkundig ist noch Zeit zum Niederschreiben und zum Memorieren des Geschriebenen� 29 R� H� Charles, A Critical and Exegetical Commentary on the Revelation of St� John (ICC), Bd� 2, Edinburgh 1920, 104� 30 Bauckham, Critique, 370� 31 So auch Bauckham, a� a� O�: „John (…) intends a comment on the slave trade� He is pointing out that slaves are not mere animal carcasses to be bought and sold as property, but are human beings� But in this emphatic position at the end of th list, this is more than just a comment on the slave trade� It is a comment on the whole list of cargoes� It suggests the inhuman brutality, the contempt for human life, on which the whole of Rome’s prosperity and luxury rests�“ Weitere Lit�: J� N� Kraybill, Imperial Cult and Commerce in John’s Apokalypse (JSNT�S 132), Sheffield 1996� 84 Manuel Vogel „Deckname für die gottfeindliche Macht der Welt (…), die sich in der Gegenwartserfahrung der Offb in Rom historisiert“� 27 Der Untergang von Babylon=Rom wird im anschließenden achtzehnten Kapitel so anschaulich wie drastisch geschildert und zwar in Aufnahme der Polemik gegen Rom als Wirtschaftsmacht, die uns bereits in den Sibyllinen und im Hystaspes-Orakel begegnet ist� Was in diesen Texten im Modus Weissagung ausgesprochen ist (Rom wird dem Orient dienen), wird in der Offenbarung zum Aufruf zu einer aktiven Vergeltung: „Gebt ihr zurück, wie sie euch gegeben hat; zahlt ihr das Doppelte heim von dem, was sie getan hat! Schenkt ihr in den Becher, den sie euch gemischt hat, das Doppelte ein! Was sie an Pracht und Luxus genossen hat, das gebt ihr nun an Qual und Trauer! “ (Offb 18,6 f)� Über das Gericht, das Babylon=Rom „an einem Tag“ (V�8), ja, „in einer Stunde“ (V�10�17) ereilen wird, werden all diejenigen voller Angst und Schrecken klagen, die Profiteure des militärisch bewehrten römischen Welthandels waren: Die „Könige der Erde“ (v�9 f�), die „Händler der Erde“ (V�11) und „jeder Kapitän und jeder Küstenschiffer, die Seeleute und alle, die zur See fahren“ (V�17)� Der Himmel jedoch und die Heiligen, die Apostel und Propheten sollen sich „über sie freuen“, weil Gott selbst „euer Gericht über sie vollstreckt“ hat (V�20)� Das heißt: Die Schadenfreude über den Untergang Roms wird vom Himmel her nicht nur geduldet, sondern geradezu verordnet� Die Wehklage der Händler enthält in 18,12 f eine Liste von (mehrheitlich) Luxusgütern, die, weil der Untergang Roms eben auch eine ökonomische Katastrophe ist, nicht mehr gehandelt werden können� Im Blick auf diese Liste konstatiert Richard Bauckham: „The Book of Revelation is one of the fiercest attacks on Rome and one of the most effective pieces of political resistance literature from the period of the early empire� Its thoroughgoing criticism of the whole system of Roman power includes an important element of economic critique� This condemnation of Rome’s economic exploitation of her empire is the most unusual aspect of the opposition to Rome in Revelation, by comparison with other Jewish and Christian apocalyptic attacks on Rome“� 28 27 Holtz, Offenbarung, 114; ähnlich Karrer, Johannesoffenbarung, 50� Zur Verwendung der Babylon-Chiffre in 1Petr 5,13 vgl� Euseb, h� e� II,15,2: „Petrus gedenkt des Markus in seinem ersten Brief, den er in Rom verfasst haben soll, was er selbst andeutet, indem er diese Stadt bildlich Babylon nennt, wenn er sagt: ‚Es grüßt Euch die miterlesene Gemeinde in Babylon und Markus, mein Sohn‘�“ (Text: Eusebius von Cäsarea, Kirchengeschichte� Herausgegeben und eingeleitet von H� Kraft, Darmstadt 1984, 132)� 28 R� Bauckham, The Economic Critique of Rome in Revelation 18, in: ders�, The Climax of Prophecy� Studies on the Book of Revelation, Edinburgh 2 1998, 338-383, 383. Das letzte Buch der Bibel als Auftakt 83 3. Der Untergang Roms und das Ende des militärisch abgesicherten Welthandels nach Offb 18 In der Johannesoffenbarung wird Rom nirgends mit Klarnamen genannt, auch nicht seine Herrscher, obwohl römische Kaiser im apokalyptischen Sprachspiel von Enthüllung und Verhüllung eine große Rolle spielen� Mit den zeitgeschichtlichen Anspielungen scheint es sich so zu verhalten, dass jede von ihnen deutlich genug auf römische Gegebenheiten hinweist, dies aber ohne eine letzte Eindeutigkeit, die eine sichere Identifikation erlaubte� Ein Beispiel hierfür ist die Vision von der Frau auf dem Tier Offb 17,1-18: Die „Hure, die an vielen Wassern thront“ (V�1) und plötzlich in der Wüste als „Frau“ auf einem „scharlachroten Tier (…) mit sieben Köpfen und zehn Hörnern“ erscheint (V�3), wird mit einem „Geheimnamen“ (V�5) benannt, der „Babylon“ lautet� Das mit diesem Namen gegebene „Geheimnis“ wird vom Engel im folgenden (17,7-18) entschlüsselt, aber doch nicht so, dass das Gesagte sich aufgrund unseres Wissens von der frühen Kaiserzeit zweifelsfrei deuten ließe� Die präzis beschriebene Herrscherfolge in V�10 f (mit der Merkwürdigkeit, dass das Tier mit den sieben Königen / Häuptern auf einmal als achter König, der „aus den sieben ist“, genannt wird) hat zu „viel Raterei“ geführt, mit dem Ergebnis, dass sich „jeder Versuch (…), die vorausgesetzte Geschichte an ihrem uns historiographisch gesichert erscheinenden Verlauf zu verifizieren,“ als „hoffnungslos“ erweist� Gleichwohl wird in der Enthüllung des Geheimnisses „fast unverhüllt“ auf Rom verwiesen, 24 nämlich dort, wo der Engels auf die „sieben Hügel“ zu sprechen kommt (V�9)� Die Rede von Rom als der „Stadt auf sieben Hügeln“ war in der Antike sprichwörtlich, 25 und sie ist auch numismatisch eindrucksvoll dokumentiert� 26 „Babylon“ ist mithin 24 T� Holtz, Die Offenbarung des Johannes (NTD 11), Göttingen 2008, 115 f� 25 Vgl� S� Ball Platner, The Septimontium and the Seven Hills, CP 1 / 1906, 69-80; C. Frateantonio, Art� Septimontium, DNP Bd� 11, 436� 26 „Eine Münze aus der Zeit Vespasians (71) bildet die Dea Roma auf sieben Hügeln sitzend ab, verbunden mit eindeutig römischen Attributen (Tiber, Romulus / Remus / Wölfin- Gruppe)� Die Ikonographie unterstützt die Identifizierung der auf sieben Hügeln sitzenden Hure (Offb 17,9) mit Rom“, so S� Schreiber, Attraktivität und Widerspruch� Die Dämonisierung der römischen Kultur als narrative Strategie in der Offenbarung des Johannes, in: Schmeller / Ebner / Hoppe, Offenbarung, 74-106, 89 Anm. 58. Zu dieser Münze verweist Schreiber auf D� Aune, Revelation 17: A Lesson in Remedial Reading, in Ders�, Apocalypticism, Prophecy and Magic in Early Christianity: Collected Essays (WUNT I 199, Tübingen 2006, 240-49, 243. Ein besonders gut erhaltenes Exemplar ist unter http: / / www�icollector�com/ Roman-Empire-Vespasian-69-79-Sestertius-71-28-39g_i9258028 (letzter Zugriff am 30� 8� 2019) in einer hochauflösenden Aufnahme abgebildet� 82 Manuel Vogel „Wieviel Rom an Tribut von Asien hat übernommen, / dreimal so viele Schätze wird Asien dann wiederbekommen / von Rom, den verderblichen Hochmut an ihm wird es rächen� / Wieviel aus Asien einst in den Häusern der Italer dienten, / zwanzigmal so viele werden in Asien / Knechtsdienst leisten in Armut, zehntausendfach werden sie schulden“ (Sib 3,350-355). 21 Auch im umfangreich bei Laktanz zitierten Hystaspes-Orakel wird die Umkehrung der Machtverhältnisse zwischen Rom und Asien angekündigt, die von Chaos und Untergang begleitet sein wird: „Der Grund dieser Verwüstung und Verwirrung wird sein, dass das Römertum, von dem jetzt die Welt beherrscht wird (…) von der Erde beseitigt werden und die Herrschaft wieder nach Asien zurückkehren und wieder der Osten herrschen und der Westen dienen wird“ (bei Laktanz, Divinae Institutiones VII 15,11)� 22 Ob diese und andere Stellen tatsächlich den Schluss auf einen über nationale Grenzen und Ethnien hinaus sich formierenden Widerstand gegen Rom zulassen, wie Kippenberg annimmt, muss hier nicht entschieden werden� Wichtig ist in unserem Zusammenhang dagegen, dass der Akzent in diesen Texten nicht auf der militärischen, sondern auf der ökonomischen Gewalt des römischen Imperiums liegt, und dass diese aus Sicht der jüdischen Sibylle alle Länder des Ostens, die sich unter das römische Joch beugen mussten, gleichermaßen hart trifft� 23 21 Übersetzung: Sibyllinische Weissagungen� Griechisch-deutsch� Auf der Grundlage der Ausgabe von Alfons Kurfeß neu übersetzt und herausgegeben von Jörg-Dieter Gauger, Düsseldorf / Zürich 1998, 85� Weitere Lit�: O� Stewart Lester, Prophetic Rivalry, Gender, and Economics. A Study in Revelation and Sibylline Oracles 4-5 (WUNT II 466), Tübingen 2018� 22 Übrsetzung: S� Freund, Laktanz� Divinae Institutiones Buch VII: De vita beata� Einleitung, Text, Übersetzung und Kommentar (TK 31), Berlin - New York 2008, 155� Zu den breit diskutierten Fragen nach dem Umfang der Benutzung der Quelle durch Laktanz und ihrer religionsgeschichtlichen Herkunft ausführlich ebd., 53-69. 23 Der britische Militärhistoriker Adrian Goldsworthy resümiert: „For the talk of pacification, the Romans did not pretend that they carved out their empire for any reason other than to benefit Rome� Roman strength and dominance were good things in their own right, which gave them greater security and made them richer� Provinces an allies were not acquired for their own good, but for the good of Rome“ (A� Goldsworthy, Pax Romana� War, Peace and Conquest in the Roman World, London 2016, 410)� Das letzte Buch der Bibel als Auftakt 81 der Sicht des Verfassers spielt die Jerusalemer Priesterschaft die so bekannte wie unrühmlich Rolle der lokalen Eliten, die mit der Fremdmacht kooperiert und daraus erhebliche materielle Vorteile zieht� In IX ,4 f wendet sich der Verfasser gegen „die Priester Jerusalems, die neuesten, die, die Besitz anhäufen und Gewinn aus der Beute der Völkerschaften“� Dies wird aber, des ist sich der Ausleger des Habakuk-Buches sicher, nicht das letzte Wort der Geschichte sein, denn „zum Ende der Tage wird ihr Besitz dahingegeben samt ihrer Beute in die Hand des Heeres der Kitti'im“ ( IX ,6 f)� Dass hinter den „Kittäern“ tatsächlich die Römer stehen, verrät die Stelle VI,3-5, die von der kultischen Verehrung der römischen Feldzeichen Kenntnis hat: Es heißt dort, dass die Kittäer „ihren Feldzeichen Opfer schlachten, und ihre Kriegsgeräte, die sind (Gegenstand) ihre(r) Ehrfurcht“� Zweifelsfrei ist der Rom- Bezug gesichert durch 4QpNah Frg� 4+3 I,3, wo ausgehend von den „Könige(n) von Jawan“ ein Bogen geschlagen wird „von Antiochus bis zum Auftreten der Kitti'im“� 17 Gemeint ist damit „die Zeitspanne von Antiochus IV (175-164) bis zur römischen Eroberung mit der Entsendung aufeinander folgender Prokuratoren in Syrien (ab 65 v� Chr�)“� 18 An der Polemik des Habakuk-Pescher fällt auf, dass er bis auf die Erwähnung der als korrupt bezeichneten Jerusalemer Priesterschaft in IX ,4 f nirgends speziell um das Geschick Judäas geht� Vielmehr sind es stets „alle Völker(schaften)“, die aus Sicht des jüdischen Habakuk-Auslegers unter der militärischen Gewalt von und der Ausbeutung durch Rom zu leiden haben� Mithin teilt der Habakuk-Pescher das, was Hans G� Kippenberg den „gesamtvorderasiatischen Standpunkt im Kampf gegen Rom“ genannt hat, jedenfalls insofern, als der Text ein Bewusstsein von der Unbegrenztheit des römischen Machthungers verrät, der folgerichtig auch viele andere Ethnien und Regionen in seine Gewalt bringt� 19 Für die These einer gesamtvorderorientalischen Opposition gegen Rom verweist Kippenberg auf Texte aus den jüdischen Sibyllinen und dem persischen Hystaspesorakel� Im dritten Buch der Sibyllinischen Orakel 20 wird der Untergang Roms imaginiert als Umkehrung der Ausbeutung des vorderasiatischen Raumes durch Rom: 17 Übersetzung: J� Maier, Die Qumran-Essener: Die Texte vom Toten Meer, Bd� 2, München 1995, 89� 18 H� Lichtenberger, Das Rombild in den Texten von Qumran, in: H�-J� Fabry / A� Lange / H� Lichtenberger (Hg�), Qumranstudien (SIJD4), Göttingen 1996, 221-231, 226. 19 H� G� Kippenberg, „Dann wird der Orient herrschen und der Okzident dienen“� Zur Begründung eines gesamtvorderasiatischen Standpunktes im Kampf gegen Rom, in: N� Bolz / W� Hübner (Hg�), Spiegel und Gleichnis (FS Jacob Taubes), Würzburg 1983, 40-48. 20 Zum kleinasiatischen Umfeld des dritten Buches der Sibyllinischen Orakel im 1� Jh� v� Chr� vgl� R� Buitenwerf, Book III of the Sibylline Oracles and its Social Setting, with an Introduction, Translation and Commentary (SVTP 17), Leiden 2003� 80 Manuel Vogel „In (seiner) Fremdheit übte der Feind Übermut / und sein Herz war fremd von unserem Gott / und alles, was er in Jerusalem tat, / (war so,) wie es auch die Heiden in (ihren) Städten <ihren Göttern> (tun)“ (PsSal 17,13 f�)� 14 Mit Genugtuung notiert PsSal 2,26 f das gewaltsame Todesgeschick des Pompeius, das ihn im September des Jahres 48 v� Chr� bei seiner Landung im ägyptischen Pelusion (hierzu Plutarch, Pompeius, 79) ereilt hat: „Und es dauerte nicht lange, bis Gott mir seinen Übermut zeigte, / durchbohrt auf den Bergen Ägyptens, / geringer geschätzt als der Geringste zu Wasser und zu Land; / sein Leichnam trieb auf den Wellen unter großer Schmach, / und es war keiner da, der ihn begrub, / weil er ihn in Schande geringachtete“� 15 Wird hier der aufkeimende Hass gegen Rom - auch ohne jede Namensnennung mit überdeutlichem Bezug - noch ad personam artikuliert, wenden sich andere Quellen gegen Rom insgesamt� Der mit den Psalmen Salomos etwa zeitgleiche Habakuk-Pescher aus Qumran 16 deutet mehrere Stellen des Propheten Habakuk auf die Römer, die er unter Verwendung eines Decknamens „Kittäer“ nennt: Sie sind „rasch (…) und kraftvoll im Krieg, so dass sie vi[e]le zugrunde richten“ (1QpHab II,12 f)� Es sind diejenigen, „vor denen Furcht [und S]chrecken auf allen Völkern liegt� Mit Vorsatz ist all ihr Planen (darauf aus), Böses zu tun und mit [Arg]list und Trug verfahren sie mit all den Völkerschaften“ ( III ,4 f)� Sie „zerstampfen (das Land) mit [ihren] Rossen und ihren Tieren� Von fern her kommen sie von den Inseln des Meeres, um aufzufressen [a]lle die Völkerschaften, wie ein Geier unersättlich� Mit Grimm unt[erjochen sie sie und mit Zorn]glut und Wut reden sie mit [allen Völkerschaften]“ ( III ,9-11). Von den „Herrscher(n) der Kitti'im“ gilt, dass sie im Bewusstsein ihrer militärischen Überlegenheit „die Festungen der Völkerschaften (verachten) und mit Spott über sie lachen� Mit viel Volk umzingeln sie sie, um sie einzunehmen, unter Furcht und Schrecken fallen sie in ihre Hand“ ( IV ,5-8). Diese Überlegenheit geht freilich einher mit maßloser Grausamkeit, denn sie „(vernichten) viele mit dem Schwert (…), Jünglinge, Männer und Greise, Frauen und Kinder und selbst der Frucht des Leibes erbarmen sie sich nicht“ ( VI ,10-12). Klar ist, dass die militärische Expansion der „Kittäer“ mit wachsender Prosperität einhergeht bzw� hier ihr Motiv hat: „[S]ie häufen Ihren Besitz mit all ihrer Beute auf wie Meeresfische“ ( VI ,1 f), und sie sind berüchtigt dafür, „dass sie ihr Joch verteilen und ihre Fron, ihre Speise, auf alle Völker, Jahr für Jahr, so dass sie viele Länder verheeren“ ( VI ,6-8). Aus 14 Übersetzung: S� Holm-Nielsen, Die Psalmen Salomos (JSHRZ IV / 2), Gütersloh 1977, 100� 15 Übersetzung: Holm-Nielsen, Psalmen Salomos, 66� 16 Übersetzung hier und nachfolgend aus: J� Maier, Die Qumran-Essener: Die Texte vom Toten Meer, Bd. 1, München 1995, 158-163. Das letzte Buch der Bibel als Auftakt 79 Hier präsentiert sich eine Naturkunde, die die Expansionsbestrebungen des römischen Imperiums natur- und geowissenschaftlich untermauert und legitimiert� Nach der Natur als der „Mutter und Regentin“ kommt an zweiter Stelle sogleich Rom, das von der Natur selbst begnadet und ausersehen ist, die bewohnten Weltregionen mütterlich zu versorgen und zu beherrschen� 2. Frühjüdische Außensichten Imperiale Legitimationsnarrative haben, wie man unbesehen annehmen darf, durchweg ihre hässliche Kehrseite, welche die Legitimation allererst nötig macht� Mit Blick auf späte Republik und frühe Kaiserzeit sind es namentlich jüdische Quellen, die diese Kehrseite anschaulich zur Sprache bringen� Erstmals mit der Belagerung und Einnahme des Jerusalemer Tempels durch Pompeius im Jahr 63 v� Chr� wurde der römische Anspruch auf die Region auch für Judäa handgreiflich� Waren die Römer in den internen Zwistigkeiten zwischen den um die Macht streitenden hasmonäischen Brüdern Aristobul und Hyrkan zunächst als Vermittler aufgetreten, „nutzten“ sie jedoch bald „den innenpolitischen Streit der beiden Brüder geschickt für ihre Zwecke aus“, 10 mit dem Ergebnis, dass Judäa „in einem ‚Zwischenzustand‘ zwischen einer Selbstverwaltung und der völligen Eingliederung in das römische Provinzialsystem“ 11 Rom tributpflichtig wurde� „Außenpolitisch war Judäa“ damit „ein von Rom unterworfener und abhängiger Staat“ 12 � Die römische Sicht formuliert bündig Tacitus, Hist� 5,9: „Als erster Römer bezwang die Judäer Cn� Pompeius, der nach Siegerrecht auch den Tempel betrat“� 13 Josephus, der nach 70 n� Chr� sein römisches Oberschichtpublikum anhand historischer exempla zur Mäßigung gegenüber den besiegten Judäern anhalten will, attestiert Pompeius selbst in diesem Moment noch einen Rest an Frömmigkeit (Ant� 14,72 f)� In den antihasmonäischen Psalmen Salomos (2� Hälfte 1� Jh� v� Chr�) findet das Sakrileg des Pompeius, der zum Entsetzen der Jerusalemer Bevölkerung das Allerheiligste des Tempels betreten hatte, dagegen einen unzweideutig kritischen Niederschlag: 10 P� Schäfer, Geschichte der Juden in der Antike� Die Juden Palästinas von Alexander dem Großen bis zur arabischen Eroberung, 2 2019, 94� 11 Schäfer, Geschichte, 93 f� 12 M� Sasse, Geschichte Israels in der Zeit des Zweiten Tempels, Neukirchen-Vluyn 2004, 236; ausführlicher hierzu E� Schürer, G� Vermes, F� Millar, The History of the Jewish People in the Age of Jesus Christ, Bd. 1, Edinburgh 1973, 236-242. 13 Übersetzung: P� Cornelius Tacitus, Historien� Lateinisch-deutsch, herausgegeben von Joseph Borst unter Mitarbeit von Helmut Hross und Helmut Borst, München / Zürich 1984, 523 mit Änderung� 78 Manuel Vogel Inseln des Ozeans kommt die Britannica , ebenso die Aithiopís aus der von den Gestirnen ausgebrannten Himmelsgegend, und andere außerdem von daher und dorther zum Wohle des menschlichen Geschlechts auf der ganzen Erde, und zwar unter der unermesslichen Herrlichkeit des römischen Friedens ( humanae saluti in toto orbe …, inmensa Romani pacis maiestate ), die nicht nur die Menschen untereinander verschiedener Länder und Völker bekanntgemacht, sondern auch die Berge und die in die Wolken ragenden Gipfel und ihre Erzeugnisse und Pflanzen im Austausch gezeigt hat� Möchte doch, ich bitte darum, dieses Geschenk der Götter von ewiger Dauer sein! So sehr hat es den Anschein, dass sie die Römer der Menschheit gleichsam als zweites Licht geschenkt haben“ (Nat� hist� 27,1,2 f)� 7 An anderer Stelle kommt der römische Anspruch auf die Weltherrschaft und das damit verbundene zivilisatorische Programm noch deutlicher zum Tragen: Italien ist das Land „das die Ernährerin und zugleich auch die Mutter aller Länder ist (…), das nach dem Willen der Götter ausersehen ist, sogar den Himmel glanzvoller zu machen, die zerstreuten Mächte zu vereinigen, die Sitten zu veredeln, die verschiedenartigen und rohen Sprachen so vieler Völker durch die Gemeinsamkeit der Umgangssprache zusammenzuführen, den Menschen Menschlichkeit zu verleihen ( humanitatem homini daret ), kurz, das alleinige Vaterland aller Völker auf dem ganzen Erdkreis ( una cunctarum gentium in toto orbe patria ) zu werden“ (Nat� hist� 3,6,39)� 8 Der naturkundliche Vergleich im Blick auf Klima, geographische Lage, Fruchtbarkeit der Böden, Reichhaltigkeit der Tier- und Pflanzenwelt wie auch der Bodenschätze bestätigt den Vorrang und die Vorherrschaft Roms, die den Völkern der Welt nur zum Vorteil gereichen kann� Für den Naturforscher Plinius ist klar: „Auf der ganzen Erde, wo nur immer sich die Wölbung des Himmels ausbreitet, ist also das schönste Land, das mit Recht in allen Dingen den ersten Rang in der Natur einnimmt, Italien, die Herrscherin und zweite Mutter der Welt ( rectrix parensque mundi altera )“ (Nat� hist� 37,77,201)� 9 7 Lateinischer Text und Übersetzung: C� Plinius Secundus d� Ä�, Naturkunde� Lateinisch- Deutsch, Bücher XXVI / XXVII, herausgegeben und übersetzt von Roderich König in Zusammenarbeit mit Gerhard Winkler, München / Zürich 1983, 124-127. 8 Lateinischer Text und Übersetzung: C� Plinius Secundus d� Ä�, Naturkunde� Lateinisch- Deutsch, Bücher III / IV, herausgegeben und übersetzt von Gerhard Winkler in Zusammenarbeit mit Roderich König, München / Zürich 1988, 36-38. 9 Lateinischer Text und Übersetzung: C� Plinius Secundus d� Ä�, Naturkunde� Lateinisch- Deutsch, Buch XXXVII, herausgegeben und übersetzt von Roderich König in Zusammenarbeit mit Joachim Hopp, München / Zürich 1994, 134 f� Das letzte Buch der Bibel als Auftakt 77 Trajan (98-117 n. Chr.) um Rat bittet, wie er mit den „Christen“ ( Christiani ) verfahren solle� Seinen römischen Sinn für Recht und Ordnung teilt er mit dem Kaiser, der ihn in dem Bemühen unterstützt, dass die Christenprozesse künftig nach klaren Regeln ablaufen sollen� Mit dieser Maßnahme soll die aktuell noch bestehende Rechtsunsicherheit in dieser Frage behoben werden� Die römische Provinzialverwaltung befleißigt sich erkennbar der Mäßigung und begrenzt ihren Verfolgungseifer durch die Nichtzulassung anonymer Anzeigen� Wollten die römischen Behörden solchen Anzeigen nachgehen, meint Trajan in seinem Antwortschreiben, wäre das ein „schlimmes Beispiel“ ( pessimum exemplum ), das so gar nicht in „unsere Zeit“ ( saeculum nostrum ) passen würde (ep� 10,97,2)� 6 Das römische saeculum ist nach römischer Selbstauffassung eine Zeit des immer weiter um sich greifenden „Friedens“ ( pax ), den Rom den Völkern gebracht und unter ihnen und zwischen aufgerichtet hat� Dass die Unruheprovinz Judaea auf militärischem Weg befriedet wurde, ist bei Abfassung des Pliniusbriefes zu den Christenprozessen bereits 37 Jahre her, von der Erstürmung Masadas 74 n� Chr� an gerechnet, bei Fertigstellung der Naturgeschichte erst drei Jahre� Aber schon der ältere Plinius rühmt die römische pax als Geschenk an die Völker, das ihnen Zivilisation und blühenden Handel beschert hat� Im 27� Buch führt Plinius dies am Beispiel der Heilkräuter aus, die er als göttliches Geschenk von „Mutter Natur“ preist, und die nun obendrein durch die von der römischen Friedensmacht geschaffenen und gesicherten internationalen Handelswege im freien Warenverkehr überall verfügbar sind: „[D]as skythische Kraut kommt von den maeotischen Sümpfen, die Wolfsmilch (…) vom Berge Atlas und von jenseits der Säulen des Herakles und selbst von dorther, wo die Natur ihr Ende hat; auf anderer Seite von den über die Länder hinausliegenden 6 Text und Übersetzung: H� Kasten (Hg�), Gaius Plinius Caecilius Secundus, Briefe - Epistularum libri decem� Lateinisch-deutsch, München / Zürich 6 1990, 644 f� Manuel Vogel, geb� 1964 in Frankfurt / Main, Studium der Evangelischen Theologie in Erlangen, Heidelberg und Frankfurt, 1994-1996 Vikariat in Bayern, 1995 Promotion in Heidelberg, 1996-2003 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institutum Judaicum Delitzschianum in Münster, 2003 Habilitation in Münster, 2003-2006 Pfarramt in Hessen-Nassau, 2006-2008 Pfarrer im Hochschuldienst an der Goethe-Universität Frankfurt, seit 2009 Professor für Neues Testament an der Friedrich-Schiller- Universität Jena� Veröffentlichungen u� a� zu Paulus, Josephus und zum Hellenistischen Judentum� 76 Manuel Vogel nicht relativieren sollte� In ihr artikuliert sich vielmehr „der geistige Widerstand gegen Rom in der antiken Welt“ 4 in besonderer Schärfe� Die folgende Darstellung setzt (1�) bei einer römischen Selbstbeschreibung an (Plinius d� Ä�), um diese dann (2�) vornehmlich aus jüdischen Quellen mit kritischen Außenwahrnehmungen des römischen Imperiums zu kontrastieren� In diesen Kontext wird sodann die Johannesoffenbarung gestellt, u�zw� (3�) im Blick auf die ökonomische Romkritik in Offb 18 und (4�) in Würdigung ihrer Zeiterfahrung� Von hier aus werden (5�) Linien in das christliche 2� Jh� gezogen� Der Beitrag schließt (6�) mit einem Epilog� 1. Eine römische Innenansicht: Plinius der Ältere Caius Plinius Secundus, besser bekannt als Plinius der Ältere, hat sein opus magnum , die 37 Bücher umfassende Naturgeschichte ( Naturalis historia ), 5 im Jahr 77 / 78 n� Chr� fertig gestellt und dem Konsul und nachmaligen Kaiser Titus gewidmet� Der römische Widmungsempfänger ist im Neuen Testament nicht namentlich bekannt, aber seine in Rom mit einem Triumphzug gefeierte militärische Großtat, die Zerstörung des Jerusalemer Tempels im Jahr 70 n� Chr�, hat in zahlreichen jüdischen Quellen einschließlich einiger frühchristlicher Texte ihre Spuren hinterlassen� Schon Jesus habe, so das Markusevangelium, kommen sehen, dass, wie er mit Blick auf den Tempel sagte, „hier nicht ein Stein auf dem andern bleiben wird, der nicht zerbrochen werde“ (Mk 13,1)� Im zweiten Jahrzehnt des 2� Jh�s hat der Neffe des Naturforschers, Plinius der Jüngere, unter den Christengemeinden der Provinz Bithynia et Pontus im nordwestlichen Kleinasien von sich reden gemacht, wie wir aus den Quellen sicher erschließen können: Im 96� Brief im zehnten Buch seiner gesammelten Briefe begegnet er uns als Statthalter der genannten Provinz, dort seit 111 n� Chr� im Amt, als er Kaiser die Christen den Mut, sich zu dieser Seite ihrer Hoffnung zu bekennen“� Zur Apokalypse- Auslegung im Paradigma der Empire-Studies vgl� neuerdings S� J� Wood, The Alter-Imperial Paradigm� Empire-Studies & the Book of Revelation, Leiden-Boston 2016� Weitere Lit�: Th� Schmeller / M� Ebner / R� Hoppe (Hg�), Die Offenbarung des Johannes� Kommunikation im Konflikt (QD 253), Freiburg 2013� Ein von Katell Berthelot verantwortetes Forschungsprojekt befasst sich mit „Judaism and Rome� Re-thinking Judaism’s Encounter with the Roman Empire“, zugänglich unter http: / / judaism-and-rome�cnrs�fr/ (letzter Zugriff am 31� 8� 2018)� 4 H� Fuchs, Der geistige Widerstand gegen Rom in der antiken Welt, Berlin 1938� Materialreich auch J�-D� Gauger, Orakel und Brief: zu zwei hellenistischen Formen geistiger Auseinandersetzung mit Rom, in: Ch� Schubert / K� Brodersen (Hg�), Rom und der griechische Osten (FS H. H. Schmitt), Stuttgart 1995, 51-67. 5 Vgl� hierzu M� Vogel, Einleitung, in: L� Möller / M� Vogel (Hg�), Die Naturgeschichte des Caius Plinius Secundus� Ins Deutsche übersetzt und mit Anmerkungen versehen von Prof. Dr. G. C. Wittstein, Bd. 1, Wiesbaden 2007, 9-34. Zeitschrift für Neues Testament Heft 42 21. Jahrgang (2018) Das letzte Buch der Bibel als Auftakt Zur Stellung der Johannesoffenbarung in der Geschichte des frühen Christentums Manuel Vogel Einleitung Die Johannesoffenbarung ist in ihrer unversöhnlichen Haltung gegenüber den römischen Verhältnissen ihrer Zeit 1 „das Werk einer Gegenkultur“ und zugleich doch auch „als Stück römisch-kaiserzeitlicher Literatur zu lesen“� 2 Die These dieses Beitrages lautet, dass der fraglose Wert dieser Schrift für die Erforschung der ausgehenden frühen Kaiserzeit seine gegenkulturelle Wucht 3 gleichwohl 1 Der Beitrag ist ohne Kenntnis der Entgegnung von Stefan Alkier verfasst und nachträglich bis auf die Hinzufügung dieser Fußnote und die Literaturergänzung in Anm� 20 auch nicht verändert worden� Anzumerken ist hier nur, dass ich meine Position in Kenntnis der vielerlei Argumente meines geschätzten Kollegen, die eine intensive, gelehrte und methodisch reflektierte Befassung mit der Johannesoffenbarung eindrücklich zu erkennen geben (und übrigens auch in Kenntnis der Johannesoffenbarung als ganzer, die ich zuletzt im SoSe 2018 zweistündig gelesen habe), auch nicht ansatzwesie in Frage gestellt sehe� 2 M. Karrer, Johannesoffenbarung, Teilband 1: Offb. 1,1-5,14 (EKK XXIV / 1), Ostfildern / Göttingen 2017, 64� 3 Für P� Lampe, Die Wirklichkeit als Bild� Das Neue Testament als ein Grunddokument abendländischer Kultur im Lichte konstruktivistischer Epistemologie und Wissenssoziologie, Neukirchen-Vluyn 2006, 118 manifestiert sich in der Offenbarung „[e]in trotziger Ausbruch aus der Doppelwelt“ römisch-hellenistischer und frühchristlicher Lebenskontexte, und K� Berger, Theologiegeschichte des Urchristentums, Tübingen 2 1995, 619 urteilt: „Nur hier im frühen Christentum wird die Auseinandersetzung mit Rom, und zwar in Gestalt politischer Apokalyptik, gesucht (…)� Nur in der ApkJoh wird das romfeindliche Potential der Apokalyptik des 1� Jh� n� Chr� (…) wirklich lebendig� Nur hier haben 74 Kristina Dronsch Bei dem Beitrag von Manuel Vogel ist es das historisch und religionsgeschichtlich geschulte Auge, dass keinen anderen Schluss zulässt, als der Offenbarung im Angesicht ihrer reichsrömischen Entstehungsbedingungen eine „gegenkulturelle Wucht“ zuzugestehen� Für Manuel Vogel ist die Offenbarung eine Schrift, die mit sich selbst ringt, insofern als sie mit dem Konkretum reichsrömischer Präsenz ringt und dieses zu versprachlichen versucht: „Rom ist Babylon in Potenz, Rom ist Tyrus in unerträglichem Ausmaß� … was überall und immer schon die Menschen gequält hat, das quält die Menschen unter reichsrömischen Bedingungen in einer Maßlosigkeit“, die die Ränder des Aussagbaren berührt� Stefan Alkier versucht jenseits des historischen Paradigmas die Bedeutung Roms innerhalb des konkreten Textgewebes der Schrift der Offenbarung zu bestimmen� Der kategorialen Semiotik im Gefolge von Charles Sanders Peirce verpflichtet, geht es ihm darum, die Offenbarung als Textzeichen abduktiv zu erschließen und auf dieser Basis dann induktiv historische Zusammenhänge hypothetisch zu rekonstruieren� Mit dieser methodischen Entscheidung verabschiedet er sich von jeder Art von vorgeordnetem Geschichtsverständnis und lässt den Text der Johannesoffenbarung als das real vorgeordnete Konkretum wirken, mit dem erhellenden Ergebnis, dass sich der Kampfgeist dieser Schrift gegen die antike Großmacht Rom nicht so sehr im Konkretum des Textes zeigt als vielmehr auf den ideologischen Radaren derer, die diese Texte interpretieren� So kommt der Beitrag von Stefan Alkier zu dem Ergebnis, dass es eine grobe Verkürzung des Interpretationsreichtums der Johannesapokalypse bedeutet, wenn sie nur als „Kampfschrift gegen Rom“ verstanden wird und somit ihre „theologisch und kosmologisch differenzierende Machtkritik“ völlig aus dem Blick gerät� Erhellender und differenter kann eine Kontroverse kaum sein� Die Autoren bieten uns ein gutes Stück gelebte wissenschaftliche Disputation� Zeitschrift für Neues Testament Heft 42 21. Jahrgang (2018) Kontroverse Ist die Johannesoffenbarung eine Kampfschrift gegen Rom? Einleitung zur Kontroverse Kristina Dronsch Die politisch-gesellschaftliche Dimension neutestamentlicher Texte ist keine Frage� Dass das frühe Christentum nicht in einem luftleeren Raum gesellschaftlicher Beziehungslosigkeit agierte, ist selbstverständlich, doch die Frage „Wie“ die neutestamentlichen Schriften Bezüge zur gesellschaftlichen und politischen Realität herstellen, scheint im höchsten Maße diskussionswürdig� Und genau um die Klärung dieses „Wie“ kreist die Kontroverse� Es ist eine Kontroverse nicht nur mit Worten ausgetragen, der sich Manuel Vogel und Stefan Alkier stellen, es ist vor allem eine Kontroverse um die interpretationsleitenden Fundamente innerhalb der Bibelwissenschaften, die unterschiedlicher nicht sein können� Ganz en passant gerät die Kontroverse daher zu einem Lehrstück hermeneutischer Differenz und der daraus folgenden Konsequenz für die Interpretation biblischer Texte� Bei aller Differenz teilen beide Kontroverspartner jedoch die grundlegende Überzeugung, dass nur das von der Geschichte bestehen bleibt, was wir mit einem Sinn versehen� Das Ringen um den Sinn des Geschichtlichen macht den Charme dieser Kontroverse aus� Während für Manuel Vogel der Schlüssel zum Verständnis Roms in der Offenbarung in einem historisch-religionsgeschichtlichen Paradigma liegt, nähert sich Stefan Alkier der Schrift der Offenbarung mit einer zeichentheoretischen Fundierung� 72 Michael Sommer und Brenda Willmann dazu noch RPC III 35, so wird dieser Zweifel sogar noch lauter� Das Bild des nackten Kleinkindes, das nach den Sternen greift, war definitiv nicht exklusiv als ein Repräsentationssymbol des Domitian im Umlauf� Vielmehr handelte es sich hierbei um ein wertneutrales Motiv, das über die Grenzen Italiens hinaus Verbreitung in Diskursen fand, in denen sich transzendentale und immanente Sphären durchdrungen haben und Schnittstellen zwischen Himmel und Erde inszeniert werden sollten� Dementsprechend passte es sowohl zum römischen Diskurs über die Apotheose des Herrschersohnes als auch zum lokalen Kontext der Provinz Kreta und ihrer Mythologie� Mit nur wenigen Adaptionen erschien das Kleinkind dort als Zeus, der sich auf der Erde vor Kronos versteckt hielt und von der (Ziegen-)Nymphe Amaltheia gesäugt wurde� Kehren wir zu Offb 1,16 zurück, so verschiebt sich u� E� die These, Offb 1,16 müsse antiimperialistisch gelesen werden� Letztendlich will Johannes dort vordergründig beschreiben, dass sich in seiner Erzählkulisse Welten berühren� Der Messias tritt aus der Sphäre Gottes in die Geschichte ein und will sich vor der Welt offenbar machen� Er baut eine Brücke zwischen der Zeitlichkeit des Johannes und der Entzogenheit Gottes, die literarisch auf dem Fundament unzähliger intertextueller Anspielungen auf Ezechiel und Daniel steht� U� E� sind die sieben Sterne, die der Messias auf seiner Rechten trägt, „nur“ ein weiteres Bild, das genau diese Spannung zwischen Transzendenz und Immanenz unterstreichen soll� Dieses Anliegen ist den Bildern auf RPC III 35 und auf RIC II 153 ebenso anzusehen� Johannes konstruierte kein kulturgeschichtliches Gegenbild zwischen dem Messias und Domitian, sondern benutzte den Kulturhorizont seiner Umwelt genauso wie die Schriften� Schließlich wurde er in einer römisch-hellenistischen Umgebung sozialisiert, auch wenn er Israels Tradition genau kennt� Die Annahme, dass er nur Schriften positiv rezipiert hat und andere Formen kulturgeschichtlicher Parallelen lediglich polemischen Charakters seien, halten wir für historisch wenig plausibel� RIC II 153 und RPC III 35 zeigen, dass Johannes in Offb 1,16 zwar die Macht und die Übernatürlichkeit des Messias demonstrieren will, aber diese Bilder selbst eigentlich nicht antidomitianisch gelesen werden wollen� „…-Geld alleine macht auch nicht glücklich“ 71 eines Prägestempels aus der stadtrömischen Domitia-Tradition gefertigt wurde, der in die Provinz exportiert wurde und dort als Vorlage diente� 38 Jedenfalls zeigt RPC III 35 deutlich, dass das Motiv vom Kind mit den sieben Sternen völlig bedeutungsoffen gewesen ist und nicht ausschließlich den Machtanspruch Domitians zum Ausdruck brachte� 4. Implikationen für die Apokalypseforschung-- Ein Plädoyer für eine politische Neuausrichtung Analysiert man numismatische Exkurse in den Publikationen zur Apokalypse genauer, so bestätigen sich die jüngst geäußerten Zweifel an den gängigen Politikmodellen der Apokalypseforschung� Im Falle von RIC II 153 hat man eine Quelle so angepasst, um die Meinung, die Offenbarung sei antiimperialstisch, zu bestätigen� Wir kamen nach unseren Untersuchungen zum Schluss, dass es zu weit führt, RIC II 153 als eine Quelle für die religiöse Selbstüberhöhung Domitians zu verwenden� 39 Die Münze ist letztendlich nicht einmal ihm, sondern seiner Frau gewidmet� 40 Sie diente dem Zweck, Domitia bei ihrer Inauguration als Augusta Ehre entgegenzubringen, indem der Tod ihres Sohnes in ein positives Licht gerückt wurde� Nach der Exilierung Domitias driftete diese Prägung in die Bedeutungslosigkeit ab� Sowohl der zeitliche Rahmen der Ausschüttung (81-82 n. Chr.), als auch ihre limitierte Auflage und ihr Bezug auf einen römischen Diskurs (Münzen dieses Typus wurden ausschließlich in Italien gefunden), lassen es als äußerst fragwürdig erscheinen, dass Offb 1,16 als ein Gegenbild zur RIC II 153 konzipiert worden ist� Berücksichtigt man sein, weil auch diese dort tiefer gelegen haben müssten als der Abschleifprozess gedrungen ist� Dies ist jedoch nicht der Fall� Von daher legt sich der Schluss nahe, dass die Münze ohne Meridiane geprägt worden ist� Der verwendete Prägestempel war mit ziemlicher Sicherheit plumper angelegt als der von RIC II 153� Infolgedessen kann gesagt werden, dass der Prägestempel von RPC III 35 auch keine Meridiane im Motiv enthalten hatte� Deshalb kann die Einfachheit der Rückseite nur bedingt durch eine Abnutzung erklärt werden� Es kann vermutet werden, dass die Konzeption von RPC III 35 plumper angelegt war als die Konzeption von RIC II 153� 38 Die Qualität des verwendeten Materials als auch die Kunstfertigkeit der Prägetechnik und des Prägestempels sprechen dafür, dass die Münze nicht in Rom, sondern in der Provinz selbst geprägt worden ist und auch das Werkzeug dort hergestellt wurde� Es erscheint unwahrscheinlich, dass die Münze oder der Stempel in Rom hergestellt und exportiert worden ist� Vielmehr glauben wir daran, dass eine Vorlage für den Prägestempel durch einen Transfer auf die Insel Kreta gelangt ist und dort dazu führte, dass das Motiv mit einer anderen Bedeutung weiter verwendet worden ist� 39 Gerade wenn man bedenkt, dass die Münze nahezu parallel mit seinem Regierungsantritt geprägt worden ist, erscheint diese Vermutung als äußerst fragwürdig� 40 Ihr alleine gilt die gesamte Vorderseite� 70 Michael Sommer und Brenda Willmann und seiner damnatio memoriae noch weiter verwendet werden, sogar in einem Kontext, der nichts mit dem ursprünglichen Diskurs gemeinsam hatte� Aus numismatischer Sicht schließen sich an diese Beobachtung eine ganze Reihe von Fragen an� Wie konnte es sein, dass ein Motiv 30 Jahre lang vergessen war, 36 jedoch in einer nahezu identischen Form und Gestalt in einem neuen Kontext weitergeprägt wurde? Wie lässt es sich erklären, dass das Bild vom Zentrum des Reiches nach dem Tod Domitians mit einer abgeänderten Bedeutung in die Provinzen wanderte? Wir vermuten, dass die Stempel der Tradition um RIC II 153 nach Kreta transferiert worden sind, um dort weiterverwendet zu werden� Münzstempel waren schließlich sehr kostbar� Generell war die Münzprägekunst sehr teuer, weshalb Werkzeug und Prägematerial recycelt worden sind� Es ist gut vorstellbar, dass der Geschichte von RPC III 35 ein solcher Transfer zu Grunde liegt� Deshalb blieb das Motiv stabil, obwohl sich der politische und religiöse Diskurs um es herum vollkommen verschoben hat� Unwahrscheinlich ist hingegen, dass der Prägemeister von RPC III 35 einen modifizierten Stempel verwendete, der zuvor bei RIC II 153 zum Einsatz gekommen ist� Detailunterschiede zwischen den Rückseiten der beiden Münzen sprechen gegen eine Stempelmodifikation� 37 Plausibler ist es, dass der Stempel von RPC III 35 nach dem Muster 36 Sommer, Jesusgeschichte, 214� 37 Auch die Prägedetails des Globus sprechen dafür, dass die Stempel von RIC II 153 und RPC III 35 zwar stark verwandt, jedoch nicht identisch gewesen sind� Die Weltkugel auf RIC II 153 ist wesentlich präziser geprägt als auf RPC III 35� Vor allem stechen dort deutlich sichtbare Meridiane ins Auge, die auf RPC III 35 vollständig fehlen� Zwar ist RPC III 35 stark verschlissen, jedoch lässt sich immer noch deutlich erkennen, dass die provinziale Münze einfacher und unschärfer geprägt wurde als der römische Silberdenar� Wäre die Weltkugel auf RPC III 35 ähnlich filigran angelegt gewesen wie auf RIC II 153, so müssten sich trotz der Schleifspuren immer noch Restanlagen der ausgearbeiteten Meridiane erkennen lassen� Ein Vergleich beider Münzen erlaubt es, den Abschleif- und Konsumtionsprozess von RPC III 35 zumindest in Ansätzen zu erhellen� Beide Münzrückseiten sind konkav nach innen gebogen geprägt� Das heißt, dass die Motive auf einer Grundfläche stehen und sich dreidimensional in die Höhe strecken� Blickt man auf RIC II 153, so ist der höchste Punkt des Prägemotivs das Bein des nackten Kindes� Es erstreckt sich plastisch über die Anlage der Meridiane, den zweithöchsten Punkt der Münze, und über die Weltkugel, die sehr flach aus der Grundfläche des Schrötlings hervorsteht� In den Randbereichen der Weltkugel ändern sich die Höhenverhältnisse� Der konvex gewölbte Globus ist dort deutlich flacher als in seiner Mitte� Dort bildet er nahezu eine plane Ebene mit der Grundfläche des Schrötlings� Beide Flächen verlaufen dort fast nahtlos� Auch die Meridiane auf der Weltkugel folgen dieser Prägeneigung und treten an den Globusrändern wesentlich flacher aus der Grundfläche hervor� Sie liegen in diesem Bereich sogar tiefer als die Fläche der Weltkugel im Zentrum� RPC III 35 wurde im Laufe der Zeit so abgeschliffen, dass das Bein des nackten Kindes und die Mitte der Weltkugel eine glatte Fläche bilden� Der Randbereich der Weltkugel ist vom Abschleifungsprozess jedoch unberührt geblieben, weil er durch die konvexe Wölbung tiefer liegt als das Zentrum der Münze� Hier in diesem Bereich müssten theoretisch noch Spuren von Meridiane zu erkennen „…-Geld alleine macht auch nicht glücklich“ 69 3.2.2 Das Motiv von RIC II 153 und die provinziale Prägung unter Trajan-- RPC III 35 als Beispiel für einen Stempeltransfer Aus der Provinz Kreta und Kyrene ist uns mit RPC III 35 ein Fundstück erhalten, das dem Revers von RIC II 153 zum Verwechseln ähnlich sieht� Die provinziale Bronzemünze wurde für den Koinon Kreta geprägt, wie die Inscriptio der Rückseite (ΚΟΙΝΟΝ ΚΡΗΤΩΝ) belegt. Der Avers bildet Trajan ab, der nach links blickt und einen Umhang um seine Schultern geschlungen hat� Seine Büste ist unterlegt mit der Inscriptio ΑΥΤ ΑΥΓ ΤΡΑΙΑΝΟС ΓΕΡ ΔΑΚΙ , weshalb Numismatiker RPC III 35 auf das Jahr 115 n� Chr� datieren� Auf der Rückseite ist wie auch auf RIC II 153 ein nacktes Kleinkind zu sehen, das auf einer Weltkugel sitzt� Seine beiden Hände streckt es mit angewinkelten Ellenbogen nach oben aus und es versucht in eine halbkreisförmige Anordnung von sieben Sternen zu greifen� Im linken Feld ist unterhalb der Weltkugel eine Ziege zu erkennen, die ihren Blick nach hinten richtet� 34 Dieses kleine Detail fehlt auf der römischen Motivtradition von RIC II 153 komplett, die ansonsten mit RPC III 35 identisch zu sein scheint� Die winzige Modifikation des Motivs änderte jedoch seine Bedeutung völlig� RPC III 35 hat aufgrund der Ziege eine vollkommen andere Sinnspitze als RIC II 153� Während auf der Letzteren die Inscriptio das nackte Kind eindeutig als den verstorbenen Sohn Domitians identifizierbar macht, so weißt RPC III 35 keine Bezüge zu diesem stadtrömischen Diskurs auf� Durch die Ziege repräsentiert das nackte Kleinkind mit großer Wahrscheinlichkeit Zeus selbst� Der Prägemeister von RPC III 35 gestaltete das Motiv so, dass seine einzelnen Bildelemente einen Mythos wachrufen, der einen Lokalbezug zur Insel Kreta aufweist� Zeus soll auf der Insel geboren worden sein und seine Mutter Rhea hielt ihn dort vor Kronos, seinem Vater, versteckt, um zu verhindern, dass der Titan den kleinen Zeus aus Angst vor Konkurrenz verschlingt� Die Nymphe Amaltheia säugte Zeus auf der Insel mit der Milch einer Ziege bis dieser kräftig genug geworden ist, um seinen Vater Kronos vom Thron zu stoßen� Die Ziege auf RPC III 35 eröffnet Assoziationspotential zwischen dem Leitmotiv der Münze, das global-thronende Kleinkind mit den sieben Sternen, und dem Kindheitsmythos des Zeus her� 35 Durch diesen kleinen Eingriff konnte das Bild auch nach dem Tod Domitians 34 Vielleicht mag dieses Motiv auf die Münze gelangt sein, weil das Tier in Kreata eine lokale Bedeutung hatte� Ähnliches ist häufig auf griechischen Münzen zu beobachten, da dort häufig vorkommende Tierarten einer Region oftmals als Zieraccessoire in Münzmotiviken integriert worden ist� Jedenfalls ist die Ziege zumindest ein kleines Indiz dafür, dass das Motiv von RIC II 153 nicht sklavisch kopiert, sondern adaptiert und interpretiert wurde� 35 Zu Zeus weiterführend vgl� A� Henrichs / B� Bäbler, Art� Zeus, DNP 12, Stuttgart 2002, 782-79; K. Ziegler, Art. Geburt und Grab des Zeus auf Kreta, in: W. H. Roscher (Hg.), Ausführliches Lexikon der griechischen und römischen Mythologie� Bd� 6, Leipzig 1937, 578-581. 68 Michael Sommer und Brenda Willmann „Es ist nicht überraschend, dass es ein gewisses Maß von Zusammenarbeit bei der Produktion städtischer Bronzemünzen für hunderte von Städten gab […]� In den meisten Fällen wissen wir nicht, ob diese Zusammenarbeit in einer zentralisierten Prägung oder bloß im Transfer von Stempeln - vielleicht mittels wandernder Stempelschneider oder Münzwerkstätten - bestand�“ 30 Dies hatte natürlich enorme Auswirkungen auf die Symbolik und Motivik der Münzen, denn Münzmotive wurden oftmals für Prägungen für verschiedene Orte und politische Diskurse gleichzeitig verwendet� In vielen provinzialen Stätten kursierten oft Münzen mit unterschiedlicher Vorder-, jedoch identischer Rückseite� 31 Für dieses Phänomen der Motivverbreitung und -transformation haben sich in der Numismatik zwei Begriffe eingebürgert: Stempeltransfer und Stempelkopplung � Wurden Münzen für verschiedene Städte innerhalb einer Werkstatt geprägt, benutzten Prägemeister häufig ein und denselben Unterstempel für die Form und Kontur der Vorderseite, jedoch verschiedene Oberstempel für die Rückseiten, auf denen sie Bezüge zu den spezifischen Diskursen der Städte herstellten� 32 Hier spricht man von einer Stempelkopplung� Häufiger jedoch als eine solche Koppelung waren allerdings Stempeltransfers zwischen einzelnen Münzprägewerkstätten� Vor allem Oberstempel (für die Rückseite) wanderten oft über die Provinzgrenzen hinaus hin und her� Sie konnten als Zeichen politischer Freundschaft und Verbundenheit verschenkt oder aber auch ohne große Hintergrundbedeutung verkauft werden� Oft wurden gebrauchte Stempel, die für den Diskurs eines Ortes nicht mehr passten, nicht entsorgt, sondern weitergereicht und gelangten in die Hände provinzialer Münzpräger� So erworbene Stempel sind dann oftmals von Stempelschneidern überarbeitet und im Rahmen der technischen Möglichkeiten modifiziert worden, 33 so dass sie zu den Gegebenheiten des neuen Kontexts und seinen politischen und religiösen Spezifika passten� Jedoch konnten hierfür logischerweise nur Grundmotive verwendet werden, die genuin mehrere Bedeutungen haben konnten� RIC II 153 und RPC III 35 sind leuchtende Beispiele für einen solchen Stempeltransfer� 30 Howgego, Geld, 33� 31 Schon alleine deshalb hatten Rückseitenmotive an unterschiedlichen Orten andersgeartete bzw� nuancierte Sinnspitzen� 32 Vgl� dazu Howgego, Geld 33; R� Wolters, Nummi Signati� Untersuchungen zu römischen Münzprägung und Geldwirtschaft, Vestigia 49, München 1999, hier 14-20. 33 Vgl. dazu Howgego, Geld, 33-34. „…-Geld alleine macht auch nicht glücklich“ 67 manenten und einer transzendenten Realität dargestellt werden sollten� 27 Wir glauben, dass Johannes diese Tradition auch in Offb 1,16 positiv aufgegriffen hat und damit seinen Menschensohnähnlichen charakterisierte� Jedenfalls erscheint es uns vor dem Hintergrund von RPC III 35 sehr zweifelhaft, Offb 1,16 als einen Affront gegen Domitian zu lesen� 3.2.1 Die Münzprägetechnik im römischen Reich-- ein Katalysator für Symboltransformationen Bevor wir RPC III 35 analysieren, möchten wir zunächst einige Überlegungen anstellen� Wenn man beginnt, numismatisch zu arbeiten, muss man sich zunächst vom Vorurteil lösen, dass Münzprägung in der alten Welt ein organisiertes und durchstrukturiertes Geschehen war� Mit den Arbeitsabläufen einer globalisierten, postindustriellen Fabrik mit konzentrierter Auftragssteuerung und einem gesicherten Kontrollmanagement sollte dieses Handwerk nicht verglichen werden, obgleich Münzen in der Antike eine weltweite Bedeutung hatten� Feste und standorttreue Prägeorte, die zentralisiert Münzen ausschütteten, gab es wohl nicht� Archäologische Relikte, die solche erahnen lassen, fehlen sowohl im Zentrum des Reiches als auch in seinen Provinzen nahezu vollständig� 28 Numismatiker wie Christopher Howgego kamen deshalb zur Überzeugung, Münzprägestätten seien bestenfalls nur „sporadisch“ ins Leben gerufen worden� Wenn ein wirtschaftlicher Bedarf bestand, dass neues Geld in Umlauf gebracht werden musste, sind wohl in Zusammenarbeit mit ansässigen metallverarbeitenden Handwerkern Werkstätten für eine gewisse Dauer eingerichtet worden� Größere dieser temporären Arbeitseinrichtungen konnten jedoch auch überregionale Aufträge annehmen� Sie produzierten wahrscheinlich nicht nur für die Stadt, in der sie ansässig waren, sondern auch für die anliegenden Gegenden� Weil gerade Expertise und Fachkräfte verfügbar waren, vertrauten verschiedene Provinzregionen einer temporären Werkstätte ihre Münzprägung an� Da zwischen Münzemissionen teils große zeitliche Abstände lagen, lösten sich Prägestätten wieder auf� 29 Wahrscheinlich wanderten Münzmeister, Stempelschneider und Prägehandwerker zwischen einzelnen Prägeorten hin und her� Sie brachten ihr Werkzeug, ihr handwerkliches Geschick und ihr fachliches Know How mit und arbeiteten dort, wo sie gebraucht wurden� 27 Wenn man etwas tiefer graben würde, könnte man erkennen, dass vor allem Berührungen mit Himmelskörpern, wobei das Firmament meist durch eine Anordnung von sieben (manchmal auch sechs) Sternen dargestellt worden ist, ein sehr weit verbreitetes Motiv auf Münzen ist, die nicht unbedingt politische Bedeutungen hatten� 28 Vgl� C� Howgego, Geld in der antiken Welt� Eine Einführung, Darmstadt 2011, 30� 29 Vgl� dazu Howgego, Geld, 31� 66 Michael Sommer und Brenda Willmann deuten� Die Münze ist Teil einer regressiven Propagandastrategie, nach der Domitia im Zentrum des Reiches als mächtige Persönlichkeit und zugleich als ideale Ehefrau und Mutter erstrahlen soll� Sie verlor nach der Verbannung Domitias im Jahre 83 n� Chr� und ihrer anschließenden Rückkehr ihre Bedeutung, weshalb vergleichbare Münzen nicht mehr ausgeschüttet wurden� Dass Domitian bereits zu Lebzeiten als Gott verehrt werden wollte, können wir in der Symbolik von RIC II 153 alleine nicht erkennen� (2) Der Prägezeitraum von RIC II 153 beschränkte sich auf die ersten Regierungsjahre des Imperators und endete wohl nach 82 n� Chr� Weitere Ausschüttungen erfolgten in den 15 Jahren seiner Herrschaftsperiode nicht mehr� Das Motiv wurde schlichtweg von unzähligen anderen Prägungen verdrängt� Bedenkt man nun Datierungsfragen zur Johannesoffenbarung, so entsteht eine gewisse Aporie� Selbst konservative Datierungsversuche verorten die Johannesoffenbarung in der Spätzeit Domitians� Jedenfalls besteht zwischen der Ausschüttung von RIC II 153 und Vorschlägen der Einleitungswissenschaft, wann denn die Offenbarung entstanden sei, eine zeitliche Lücke, in der Domitia-Diskurse wenig Relevanz besaßen� Angenommen die Datierungsversuche sind korrekt und Johannes hätte in der Spätzeit Domitians geschrieben, dann erscheint es wenig plausibel, dass er bewusst auf diesen zu seiner Zeit bereits unbedeutenden politischen Diskurs anspielte� (3) Domitia-Prägungen waren randständige Prägungen und Münzen mit der Apotheose ihres verstorbenen Sohnes machten nur einen geringen Bruchteil dieser ohnehin schon sehr seltenen Tradition aus� RIC II 153 kursierte mit ziemlich großer Sicherheit nur in einer sehr begrenzten Stückzahl� U� E� ist es äußerst unwahrscheinlich, dass sie in Kleinasien flächendeckend verbreitet und alltagsrelevant war� Dass Johannes diese seltene Münze sogar in Händen hielt und zur Vorlage für Offb 1,16 erkoren hat, halten wir für fragwürdig� 3.2 Motivparallelen zu RPC III 35 Das Motiv geriet während Domitian in Vergessenheit, trat aber bald nach seinem Tod wieder in Erscheinung� 30 Jahre nach der stadtrömischen Prägung (81-82 n. Chr.) von RIC II 153 schmückte es erneut die Rückseiten von Münzen, die allerdings diesmal nicht aus Rom, sondern aus den Provinzen des Ostens stammten� Zudem änderte sich seine politische und religiöse Sinnspitze� Die Münze RPC III 35 zeigt, dass das nackte Kind mit den sieben Sternen nicht ausschließlich ein Symbol der Propaganda Domitians gewesen ist� Das Bild gehörte anscheinend fest zum römisch-hellenistischen Kulturkreis und konnte in vielen Diskursen adaptiert werden, in welchen Verbindungslinien zwischen einer im- „…-Geld alleine macht auch nicht glücklich“ 65 brisant waren� Im Jahre 73 n� Chr� verstarb der Sohn von Domitian und Domitia und das Kaiserpaar konnte keine Nachkommen mehr zeugen� Die Legende des Reveres (DIVUS 22 CAESAR IMP(eratoris) DOMITIANI F(ilius)) verdeutlicht, dass der nackte Säugling auf der Weltkugel der verstorbene Sohn des Kaiserpaares ist, der nach seinem Tod in den Götterhimmel aufgenommen wird� Um dem öffentlichen Interesse an einem Kaisererben entgegenzukommen, wurde Domitia zu Beginn der Zeit auf stadtrömischen Münzen als besonders fruchtbar (meist ausgedrückt durch Abbildungen von Pietas, der Göttin der Fruchtbarkeit) dargestellt� 23 RIC II 153 sollte in diesem Zuge den Tod des Kindes erklären bzw� stilisieren� 24 Vor dem Hintergrund dieser kurzen Schlaglichter der Geschichte einer Münze kehren wir zurück zur Apokalypse� Denn schon jetzt können einige Anfragen an die Grundüberzeugungen der Forschungsgeschichte gestellt werden: (1) Laut Konrad Huber und Heinz Giesen sei die Münze Ausdruck des Herrschaftsanspruchs Domitians, der sich als gottgleicher Imperator propagieren wollte� 25 Giesen sieht in der Münze sogar bestätigt, dass sich Domitian als Gott verehren hat lassen und zieht Parallelen zwischen RIC II 153 und dem Dominus ac Deus -Titel des Imperators (Sueton, Kaiserviten 13�2)� 26 Betrachtet man den numismatischen Fund jedoch genauer, so erweisen sich diese Thesen zumindest teilweise als überspitzt� Denn strenggenommen ist RIC II 153 keine Domitian-Münze, sondern gilt seiner Frau, der ein teils eigenständiger Machtstatus zugesprochen wird� Ihre Büste trägt individuelle Charakterzüge und sie erhält einen Hoheitstitel� Zwar erscheint sie nicht komplett von Domitian unabhängig, jedoch als eine eigenständige Persönlichkeit� Von daher greift es zu kurz, Offb 1,16 vor dem Hintergrund von RIC II 153 als antidomitianisch lesen zu wollen� Zudem verfolgt die Münze nicht den vordergründigen Zweck, den göttlichen Selbstanspruch der Herrscherfamilie zu propagieren oder eine ausgeprägte Form des Herrscherkultes zu legitimeren� Stattdessen soll der Revers einen vermeintlichen Makel der Kaisergemahlin, ihre Unfruchtbarkeit, positiv 22 Zu den wichtigsten Legenden und ihren Abkürzungen vgl� U� Kampmann, Die Münzen der römischen Kaiserzeit, Regenstauf 2010, 33-34. 23 Imperiale Münzen belegen, wie der Tod des Sohnes von Domitian verarbeitet worden ist� Vor allem die Darstellung der Fruchtbarkeit von Domitia ist in diesem Kontext herauszustellen. Vgl. hierzu Sommer, Jesusgeschichte, 210-18. Sie erscheint zusammen mit einem Kind (wie beispielsweise auf RIC 214 oder RIC 240 und RIC 156) oder in der Verbindung mit der Göttin Pietas, die ein Kind bei sich hat� Bedeutend ist die Darstellung des vergöttlichten Jungen, der sich sowohl auf römischen, als auch Goldmünzen wiederfinden lässt, wie hier gezeigt auf RIC 153� 24 Vgl� Klauck, Archäologie, 209� 25 Vgl� dazu Huber, Menschensohn, 162; Giesen, Offenbarung, 26� 26 Vgl� dazu Giesen, Offenbarung 26� 64 Michael Sommer und Brenda Willmann Weltkugel thront� Seine beiden Arme sind mit angewinkelten Ellenbogen nach oben hin ausgestreckt und greifen nach sechs ( RIC II 155) bzw� sieben ( RIC II 152; 153) Sternen, die halbkreisförmig um den Globus angeordnet sind� 19 Das Kind betastet den Sternenbogen und es entsteht der Eindruck, dass es zwischen dem Firmament und der Welt steht� Geprägt wurden die Münzen ausnahmslos in einer sehr frühen Phase der Regierungszeit Domitians� Es handelte sich wohl um eine Sonderprägung mit einer geringen Auflage, die nur für einen speziellen Anlass angefertigt wurde� Kurze Zeit nach dem Amtsantritt Domitians hat er seine Gemahlin zur Augusta ernannt� Um die Würde dieses Titels gebührend zu ehren, wurden wohl ab dem Winter des Jahres 81 n� Chr� diese Münzen zeitweise ausgeschüttet� 20 Die Inscriptiones der Averse (DOMITIA AVGVSTA IMP DOMIT) sowie die feinen Konturen der Büste Domitias, die vom Usus, Kaisergemahlinnen den Gesichtszügen ihrer Männer anzupassen, abweicht, belegen dies mehr oder minder eindeutig� Numismatiker datieren den Prägezeitraum dieser Münzen zwischen die Jahre 81-82 n. Chr. Das spezifische Rückseitenmotiv von RIC II 153 erscheint weder auf späteren Domitia-Münzen noch auf anderen Emissionen, die während der Regierung Domitians hergestellt worden sind� Überblickt man die 15-jährige Herrschaftsperiode Domitians, so sind diese numismatischen Relikte allerhöchstens als Fußnoten des Finanzwesens zu bezeichnen� Sie hatten wegen ihrer geringen Auflage wahrscheinlich eine symbolische Bedeutung� Einen festen Platz in den komplexen Geldsystemen des Reiches und vor allem in den Wirtschaftskontexten der Provinzen, in denen monetäre Lokalprägungen als vorherrschendes Zahlungsmittel kursierten, hatten sie u� E� nicht� Dies deckt sich auch mit den archäologischen Hintergründen von RIC II 153 und ihren Derivaten, denn keine dieser Münzen wurde außerhalb Italiens gefunden� Ein Blick in den RPC (Roman Provincial Coinage) verrät zudem, dass sich die Reverse der provinzialen Domitia-Münzen gravierend von denen im Zentrum des Reiches unterschieden� 21 In den Provinzen des Ostens finden sich auf den Rückseiten von Domitia-Prägungen meist nur lokale Gottheiten� Außerhalb Italiens hatte das Motiv des Kleinkinds mit den sieben Sternen zur Zeit Domitians im Münzwesen wohl kaum Bedeutung� Die Bilderwelt von RIC II 153 sollte wohl ausschließlich eine Exklusivantwort auf Fragen geben, die in Rom eine größere Rolle spielten als im fernen Osten und wohl beim Regierungsantritt Domitians 19 Deshalb kann anhand dieser Funde geschlussfolgert werden, dass wohl mehrere Stempel im Umlauf gewesen sein mussten� 20 Zu den Datierungen vgl� die Angaben zu RIC II 153 in H� Mattingly / E� A� Syndenham (Hg�), Roman Imperial Coinage II: Vespasian to Hadrian, London 1926� 21 Die Quellensuche bezog sich auf M� Amandry / A� Burnett (Hg�), Roman Provincial Coinage III part 1: Nerva, Trajan and Hadrian (AD 96-138), London 2015 sowie auf die Online- Edition: http: / / rpc�ashmus�ox�ac�uk/ � „…-Geld alleine macht auch nicht glücklich“ 63 Konrad Huber geht sogar noch einen Schritt weiter� Er rechnet sowohl mit der Möglichkeit, dass Johannes die Münze gekannt hat (den Konjunktiv Beales schwächt er in dieser Hinsicht ab) und glaubt, dass der Seher damit einen Affront direkt gegen Domitian konstruierte� „Das Bildelement in Offb 1,16a kann von da aus vielleicht sogar als eine bewusste Anspielung auf derartige Münzmotive im Allgemeinen und jene Kaiser Domitians im Besonderen verstanden werden, und zwar im Sinne einer polemischen Auseinandersetzung mit den darin erhobenen Herrschaftsansprüchen, denen von Seiten des Verfassers der Johannesoffenbarung die göttliche Macht des Menschensohngleichen, der die sieben Sterne bereits definitiv in seiner Rechten hält gegenübergestellt wird�“ 16 Tiefergehender wurde das historische Setting von RIC II 153 bislang nicht analysiert� Keiner stellte sich die Frage, ob die stadtrömischen Münzen in den Diskursen Kleinasiens eine Rolle spielten� Ob das Reversmotiv ausschließlich einen Platz in der Propaganda Domitians hatte, stand ebenso wenig zur Debatte� Niemand hat bisher erwogen, ob die numismatischen Schlüsse überhaupt historisch plausibel sind oder ob die materielle Welt der Münze mit der Erzählwelt der Apokalypse überhaupt in Einklang steht� Passt das historische und bildliche Setting von RIC II 153 überhaupt zur Offenbarung? 3. Die Welt des Geldes-- ein Blick auf RIC II 153 und RPC III 35 3.1 Überlegungen zur Prägeauflage, zur Bedeutung und zum Einzugsgebiet von RIC II 153 Die Motivik von RIC II 153 kursierte auf insgesamt drei Münzprägungen ( RIC II 152; 153; 155), deren Averse nicht die Büste Domitians (81-96 n. Chr.) zierte, sondern eine Büste seiner Frau Domitia Longina mit individualisierten, femininen Gesichtszügen und einer kunstvollen Frisur� 17 Die Münzen kursierten als silberne Denare und als goldene Auren� 18 Alle drei numismatischen Funde weisen auf dem Revers (fast) die gleichen Motivwelten und Inscriptiones auf� Die Rückseiten zeigen jeweils ein kleines, wohlgenährtes, nacktes Kind, das auf einer filigran ausgearbeiteten und in verschiedene Meridiane eingeteilten genügend Indizien, die eine direkte Einflussnahme der Flavier in Bezug auf die Motive annehmen lassen�“ 16 K. Huber, Einer gleich einem Menschensohn. Die Christusvisionen in Offb 1,9-20 und Offb 14,14-20 und die Christologie der Johannesoffenbarung (NTA 51), Münster 2007, 162� 17 Klauck, Archäologie, 209 thematisierte auch die Veränderung der Frisuren und Gesichter, die ab Domitia ausgeschmückt und einer Veränderung unterzogen wurden� 18 Vgl� Klauck, Archäologie, 209� 62 Michael Sommer und Brenda Willmann seite sieben Sterne zu sehen sind, die von einem Kleinkind gehalten werden� Ausleger assoziierten dieses Bild mit dem „apokalyptischen“ Messias, der sieben Sterne auf seiner Rechten liegen hat: „In seiner Rechten hielt er sieben Sterne, und aus seinem Mund kam ein scharfes, zweischneidiges Schwert, und sein Gesicht leuchtete wie die machtvoll strahlende Sonne�“ RIC II 153 galt in der Forschung bislang als ein Aushängeschild der Propaganda Domitians, gegen welches Johannes polemisiere� Vorsichtigere Thesen wie die von Hans-Josef Klauck glauben, Johannes hätte sich in Offb 1,16 kritisch auf die Apotheose des verstorbenen Sohnes des Imperators bezogen, die auf RIC II 153 abgebildet ist� 12 In den Kommentaren spitzen sich Interpretationen dieser intermedialen Berührung jedoch radikal zu� Recht schnell deutete man das Bild auf RIC II 153 so, als wolle sich Domitian darauf selbst als Gott präsentieren� So glaubt Heinz Giesen, die Münze erzähle nicht nur von der postmortalen Vergöttlichung des Kindes, sondern zeige Domitian als Göttervater� In der Einleitung seines Kommentars schreibt er einige Zeilen darüber, dass der Seher vor allem gegen diesen Machtanspruch des Imperators vorgeht und deswegen das Münzmotiv karikiere� 13 Viele folgen ähnlichen Vorstellungen und glauben, Offb 1,16 sei eine Reaktion auf die Münzrückseite und das Politikum Domitians� Johannes wolle seinen Menschensohnähnlichen noch mächtiger zeichnen als die vergöttlichte Herrscherfamilie� So schreibt Gregory K� Beale: The picture could be a polemic against the imperial myth of an emperor’s son who dies and becomes a devine ruler over the stars of heaven, since the title ‚ruler of the kings of the earth‘�“ 14 Giesens und Beales numismatische Schlüsse differenzieren weder zwischen Innen- und Außenpolitik, noch setzen sie sich mit der Real- und Archäologiegeschichte dieser Münze adäquat auseinander� Für beide sind Münzen ausschließlich Propagandamedien, die die politische Großwetterlage im gesamten Reich signalisieren� 15 12 Vgl� dazu H�-J� Klauck, Die Johannesoffenbarung und die kleinasiatische Archäologie, in: M� Küchler / M� Schmidt / M� Karl (Hg�), Texte - Fakten - Artefakte� Beiträge zur Archäologie für die neutestamentliche Forschung, Fribourg 2006, 196-220, hier 208. 13 Vgl� dazu H� Giesen, Die Offenbarung des Johannes (RNT), Regensburg 1997, 26� 14 G� K� Beale, The Book of Revelation (NIGTC), Grand Rapids, Michigan 1999, 211� 15 In diesem Sinne schreibt Giesen, Offenbarung, 26: „Eine sorgfältige Auswertung der Quellen, zu denen auch Inschriften, Münzen und Prosographien gehören, vermag zu zeigen, dass Domitian wie Augustus den Staatskult zu erhalten und zu stützen sucht� Besonders deutlich geht das aus Münzen hervor, die zur Zeit Domitians geprägt werden; denn es gibt „…-Geld alleine macht auch nicht glücklich“ 61 2. Numismatische Quellen in der Auslegungsgeschichte der Offenbarung Einen Überblick über „apokalyptische“ Numismatikforschung zu schreiben, ist sicher nicht die leichteste Übung� Man muss schon ausgiebig im Dickicht der Veröffentlichungen suchen, um hier und da auf numismatische Lichtungen zu stoßen� Münzen spielten nämlich in der von der intertextuellen Einflussforschung geradezu dominierten Auslegungsgeschichte der Johannesoffenbarung nur eine äußerst marginale Rolle� Abgesehen von Annette Weissenrieders Artikel zur Ekphrasis der Offenbarung, der Dea-Roma-Münzen analysiert, lassen sich keine eigenständigen numismatischen Beiträge ausfindig machen� 10 Jedoch greifen zumindest einige Kommentare und christologische Untersuchungen gelegentlich auf Münzen zurück� Es bereitet jedoch weitaus größere Schwierigkeiten, die winzigen Spuren numismatischen Arbeitens zusammenzutragen, als ihre methodische und inhaltliche Ausrichtung zu systematisieren, denn eigentlich verfolgten alle Beiträge meist sehr ähnliche Ziele� Man wertete Rückseitenmotive von Münzen so, als ob sie einen für das gesamte Reich gültigen politischen Diskurs repräsentieren würden� Johannes hätte die auf den Münzen zu sehenden Motive aufgegriffen, daraus Gegenbilder gestaltet, um so den Herrschafts- und Machtanspruch des römischen Imperators narrativ zu brechen� 11 Keine der Veröffentlichungen differenziert numismatische Quellen kleinschrittiger nach geographischen, prägezeitlichen und lokalpolitischen Faktoren� Letztendlich setzen Ausleger damit die Grundregeln des archäologischen und numismatischen Arbeitens außer Kraft� Archäologische Daten (wie Fundorte und die Materialität der Münzen), ihre Überlieferungszustände und die Besonderheiten ihrer Emission fanden bei dieser Art der historischen Rekonstruktion genauso wenig Beachtung wie traditionsgeschichtliche Überlegungen zur Reversgenese und zur Motivverbreitung� In Münzen sah man bislang nur ein Zeugnis der römischen Propaganda, ohne danach zu fragen, welchen politischen Stellenwert die herangezogenen Münzen in der komplexen Welt des römischen Reiches und seinen Provinzen überhaupt gehabt haben� Ein leuchtendes Beispiel hierfür sind Aussagen über RIC II 153� Die wohl bekannteste Münze der Fachkultur wurde ausschließlich als ein Gegenbild zu Offb 1,16 verstanden, weil auf ihrer Rück- 10 A� Weissenrieder, Bilder zum Sehen - Bilder zum Hören? Über die Grenzen von visuellem Bild und Sprache als Ekphrasis in Apk 17, in: Alkier / Hieke / Nicklas, Poetik, 241-270. 11 Ausleger glaubten dies durch einen oft recht unreflektierten intermedialen Vergleich zwischen der Reversmotivik einer Münze und einem Bild der Apokalypse belegen zu können� Demnach hätte Johannes ein numismatisches Symbol in seine Erzählwelt übersetzt, entsprechend gespiegelt und gleichzeitig kritisch zu ihrer politischen Repräsentanzfunktion Stellung bezogen� Dass ein solches Vorgehen nicht nur wegen leichtfertig gezogener intermedialer Parallelen höchstproblematisch ist, liegt auf der Hand� 60 Michael Sommer und Brenda Willmann werden können� 6 In diesem Aufsatz möchten (und können) wir natürlich kein Pauschalurteil fällen, jedoch melden wir für eine „Quellengattung“ im Kleinen einen Revisionsbedarf an� Münzen, um die es im Folgenden speziell gehen wird, wurden von Auslegern ausschließlich dazu verwendet, um Bilder des Sehers zu politischen Kampfsymbolen zu stilisieren� 7 Numismatische Funde sind politisch funktionalisiert worden, wobei ein großer Teil des religionsgeschichtlichen Potentials dieser Quellen vollkommen ungenutzt geblieben ist� Löst man sich von den Zwängen, numismatische Artefakte ausschließlich als Repräsentanten eines politischen Diskurses zu betrachten, so können sie Erklärungshilfen für viele Bilder der Offenbarung bieten� 8 Für den vorliegenden Artikel haben wir uns zunächst folgende Ziele gesetzt: (1) Wir beleuchten die Geschichte der Münze RIC II 153 in der Apk-forschung� An ihr sieht man, wie fest eingefahrene Politikmodelle dazu führten, dass numismatische Funde oftmals ohne Sachverstand und Quellenkenntnis verzerrt interpretiert worden sind und dass bisherige Politikmodelle der Apk-Forschung dringend diskutiert werden müssen� (2) Eine traditionsgeschichtliche Analyse des Reversmotivs von RIC II 153 demonstriert, dass numismatische Quellen wertvolle Einblicke in sehr breite religionsgeschichtliche Diskursräume erlauben� Münzen verraten sehr viel über die religiös-mythologische Landschaft der alten Welt� Sie sind weit mehr als politische Hoheitssymbole� 9 RIC II 153 ermöglicht es, neue Facetten von Offb 1 zu erschließen, die bislang unentdeckt geblieben sind� (3) Numismatische Quellen bedürfen, gerade wenn man mit ihnen literarische Texte erschließen möchte, einer besonderen Methode des intermedialen Arbeitens� Dass hier ein Nachholbedarf an methodischer Reflexion besteht, möchten wir zumindest andeuten� 6 Vgl� dazu M� Sommer, Die Jesusgeschichte und die Identitätsgeschichte der Offenbarung, in: P. Dragutinović et. al. (Hg.), Christ of the Sacred Stories (WUNT II 453), Tübingen 2017, 201-222. 7 Vgl� dazu auch M� Sommer, Von Monstern und Männern� Eine Auseinandersetzung mit E� Reinmuths ‚Parodien der Macht‘, in: S� Alkier / C� Böttrich / M� Rydryck (Hg�), Neutestamentliche Wissenschaft in gesellschaftlicher Verantwortung� Studien im Anschluss an Eckart Reinmuth, Leipzig 2017, 344-368. 8 Vgl� dazu M� Sommer, Reading the Apocalypse of Peter politically: The political portrayal of Trajan and the vision of Christ, in: J� Snyder / K� Zamfir (Hg�), Reading the ‘Political’ in Jewish and Christian Texts, Biblical Tools and Studies, Leuven [in Vorbereitung für 2018]� 9 K� Christ, Antike Numismatik� Einführung und Bibliographie, Darmstadt 1991, 9 spricht sogar von einem „Denkmal mit Aussagen staatlicher, politischer, rechtlicher, religiöser, mythologischer, ästhetischer, paläographischer - überhaupt kultureller Art�“ Münzen zeigen nicht nur, wie politische Diskurse und religiös-mythologische Symbolik interagierten und sich durchdrungen haben� Vielmehr berichten sie davon, dass politische und religiöse Symbolik oftmals mehrere Bedeutungsebenen zur gleichen Zeit besessen haben� „…-Geld alleine macht auch nicht glücklich“ 59 hierarchisieren� Während man mit Hilfe von jüdischen Quellen positive Aussagen über die Theologie der Apokalypse getroffen hat oder den Seher und seinen Adressatenkreis profilierte, 4 dienten römisch-hellenistische Quellen vorwiegend nur dazu, dem Feindbild des Sehers ein Gesicht zu verleihen� 5 Nicht-jüdische Diskurse haftete in der Apokalypseforschung größtenteils ein negativer Beigeschmack an, denn durch sie kamen die Gegenspieler von Johannes zu Wort� Im Kontext der aktuellen Diskussion über apokalyptische Politikkritik sei die Frage erlaubt, ob sich die Forschung nicht selbst um eine große Chance beraubt hat� Schließlich war Johannes als kleinasiatischer Autor in einer römischen Provinz sozialisiert� Sein Vorstellungshorizont und seine religionsgeschichtlichen Hintergründe mussten schon deshalb komplexer gewesen sein, als dass sie nur vor dem Hintergrund der Schriften Israels verstanden und erklärt 4 Ein gutes Beispiel hierfür ist die breite Forschungstradition zu den alttestamentlichen Hintergründen der Apokalypse� Vgl� dazu die Forschungsüberblicke von T� Hieke, Die literarische und theologische Funktion des Alten Testaments in der Johannesoffenbarung, in: S� Alkier / T� Hieke / T� Nicklas in Zusammenarbeit mit M� Sommer (Hg�), Poetik und Intertextualität der Johannesoffenbarung (WUNT I 346), Tübingen 2015, 271-290 und von A� Yarbro Collins, Rewritten Prophets: The Use of older Scriptures in Revelation, in: Alkier / Hieke / Nicklas, Poetik, 291-299. 5 Vgl� dazu weiterführend Alkier, Differenzen, 247 ff� Michael Sommer, geb� 1984; 2004 Abitur; 2010 Diplom in Katholischer Theologie; 2013 Promotion im Fach Neues Testament; 2017 Positive Zwischenevaluation der Juniorprofessur� Brenda Willmann, geb� 1993; 2012 Abitur; Erstes Staatsexamen für Lehramt an Sekundarschulen für die Fächer Katholische Religionslehre und Geschichte� 58 Michael Sommer und Brenda Willmann der Eröffnungsvortrag des Wuppertaler Colloquiums 2017 ein ganzes Bollwerk an kritischen Anfragen dem Auditorium zur Diskussion vorlegte� Tobias Nicklas kritisierte in einer Thesenreihe fest eingefahrene Auslegungsmuster, nach denen die schillernden und voluminösen Bilder der Offenbarung vorschnell und allzu leichtfertig als Spiegel- oder gar als Gegenbilder der Realgeschichte allegorisch ausgelegt werden� 1 Wie politisch bzw� antiimperialistisch sei die Offenbarung überhaupt, hieß seine Leitfrage� Er hegte Zweifel daran, dass der apokalyptische Narrativ ausschließlich eine Karikatur der römischen „Kaiserpropaganda“ oder eine Verteidigungsstrategie gegen einen besonders aggressiven Kaiserkult sei� Dafür, so sprach Nicklas weiter, seien die Worte des Sehers zu vielschichtig und interpretationsoffen� Alleine die theologischen und spiritualitätsgeschichtlichen Kontroversen der Sendschreiben, fuhr er fort, seien zu komplex, als dass sie nur als Kontrastbilder zur politischen Propaganda Roms gelesen werden wollten� Nicklas reiht sich nahtlos ein in eine neue Welle der politischen Skepsis, die u� E� Stefan Alkier im deutschsprachigen Raum publik gemacht hat� Alkiers jüngere Publikationen machen sensibel für forschungsgeschichtliche Automatismen, nach denen gedankliche Parallelen zwischen apokalyptischen und römischhellenistischen Diskursen zu Divergenzen und Gegensätzen stilisiert wurden, nur um dem Seher Johannes ein „römisches“ Feindbild gegenüberzustellen� 2 An klug gewählten Beispielen zeigt Alkier, wie Kategorien und Überzeugungen des 19� Jh�s auch heute noch die Offenbarung nicht nur in einem antiimperialistischen, sondern in einem antikulturellen bzw� welt- und kulturflüchtigen Lichte erstrahlen lassen, was seiner Meinung zufolge dem Text nicht gerecht werde� Alkiers Position wird sicher nicht frei von Kritik bleiben, 3 doch ungeachtet dessen deutet er auf ein sehr großes Problem der Apokalypseforschung hin, dem wir mit diesem Aufsatz auf dem Grund gehen möchten� Das Verdikt, die Offenbarung sei zutiefst jüdisch und gleichzeitig gesellschaftsfeindlich und antiimperialistisch, verleitete Forscher oftmals dazu, Quellen problematisch zu 1 Vgl� dazu T� Nicklas, Die Johannesapokalypse und das römische Reich� Kritische Rückfragen zu einem Forschungsparadigma� Eröffnungsvortrag auf dem Colloquium Johanneum Wuppertal 2017 [Veröffentlichung in Vorbereitung]� Wir danken Tobias Nicklas dafür, dass er uns sein Manuskript zur Verfügung gestellt hat� 2 Vgl� dazu S� Alkier, Schwerwiegende Differenzen� Vernachlässigte Antagonismen in der Johannesapokalypse, in: S� Alkier / M� Schneider / C� Wiese (Hg�), Diversität - Differenz - Dialogizität. Religion in pluralen Kontexten, Berlin / Boston 2017, 247-289. 3 Sie rüttelte jedoch wach, Grundsatzfragen nach dem Wesen von antiker Politikkritik und politischer Literatur neu zu stellen� Doch auch die Diskussion nach dem Wuppertaler Hauptvortrag konnte nicht beantworten, ob ein postmodernes Politikverständnis, das durch die Geschichte der europäischen Demokratie genauso geprägt ist wie von medialromantisierten Ideen von Widerstand und Revolution, nicht in gewisser Weise betriebsblind gemacht hat für die politischen Diskursregeln der alten Welt� Zeitschrift für Neues Testament Heft 42 21. Jahrgang (2018) „…-Geld alleine macht auch nicht glücklich“ Ein Plädoyer für einen numismatischen Neuansatz in der Apokalypseforschung Michael Sommer und Brenda Willmann 1. Einleitung-- Die Apokalypseforschung im Umbruch und der Ruf nach neuen Politikmodellen Über den Status eines Begegnungsortes zwischen engagierten Nachwuchswissenschaftler / innen und etablierten Forschungspersönlichkeiten ist das Colloquium Iohanneum schon längst hinausgewachsen� Einmal pro Jahr versammelt sich das who is who der deutschsprachigen Exegese und signalisiert im intellektuellen Austausch mit jungen Neutestamentler / innen sowohl Richtungslinien als auch große Kontroversen und Umbrüche in der Johannesforschung� 2017 und 2018 widmeten sich gleich zwei dieser annual meetings überraschenderweise der Johannesoffenbarung und markierten einzig und allein durch die Themenwahl einen Trend der europäischen Forschung� Gerade in der jüngsten Zeit ist in vielen akademischen Epizentren Europas ein aufkommendes Interesse für apokalyptische Literatur mehr als deutlich sichtbar geworden� Mag man über die Gründe für diesen Aufwind spekulieren dürfen, so ist jedoch ein Aspekt sonnenklar: Das Forschungsfeld befindet sich im Moment wohl in einem der stärksten Veränderungs- und Neuorientierungsprozessen seit den 1970er Jahren� Fest eingefahrene Kategorien über Genregrenzen und -definitionen werden gegenwärtig so stark hinterfragt wie seit Langem nicht mehr; gleiches gilt natürlich auch für Modellvorstellungen über die kulturelle und soziale Rolle der apokalyptischen Literatur in der alten Welt bzw� über ihre Standorte innerhalb des frühen Christentums� Schon alleine deshalb ist es nicht wirklich überraschend gewesen, dass 56 Hanna Roose Die rhetorische Strategie in Offb 18 basiert auf einem Rollentausch zwischen den Gläubigen und denen, die mit Rom kooperieren� Während es vor dem Fall die Gläubigen sind, die den römischen Moralvorstellungen nicht entsprechen, wird diese Rolle des „Außenseiters“ nach dem Fall den Königen, Händlern und Schiffsbesitzern aufgezwungen� Es ist schwer zu sagen, wie viele der alttestamentlichen Anspielungen, die sich in Offb 18 finden, dem Leser tatsächlich ins Gedächtnis kamen� In jedem Fall waren Referenzen aus dem Alten Testament nicht die einzigen, vielleicht nicht einmal die überwiegenden, die die Reaktion seiner Leser auf den „Fall der großen Hure“ formten� Johannes muss sich dessen bewusst gewesen sein, dass das Bild der Prostituierten in der römischen Gesellschaft - und so bei vielen seiner Leser - eine wichtige Rolle bei der Wahrnehmung von Offb 18 gespielt hat� Ein ikonographischer Zugang zu Offb 18 kann uns wenigstens einen groben Eindruck von den visuellen Konzepten und den ihnen innewohnenden Werten geben, die den Seher in seiner Darstellung der „großen Hure“ geleitet haben� Der Fall der „Hure Babylon“ und das Schicksal der gealterten Prostituierten 55 sein Appell, „Geht hinaus aus ihr! “ (18,4; vgl� Offb 14,4)� Seine scharfe Kritik hat eine ironische Note: Während die Händler und Schiffsbesitzer mit Rom kooperieren, um ihre wirtschaftliche Situation zu verbessern, unterstellt das Bild der reichen Kurtisane, dass sie in Wirklichkeit ihr finanzielles - oder in diesem Fall eher: eschatologisches - Wohlergehen riskieren, indem sie die Huren bezahlen� Die rhetorische Strategie des Sehers ist in Offb 18 gekennzeichnet durch einen Rollentausch� Während die Händler vor dem Fall auf einer Linie mit den Werten der römischen Gesellschaft sind, während die Gläubigen es nicht sind, sind diese Rollen nach dem Fall umgekehrt verteilt� Jetzt sind es die gläubigen Anhänger Jesu, die den sozialen Erwartungen entsprechen, indem sie über das gerechte (! ) Schicksal der Hure jubeln (18,20)� Die Könige, Händler und Schiffsbesitzer machen sich auf der anderen Seite lächerlich, indem sie das Schicksal einer alten und heruntergekommenen Prostituierten beklagen� Sie zeigen ein Verhalten, das, selbst nach ihren eigenen Wertvorstellungen, nicht akzeptiert war� Beachtet man, was die römische Gesellschaft über alte Prostituierte dachte, muss die Rolle, die Johannes denen zuschreibt, die mit Rom kooperieren, als Zeichen bösartigen Spotts von Seiten des Sehers her interpretiert werden� Wie die Statue von der „trunkenen Alten“ ist auch die Klage der Händler und Schiffsbesitzer nicht darauf angelegt, Mitgefühl und Mitleid beim Leser oder Zuschauer auszulösen� Im Gegenteil: Johannes drückt denen, die mit Rom kooperieren, eine nach den Vorstellungen der römischen Gesellschaft völlig inakzeptable Rolle auf� Er präsentiert seine Gegner in einer Rolle, die sie beißendem Spott aussetzt� Johannes‘ rhetorische Strategie besteht nicht nur darin, zwei verschiedene Wertesysteme einander gegenüberzustellen, sondern auch darin, zu zeigen, dass seine Gegner sogar ihrem eigenen Wertesystem nicht entsprechen� 5. Schluss Auf den ersten Blick erscheint der Autor der Apokalypse als „Außenseiter“ in der römischen Gesellschaft� Er ist „aus ihr ausgezogen“ (vgl� 18,4) und fordert seine Adressatinnen und Adressaten auf, es ihm gleichzutun� Seine Opposition gegen Rom hat ihn nach Patmos gebracht (1,9), so dass er auch geographisch am Rand der römischen Gesellschaft verortet ist� Dennoch haben insbesondere sozialwissenschaftliche Studien überzeugend gezeigt, dass Johannes mit Aspekten der wirtschaftlichen Situation in Kleinasien wohlvertraut war� 53 Ebenso war er nicht völlig ahnungslos, was römische Gewohnheiten und Wertvorstellungen angeht� Seine Darstellung des Falls der „großen Hure“ zeichnet sich sowohl durch seine Abneigung gegen und seine Vertrautheit mit Rom aus� 53 Bauckham, Critique� 54 Hanna Roose mentiert, dass, von einem sozialwissenschaftlichen Standpunkt aus betrachtet, unter den ersten Adressaten der Offb Händler und Schiffsbesitzer waren, die sich als „gute Christen“ verstanden� 51 In Offb 18 konfrontiert Johannes diese Nachfolger Jesu mit einer unbequemen Alternative: entweder machen sie weiter wie bisher und finden sich irgendwann ihres Reichtums und ihrer Würde beraubt, oder sie wechseln die Seiten und hören auf, mit Rom Geschäfte zu machen� Der Fall der „großen Hure“ steht nicht für ein individuelles Schicksal, sondern stellt die Zerstörung der Weltordnung, die mit Rom verbunden ist, dar� Gott selbst bringt sein Gericht über diese Stadt� Deswegen jubeln die Gläubigen� Dennoch denke ich, dass die intendierte Reaktion der Leser oder „Zuschauer“ nicht auf die Reaktion der „Gläubigen“ in Offb 18 beschränkt werden darf� Wenn die hier vertretene These richtig ist, lag die Darstellung der heruntergekommenen „alten Prostituierten“ nahe und sollte Hohn und Spott auslösen - wie auch die Statue der „trunkenen Alten“ und die Krüge, die auf dieses Motiv anspielten, es taten� Dieses soziale Konstrukt bietet den Hintergrund für die Darstellung der Könige, Händler und Schiffsbesitzer� Vor dem Fall der Hure verfallen sie ihrem Charme und werden so zu Opfern ihrer Manipulation� Mächtige, wohlhabende Männer werden zu unwissenden, willigen Marionetten� Ich denke, es liegt eine ganze Menge Spott in der Beschreibung dieser Gruppen� Nach dem Fall der Hure setzt die Wehklage der Könige, Händler und Schiffsbesitzer sie noch größerem Spott aus, nicht zuletzt, weil ihr Verhalten mit römischen Sozialkonventionen bricht� Die Römer wandten sich nämlich von der gealterten Hure ab, sie beklagten ihr Schicksal nicht öffentlich� In der Apokalypse stellt Johannes zwei Wertesysteme einander gegenüber: Die Werte der römischen Gesellschaft und seine eigenen� Nach den Regeln der römischen Gesellschaft war der Kontakt mit jungen Prostituierten ein grundsätzlich akzeptiertes Verhalten, insbesondere dann, wenn diese Frauen ein gewisses Maß an Luxus bieten konnten� 52 Obwohl römische Schriftsteller wie Plautus oder Lucian sich über reiche Männer, die Geld für Hetären ausgaben, lustig machten, fand der Großteil der römischen Gesellschaft nichts Verwerfliches daran, wenn männliche Bürger die Dienste von Prostituierten in Anspruch nahmen� So zeigen die Könige, Händler und Schiffsbesitzer vor dem Fall der „großen Hure“ ein Verhalten, das grundsätzlich sozial akzeptiert war� Johannes vertritt selbstverständlich andere Werte: Für ihn sind sowohl der Kontakt mit Prostituierten als auch die Kooperation mit Rom unmoralisch� Daher 51 J� N� Kraybill, Imperial Cult and Commerce in John’s Apocalypse (JSNT�S 132), Sheffield 1996, 94-101. 52 Kirchhoff, Sünde, 66; vgl� 52� Der Fall der „Hure Babylon“ und das Schicksal der gealterten Prostituierten 53 der Hure mit dem göttlichen Gericht in Verbindung bringt� „Zahl ihr ihre Taten zweifach zurück“ (Offb 18,6), verlangt die himmlische Stimme, und fährt fort: „So wie sie sich selbst verherrlicht hat und sinnlich gelebt hat, in demselben Maße gib Qual und Trauer“ (7a)� Da die Hure einst sehr reich war, verdient sie es jetzt, sehr arm zu sein� Diese Sichtweise war den Adressaten des Autors vertraut� So kann Johannes, indem er die Konzepte von hohem Alter und Gericht verbindet, ein unterschwelliges Gefühl in der römischen Gesellschaft als Resonanzraum nutzen� Das Konzept des Gerichts erhält neue Implikationen, wenn es vor dem Hintergrund der Wahrnehmung hohen Alters interpretiert wird� Der Ausdruck „an einem Tag“ (18,8) oder „in einer Stunde“ (18,10�17a�19) betont traditionell das plötzliche Hereinbrechen des Falls (vgl� Jes 47,9)� In Verbindung mit dem Konzept vom hohen Alter jedoch wird das Urteil, d� h� die Bestrafung der Beschuldigten, als unvermeidliches Resultat eines langen Prozesses interpretiert� Mit anderen Worten: Wenn die Könige, die Händler und die Schiffsbesitzer die plötzliche Verödung von Babylon beklagen, erweisen sie sich als völlig ahnungslos gegenüber dem, was eigentlich jeder weiß� Reiche Kurtisanen altern und verlieren ihre Attraktivität ebenso wie ihren Wohlstand - das ist eine triviale Wahrheit� Das „Gerichtsverfahren“ bringt nur ans Licht, was - nach Johannes - dem Charakter der Hure immer inhärent gewesen ist: Ihre Hässlichkeit, ihre Machtlosigkeit und ihre Eitelkeit (vgl� Offb 18,7 f�)� Deswegen, so legt es der Autor nahe, war es dumm, überhaupt jemals ihrer Schönheit und ihrem Charme verfallen zu sein� Wenn wir die Szene, die in Offb 18 beschrieben wird, auf der Bühne inszenieren sollten, müssten wir uns die Hure so vorstellen, dass sie - wenn es um ihren Fall geht - plötzlich ihre Maske abnimmt und sich so von einer jungen und attraktiven in eine alte und abstoßende Prostituierte verwandelt� Verschiedene Gruppen betreten die Bühne und reagieren auf diese plötzliche Verwandlung� 49 Die Könige, Händler und Schiffsbesitzer beklagen ihren Fall: „Sie, die auf Rom fixiert waren, bleiben es auch in ihrem Untergang�“ 50 Die Gläubigen hingegen jubeln� Wie sollen die Leserinnen und Hörer auf diese Szene reagieren? An dieser Stelle nähern wir uns der Frage nach der rhetorischen Strategie, die der Seher in Offb 18 verwendet� Selbstverständlich will Johannes, dass seine Leser sich mit der Gruppe der Gläubigen identifizieren� Seine Forderung, ihren Verführungskräften zu widerstehen (18,4), ist an den Leser gerichtet� Für einige seiner Adressaten erforderte die Identifikation mit den Gläubigen als denjenigen, die sich nicht auf Rom „eingelassen“ haben, einen Seitenwechsel� Nelson Kraybill hat überzeugend argu- 49 Vgl. Wengst, Schreien, 170-174. 50 Wengst, Schreien, 174� 52 Hanna Roose magische Fähigkeiten zuspricht (Offb 18,23), mit denen sie die Völker des Imperiums täuscht, rekurriert er auf einen kollektiven paganen Topos zur reichen Hetäre� Der Ausdruck in Offb 18,23 spiegelt einiges von der Bitterkeit, die die wohlhabende Kurtisane in ihren „Opfern“ auslösen konnte� Der Rekurs auf den Topos der jungen und attraktiven, aber auch manipulativen Hetäre liegt in Offb 18 nahe� Aber ist es angemessen, hier das Konzept vom Schicksal der alternden Prostituierten einzubringen? Kann der Fall der „Hure Babylon“, der - wie der Text mehrfach betont - ganz plötzlich, „an einem Tag“ (18,8), „in einer Stunde“ (18,10� 17� 19) geschieht, durch den graduellen Prozess des Alterns sachgemäß interpretiert werden? Ich denke, ja� Meiner Ansicht nach hat das Bild vom Schicksal der alten Prostituierten die Beschreibung des Falls der Hure in Offb 18 beeinflusst� Tatsächlich stellt die Verbindung der Konzepte von Hure, Alter und göttlichem Gericht einen wichtigen Teil sder rhetorischen Strategie 47 in Offb 18 dar� Zwei Faktoren deuten in diese Richtung: (1�) Der scharfe Kontrast zwischen „damals“ und „heute“ 48 ist sowohl im Konzept des Schicksals der alternden Prostituierten als auch im Konzept des Gerichts prominent� Babylon, einst „die große“ (vgl� Dan 4,27), hat sich in einen Ort verwandelt, an dem Dämonen umherstreifen (Offb 18,2)� Vor ihrem Fall ist die Hure reich und mächtig� Sie sieht sich selbst als Königin, die auf einem Thron sitzt (18,7)� Nach ihrem Fall „ist all dieser Reichtum vergangen“ (18,17)� Sie leidet an Krankheit und Hunger (18,8)� Der Kontrast zwischen der Hure vor ihrem Fall und danach entspricht dem Kontrast zwischen der jungen und der alten Prostituierten, wie er in zeitgenössischen griechisch-römischen Komödien, Gebrauchsgegenständen und Kunstwerken dargestellt wird� (2�) Das Konzept des hohen Alters wird von Johannes reinterpretiert� In Offb 18 wird die „große Hure“ nicht buchstäblich als alt charakterisiert� Die radikale Wende ihres Schicksals ist nicht durch ihr Alter, sondern durch Gottes Gericht begründet� Ihr Fall, d� h� ihr Verlust von Schönheit, Wohlstand und Gesundheit, ist nicht das Ergebnis eines langen Prozesses, sondern geschieht „in einer Stunde“ (18,10� 17� 19)� Trotz dieser Unterschiede ist es wichtig zu sehen, dass die Vorstellung eines vernichtenden Gerichtsurteils in der römischen Gesellschaft dem Konzept des hohen Alters innewohnte , wenn es um Prostituierte ging� Hohes Alter wurde bei einer Prostituierten als eine Bestrafung gesehen; eine Bestrafung, die der Art, wie sie gelebt hatte, angemessen war� Nach der Meinung der römischen Gesellschaft verdienten Prostituierte ihr jämmerliches Schicksal im hohen Alter� Der Seher verstärkt diesen Aspekt, indem er den Fall 47 Vgl� D� A� deSilva, Seeing Things John’s Way� The Rhetoric of the Book of Revelation, Louisville 2009; M. Karrer, Johannesoffenbarung. Offb 1,1-5,14 (EKK XXIV / 1), Ostfildern / Göttingen 2017, 95-102. 48 Vgl. Müller, Offenbarung, 303-304. Der Fall der „Hure Babylon“ und das Schicksal der gealterten Prostituierten 51 markanten Unterschied zwischen den beiden Huren, die von Jesaja und Johannes dargestellt werden� Die Motive von Trunkenheit und Wein, das Bild von der Hure, die einen überlaufenden goldenen Becher hält - Elemente, die die Darstellung in Offb 17-18 (17,2.4.6; 18,3.6) ausmachen - gibt es im Bild der Hure in Jes 23 nicht� Diese Motive sind den Drohreden gegen Babylon ( Jer 25,15 ff�; 51,7) entlehnt, die die Stadt nicht als Hure darstellen� Es ist also Johannes, der, indem er diese verschiedenen Traditionen verbindet, das Bild von der betrunkenen Hure erschafft, die einen goldenen Becher hält und die Könige der Erde und alle Erdbewohner verführt und willig macht� Diese Verbindung von Hurerei und Trunkenheit rückt das alttestamentliche Bild der Hure in große Nähe zur generellen Wahrnehmung von reichen Huren in Johannes’ Zeit� Die (junge) Hure in Offb 18 ist unglaublich reich, sie verkehrt mit Königen und Händlern und nutzt „Zauberei“, um Männer unter ihre Kontrolle zu bekommen (V�23)� Dieses Bild ist zu großen Teilen dem fiktiven Bild der jungen, wohlhabenden und attraktiven Hetäre geschuldet (s� o�)� Die Attraktivität der Hure spiegelt in Offb 18 (ironisch) die hohe Attraktivität des Kaiserkults in der damaligen Zeit� Der Kult des Kaisers wurde mehrheitlich als Kult für das Allgemeinwohl angesehen� 43 Er hatte erhebliche wirtschaftliche Bedeutung, 44 u� a� die Prostitution profitierte von ihm im Rahmen von Festen zu Ehren des Kaisers� 45 Unter den Adressatinnen und Adressaten der Offb waren offenbar eine ganze Reihe von Leuten, die es als opportun und unproblematisch ansahen, mit dem Römischen Staat zu kooperieren bzw� - je nach Perspektive - zu kollaborieren� Ihnen ruft der Seher in 18,4 zu: „Geht hinaus aus ihr, mein Volk […]�“ 46 Indem er die attraktive Hure als Symbol für Rom wählt, zeigt Johannes ein kritisches Bewusstsein für die verführerischen (wirtschaftlichen) Aspekte des Kaiserkults� Durch seine Bilder entlarvt er diese Attraktivität als zeitlich begrenzten Schein� Indem er Rom als „Babylon“ bezeichnet, rekurriert er auf die kollektive jüdische Erinnerung an den Untergang Judas� Indem er der Hure net, in Offb 17-18 auf Prostitution, also bezahlten Sex, zu beziehen. 43 G� Biguzzi, Ephesus, its Artemision, its Temple to the Flavian Emperors, and Idolatry in Revelation, NTS 40 (1998), 276-290; 288; S. Witetschek, Ephesische Enthüllungen 1. Frühe Christen in einer antiken Großstadt� Zugleich ein Beitrag zur Frage nach den Kontexten der Johannesapokalypse (Biblical Tools and Studies 6), Leuven / Paris / Dudley 2008, 99-135 reiht den Kaiserkult in die „Wohltäterkulte“ ein. 44 K� Wengst spricht von „totaler Merkantilität“, „Wie lange noch? “ Schreien nach Gerechtigkeit - eine Deutung der Apokalypse des Johannes, Stuttgart 2010, 169� 45 P� Herz, Der Kaiserkult und die Wirtschaft� Ein gewinnbringendes Wechselspiel, in: M� Ebner / E� Esch-Wermeling (Hg�), Kaiserkult, Wirtschaft und specula� Zum politischen und gesellschaftlichen Umfeld der Offenbarung, NTOA 72, Göttingen 2011, 55-80; 74. 46 H�-J� Klauck, Das Sendschreiben nach Pergamon und der Kaiserkult in Kleinasien, Biblica 73 (1992), 153-182; 176-182. 50 Hanna Roose Liebhaber“ umklammert� 39 Die „trunkene Alte“ verbindet typische Elemente der alten Prostituierten und Erinnerungen an ihre Vergangenheit als reiche und mächtige junge Hetäre� So stellt die Statue das Schicksal der alternden Prostituierten dar: „Bei der Alten verweist das Schönheitsmotiv aber wie die Gewänder auf das ‚Einst‘ und enthüllt zugleich dramatisch die Wahrheit des ‚Jetzt‘�“ 40 Bei heutigen Betrachtern könnte die realistische Darstellung Mitgefühl und Mitleid mit der alten Prostituierten auslösen� Sie könnte als Sozialkritik, als Aufforderung zur Solidarität mit den Armen verstanden werden� Wir wissen jedoch, dass die meisten Betrachter zu Johannes’ Zeiten anders auf die Statue reagierten� Die vielen Varianten des Motivs der gealterten Prostituierten in der „Alltagskunst“, hauptsächlich in Gegenständen des täglichen Gebrauchs, zeigen deutlich, dass die „trunkene Alte“ als verabscheuungswürdige, lächerliche Figur betrachtet wurde� Wir wissen, dass sowohl der Seher Johannes als auch seine Adressatinnen und Adressaten in einer Gegend lebten, wo Skulpturen und Gegenstände des täglichen Gebrauchs um die Zeitenwende von diesem Motiv beeinflusst wurden� Die Wahrnehmung gealterter Prostituierter war von diesem Motiv tief geprägt� Meiner Ansicht nach verdankt sich auch die Darstellung der „Mutter der Huren“ (Offb 17,5) in Offb 18 in wesentlichen Zügen diesem Motiv� 4. Das Schicksal der alternden Prostituierten und Offb 18 Interpreten haben zu Recht darauf hingewiesen, dass das Bild von der Hure in Offb 18 die Boshaftigkeit zweier großer Städte der alttestamentlichen Prophetie verbindet. Babylon (vgl. Jer 50-51; Jes 13,1-14.23; 21,1-10; 47; Jer 25,12-38) und Tyrus (vgl. Ez 26-28; Jes 23). 41 Es ist jedoch interessant zu sehen, wie es Johannes gelingt, durch die Kombination traditioneller Elemente ein neues Ganzes zu erschaffen� Ein Konzept (unter mehreren), das seine Auswahl leitet, ist das Bild der reichen Hetäre in der griechisch-römischen Zeit� Von den beiden bösen Städten wird nur Tyrus von Jesaja als Hure dargestellt ( Jes 23,15-18). Das Handelsgewerbe in Tyrus wird mit Prostitution verglichen, weil die Stadt sich dadurch auszeichnet, dass sie sich mit anderen Völkern zusammentut, um mehr Profit zu machen� Das Bild der Hure hat also in traditionsgeschichtlicher Sicht einen ökonomischen Anstrich� Handelsbeziehungen werden durch Sex symbolisiert, der aus Geldgier erfolgt� 42 Es gibt jedoch einen 39 Keuls, Reign, 203� 40 Zanker, Alte, 42� 41 R� Bauckham, Economic Critique of Rome in Revelation, in: L� Alexander (Hg�), Images of Empire (JSOT�S 122), Sheffield 1991, 54� 42 Diese ökonomische Dimension spricht entscheidend dafür, die griechischen Wörter pornē und porneia , die grundsätzlich jegliche Art außerehelichen Geschlechtsverkehrs bezeich- Der Fall der „Hure Babylon“ und das Schicksal der gealterten Prostituierten 49 in ihrem Schoß hält� Überraschenderweise zeugt ihre Kleidung von Reichtum und Luxus� Die Frau trägt ein hochwertiges Kleid� Die hohe Qualität zeigt sich in den schweren und ornamentartigen Falten in ihrem Gewand� Die Hetäre trägt Schmuck: zwei Ringe an ihrer linken Hand� Ohrlöcher zeigen, dass sie ursprünglich auch Ohrringe trug� Mit diesen Eigenschaften spiegelt die Statue den Topos des unglaublichen Reichtums, den Hetären angeblich anhäuften� Paul Zanker hat überzeugend argumentiert, dass die Statue das Schicksal einer alten Hetäre präsentiert, die früher einmal reich war, jetzt aber alt und deshalb heruntergekommen ist� 34 Die alte Frau war - dieser These zufolge - einmal eine Prostituierte� Dennoch wird ihr Beruf nicht, wie in anderen Statuen, durch Nacktheit gezeigt� Es gibt subtilere Hinweise auf ihre Tätigkeit� Einerseits trägt sie ein Kopftuch, das typische Kleidungsstück der Prostituierten� 35 Andererseits liegt die rechte Schulter der Frau frei, ihre Kleidung ist verrutscht� Zanker interpretiert die Statue als eine Anspielung auf die Göttin Aphrodite� 36 Während die freie Schulter in Verbindung mit Aphrodite Liebe und sexuelle Attraktivität symbolisiert, verkörpert sie in Verbindung mit der alten Frau, die ein Kopftuch trägt, Prostitution� Die enge Verbindung zwischen Prostituierten und ihrer Göttin Aphrodite bezeugt Menander, wenn wir von Hetären hören, die beim Namen Aphrodites schwören� 37 Reichtum und sexuelle Attraktivität sind bei der Statue ein Nachhall vergangener Tage� Ihr gegenwärtiger Status ist von Verfall gekennzeichnet� Das verrutschende Kleid entblößt den knochigen Oberkörper der Frau: ihre Schlüsselbeine und einen Teil ihres Brustkorbs, wo einige Rippen hervorstehen� Was einmal sexuell attraktiv war, ist zu einem Zeichen für den Verfall der Frau geworden� Der Körper der Frau ist zu einem Skelett abgemagert� Der Körper zeigt Spuren hohen Alters� Das Gesicht der Frau ist faltig, ihr Mund offenbart fehlende Zähne� Ihr graues Haar ist unter einem Schal verborgen� Die übergroße Flasche bildet das Zentrum der Skulptur� Der Efeukranz spielt auf den Dionysoskult und das dionysische Symposium an� 38 Die unrealistische Größe der Flasche offenbart und verhöhnt die Alkoholsucht der Frau� Keuls vergleicht die Art, wie sie die Flasche hält, mit der Art, wie eine Frau ihren „letzten 34 Zanker, Alte� 35 Herter, Soziologie, 93� 36 Zanker, Alte, 41-42. 37 Menander, Komödien� Griechisch und Deutsch� 2 Bände� Herausgegeben, übersetzt und kommentiert von Peter Rau, Darmstadt 2013 (Bd� 1) und 2014 (Bd� 2), Das Schiedsgericht 199, [peric 479]� 38 Vgl. Zanker, Alte, 50-55. 48 Hanna Roose den Mund! Den nirgends gibt’s einen Meister, der in kosmetischem Trug Zähne in Reihen dir setzt“ (Gr� Anth� XI 374)� 28 Plautus beschreibt, indem er einen Topos aus der griechischen Komödie heranzieht, höhnisch, wie die Hetären versuchen, die Spuren ihres hohen Alters zu verdecken - natürlich vergeblich: „Wenn bei denen Schweiß und Salben sich vermischen, riechen sie ebenso, wie wenn ein Koch ein Saucen-Mischmasch angerührt� Wonach’s riecht, kann man nicht sagen, eins nur merkt man: es riecht schlecht�“ 29 (3�) Eine weitere Eigenschaft, die regelmäßig bei der Darstellung der alten Hetäre wiederkehrt, ist die Flasche, die ihre Abhängigkeit von Wein symbolisiert� Dieses Motiv ist besonders prominent bei Statuen von alten Prostituierten, die als Trinkgefäße dienten� Ein großer Terrakottakrug aus dem 1� Jh� n� Chr� (Neapel) 30 stellt eine Frau dar, die die typischen Zeichen hohen Alters trägt: ein fast zahnloser Mund, langes, ungekämmtes Haar, ein faltiges Gesicht� Die Frau hat nackte, hängende Brüste - was ihren ehemaligen Beruf als Prostituierte offenbart und sie als unwürdig und geil charakterisiert� Die alte Prostituierte sitzt auf einer Art Stuhl und hält einen Becher� Sie hat die Weinflasche neben ihre Füße gestellt und benutzt einen Becher zum Trinken� Die Geste ihrer rechten Hand zeigt, dass sie keift� Sie wird als eine lächerliche, verabscheuungswürdige Figur dargestellt� Der Krug zeichnet die typische alte Prostituierte, wie sie in vielen Komödien dargestellt wurde� Die Leute kauften Krüge wie diesen, um sich an ein Stück, das sie im Theater gesehen hatten, zu erinnern� Wann immer sie den Krug benutzten oder anschauten, wurden sie an die schöne Zeit erinnert, die sie dort verbracht hatten� Manche dieser Krüge wurden in Gräbern gefunden, wo sie auch als Andenken an den Theaterbesuch der verstorbenen Person dienten� 31 Im Blick auf Offb 18 ist eine Statue des hellenistischen Realismus besonders interessant, die in Alltagsgegenständen (Trinkgefäßen) vielfach kopiert wurde und in dieser Form im Kleinasien des ersten Jh�s n� Chr� - also im örtlichen und zeitlichen Kontext der Offb - durchaus verbreitet war� 32 Die Statue 33 zeigt eine alte Frau, die auf dem Boden hockt� Ihr Körper, insbesondere ihr Gesicht, ist gezeichnet von Alter, Hunger und Krankheit� Trotzdem erscheint sie glücklich, oder eher: beschwingt� Das rührt offensichtlich von ihrem exzessiven Weinkonsum her, symbolisiert durch die übergroße, efeubekränzte Flasche, die die Frau 28 Ebd� 29 Plautus, Komödien� 6 Bände� Lateinisch und deutsch, hrsg�, übers� u� komm� von Peter Rau, Band IV, Darmstadt 2007-2009, 153. [Plautus, The Merchant et al., translated by P� Nixon, LCL 163�3, London 1924, 315]� 30 Trinkgefäß, Nationalmuseum München; abgebildet bei Zanker, Alte, Fig� 39� 31 Vgl� Zanker, Alte, passim� 32 Vgl. N. Himmelmann, Realistic Art in Alexandria, London 1981; Zanker, Alte, 15-22. 33 Abgebildet in Roose, Fall, 242� Der Fall der „Hure Babylon“ und das Schicksal der gealterten Prostituierten 47 Tatsache, dass sie alt wurden�“ 22 In der Komödie „Die Samierin“ von Menander 23 beschreibt Demeas, dargestellt als anständiger, vom Guten bewegter Charakter, das übliche Schicksal einer Hetäre: „Nicht deinesgleichen, Chrysis, laufen andre zum Verdienst von nur zehn Drachmen zu Banketten hin und trinken puren Wein, bis sie daran sterben, oder sie darben, wenn sie das nicht prompt und schnell betreiben“ (392-396). Berücksichtigt man, dass der attische Staat keinerlei finanzielle Unterstützung für Frauen im hohen Alter bot, außer durch ihre männlichen Verwandten, 24 erhält diese Aussage eine realistische Note� Die Situation für römische Prostituierte blieb im Grunde dieselbe� Während die glücklicheren vielleicht ihren Lebensunterhalt als Bordellbetreiberinnen bestritten, 25 waren andere ohne jede Versorgung� 26 Die Haltung der griechisch-römischen Gesellschaft gegenüber dem sozialen Schicksal der gealterten Prostituierten wird in literarischem und ikonographischem Material bezeugt� Während das Bild der jungen Hetäre in der römischen Zeit idealisiert wurde, blieb das Bild der alten Prostituierten durchweg sehr negativ� Weit davon entfernt, Mitgefühl oder Sozialkritik zu äußern, benutzen Komödien und Statuen die alte Prostituierte als leichtes Ziel für Spott und Satire� Einige Züge tauchen in der Darstellung von alten Prostituierten häufig auf: Sie sind (1�) extrem hässlich� Falten, die in der klassischen Porträtierung griechischer Bürgerinnen nicht vorkommen, werden auf Masken und Statuen von Prostituierten stark überzeichnet� Griechische Epigramme machen sich ebenfalls lustig über diese Frauen mit faltigen Gesichtern, die ihre Schönheit verloren haben: „Lockend war einst ihre Haut, und schön wie der Frühling ihr Busen, hübsch ihre Knöchel, ihr Wuchs, hübsch auch ihr Auge und Haar� Anders nun schuf es so Zeit wie Alter und Schnee auf dem Haupte, von der früheren Pracht blieb nicht im Traum was zurück� Falsch ist das Haar auf dem Kopf, und ihr Antlitz ist derart verrunzelt, wie auch ein Affengesicht selbst nicht im Alter es ist“ (Gr� Anth� V 76)� 27 (2�) Fehlende Zähne kommen ebenfalls regelmäßig in der Darstellung hohen Alters vor und veranlassten zu gehässigen Bemerkungen� „Öffne nur niemals 22 Keuls, Reign, 200� 23 Menander, Komödien� Griechisch und Deutsch� 2 Bände� Herausgegeben, übersetzt und kommentiert von Peter Rau, Darmstadt 2013 (Bd� 1) und 2014 (Bd� 2), Band II, Die Samierin� 24 S� Pomeroy, Goddesses, Whores, Wives and Slaves: Women in Classical Antiquity, New York 1975, 91� 25 H� Herter, Die Soziologie der antiken Prostitution im Lichte des heidnischen und christlichen Schrifttums, JbAC 3, 1960, 70-111; 75. 26 Reinsberg, Ehe, 153� 27 Anthologia Graeca� Griechisch - Deutsch, hg� v� Hermann Beckby, 4 Bde�, München 1957-1958. 46 Hanna Roose der Macht über Männer� So führte das Alter in gewisser Hinsicht zu einer Umkehr der Machtverhältnisse� Die Gesellschaft hatte kein Mitgefühl für das düstere Schicksal der gealterten Prostituierten, sondern sah es als einen gerechten Ausgleich für ihren Lebensstil� Aus Verbitterung wurde bösartiger Spott� (2) So war, abgesehen vom finanziellen Wohlstand - oder dem Fehlen desselben - das Alter der zweite wesentliche Faktor, der das Bild von einer Prostituierten bestimmte� Alter ist ebenso eine biologische Tatsache wie ein soziales Konstrukt� In der griechisch-römischen Gesellschaft wurde es bei Männern und Frauen unterschiedlich wahrgenommen� 16 Das bezeugt exemplarisch ein Becher, der zwei Bilder einer mythologischen Szene zeigt: 17 Herakles und sein Bruder, Iphikles, nehmen Musikstunden bei ihrem Lehrer, Linus� Auf einer Seite des Bechers erhält Iphikles eine Lektion und beobachtet aufmerksam, wie sein Meister die Saiten zupft� Auf der Rückseite kommt Herakles, gefolgt von seiner Amme, dazu� Sowohl Linus, der Lehrer, als auch die Amme sind alt� Aber ihr Alter wird sehr unterschiedlich dargestellt: „Die Amme, die tiefe Falten hat, sogar auf ihrem rechten Arm, hat einen Ausdruck von demütiger Unterwürfigkeit auf ihrem Gesicht�“ 18 Sie geht gekrümmt, wobei ihr Gang ihre körperliche Schwäche verrät, trägt aber dennoch die Lyra für den jungen Herakles, ihren Herrn� Linus „hat“, im Gegensatz dazu, „immer noch eine Rolle in der Gesellschaft und eine Position der Autorität gegenüber seinem Schüler inne“ 19 � Ob der Maler sich dieses auffälligen Unterschiedes in der Darstellung hohen Alters bewusst war oder nicht, ist schwer zu sagen� In jedem Fall bildet der Becher ab, wie unterschiedlich hohes Alter bei Männern und Frauen wahrgenommen wurde� Die Wahrnehmung des Alters bei Frauen war nicht nur genderspezifisch geprägt, sondern variierte auch je nach ihrer sozialen Stellung� In der klassischen griechischen Kunst finden sich keine Spuren des Alters auf Bildern oder Statuen von Bürgerinnen� 20 Hohes Alter wird nur - wie wir schon gesehen haben - bei Ammen oder Prostituierten dargestellt� Ebenso erscheinen alte Frauen in griechisch-römischen Komödien nur in einer von zwei Rollen: als Amme oder als Prostituierte / Hetäre� 21 Während die typische Amme ein irgendwie lächerlicher oder unterwürfiger, aber grundsätzlich liebenswerter Charakter ist, wird die alte Prostituierte als verabscheuungswürdige Figur dargestellt� Keuls stellt lakonisch fest: „Was die Griechen den Prostituierten am meisten vorhielten, war die 16 Keuls, Reign, 200-201. 17 Abbildung in Keuls, Reign, 200-201. 18 Keuls, Reign, 201� 19 Keuls, Reign, 201� 20 P� Zanker, Die trunkene Alte� Das Lachen der Verhöhnten, Frankfurt / M� 1989, 42� 21 Zanker, Alte, 25� Der Fall der „Hure Babylon“ und das Schicksal der gealterten Prostituierten 45 ein wesentlicher Bestandteil� 10 Ein weiteres Motiv auf Vasen und Krügen, die ein Symposium darstellen, zeigt das Musizieren, häufig auf Flöten und Leiern� 11 Offb 18,22 will mit seiner Ermahnung, dass „der Klang von Harfenspielern und Musikern und Flötisten und Trompetern nie wieder in dir gehört wird“ möglicherweise auf dieses Motiv anspielen� Die einflussreiche Erzählung der reichen Kurtisane entstand im 5� Jh� v� Chr� und war noch im zweiten Jahrhundert n� Chr� populär� Dies belegen Lucian, Alciphron, Athenaios und Plutarch� 12 Die Hetäre stand im Ruf, einen Mann mit ihrer sexuellen Attraktivität finanziell ruinieren zu können� Obwohl dieser Topos sehr wahrscheinlich nie der realen sozialen Stellung der Hetäre entsprach, spielte er doch eine wichtige Rolle in der Wahrnehmung der kultivierten Prostituierten in der römischen Zeit� Ihr wurden mächtige Männer, sogar Könige, als Klienten nachgesagt, die es ihr ermöglichten, einen unglaublichen Reichtum anzusammeln� Die reichen Hetären wurden für ihre sexuelle Attraktivität, ihre Schönheit und ihren Charme bewundert und gleichzeitig für ihre (angebliche) finanzielle und emotionale Macht über Männer gefürchtet und verachtet� Prostituierten wurden magische Kräfte nachgesagt, mit denen sie ihre Klienten verführen konnten� Folglich war die männliche Reaktion gegenüber der Hetäre ambivalent: Auf der einen Seite bewunderten Männer ihre Schönheit, auf der anderen Seite hatten sie große Vorbehalte gegenüber diesen Frauen, die (angeblich) Macht über sie ausüben konnten� Römische Autoren wie Plautus 13 und Lucian 14 bauten auf diesen Topos, um über die (reichen) Männer zu spotten, die sich in den Händen der klugen Hetäre zu willenlosen Marionetten machen ließen� 15 Das Gefühl, in den manipulativen Händen einer Prostituierten „gefangen zu sein“, konnte leicht zur Verbitterung führen, und diese Verbitterung entlud sich besonders gegenüber der gealterten Prostituierten� Der Verlust der Schönheit und der sexuellen Attraktivität im Alter war gleichbedeutend mit dem Verlust 10 I� Peschel, Die Hetäre bei Symposion und Kosmos in der attisch-rotfigurigen Vasenmalerei des 6.-4. Jahrhunderts, Frankfurt / M. 1987. 11 C� Reinsberg, Ehe, Hetärentum und Knabenliebe im antiken Griechenland, München 1989, 91-96. 12 Vgl. zum Folgenden Reinsberg, Ehe, 153-162. 13 Plautus, Komödien� 6 Bände� Lateinisch und deutsch, hrsg�, übers� u� komm� von Peter Rau, Darmstadt 2007-2009. 14 Lucian, Dialogus of the Dead, et al�, transl� by M� D� Macleod (LCL 431�7), London 1961� Vgl� Lukian, Hetärengespräche und andere satirische Prosa, hg� v� Bernhard Kytzler, Hamburg / Berlin o. J., 27-29. 15 Vgl. R. Kirchhoff, Die Sünde gegen den eigenen Leib. Studien zu πορνή und πορνεία in 1Kor 6,12-20 und dem sozio-kulturellen Kontext der Adressaten, StUNT 18, Göttingen 1994, 66 Anm� 287� 44 Hanna Roose Um diese These zu entfalten, werde ich zunächst griechisch-römische Komödien, Epigramme, Objekte des täglichen Gebrauchs und eine künstlerische Statue betrachten, um mehr über die Wahrnehmung von Prostitution in verschiedenen Schichten der römischen Gesellschaft herauszufinden� Danach werde ich zeigen, wie das Wissen um diese Wahrnehmung unsere Interpretation von Offb 18 schärfen kann, besonders mit Blick auf die rhetorische Strategie des biblischen Erzählers� 3. Das Bild der Prostituierten in der griechisch-römischen Gesellschaft Das Bild der Prostituierten in der griechisch-römischen Gesellschaft ist von zwei wichtigen Faktoren abhängig: (1) dem Maß an Reichtum und (2) dem Alter� (1) Die „große Hure“ wird in Offb 18 als eine reiche Kurtisane dargestellt: Sie trägt violett und scharlachrot� Violett steht für „das dauerhafteste Statussymbol der antiken Welt�“ 6 Scharlachrot stellt ebenfalls ein pompöses Zeichen des Reichtums dar� 7 Ihre teure Kleidung und ihre Juwelen (Gold, Edelsteine und Perlen) zeigen den luxuriösen Lebensstil, den sie auf Kosten ihrer Liebhaber pflegt� Violett und scharlachrot stehen außerdem für Macht, da sie zudem die Farben der Kaiser waren� 8 Zu den Kunden der Hure zählen die „Könige der Erde“ (17,2.18; 18,9-10) - ein weiterer Beleg für ihren Reichtum und ihre Macht. Das heißt: Johannes zeichnet nicht das Bild einer gewöhnlichen Prostituierten, wie einige seiner ersten Leser sie vielleicht aus eigener Erfahrung kennen� Er scheint nicht an Prostitution als einem sozialen Phänomen interessiert zu sein� Seine Darstellung basiert eher auf einem idealisierten Stereotyp: Die „große Hure“ ist in wesentlichen Teilen dem Bild der reichen Hetäre der griechisch-römischen Zeit nachempfunden� Die griechische Hetäre ist eine Prostituierte, die an den griechischen „Symposien“ teilnimmt� Symposien waren Zusammenkünfte, bei denen es neben Essen und Trinken, Spielen und philosophischen Gesprächen auch zu öffentlichem Geschlechtsverkehr kam, und zwar mit Prostituierten, Konkubinen und anderen Männern, aber nicht mit Ehefrauen� 9 Bei einem griechischen Symposium , bei dem die Hetäre ihre Liebhaber unterhielt, war Wein (anders als Essen) 6 M� Reinhold, History of Purple as a Status Symbol in Antiquity, Brussels 1970, 71� 7 J. H. D’Arms, Commerce and Social Standing in Ancient Rome, Cambridge 1981, 97-120. 8 D� Pezzoli-Olgiati, Täuschung und Klarheit� Zur Wechselwirkung zwischen Vision und Geschichte in der Johannesoffenbarung (FRLANT 175), Göttingen 1997, 145� 9 E� C� Keuls, The Reign of the Phallus� Sexual Politics in Ancient Athens, New York 1970, 160� Der Fall der „Hure Babylon“ und das Schicksal der gealterten Prostituierten 43 konnte, müssen wir uns näher mit der Wahrnehmung von Prostitution und Prostituierten in der Zeit des Johannes beschäftigen� Bisher wurden die Interpretationen von Offb 18 von traditionskritischen, formkritischen und sozialwissenschaftlichen 4 Zugängen dominiert� Dieser Beitrag entscheidet sich für einen ikonografischen Zugang, der sich auf das Bild der Prostitution in den griechischrömischen Komödien und Künsten fokussiert� Ikonographie betrachtet Bilder als Konstrukte der Realität� 5 Nach diesem Zugang zeigen uns Bilder nicht wie Dinge waren, sondern wie sie in den Gedanken der Leute und bestimmten Gesellschaften konstruiert wurden� Folglich fragt diese Studie, wie Prostitution in Kleinasien in der Zeit von Johannes wahrgenommen wurde und ob diese Wahrnehmung neue Aspekte für die Interpretation von Offb 18 bietet� Eine sorgfältige Auswertung der Zeichnungen, Statuen und Texte, die das Thema Prostitution in der griechisch-römischen Gesellschaft behandeln, kann uns helfen zu verstehen, wie Johannes und seine Leser auf die Erzählung in Offb 18 reagiert haben könnten� Meine These lautet, dass das Bild des Falls der „großen Hure“ das fiktive, typisierte Bild des Schicksals einer einst vornehmen, dann aber gealterten griechischen oder römischen Prostituierten aufruft� Die Wirkung von Offb 18 beruht entscheidend auf einem bestimmten Stereotyp der gealterten Prostituierten� Sie hat - so das Stereotyp - ihre sexuelle Attraktivität verloren und ist daher nicht mehr „gefragt“� Griechisch-römische Statuen und Texte zeigen, dass die gealterte Prostituierte ein beliebtes Thema zur Zeit des Johannes war� Sie verraten viel über die Haltung der römischen Gesellschaft gegenüber alten Prostituierten� Der Seher reinterpretiert dieses Stereotyp, indem er es mit dem Konzept des Gerichts verknüpft� 4 Vgl� H� Lichtenberger, Rom, Luxus und die Johannesoffenbarung, in: W� Kraus (Hg�), Beiträge zur urchristlichen Theologiegeschichte (BZNW 163), Berlin 2009, 479-493. 5 A. Weissenrieder / F. Wendt, Introduction, in: dies./ P. v. Gmünden (Hg.), Picturing, 38-48. Hanna Roose, Studium der Ev� Theologie, Romanistik und Musik an der Universität und Musikhochschule des Saarlandes, 1997 Promotion an der Universität des Saarlandes (Neues Testament), 2002 Habilitation an der Universität Heidelberg (Neues Testament), von 1997-2000 Lehrkraft für besondere Aufgaben an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg, von 2000-2004 wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Koblenz-Landau, von 2004-2015 Professorin für Neues Testament und Religionspädagogik an der Universität Lüneburg, seit 2015 Professorin für Praktische Theologie / Religionspädagogik an der Universität Bochum� 42 Hanna Roose Fall Babylons voraus� Eine himmlische Stimme ermahnt das Volk Gottes, sich von Babylon vor ihrem Urteil zu trennen (18,4): „Geht hinaus aus ihr, mein Volk […]�“ Der bzw� die „betrachtende“ Leser / in ist anschließend mit einem „Selbstgespräch“ der Hure konfrontiert, die „in ihrem Herzen sagt: ‚Ich herrsche als Königin und bin keine Witwe, auf gar keinen Fall werde ich Trauer sehen�‘“ (18,7; vgl. Jes 47,7-8 LXX )� Aber die himmlische Stimme zeigt mit der Ankündigung „in einem Tag wird ihre Trauer kommen, Tod / Krankheit, 2 Trauer und Hunger, und sie wird vom Feuer verbrannt, denn mächtig ist Gott der Herr, der über sie urteilt“ (18,8, vgl� 17,16), dass sie Unrecht hat� 18,9-19 bezieht sich auf die Zeit nach ihrem Urteil. Drei verschiedene Gruppen - oder besser gesagt: Chöre 3 - betreten die Bühne und beklagen (in Klageliedern) den Fall der „großen Hure�“ Als erstes hören wir die Könige der Erde (9-10). Als zweites wird sie von den Händlern der Erde betrauert und beweint (11-17a). Die Schiffseigentümer und Matrosen bilden die dritte Gruppe (17b-19)� In V�20 informiert uns die himmlische Stimme über die Reaktion der Gläubigen: Sie werden über das Urteil jubeln, sobald es vollstreckt ist� Ein Engel gibt eine sehr anschauliche Beschreibung von den verheerenden Folgen des Urteils (21-23a): Die Stimmen der Sänger und Flötenspieler werden aufhören, und „kein Handwerker irgendeines Handwerks wird mehr in dir sein“ (22)� Die folgenden Verse (23b,24) erklären, warum Babylon dieses harsche Urteil verdient� In 19,1-6 erfahren wir, wie die frommen Menschen beim Fall der „großen Hure“ reagieren� 19,2 betont in diesem Zusammenhang, dass Babylons Urteil zu ihrem Verbrechen passt (vgl. bereits 18,2.5-7.20.23b-24). Aufgrund der großen Anteile an direkter Rede und aufgrund der vielen verschiedenen Gruppen, die ihre Gefühle äußern, erinnert Offb 18 an eine dramatische Szene, die auf einer Theaterbühne zur Aufführung kommt� Johannes bleibt jedoch „hinter der Bühne“, er betritt sie nicht selbst� Wir hören nicht die eigene Stimme des Sehers� Er macht sich weder das Trauern derjenigen, die mit Babylon kooperieren, noch den Jubel der Gläubigen explizit zu eigen� Wie genau ist hier der Ton? Verbittert? Befriedigt? Humorvoll? Spöttisch? An dieser Stelle kann uns - so die Hoffnung - die Ikonographie weiterhelfen� 2. Methode Wenn wir verstehen wollen, mit welchen Reaktionen Johannes bei seinen ersten Lesern und Hörerinnen im Zusammenhang mit dem Bild der Hure rechnen 2 Gemeint ist die Pest, vgl� 2,23; 6,8� H� Lichtenberger, Die Apokalypse (ThKNT 23), Stuttgart 2014, 235� 3 H� Jahnow, Das Hebräische Leichenlied im Rahmen der Völkerdichtung (BZAW 36), Gießen 1923, 219-220. Zeitschrift für Neues Testament Heft 42 21. Jahrgang (2018) Der Fall der „Hure Babylon“ und das Schicksal der gealterten Prostituierten 1 Ein ikonographischer Zugang zu Offenbarung 18 Hanna Roose 1. Einleitung Offenbarung 18 verwendet das Bild vom Fall der „großen Hure“, um die Zerstörung der Stadt Rom und den Zusammenbruch der mit ihr verbundenen Weltordnung darzustellen� Bereits in 14,8 findet sich eine Ankündigung des Falls von Babylon� Das Urteil über Babylon wird in 17,16 kurz erwähnt� Kapitel 18 zeigt ein vergrößertes Bild von den Ergebnissen dieses Urteils� Es vergleicht die „große Hure“ vor und nach ihrem Fall� Vor ihrem Fall ist sie eine reiche Kurtisane „gekleidet in violett und scharlachrot und vergoldet mit Gold, Edelsteinen und Perlen“ (17,4; vgl� 18,16)� Sie umgibt sich mit Königen und Händlern (17,2; 18,3) - eine Demonstration ihrer Macht� Nach ihrem Fall ist „all dieser Reichtum verwüstet worden“ (18,17)� Die „große Hure” leidet unter Krankheit, Gram und Hunger (18,8)� Johannes beschreibt nicht den eigentlichen Fall� Vielmehr ist er daran interessiert, wie verschiedene Gruppen von Menschen sich zu der „Hure Babylon“ vor und nach ihrem Fall verhalten (sollen)� Die ganze Passage erinnert an eine dramatische Szene in einem Theaterstück. In 18,1-3 sagt ein Engel den 1 Der Beitrag geht in wesentlichen Teilen zurück auf H� Roose, The Fall of the Great Harlot and the Fate of the Aging Prostitute� An Iconographic Approach to Revelation 18, in: A� Weissenrieder / F� Wendt / P� v� Gmünden, Picturing the New Testament, WUNT 2 / 193, Tübingen 2005, 228-252. Dort finden sich auch Abbildungen. 40 Thomas Paulsen supranaturalen Räumen konfrontiert werden� 54 Ein parodistisches Element außerhalb des intertextuellen Verhältnisses dürfte allerdings darin bestehen, dass, wie v� Möllendorff ausführt, Johannes gerade auf die absolute Wahrheit des von ihm Gesagten abhebt (Offb 22,6�8), während Lukian betont, dass sein folgender Bericht von vorne bis hinten erlogen ist (1�4)� Die drei hier präsentierten Beispiele können nicht mehr sein als repräsentative erste Schlaglichter aus einem riesigen Forschungsfeld, das bislang erst zu einem kleinen Teil erschlossen ist� Es steht zu erwarten, dass noch mehrere Generationen von Theologen und Philologen (am besten und effektivsten in gedeihlicher Zusammenarbeit) damit beschäftigt sein werden, die Geheimnisse der ungemein tiefgründigen Apokalypse des Johannes zu lüften� 54 v� Möllendorff, Apokalypsen, 188� Apollon, Babylon und die Insel der Seligen 39 (zwölf vs� sieben), doch spielt die Siebenzahl in der Apokalypse eine so dominante Rolle, dass Lukian auch auf diesem Wege eine Anspielung platziert haben könnte� - b) Die Tore bestehen zwar bei Johannes und Lukian aus verschiedenen Materialien, aber jeweils aus einem einzigen (Perle bzw� Zimtholz)� - c) Es gibt jeweils einen Fluss, der nicht gewöhnliches Wasser, sondern einen besonders kostbaren Inhalt führt (Wasser des Lebens bzw� Balsam)� - d) Es gibt nicht die herkömmlichen Lichtquellen, sondern ein besonderes Licht (Herrlichkeit Gottes bei Johannes, bei Lukian nicht genau definiert)� - e) Das Mauerwerk besteht aus Edelsteinen ( Jaspis bzw� Smaragd) - f) Die Stadt selbst besteht aus purem Gold� - g) Die Bäume des Lebens bzw� die Reben tragen zwölfmal im Jahr, einmal pro Monat, Früchte� Motiv g erscheint als absolut signifikant, da es inhaltlich ungewöhnlich ist und laut v� Möllendorff jenseits dieser beiden Stellen in der antiken Literatur nicht mehr vorkommt� 50 Motiv f ist nicht ganz so ungewöhnlich, besticht aber durch seine Identität an beiden Stellen� Die Motive b-e unterscheiden sich jeweils im Detail, bieten aber dasselbe Substrat� Motiv a ist weniger evident, aber zumindest im Bereich einer plausiblen Spekulation anzusiedeln� Die Plausibilität dieser Analyse wird dadurch unterstützt, dass Lukian, der aus Syrien stammte und sein Leben im östlichen Mittelmeerraum zwischen den Polen Griechenland und Ägypten verbrachte, mithin rein geographisch über die Möglichkeit verfügte, mit Texten wie der Apokalypse in Kontakt zu kommen, in zweien seiner Werke auf Christen zu sprechen kommt� 51 Darüber hinaus sind die Wahren Geschichten als Ganzes ein einziges großes intertextuelles Spiel mit einer Vielzahl von Referenztexten, welches mitzuspielen Lukian seine Leser im Prooemium (1�2) ausdrücklich einlädt, 52 so dass die Annahme eines produktionsorientierten intertextuellen Verhältnisses zur Johannesapokalypse zusätzliche Plausibilität gewinnt� Damit muss jedoch nicht, wie Beale annimmt, 53 auch wenn es sich um einen Text mit zahlreichen satirischen Elementen handelt, automatisch eine parodistische Absicht Lukians einhergehen, da die behandelte Textpassage keine entsprechenden Signale aufweist� Dass ein apokalyptischer Text generell einen passenden Referenzrahmen für die Wahren Geschichten bot, liegt daran, dass auch die Reisenden in diesem Roman beständig mit anderweltlichen und 50 v� Möllendorff, Suche, 321� 51 Alexander oder der Lügenprophet 25 und 38, hier mit positiver Konnotation, da die Christen von der negativ charakterisierten Titelfigur als Feinde betrachtet werden, und Über den Tod des Peregrinos 11-13, hier negativ als leichtgläubig konnotiert, da sie auf den offenkundigen Schwindler Peregrinos hereinfallen� Beide Passagen zeigen, dass in der Mitte des 2� Jh�s das Christentum in Kleinasien schon eine gewisse Verbreitung gefunden haben muss� - Vgl� v� Möllendorff, Suche, 318� 52 Vgl� v� Möllendorff, Apokalypsen, 184� 53 Beale, Revelation, 1117� 38 Thomas Paulsen αὕτη μὲν οὖν ἡ πόλις πᾶσα χρυσῆ, τὸ δὲ τεῖχος περίκειται σμαράγδινον· πύλαι δέ εἰσιν ἑπτά, πᾶσαι μονόξυλοι κινναμώμινοι. (…) περὶ δὲ τὴν πόλιν ῥεῖ ποταμὸς μύρου τοῦ καλλίστου (…). οὑ μὴν οὐδὲ νὺξ παρʼ αὐτοῖς γίνεται οὐδὲ ἡμέρα πάνυ λαμπρά· καθάπερ δὲ τὸ λυκαυγὲς ἤδη πρὸς ἕω (…) τοιοῦτο φῶς ἐπέχει τὴν γῆν. (…) αἱ μὲν γὰρ ἄμπελοι δωδεκάφοροί εἰσιν καὶ κατὰ μῆνα ἕκαστον καρποφοροῦσιν. „(11) Die Stadt ist ganz aus Gold, und die sie umgebende Mauer besteht aus Smaragden� Sieben Tore gibt es, die alle aus einem einzigen Stück Zimtholz verfertigt sind� (…) Rings um die Stadt fließt ein Strom aus schönstem Balsam (…)� (12) Auch wird es bei ihnen niemals Nacht und niemals ganz heller Tag, sondern ein Licht wie die Dämmerung am Morgen (…) scheint über das Land� (…) (13) Die Reben tragen zwölfmal Frucht, einmal in jedem Monat�“ 49 Die entsprechenden Passagen bei Johannes lauten (Offb 21,18-22,2): καὶ ἡ ἐνδώμησις τοῦ τείχους αὐτῆς ἴασπις καὶ ἡ πόλις χρυσίον καθαρὸν ὅμοιον ὑάλῳ καθαρῷ. (…) καὶ οἱ δώδεκα πυλῶνες δώδεκα μαργαρῖται, ἀνὰ εἷς ἕκαστος τῶν πυλώνων ἦν ἐξ ἑνὸς μαργαρίτου. (…) καὶ ἡ πόλις οὐ χρείαν ἔχει τοῦ ἡλίου οὐδὲ τῆς σελήνης, ἵνα φαίνωσιν αὐτῇ, ἡ γὰρ δόξα τοῦ Θεοῦ ἐφώτισεν αὐτήν (…). καὶ ἔδειξέν μοι ποταμὸν ὕδατος ζωῆς λαμπρὸν ὡς κρύσταλλον (…). (…) ἐνθεῦθεν καὶ ἐκεῖθεν ξύλον ζωῆς ποιοῦν καρποὺς δώδεκα κατὰ μῆνα ἕκαστον ἀποδιδοῦν τὸν καρπὸν αὐτοῦ (…). „(21,18) Und ihr Mauerwerk: Jaspis und die Stadt: reines Gold, gleich reinem Glas� (…) (21) Und die zwölf Tore zwölf Perlen, ein jedes einzelne der Tore war aus einer einzigen Perle� (…) (23) Und die Stadt hat nicht Bedarf an der Sonne und nicht am Mond, damit sie ihr scheinen, denn die Herrlichkeit Gottes hat sie erleuchtet (…)� (22,1) Und er (= der Engel) zeigte mir einen Fluss vom Wasser des Lebens glänzend wie Kristall (…)� (2) (…) von hier und von dort Holz des Lebens, tragend zwölf Früchte, in jedem Monat spendend seine Frucht (…)�“ Folgt man einem rezeptionsorientierten Ansatz, ist die Ähnlichkeit der beiden Texte, von denen der Lukian-Text nicht exakt datierbar, aber jedenfalls mehrere Jahrzehnte nach der Apokalypse entstanden ist, unmittelbar evident� Im Sinne einer produktionsorientierten Intertextualität ist nun zu fragen, ob Lukian sich nachweislich auf Johannes bezieht� Mit v� Möllendorff möchte ich diese Frage bejahen, in anderer Anordnung als er von den schwächeren Belegen zu den stärkeren voranschreitend: a) Die Zahl der Tore stimmt zwar nicht überein auf und übergehe weitere Beobachtungen v� Möllendorffs, die mir eher spekulativ erscheinen� 49 Die Übersetzung ist entnommen aus M� Baumbach, Lukian von Samosata� Wahre Geschichten� Aus dem Griechischen übersetzt und mit einem Nachwort versehen, Zürich o� J�, 46 f� Ich habe lediglich Baumbachs „Zimt“ durch „Zimtholz“ wiedergegeben, da sonst im Deutschen die Gefahr einer falschen Assoziation entsteht� Apollon, Babylon und die Insel der Seligen 37 Menschen gebaute Stadt immer noch riesig wäre� 45 Unter rezeptionsorientierten Gesichtspunkten leuchtet ein intertextueller Bezug unmittelbar ein, zumal wenn man noch hinzunimmt, dass beide Städte von einem Fluss durchströmt werden und Herodot über Babylon sagt, die Stadt sei geschmückt gewesen wie keine andere auf der Welt (1�178�2), ein produktionsorientierter Bezug ließe sich - aber das geht nicht über eine plausible Spekulation hinaus - eventuell darin sehen, dass die Seitenlänge von Johannes’ Neuem Jerusalem das Hundertfache von Herodots Babylon beträgt, womit der Unterschied zwischen Menschenmöglichem und Gottes Werk auf eindrucksvolle Weise zum Ausdruck gebracht wäre� 46 Angesichts der zentralen Bedeutung der Zahl 12 in der Apokalypse mag dieses Zusammentreffen allerdings auch zufällig sein� Sollte es beabsichtigt sein, so wäre die Intention des Apokalyptikers zu verstehen, wie Beale sie gedeutet hat: „If the similarity is intentional, then the purpose would be to contrast the true, everlasting city with the false, impermanent city of Babylon�“ 47 5. Das Neue Jerusalem und die Insel der Seligen In paganen griechischen Texten ist erstmals schon in Homers Odyssee (δ 561-569) von Gefilden der Seligen, dem Elysion, die Rede, auf welchen (sehr wenige) auserwählte Sterbliche nach dem Tod ein glückseliges Leben genießen dürfen� Zu den Elysischen Gefilden, die in diesem Text als Insel vorgestellt sind, gelangen in dem satirischen Roman Wahre Geschichten des Lukian (ca. 120-nach 180) der Ich-Erzähler und seine Gefährten nach einer langen abenteuerlichen Reise (2�5)� Auf dieser Insel gibt es eine Stadt, welche der Erzähler eingehend beschreibt (2.11-13). Hierbei lassen einige Details besonders aufmerken. 48 Bei Lukian heißt es: 45 Eine königliche Elle misst etwa 52 cm, die Mauer Babylons ist also nach Herodot etwa 104 m hoch, die des Neuen Jerusalem unter Annahme des gleichen Maßes „nur“ 75 m� 46 Vgl� Kraft, Offenbarung, 271� 47 Beale, Revelation 1075� Er verweist zusätzlich darauf, dass, wenn man sich das Neue Jerusalem in Pyramidenform (statt würfelförmig, wie es der Text nahelegt) vorstellt, hier ein Reflex auf den aus Gen 11,4 bekannten Turm von Babel vorliegen könnte: „The latter (= Babylon) tries to ascend to heaven by its own ungodly, human effort (…), while the other will be established because it descends from heaven, from God�“ 48 Die folgenden Ausführungen erheben keinen Anspruch auf Originalität, sondern rekurrieren im Wesentlichen auf die vorzüglichen Analysen von P� v� Möllendorff, Auf der Suche nach der verlogenen Wahrheit� Lukians Wahre Geschichten , Tübingen 2000, 318-321 und ders�, Christliche Apokalypsen und ihr mimetisches Potential in der paganen Bildungskultur� Ein Beitrag zu Lukians Wahren Geschichten, in: S� Alkier / R� B� Hays (Hg�), Die Bibel im Dialog der Schriften� Konzepte intertextueller Bibellektüre, Tübingen / Basel 2005, 179-194, v. a. 184 f. Ich greife dabei nur die mir evident erscheinenden Ergebnisse 36 Thomas Paulsen Bezüge zu Herodot aufweisen könnten, noch interessanter erscheint jedoch die Verfolgung einer anderen Spur: Es ist, soweit ich sehe, in der Forschung unstrittig, dass die Stadt Babylon, wie Johannes sie in all ihrer bösen Pracht entwirft, ein Gegenbild zum Neuen Jerusalem darstellt, der Stadt Gottes in ihrer himmlischen Herrlichkeit, die in Offb 21 nach Vollzug des Gerichts vom Himmel herabsteigt� Dieses Gegenbild weist nun aber, wie schon gesehen wurde, 42 Parallelen zu Herodots Schilderung der Anlage Babylons auf, welche die Frage aufwerfen, ob hier außer dem ohne Frage greifenden rezeptionsorientierten auch der produktionsorientierte intertextuelle Ansatz in Frage kommt� Johannes schildet die städtebauliche Anlage des Neuen Jerusalem so (Offb 21,16 f�): (16) καὶ ἡ πόλις τετράγωνος κεῖται καὶ τὸ μῆκος αὐτῆς ὅσον καὶ τὸ πλάτος. καὶ ἐμέτρησεν τὴν πόλιν τῷ καλάμῳ ἐπὶ σταδίων δώδεκα χιλιάδων, τὸ μῆκος καὶ τὸ πλάτος καὶ τὸ ὕψος αὐτῆς ἴσα ἐστίν. (17) καὶ ἐμέτρησεν τὸ τεῖχος αὐτῆς ἑκατὸν τεσσεράκοντα τεσσάρων πηχῶν (…). „Und die Stadt liegt viereckig da und ihre Länge <ist> wie auch die Breite� Und er (= der zuvor genannte Engel) maß die Stadt mit dem Rohr auf 12 000 Stadien; die Länge und die Breite und ihre Höhe sind gleich� Und er maß ihre Mauer auf 144 Ellen (…)�“ Bei Herodot heißt es dagegen von Babylon (1�178�2 f�): (2) κέεται ἐν πεδίῳ μεγάλῳ μέγαθος ἐοῦσα μέτωπον ἕκαστον εἴκοσι καὶ ἑκατὸν σταδίων ἐούσης τετραγώνου (…). (3) (…) τεῖχος πεντήκοντα μὲν πηχέων βασιληίων ἐὸν τὸ εὖρος, ὕψος δὲ διηκοσίων πήχεων. „(Die Stadt) liegt in einer großen Ebene, an Größe ist sie an jeder Stirnseite 120 Stadien lang, wobei sie viereckig ist (…)� (Es gibt) eine Mauer, die 50 königliche Ellen an Breite, an Höhe aber 200 Ellen misst�“ Die beiden Schilderungen sind analog angeordnet: Unter Verweis auf die quadratische Anlage 43 wird die Ausdehnung angegeben, die bei Herodot stark übertrieben ist, da wir damit auf einen Stadtumfang von knapp 90 km kommen - ca� 18 km ergibt der Befund der Ausgrabungen� 44 Das Neue Jerusalem übertrifft Herodots Babylon dann noch einmal um den Faktor 100� Vergleichsweise bescheiden nimmt sich dagegen die Mauer Jerusalems aus, die nur für eine von 42 S� v� a� H� Kraft, Die Offenbarung des Johannes, Tübingen 1974, 270 f� und Beale, Revelation, 1074 f� 43 Dies trifft auf Babylon allenfalls annäherungsweise zu; vgl� den Plan in: H� Cancik / H� Schneider (Hg�), Der Neue Pauly� Enzyklopädie der Antike, Bd� 2, Stuttgart 2003=Darmstadt 2016, s� v� Babylon, Sp� 385 f� 44 Auch dies ist ein für antike Verhältnisse gewaltiger Wert: Die um 270 angelegte, noch heute zu etwa zwei Dritteln erhaltene Aurelianische Stadtmauer Roms ist mit knapp 21 km nur unwesentlich länger� Apollon, Babylon und die Insel der Seligen 35 griechischen Autoren, so dass unter rezeptionsorientierten Gesichtspunkten die Frage naheliegend ist, ob das Publikum der Johannesapokalypse bei der Schilderung Babylons Herodots Darstellung als Referenztext aufrufen konnte� Hier fällt ein Detail ganz besonders ins Auge: In Offb 16,12 heißt es über den sechsten Schalenengel: καὶ ὁ ἕκτος ἐξέχεεν τὴν φιάλην αὐτοῦ ἐπὶ τὸν ποταμὸν τὸν μέγαν τὸν Εὐφράτην καὶ ἐξηράνθη τὸ ὕδωρ αὐτοῦ, ἵνα ἑτοιμασθῇ ἡ ὁδὸς τῶν βασιλέων τῶν ἀπὸ ἀνατολῆς ἡλίου. „Und der sechste goss aus seine Schale auf den Fluss, den großen, den Euphrat, und es trocknete sein Wasser aus, damit bereitet wird der Weg der Könige vom Aufgang der Sonne�“ Hierin spiegelt sich ein historisches Geschehen wieder, das Herodot im 1� Buch seines Geschichtswerkes (1�191) beschreibt: 40 Nachdem der persische Großkönig Kyros im Jahre 539 v� Chr� mit seiner Belagerung Babylons nicht vorangekommen sei, habe er erkannt, dass es zwei Schwachpunkte im Befestigungsring der Stadt gab, nämlich die beiden Stellen, an denen der Euphrat in die Stadt hinein- und wieder hinausströmte� Daraufhin habe er den Fluss durch einen Kanal in einen nahegelegenen See abgeleitet, so dass sein Bett im Bereich der Tore Babylons gangbar geworden sei� Die Babylonier hätten die List zu spät bemerkt und die Perser hätten so in die Stadt eindringen können� 41 An dieser Stelle dürfte deutlich werden, worin der Unterschied einer produktions- und rezeptionsorientierten intertextuellen Sichtweise besteht: Es ist nicht nachweisbar und auch nicht notwendig anzunehmen, dass Johannes gerade Herodots Schilderung von der Eroberung Babylons durch die Perser kannte, dass er sich aber mit dem auffälligen Detail, dass im Rahmen des apokalyptischen Geschehens ein so gewaltiger Strom wie der Euphrat ausgetrocknet wird, damit ein König aus dem Osten problemlos eindringen kann, auf das historische Geschehen der Einnahme Babylons bezieht, dürfte unzweifelhaft sein� Rezipienten, welche die Herodot- Schilderung kannten, konnten sich diese ohne Weiteres ins Gedächtnis rufen� Es bedürfte näherer Untersuchungen, inwieweit die Pracht und Größe Babylons, wie sie bei Johannes aufscheinen, über das Allgemeine hinausgehende antreten muss: das Ischtar-Tor im Pergamon-Museum in Berlin� 40 Vgl� Beale, Revelation, 827� 41 Herodot ordnet dieses Ereignis falsch zu: Während Kyros Babylon nach einer siegreichen Schlacht mehr oder weniger kampflos einnehmen kann, wendet sein Nachnachfolger Dareios im Jahre 522 v� Chr� die genannte List an, als er das abtrünnig gewordene Babylon belagert. Diese Belagerung schildert Herodot in 3.150-159. Für eine Auswertung der Passage unter rezeptionsorientiert-intertextuellen Gesichtspunkten ist dieser Irrtum allerdings irrelevant� 34 Thomas Paulsen Mittelmeerwelt beherrschte, also vielfach mit den Attributen Apollons, sei es in seiner ursprünglichen Funktion, sei es als Sonnengott, dargestellt wurde, ist gerade dieser Gott problemlos als Chiffre für eine weltbeherrschende, tyrannische Macht zu verstehen und kann darüber hinaus in demselben umfassenden Sinn wie die anderen Reiter für allgemeine abstrakte Phänomene stehen, somit als generelles Symbol für Tyrannenherrschaft gesehen werden� Da Orakel, Vogelschau und Vorzeichendeutung bestimmende Elemente im öffentlichen Leben Roms waren, kann dieser Aspekt des Gottes durchaus mit seinem Wesen als tyrannischer Repräsentant des römischen Riesenreiches vereinbart werden� Sein weißes Pferd kann in dieser Deutung als Anspielung auf die römischen Triumphwagen verstanden werden, die von weißen Pferden gezogen wurden� So wird er in doppelter Weise in der Johannesapokalypse instrumentalisiert, zum einen als „kriegerisch-mörderischer Hochgott Roms und der Griechen“, 38 zum anderen als nicht weniger mörderischer Engel des Abgrunds� 4. Babylon bei Herodot und in der Johannesapokalypse Babylon spielt eine große Rolle in der Apokalypse: Es ist als „die große Hure“ (Offb 17,1) eine Stadt, die Tyrannei, Verderbtheit und Luxus repräsentiert und deren Untergang in den Kapiteln 17 und 18 nach dem Ausgießen der siebten Zornesschale (16,17-21) breiter Raum im Rahmen des Vollzuges des Jüngsten Gerichts gewidmet ist� Zu der nach wie vor lebhaft geführten Diskussion, ob Babylon in erster Linie eine Chiffre für Rom sein soll oder in abstrakterem Sinne die Verkörperung einer Stadt des Bösen (oder beides) kann in diesem Rahmen kein Beitrag geleistet werden� Unbestreitbar ist, dass Johannes allein durch die Namenswahl einen Bezug zum historischen Babylon herstellt, das zum einen aufgrund der vor allem in Jeremia 50�51 widergespiegelten babylonischen Gefangenschaft von Teilen des Volkes Israel als Symbol einer tyrannischen Herrschaft bestens geeignet war, zum anderen aber auch durch seine legendäre Prachtentfaltung, als es unter der Herrschaft von Nebukadnezar II � (reg. 605-562 v. Chr.) eine der größten und reichsten Städte der Oikumene geworden war� Unsere wichtigste literarische Quelle für diese Prachtentfaltung stellt die Beschreibung dar, die Herodot (ca. 485-ca. 425 v. Chr.) im 1. Buch seines Geschichtswerkes bietet (1.178-200), in der zunächst die Anlage der Stadt geschildert wird (1.178-181), bevor der Autor auf Geschichte und Sitten der Babylonier eingeht� 39 Herodot war in der ganzen Antike einer der meistgelesenen Rekonstruktionszeichnung der Kolossalstatue� 38 Karrer, Motive 65� 39 Die wohl wichtigste nicht-literarische Quelle für die Pracht Babylons lässt sich glücklicherweise in Augenschein nehmen, ohne dass man die gefährliche Reise in den Irak Apollon, Babylon und die Insel der Seligen 33 der eine Idee von keinem geringeren als Martin Luther aufgreift, 32 trägt dieser Macht eher Rechnung, ohne dass sie der Plausibilität von Kerkeslagers Ausführungen Abbruch täte: Der erste Reiter könnte demnach ein Symbol für die Tyrannis sein, die sich als durch ihn personifiziertes Abstraktum nahtlos in die Reihe der anderen Reiter einfügen würde� Wie passt das mit Apollon zusammen? Im römischen Imperium spielte Apollon seit der besonderen Förderung seines Kultes durch Augustus (63 v.-14 n. Chr.) eine zentrale Rolle, sowohl in seiner traditionellen Funktion als auch in der bereits angesprochenen Identifikation mit dem Sonnengott, die seit dem Hellenismus gang und gäbe war� 33 Zwar ließ keiner der römischen Kaiser, die in der Zeit vor der Entstehung der Johannesapokalypse regierten, sich explizit als Apollo oder Sol verehren, 34 doch war die Darstellung der Principes mit Strahlenkranz, durch welchen eine Gleichsetzung mit dem Sonnengott insinuiert wurde, weit verbreitet� Es sei hier nur auf zwei besonders markante Beispiele verwiesen: 35 Auf einer um 30 v� Chr� entstandenen Karneol-Gemme ist Octavian, der spätere Augustus, auf einer steil emporsteigenden Quadriga mit Köcher, Bogen und einer Fackel dargestellt� 36 Hier sind mithin in besonders sinnfälliger Weise in der Gestalt des Princeps Attribute von Apollo und Sol vereinigt� Ihren monumentalsten Ausdruck fand die Vereinigung von Kaiser und Sonnengott jedoch in der etwa 35 m hohen Kolossalstatue, die Nero um 65 im Atrium seines gigantomanischen Palastes, der domus aurea , aufstellen ließ: Sie stellte den Sonnengott mit Neros Gesichtszügen dar� 37 Wenn der oberste Repräsentant des Imperiums, das die gesamte 32 Martin Luther in seiner Vorrede zur Offenbarung in seinem Neuen Testament von 1530: WA�DB 7,410� 33 Manifestestes Zeugnis für die besondere Rolle des Gottes ist der Apollo-Tempel, den Augustus auf dem Palatin direkt neben seinem Palast errichten ließ� Dieser trug auf seinem Giebel die Quadriga des Sonnengottes Sol (Properz, 2� 31� 11)� Zur Gleichsetzung Apollon und Helios s� ein Sibyllinisches Orakel zur römischen Säkularfeier, zitiert bei Zosimos, Historia Nea 2� 6� 16 bzw� zu derjenigen von Apollo und Sol s� Cicero, De natura deorum 2�68 und 3�51 sowie Varro, De lingua Latina 5�68� Eine Zusammenstellung der literarischen Belege für diese Synkrisis bietet A� S� Pease, M� Tulli Ciceronis de natura deorum libri III, Darmstadt 1968, 727� Vgl� hierzu auch M� Bergmann, Die Strahlen der Herrscher� Theomorphes Herrscherbild und politische Symbolik im Hellenismus und in der römischen Kaiserzeit, Mainz 1998, 123 f�, deren Monographie ich das Material für die folgenden Ausführungen verdanke� 34 Augustus soll immerhin, wenn man Sueton Glauben schenken darf ( Augustus 70�1), bei einem „Gastmahl der zwölf Götter“, bei dem die Anwesenden in der Tracht der Olympier getafelt haben sollen, die Rolle des Apollo gespielt haben� 35 Weiteres reiches Material bietet Bergmann, Strahlen der Herrscher, 99-242, insbesondere zu Nero (ebd. 133-230). 36 S� Bergmann, Strahlen der Herrscher, 104 mit Abb� Tafel 20�6� 37 Vgl� Sueton, Nero 31�1, der auch, in Einklang mit Plinius maior, Naturalis historia 34�45, die Höhenangabe bietet. S. hierzu wiederum Bergmann, Strahlen der Herrscher, 190-193 mit 32 Thomas Paulsen für den Dreh- und Angelpunkt seiner Ausführungen die Deutung des Bogens ist, den der erste Reiter trägt (6,2): καὶ εἶδον, καὶ ἰδοὺ ἵππος λευκός, καὶ ὁ καθήμενος ἐπʼ αὐτὸν ἔχων τόξον καὶ ἐδόθη αὐτῷ στέφανος καὶ ἐξῆλθεν νικῶν καὶ ἵνα νικήσῃ. „Und ich sah, und siehe: ein Pferd, ein weißes, und der auf ihm Sitzende haltend einen Bogen; und gegeben wurde ihm ein Kranz und er ging hinaus als Sieger und um zu siegen�“ Die bisher mehrfach vorgetragene Deutung des Bogens als Anspielung auf die im Osten drohenden mit Bogen bewaffneten Partherheere 30 vermag nicht zu überzeugen, da damit die symbolische Deutungsebene, die sonst bei den vier Reitern konsequent durchgehalten ist, durch einen konkret lebensweltlichen Bezug gestört würde und der Unterschied zwischen ersten und zweitem Reiter, der den Krieg symbolisiert, nicht mehr deutlich zu fassen wäre� Plausibel ist hingegen Kerkeslagers Deutung, hierin einen Bezug auf Apollon, dessen Waffe ja der Bogen ist, zu sehen� 31 Diese Interpretation fügt sich ausgezeichnet in die bisherigen Beobachtungen ein, da Apollon in derselben Weise wie in Offb 9,11, obwohl es sich bei ihm um eine widergöttliche Macht handelt, von Gott instrumentalisiert wird� Damit ergeben sich zwei Wege, den ersten Reiter zu deuten, die mir durchaus miteinander vereinbar erscheinen� Folgt man Kerkeslagers Interpretation weiter, so steht dieser Reiter für falsche Propheten, die Irrlehren verkünden� Dies passt ausgezeichnet zu einer der prominentesten Funktionen Apollons, welcher der griechische Orakelgott schlechthin ist - und darüber hinaus in Didyma, etwa 60 km südlich von Ephesos und bei gutem Wetter in Sichtweite der Insel Patmos, auf der Johannes zum Zeitpunkt der Abfassung der Apokalypse lebte, nächst Delphi und Delos seine prominenteste Orakelstätte hatte� Mithin war er den Adressaten des Sehers in seiner Funktion als Orakelgott unmittelbar präsent� Soweit ist diese Interpretation, die vom Bogen des ersten Reiters als zentralem Interpretationssignal ausgeht, vollkommen schlüssig, aber genügt sie, um ihn als Sieger zu charakterisieren, der über dieselbe katastrophale Macht verfügt wie Krieg, Hunger und Pest? Ein zweiter Interpretationsweg, 30 Z� B� W� Bousset, Die Offenbarung Johannis, Göttingen 6 1906, 266 und R� H� Charles, A Critical and Exegetical Commentary on the Revelation of St� John, 2 Bde�, Edinburgh 1920, I, 163� 31 Kerkeslager, Apollo, 118� In diesem Zusammenhang mag von Bedeutung sein, dass ihm in Offb 6,2 ein Kranz verliehen wird, während er den Bogen als traditionelles Attribut bereits hat� Karrer, Apoll, 238 f� (mit Abbildung) verweist zusätzlich darauf, dass Apollon in Kleinasien auf Münzen auch gelegentlich als Reiter dargestellt wird (was im griechischen Mutterland nicht üblich ist)� Apollon, Babylon und die Insel der Seligen 31 als unheilvoller Engel, der Leiden über die Menschen bringt� Vielleicht ist es nicht abwegig, wenn man sich Apollons erwähnte Funktion als Pestgott vor Augen führt, an den Engel zu denken, der im 2� Buch Samuel im Auftrag Gottes die Pest über das Volk Israel bringt (2 Sam 24,16) - mit dieser Assoziation hätten wir es mit einem Fall von generativer Intertextualität zu tun� Zusammenfassend lässt sich also konstatieren, dass Johannes auf verschiedenen Abstraktionsebenen Gottheiten der griechischen Mythologie in die Apokalypse integriert und sie dort gewissermaßen zu dienstbaren Geistern des einen Gottes macht, die in seinem Auftrag Unheil über die Menschen bringen� Oder um es mit den Worten von Martin Karrer zu sagen: „Den Göttern der Völker bleibt (…) der Abgrund� Sie sinken ab in den Raum des Todes, weil sie das Leben in der Welt zum Tod regieren� (…) All die Macht, die die Götter zu besitzen scheinen, trügt�“ 27 Damit ist das Geflecht intertextueller Dispositionen um Apollon herum aber noch nicht erschöpft, sondern kann noch um eine weitere Facette bereichert werden: Karrer erwägt in Anlehnung an Allen Kerkeslager, ob „der Apollonmythos (…) die berühmteste Visionenreihe der Offb, die der apokalyptischen Reiter (Offb 6,1-8) beeinflusst.“ 28 Während der zweite und dritte Reiter allgemein anerkannt als Personifikationen von Krieg und Hunger verstanden werden und die Mehrheitsmeinung im vierten Reiter eine Personifikation der Pest sieht, ist die Deutung des ersten Reiters seit Irenäus von Lyon höchst umstritten� 29 Die von Johannes durch wörtliche Übereinstimmungen in Offb 6,1-8 betonte Einheitlichkeit des Auftretens der vier Reiter lässt es als sicher erscheinen, dass auch der erste Reiter eine für die Menschen negative Wirkmacht haben muss� Ich folge hier weitgehend der ingeniösen Interpretation von Kerkeslager (a� a� O�), 27 Karrer, Motive 66 f� 28 Karrer, Motive, 65 und Kerkeslager, Apollo; vgl. auch Karrer, Apoll, 230-232, 236-240 und 242-248, der letztlich offen lässt, ob der erste Reiter mit Apollon zu identifizieren ist. 29 Es kann in diesem Rahmen nicht auf die unüberschaubare Literatur zu diesem Thema eingegangen werden� Gute Überblicke über die diskutierten Thesen, die den ersten Reiter betreffen, bieten Aune, Revelation, 393 f. und Beale, Revelation, 375-377. Während im 19� und 20� Jh� seine Deutung als Repräsentant einer negativen Macht überwog, mehren sich neuerdings wieder die Stimmen, die ihn positiv interpretieren; s� hierzu vor allem M� Bachmann, Wo bleibt das Positive? Zu Offb 6,1 f� und 17,5 in Rezeptionsgeschichte und Exegese, in: Labahn / Karrer, Johannesoffenbarung, 197-221, hier: 206-213 mit weiterer Literatur� Meines Erachtens ist die von Johannes gezielt auskomponierte Parallelstellung der vier Reiter nach wie vor ein unwiderlegbares Argument für eine negative Ausdeutung; mit den Worten von Traugott Holtz, Die Offenbarung des Johannes, hg� von K�-W� Niebuhr, Göttingen 2008, 64: „Daß die erste Vierergruppe [sc� die vier Reiter, TP] eng zusammengehört, ergibt sich aus der fundamentalen Gleichartigkeit des Geschauten (…)� Deshalb verbietet sich eine grundsätzliche Einzelstellung des ersten Reiters, trotz durchaus vorhandener Unterschiede zu den folgenden, durch die freilich er nur von den anderen abgehoben, nicht fundamental geschieden wird�“ 30 Thomas Paulsen (13� 1� 64) erscheint er auch wieder als Schutzgott gegen Heuschrecken, dem bei den kleinasiatischen Äoliern, die in der Gegend um Smyrna, einem der in den sieben Sendschreiben adressierten Orte, siedelten, sogar ein Monat, der Pornopion, 23 gewidmet ist, in welchem ein Opferfest zu seinen Ehren stattfand� Apollon als Herr der Heuschrecken, der auch in Kleinasien in dieser Funktion verehrt wurde und dessen Name sich nach verbreiteter Auffassung von ἀπόλλυμι oder ἀπολλύω ableiten ließ: die Kombination dieser beiden Aspekte macht es unter dem produktionsorientierten intertextuellen Ansatz sehr wahrscheinlich, dass die Rezipienten der Apokalypse bei Abaddon an Apollon denken sollten� Welche Schlussfolgerungen lassen sich nun aus dieser Beobachtung ziehen, da nicht anzunehmen ist, dass dieses intertextuelle Spiel Selbstzweck ist? Wie kommt Johannes dazu, die zwei so unvereinbar scheinenden Welten des jüdisch-christlichen Gottes mit seinem Sohn Christus und der Götter des griechischen Mythos miteinander in Beziehung zu setzen? Hier ist zunächst zu konstatieren, dass für die Menschen der ersten christlichen Jahrhunderte die Existenz des einen Gottes nicht so automatisch die Möglichkeit der Existenz anderer göttlicher Wesen ausschloss, wie wir das aus heutiger Perspektive für selbstverständlich halten mögen� So glaubten etwa Paulus und Augustin ganz unbefangen an die Realität der alten mythischen Götter, nur dass sie für sie selbstverständlich keine Götter, sondern böse Dämonen waren� 24 Natürlich konnten sie weder für Paulus noch für Augustin noch für Johannes richtige Götter sein - das schloss die Konzeption Gottes, wie sie normativ wirksam in den heiligen Schriften Israels dargestellt wird, aus� Als dienstbare Geister des einen Gottes konnten sie aber durchaus in Frage kommen, auch wenn sie eigentlich als widergöttliche Mächte anzusehen waren� Wen dabei befremden mag, dass etwa Apollon zu einem Engel mutiert, 25 mag sich nur die Tatsache vor Augen halten, dass wir möglicherweise nur deshalb das Weihnachtsfest am 25� Dezember feiern, weil dies der Feiertag des römischen Sonnengottes, des Sol invictus, war, mit dem Christus dank der typisch antiken Neigung zum religiösen Synkretismus vielfach identifiziert oder zumindest in Beziehung gesetzt wurde� 26 Vor diesem Hintergrund erscheint es nicht mehr als so verwunderlich, wenn Apollon als Abaddon in die Heerscharen der Engel integriert wird, freilich in der Nähe von Troja� 23 Bei πόρνοψ handelt es sich um eine dialektale Variante von πάρνοψ. 24 S� v� a� Röm 8,38 f�; 14; 1 Kor 8,4 ff�; Augustin, De civitate Dei 7�33, 9�1� 25 Vgl� Karrer, Motive, 64: „Mehr als ein katachthonischer Engel bleibt von Apoll nicht übrig“� 26 Die Pro- und Contra-Argumente werden diskutiert in S� E� Hijmans, Sol Invictus, the Winter Solstice, and the Origins of Christmas, in: Museion 47 (3), 2003, 377-398 und C� P� E� Nothaft, The Origins of the Christmas Date� Some Recent Trends in Historical Research, in: Church History 81, 2012, 903-911. Apollon, Babylon und die Insel der Seligen 29 Νικήτης ᾄδων τῶν ᾠδῶν ἐστιν Ἀπόλλων, / ἂν δʼ ἰατρεύῃ, τῶν θεραπευομένων. „Wenn Niketes singt, ist er der Apoll der Lieder: / Wenn er aber doktert, ist er der seiner Patienten�“ 16 Wenn der besagte Niketes also singt, wird er zum Vernichter der Lieder und als Arzt ist er eine ebensolche Katastrophe, da seine Behandlung zum Verderben seiner Patienten führt� Diese Belege lassen es also als grundsätzlich plausibel erscheinen, dass sowohl Johannes selbst mit der Nennung des Namens Apollyon die Assoziation mit Apollon hervorrufen wollte als auch seine Rezipienten den Bezug herstellen konnten� 17 Die Heranziehung eines Mediums aus der Bildenden Kunst unterstützt diesen Ansatz: Pausanias, der um die Mitte des 2� Jh�s n� Chr� eine Art Reiseführer verfasste, berichtet von einer besonderen Apollon-Statue, die man auf der Akropolis in Athen besichtigen konnte (1�24�8): 18 Τοῦ ναοῦ δέ ἐστι πέραν Ἀπόλλων χαλκοῦς καὶ τὸ ἄγαλμα λέγουσι Φειδίαν ποιῆσαι˙ Παρνόπιον δὲ καλοῦσιν, ὅτι σφίσι παρνόπων βλαπτόντων τὴν γῆν ἀποτρέπειν ὁ θεὸς εἶπεν ἐκ τῆς χώρας. Καὶ ὅτι μὲν ἀπέτρεπεν, ἴσασι, τρόπῳ δὲ οὐ λέγουσι ποίῳ. „Dem Tempel 19 gegenüber steht ein Apollon aus Bronze und die Statue soll Phidias gefertigt haben� Man nennt ihn den Parnopios, 20 da der Gott ihnen (= den Athenern) sagte, er werde ihnen die Heuschrecken, die ihrem Boden schadeten, aus dem Land vertreiben� Und dass er sie vertrieb, weiß man, auf welche Weise, sagt man aber nicht�“ Eine Kopie der Statue, auf die sich Pausanias bezieht, ist sogar möglicherweise in der Kasseler Antikensammlung in Schloss Wilhelmshöhe erhalten� Leider fehlt die Heuschrecke in Apollons Hand, doch gilt deren Ergänzung als plausibel� 21 Der Gott erscheint hier in einer Funktion, auf die erstmals bereits im 1� Gesang der Ilias angespielt wird (A 39), als Schutzgott gegen alles mögliche unangenehme Getier, in diesem Fall als Smintheus, als Vertilger der Feldmäuse� Und gerade in dieser Funktion wird er speziell im kleinasiatischen Raum, in dem Johannes‘ primäres Zielpublikum lebte und aus dem Apollon ursprünglich stammt, besonders verehrt. So nennt der Geograph Strabon (63 v.-23 n. Chr.) ein Heiligtum des Apollon Smintheus in Killa 22 (13�1�63 f�)� Im selben Kontext 16 Übersetzung von Schulte, Ammianos, 38� 17 Die Zurückhaltung, die ich mir in dieser Frage in Paulsen, Sprache und Stil, 9, Anm� 18 noch auferlegt habe, ist im Laufe der Beschäftigung mit der Thematik gewichen� 18 Vgl� Karrer, Apoll, 229 mit Abbildung sowie ders�, Motive, 63� 19 Gemeint ist der Parthenon� 20 Abgeleitet von πάρνοψ, einem Wort für Heuschrecke. 21 Nach mündlicher Auskunft des Klassischen Archäologen Axel Filges� 22 Dieser Ort erscheint schon in der Ilias (A 38) als eine der bevorzugten Kultstätten Apollons� Er ist nicht mehr genau zu lokalisieren, lag aber jedenfalls südlich des Ida-Gebirges 28 Thomas Paulsen Ἄπολλον, Ἄπολλον, / ἀγυιᾶτʼ, ἀπόλλων ἐμός˙ / ἀπώλεσας γὰρ οὐ μόλις τὸ δεύτερον. „Apollon, Apollon, / Schützer der Wege, mein Vernichter: / vernichtet nämlich hast du mich ganz und gar zum zweiten Mal�“ Die früheste bekannte Stelle, an der Apollon mit dem Sonnengott identifiziert wird, einem Fragment aus der nur fragmentarisch erhaltenen Tragödie Phaethon des Euripides (484-406), bietet einen noch markanteren Beleg: Klymene, die Mutter des bei seiner Fahrt mit dem Sonnenwagen tödlich verunglückten Phaethon, klagt dessen Vater Helios als Verantwortlichen für das Unglück an (Fragment 781,11-13): ὦ καλλιφεγγὲς Ἥλιʼ, ὥς μʼ ἀπώλεσας / καὶ τόνδʼ. Ἀπόλλων δʼ ἐν βροτοῖς ὀρθῶς καλῇ, / ὅστις τὰ σιγῶντʼ ὀνόματʼ οἶδε δαιμόνων. „O schön leuchtender Helios, wie hast du mich vernichtet / und ihn hier� Apollon / Vernichter aber wirst du unter Sterblichen mit Recht genannt, / wer immer die verborgenen Namen der Gottheiten kennt�“ Interessant ist hier vor allem, dass der Eigenname Apollon nicht als wirklicher Name des Gottes, der, wie im Mythos bis zu dieser Zeit üblich, Helios heißt, betrachtet wird, sondern als charakterisierendes Epitheton, in welchem sich seine zerstörerische Gewalt manifestiert� Dass solche Assoziationen verbreitet gewesen sein müssen, zeigt eine Stelle aus Platons (427-347) Dialog Kratylos , an der die Etymologie des Namens als Herleitung aus ἀπόλλυμι / ἀπολλύω nicht einmal explizit genannt wird, so dass Platon offenkundig davon ausging, dass seine Rezipienten die Anspielung verstanden (404d8-e2): Περὶ τὸν Ἀπόλλω (…) πολλοὶ πεφόβηνται περὶ τὸ ὄνομα τοῦ θεοῦ, ὥς τε δεινὸν μηνύοντος. „Was Apollon betrifft, (…) haben viele Angst mit Blick auf den Namen des Gottes, als zeige er etwas Furchtbares an�“ Auch zu Lebzeiten des Johannes, unabhängig davon, welchen chronologischen Ansatz man verfolgt, war die vermutete unheimliche Etymologie des Namens gegenwärtig� So lautet ein witziges Epigramm des Dichters Ammianos, 15 das mit der Funktion von Apollon als Gott der Dichter und Sänger und der Ableitung seines Namens von ἀπόλλυμι/ ἀπολλύω spielt: 15 Anthologia Graeca XI 188; vgl� A� Kerkeslager, Apollo, Greco-Roman Prophecy, and the Rider on the White Horse in Rev 6: 2, in: JBL 112, 1993, 116-121, hier: 119, Anm. 20. Üblicherweise wird Ammianos in die Zeit Hadrians datiert, mit überzeugenden Argumenten plädiert jedoch Hendrich Schulte in seiner kommentierten Edition (Die Epigramme des Ammianos, Trier 2004, 12) dafür, dass Ammianos ein Zeitgenosse Martials (ca. 40-104) war� Außer den schon genannten führt Schulte a� O� als weitere Belege für unsere Etymologie noch Cornutus 32 (Mitte 1� Jh�) und Macrobius, Saturnalien I 17�9 (frühes 5� Jh�) an� Apollon, Babylon und die Insel der Seligen 27 dargestellt etwa im Apollon von Belvedere, 12 trägt zu dieser Wirkung bei, die von den wohl bekanntesten Funktionen, die er ausübt, unterstützt wird� Man kennt ihn in erster Linie als Orakelgottheit sowie als Gott der Schönen Künste, der in dieser Funktion häufig als Anführer der Musen erscheint� Seit dem 3� Jh� v� Chr� tritt er zunehmend in Konkurrenz zum Sonnengott Helios; darüber hinaus ist er der ursprüngliche Gott der Heilkunst, dessen Funktionen dann zum Teil von seinem Sohn Asklepios übernommen werden� Apollon hat aber auch eine düstere Kehrseite: Er ist der Gott der Krankheiten, der die Menschen mit Seuchen heimsucht, und in dieser Funktion tritt er schon bei seinem ersten Erscheinen in der europäischen Literatur gleich zu Beginn der Ilias (A 43-53) auf, als er mit seinen Pfeilen die Pest in das Heerlager der Griechen vor Troja sendet� So ist es nicht verwunderlich, dass Wortspiele mit seinem, etymologisch bis heute nicht sicher geklärten, Namen und dem griechischen Verb für „vernichten“, nicht selten sind� Den ältesten Beleg bietet bereits Archilochos um die Mitte des 7� Jh�s v� Chr� in einer Anrufung an Apollon (Fragment 26�5 f� West): 13 ὦναξ Ἄπολλον, καὶ σὺ τοὺς μὲν αἰτίους / πήμαινε καί σφεας ὄλλυʼ, ὅσπερ ὀλλύεις. „Herr Apollon, füge auch du den Schuldigen / Leid zu und vernichte sie, der du ja vernichtest! “ Der Sprecher leitet hier (was sich in der deutschen Übersetzung nicht nachahmen lässt) den Namen Apollon von ὀλλύω, das wie das Kompositum ἀπολλύω „vernichten“ bedeutet, ab, um zum Ausdruck zu verbringen, dass Apollon ein geeigneter Gott zur Vernichtung der genannten Übeltäter ist, da er ja das Vernichten schon im Namen trägt� Dieselbe Namensherleitung findet sich bei Aischylos (525-456) in seiner 458 v. Chr. aufgeführten Tragödie Agamemnon , in welcher die Priesterin Kassandra Apollon als ihren Vernichter charakterisiert (V. 1080-1082): 14 12 Es handelt sich hier um eine der berühmtesten antiken Skulpturen� Das aus Bronze bestehende Original wird allgemein dem Bildhauer Leochares zugeschrieben und in die Zeit nach 350 v� Chr� datiert� Erhalten ist aber nur eine Marmorkopie, die Ende des 15� Jh�s in den Ruinen von Neros Villa in Antium gefunden wurde� Sie gehört heute zu den bekanntesten Ausstellungsstücken der Vatikanischen Museen� 13 Vgl� Karrer, Motive, 63, bei dem sich auch bereits die Verweise auf die folgenden Stellen finden� Die Stelle wird noch im 5� Jh� n� Chr� von Macrobius in seinen Saturnalien (1�17�9) im Rahmen seiner Behandlung möglicher Etymologien des Namens Apollon zitiert, kann also auch zur Zeit des Johannes als bekannt angenommen werden� 14 In ihrem Fall trifft das allerdings nur mittelbar zu: Zur Strafe dafür, dass Kassandra sich seinen erotischen Avancen widersetzte, verhängte Apollon über sie den Fluch, dass ihre Weissagungen zwar immer zutreffend seien, ihr aber niemals jemand Glauben schenken werde� So verhallen ihre Warnungen vor der Hinterlist der Griechen ungehört, deren Beachtung den Fall Trojas und damit ihr eigenes Unglück hätte verhindern können� - Auf diese Aischylos-Stelle verweisen auch die meisten Apokalypse-Kommentare zu 9,11� 26 Thomas Paulsen duktionsorientierter Intertextualität vorstellen, in dem ein späterer Autor auf Johannes Bezug nahm� 3. Apollon in der Johannesapokalypse 8 Nach der ausführlichen Schilderung des monströsen Heuschreckenheeres, das aus dem Brunnen des Abgrunds heraufsteigt (Offb 9,3), wird zum Schluss deren dämonischer Anführer präsentiert (9,11): ἔχουσιν ἐπʼ αὐτῶν βασιλέα τὸν ἄγγελον τῆς ἀβύσσου, ὄνομα αὐτῷ Ἑβραιστὶ Ἀβαδδὼν καὶ ἐν τῇ ᾿Ελληνικῇ ὄνομα ἔχει Ἀπολλύων. „Sie haben über sich als König den Engel des Abgrunds, sein Name auf Hebräisch Abaddon und in der griechischen Sprache hat er den Namen Apollyon (= Vernichter)�“ 9 Johannes legt also erkennbar großen Wert darauf, den Namen des unheimlichen Engels - des einzigen Engels neben Michael in 12,7, der in der Apokalypse namentlich genannt wird - mitzuteilen, und das gleich in zwei Sprachen� Die griechische Übersetzung des Namens informiert zunächst das Zielpublikum in Kleinasien - bei dem Johannes nicht mit Hebräisch-Kenntnissen rechnen konnte - darüber, dass die unheilvolle Wirkung des Königs der Heuschrecken bereits in seinem sprechenden Namen angelegt ist� Durch die auffallende Stellung als letztes Wort der Heuschreckenperikope, das zudem grammatisch unkorrekt im Nominativ statt im Akkusativ erscheint, wird der griechische Name Apollyon besonders betont� Es handelt sich hierbei um das substantivierte Partizip Präsens von ἀπολλύω, einer gängigen Nebenform von ἀπόλλυμι, dem üblichen Verb für „vernichten“� Die lautliche Ähnlichkeit zum Namen des Gottes Apollon fällt unmittelbar auf, 10 aber ist sie auch produktionsästhetisch intendiert oder zumindest rezeptionsästhetisch gefragt: Wie wahrscheinlich ist es, dass ein antiker Leser Apollon mit Apollyon assoziierte? Der Gott Apollon gehört in der Vielzahl von Funktionen, die er ausübt, zu den vielschichtigsten Gestalten des griechischen Mythos� 11 Die Assoziationen, die er heute weckt, dürften überwiegend positiv sein� Schon sein äußeres Erscheinungsbild als attraktiver Jüngling mit wallender Lockenpracht, idealtypisch 8 Die folgenden Ausführungen sind weitgehend deckungsgleich mit der Darstellung in Alkier / Paulsen, Der kommende Gott, 96-107 und 116-124. 9 Alle Übersetzungen aus der Apokalypse, mit denen wir uns gezielt um eine möglichst wörtliche Wiedergabe bemühen, stammen von S� Alkier und Th� Paulsen, diejenigen aus anderen griechischen Texten, sofern nicht anders vermerkt, von Th� Paulsen� 10 Das wird auch in den Kommentaren vermerkt, s� z� B� Aune, Revelation, 535 und Beale, Revelation, 503 f. Vgl. weiterhin Karrer, Apoll, 228-230 und ders., Motive, 63. 11 Zu seinen verschiedenen Funktionen vgl� W� Burkert, Griechische Religion der archaischen und klassischen Epoche, Stuttgart 2 2011, 223-230.397. Apollon, Babylon und die Insel der Seligen 25 auch unabhängig von intertextuellen Dispositionen danach, welche Sinneffekte sich jenseits produktions- oder rezeptionsorientierter Intertextualität und ihrer analytischen und rekonstruktiven Arbeitsweise begründen lassen, indem zwei oder mehrere Texte und Textwelten experimentell assoziativ zusammengestellt werden� 7 Drei einfache Beispiele sollen diese drei Formen von Intertextualität, zwischen denen die Grenzen freilich nicht immer eindeutig bestimmt werden können, verdeutlichen: Wenn im 8� Buch von Vergils Aeneis der vom Schmiedegott Vulcan für Aeneas verfertigte Schild eingehend beschrieben wird, so steht hier evident die Ekphrasis des Schildes, den Vulcans griechisches Pendant Hephaistos im 18� Gesang von Homers Ilias schmiedet, dem römischen Autor vor Augen� Es handelt sich also um einen Fall produktionsorientierter Intertextualität� Als rezeptionsorientiert ist hingegen das Verhältnis zwischen zwei ähnlichen Episoden in Apuleius‘ Roman Metamorphosen und dem Cinderella- Märchen anzusehen, wo im einen Fall die Königstochter Psyche von der Göttin Venus, im anderen Fall Cinderella von ihrer bösartigen Stiefmutter gezwungen wird, ein ungeordnetes Sammelsurium verschiedenster Körner auszulesen, und dabei unverhoffte tierische Unterstützung erhält� Ein Fall von generativer Intertextualität liegt dagegen vor, wenn ich bei der Lektüre von Heinrich Manns Roman Professor Unrat , dessen Titelfigur einen Großteil seiner Freizeit der Untersuchung von Partikeln in den homerischen Epen widmet, an den englischen Gelehrten John Dewar Denniston denke, der als Ergebnis mehr als dreißigjähriger Forschung eine Monographie The Greek Particles verfasste� Während die generative Intertextualität ihrem Wesen nach im Rahmen eines Aufsatzes nur schwer zu erfassen ist und daher hier nicht näher in den Blick genommen werden soll, will ich im Folgenden zunächst an je einem Beispiel produktions- und rezeptionsorientierte Intertextualität im Verhältnis der Apokalypse zu älteren Texten vorführen und abschließend einen Fall von pro- 7 Vgl� hierzu S� D� Moore, The Bible in Theory, Atlanta 2010� Prof. Dr. Thomas Paulsen, Jahrgang 1959, studierte Klassische Philologie (Griechisch und Latein) in Konstanz und wurde 1992 in Bochum promoviert� Seit 1993 war er dortselbst bis zu seiner Habilitation 1998 als Hochschulassistent tätig� Von 1999 bis 2004 lehrte er als Hochschuldozent in Bochum, seit 2005 ist er Ordinarius für Klassische Philologie mit Schwerpunkt Gräzistik an der Goethe-Universität Frankfurt� Aktuelle Forschungsschwerpunkte sind die Johannesapokalypse, der antike Roman und die attische Tragödie� 24 Thomas Paulsen handelt, der sowohl selbst die griechische Sprache virtuos zu handhaben verstand 3 als auch über eine umfassende Kenntnis griechischer Literatur verfügte� Diese These soll im Folgenden anhand von zwei unterschiedlich gearteten Beispielen demonstriert werden, an welche ein dritter Sonderfall angeschlossen werden soll, bei dem die Apokalypse einen paganen griechischen Autor inspiriert haben könnte� Bevor in diese Diskussion eingestiegen werden kann, ist es jedoch methodisch erforderlich, das Intertextualitätskonzept, von dem ich im Folgenden ausgehe, kurz vorzustellen� 4 2. Das verwendete Intertextualitätskonzept Ausgehend von der Theorie von Susanne Holthuis 5 lassen sich Intertextualitätsphänomene in drei Bereiche unterteilen: Produktionsorientierte Intertextualität fragt nach referentiellen Text-Text-Beziehungen, die von philologisch nachweisbaren ‚intertextuellen Dispositionen‘ 6 wie Zitaten und Anspielungen geprägt sind� Hierfür dürfen nur Texte herangezogen werden, die dem Verfasser des zu untersuchenden Textes nachweislich bekannt waren oder mit hoher Wahrscheinlichkeit bekannt gewesen sein konnten� Rezeptionsorientierte Intertextualität untersucht hingegen Text-Text-Beziehungen, die von konkreten Leserinnen und Lesern tatsächlich hergestellt wurden oder von hypothetischen Rezipienten hätten hergestellt werden können� Generative Intertextualität schließlich fragt G� K� Beale, The Book of Revelation, Grand Rapids 1999, passim einschlägig für dieses Thema� 3 Auf der Grundlage dieser Erkenntnis ist auch davon auszugehen, dass die singulär große Zahl von Verstößen gegen die Regeln griechischer Grammatik, die sich Johannes erlaubt, nicht auf mangelnden sprachlichen Fähigkeiten, sondern einem bewussten Gestaltungswillen beruht; vgl� hierzu besonders: T� Holtz, Sprache als Metapher� Erwägungen zur Sprache der Johannesapokalypse, in: F� W� Horn / M� Wolter (Hg�), Studien zur Johannesoffenbarung und ihrer Auslegung� (FS O. Böcher), Neukirchen-Vluyn 2005, 10-19; L. F. Moţ, Morphological and Syntactical Irregularities in the Book of Revelation, Leiden / Boston 2015; Th� Paulsen, Zu Sprache und Stil der Johannes-Apokalypse, in: S� Alkier / Th� Hieke / T� Nicklas (Hg�), Poetik und Intertextualität der Johannesapokalypse, Tübingen 2015, 3-25; S. Alkier / Th. Paulsen, Der kommende Gott. Philologische, literaturwissenschaftliche und theologische Beobachtungen zur Komposition der Johannesapokalypse, ThLZ 142 / 2017, 453-472. 4 Für eine ausführlichere Darstellung vgl� S� Alkier / Th� Paulsen, Der kommende Gott und die Götter der Anderen, in: dies� (Hg�), Apollon, Artemis, Asteria und die Apokalypse des Johannes� Eine Spurensuche zur Intertextualität und Intermedialität im Rahmen griechisch-römischer Kultur - Früchte eines interdisziplinären Seminars, Frankfurt 2018, 69-94, vor allem 71-73. 5 S� Holthuis, Intertextualität� Aspekte einer rezeptionsorientierten Konzeption, Tübingen 1993� 6 Begriff nach Holthuis, Intertextualität, 33� Zeitschrift für Neues Testament Heft 42 21. Jahrgang (2018) Zum Thema Apollon, Babylon und die Insel der Seligen Intertextuelle Beziehungen zwischen Werken nichtchristlicher griechischer Autoren und der Johannesapokalypse Thomas Paulsen 1. Einleitung Es ist in der Erforschung dieser berühmtesten aller Apokalypsen eine altbekannte Tatsache, dass Johannes 1 wie kein anderer Autor des Neuen Testaments auf Texte des Alten Testaments anspielt, ohne sie in der Regel wörtlich zu zitieren� Die Bücher Exodus, Ezechiel, Joel und Daniel seien hier als wohl wichtigste Referenztexte genannt� Erst in neuerer Zeit wurde jedoch begonnen, auch intertextuellen Bezügen zu nichtchristlichen und nichtjüdischen Texten systematisch nachzuspüren� Exemplarisch seien hier die Arbeiten von Martin Karrer genannt, der eine große Zahl solcher Bezüge plausibel machen konnte� 2 Im Hintergrund steht hier die zunehmende Erkenntnis, dass es sich bei Johannes um einen Autor 1 Die Debatte, ob es sich hierbei um den realen Namen des Autors handelt, soll hier nicht aufgegriffen werden� Aus meiner Sicht gibt es keine Veranlassung, die Selbstvorstellung in Offb 1,9 nicht im wörtlichen Sinne ernst zu nehmen� 2 Vor allem sind hierzu zu nennen: M� Karrer, Apoll und die apokalyptischen Reiter, in: M� Labahn / M� Karrer (Hg�): Die Johannesoffenbarung� Ihr Text und ihre Auslegung, Leipzig 2012, 223-251; ders., Hellenistische und frühkaiserzeitliche Motive in der Johannesapokalypse, in: Th� Schmeller / M� Ebner / R� Hoppe (Hg�), Die Offenbarung des Johannes� Kommunikation im Konflikt, Freiburg 2013, 32-73; ders., Johannesoffenbarung. Offb. 1,1-5,14 (EKK XXIV / 1)� Ostfildern / Göttingen 2017, passim� Daneben sind insbesondere die Kommentare von D. E. Aune, Revelation, 3 Bde., Waco / Dallas 1997-1998, passim und 22 Tobias Nicklas problematischer, gleichzeitig höchstrangiger theologischer Literatur in den vergangenen Jahren entgegengebracht wurde� Nun ist es an der Zeit, dass auch Kirchen und Gemeinden diese durch neueste Exegesen so frisch polierte „Perle“ im eigenen Acker für ihre Verkündigung und ihr Selbstverständnis wiederentdecken� Neue Forschungen zur Johannesapokalypse 21 kommen unterschätzt wurde schließlich für lange Zeit die Anthropologie der Apokalypse - und dabei zeichnet uns der Text das wiederum spannungsvolle Bild des Menschen als eines Wesens, welches gerade aufgrund seiner Leiblichkeit zwischen verschiedenen Möglichkeiten der Beziehung eingespannt ist: An dieser Beziehung - Zeugnis für Christus und angemessene Gottesbeziehung oder auch Beziehung zu den Mächten des Bösen - entscheidet sich alles; der Hoffnung auf Rettung mit dem Zuspruch grenzenloser Gnade (Offb 22,21) ist die Ernsthaftigkeit der drohenden Vernichtung an die Seite gestellt� Dies wiederum ist eingespannt in ein dramatisches Zueinander von Texten, die einerseits menschliche Freiheit zu betonen scheinen, während andere (wie 13,8) seine Determination vorauszusetzen scheinen: „Die Offenbarung des Johannes ist im Angesicht des in Offb 6,9-10 explizit geäußerten Schreiens zu Gott, seine Gerechtigkeit zu erweisen, Gottes Allmacht und die Erfahrung der als gewalttätig und gottfern empfundenen Welt zusammenzudenken� Dazu muss sie die Vorstellung der Allmacht Gottes […] mit der Vorstellung menschlicher Freiheit, der Möglichkeit, ‚nein‘ zu sagen, in Beziehung bringen� Dazu muss sie Gott als den denken, der sich zurückzuziehen scheint� Gleichzeitig muss in dem von ihm gesetzten Anfang bereits das Ziel und Ende enthalten sein� Dazu muss sie den Menschen in seiner Geschöpflichkeit und damit Leiblichkeit, Verfallenheit und Heillosigkeit und gleichzeitig seiner Größe als Wesen zwischen Anspruch, Versagen und Gnade, Freiheit und Determination verstehen�“ 58 Fazit Mit dieser Skizze ist noch längst nicht alles gesagt und vieles nur angedeutet� Nicht vorgestellt sind neuere Kommentare zur Apokalypse, weitestgehend ausgeblendet französische und italienische Sekundärliteratur� Nur angedeutet wurde die Auseinandersetzung mit problematischen Themen wie dem Umgang des Textes mit Gewalt oder seiner Sicht von Frauen� Vollkommen ausgeklammert wurde der riesige Bereich an Arbeiten zur Wirkungsbzw� Rezeptionsgeschichte der Apokalypse in den verschiedensten Medien� All dies auch nur einigermaßen angemessen zu beleuchten würde mehrere Beiträge erfordern� So subjektiv die Auswahl von Themen (wie auch der angesprochenen Arbeiten) sein musste, so sehr zeigt jedoch hoffentlich bereits sie, welch hohe Wertschätzung der Johannesapokalypse als eines Stücks herausfordernder, extravaganter, in Teilen Anmerkungen zur judenchristlichen Kompetenz des Verfassers der Johannesapokalypse, in: Heininger, Mächtige Bilder, 132-166. 58 T� Nicklas, Freiheit oder Prädestination? Gedanken zum Menschenbild der Johannesapokalypse, in: Collins New Perspectives, 105-129, hier 129. 20 Tobias Nicklas des Textes Assoziationen und Denkmöglichkeiten eröffnet, die nicht einfach in Lehrsätzen und Attribuierungen eingefangen werden können� Dabei ist diese Erzählung höchst spannungsreich - Spannungen wiederum zeichnen im Grunde auch alle Aspekte ihrer Theologie aus: Sie erzählt von einer Welt, die weiterhin als Gottes gute Schöpfung verstanden werden will, obwohl das Böse sie zu beherrschen scheint; sie beschreibt einen Gott, der Handlungssouverän ist, dessen Handeln aber selbst für seine Zeugen nicht immer klar erkennbar ist� Dies geht so weit, dass sich die Erzählung der Apokalypse auch als die erzählte Antwort auf eine dramatische Anfrage an Gott und seine Gerechtigkeit verstehen lässt, im Grunde eine Form der Theodizeefrage, die der Text in den Mund derer, die für ihr Zeugnis zu Tode gekommen sind, legt: „Wie lange zögerst du noch, Herr, du Heiliger und Wahrhaftiger, Gericht zu halten und unser Blut an den Bewohnern der Erde zu rächen? “ (Offb 6,10)� 55 Der Gott der Apokalypse scheint nicht zu antworten - und doch kann das gesamte Buch als sich auf Gott selbst zurückführende Antwort verstanden werden� Wie spannungsvoll sich auch das Christusbild der Apokalypse darstellt, zeigt schon Kapitel 5 mit dem Gegenüber der Bilder vom Löwen aus dem Stamm Juda (Offb 5,5) und dem Böcklein mit sieben Hörnern und sieben Augen, das „wie geschlachtet“ ist (Offb 5,6)� Die Arbeiten zur Christologie der Offb sind kaum überschaubar: Thematisiert wurde die Konstruktion des Bildes vom Menschensohn, die religionswie traditionsgeschichtliche Herleitung, wie auch politische Dimensionen von Bildern und Funktionen, aber auch die Bedeutung narrativer Elemente für die Christologie des Textes� 56 Ähnliches gilt auch für andere, bisher weniger beachtete theologische Dimensionen der Erzählung „Apokalypse“: Auch das Bild vom Volk Gottes steht in einer mehrfachen Spannung: einerseits das Bild der Himmelsfrau als einer kosmischen Größe, die Vorstellung von der Braut Christi, und andererseits die Realität der Versammlungen von Christusnachfolgern in Kleinasien (Offb 2-3); einerseits der Fokus auf Zeugenschaft für Christus, die Öffnung für die Völker und andererseits die Kontinuität mit dem Gottesvolk Israel� 57 Voll- 55 Von diesem Zentrum her entwickelt K� Wengst, „Wie lange noch? “ - Schreien nach Recht und Gerechtigkeit - eine Deutung der Apokalypse des Johannes, Stuttgart 2010, seine Interpretation der Apokalypse� 56 Besonders wichtig K� Huber, Einer gleich einem Menschensohn: Die Christusvisionen in Offb 1,9-20 und 14,14-20 und die Christologie der Johannesoffenbarung (NTA NF 51), Münster 2007; ders�, Jesus Christus - der Erste und der Letzte� Zur Christologie der Johannesapokalypse, in: Frey / Kelhoffer / Tóth, Johannesapokalypse, 435-472 (Lit! ) und R� B� Hays, Faithful Witness, Alpha and Omega: The Identity of Jesus in the Apocalypse of John, in: Hays / Alkier, Politics, 69-84. 57 Z� B� F� Tavo, Woman, Mother and Bride: An Exegetical Investigaton into ‚Ecclesial‘ Notions of the Apocalypse (BiTS 3), Leuven 2007; bedeutsam für das Zueinander von Gottesvolk- und Israeltheologie K� Müller, Noch einmal die Einhundertvierundvierzigtausend� Neue Forschungen zur Johannesapokalypse 19 analyse bietet, so klingen Passagen aus Kapitel 18 doch sehr sozialkritisch� 52 Doch liegt der Fokus des Textes hier wirklich auf der durch bestimmte Formen von Wirtschaft und Handel erzeugten sozialen Ungerechtigkeit? Oder geht es nur darum, wer Handel treibt und damit reich wird? Immerhin ist auch das ab Offb 21 beschriebene himmlische Jerusalem unermesslich reich� Mit Offb 21,26 könnte man vielleicht sogar so weit gehen zu sagen, dass sich einfach das Zentrum des Handels verlagert hat: von Babylon nach Jerusalem� Theologie Wenn somit die Frage der konkreten Datierung des Textes bewusst offengelassen ist, weil sich hier kein tragfähiger Konsens zeigt, ist dies nicht als Rückschritt zu werten, sondern als Zeichen einer erhöhten Sensibilität einerseits für die Ereignisse in der Welt, aus der heraus die Offenbarung des Johannes entstanden ist, und andererseits für den Text selbst� Dieser darf auch weiterhin als eine Trost- und Hoffnungsschrift verstanden werden, die sich mit einer als krisenhaft empfundenen Situation auseinandersetzt� Diese Situation jedoch wird nicht einfach als zufällige historische Konstellation empfunden, sondern als Teil eines kosmischen Dramas verstanden, das dem Leser „enthüllt“ wird und in dem dieser seinen Ort zu finden hat� Die Deutung konkreter und partikularer Wirklichkeit wird so in eine „Welterzählung“ eingebettet, die sich aus den großen Erzählungen der Bibel speist� Diese Erzählung setzt im Jetzt des Sehers sowie einer bewusst eine Himmelsperspektive einnehmenden Analyse der Situation der Gemeinden Asias an, welche jedoch transparent für die Situationen anderer Gemeinden formuliert ist� 53 Sie betrachtet trotz des überall erkennbaren Wirkens dämonischer Kräfte unter der Macht des vom Himmel gestürzten Satan die Welt als gute Schöpfung des Gottes, der im Zentrum einer himmlischen Liturgie stehend (Offb 4) als der mit einer Vielzahl von Attributen versehene, gleichzeitig entzogen wirkende und sich entziehende Handlungssouverän des so umfassten Gesamtgeschehens ist� 54 Dieses so nur ganz knapp beschriebene narrative Gefüge öffnet Raum für tiefe und tiefgründige Impulse in allen Ebenen der Theologie� Dabei wird zunehmend deutlich, wie sehr der narrative Charakter 52 Hierzu z� B� P� de Villiers, Unmasking and Challenging Evil: Exegetical Perspectives on Violence in Revelation 18, in: P� G� R� de Villiers - J� W� van Henten (Hg�), Coping with Violence in the New Testament (STAR 16), Leiden - Boston 2012, 201-226. 53 Hierzu Alkier, Zusammenhängendes Ganzes� 54 Zum Thema „Schöpfung“ in der Apokalypse T� Nicklas, Schöpfung und Vollendung in der Offenbarung des Johannes, in: T� Nicklas / K� Zamfir (Hg�), Theologies of Creation in Early Judaism and Ancient Christianity (DCLS 6), Berlin - New York 2010, 389-414; zu Gottesbildern v� a� Stowasser, Gottesbild� 18 Tobias Nicklas legorie auf das deuten, was wir heute über die politischen Realitäten in der Provinz Asia wissen und vermuten können� 47 Auch wo man Witulski nicht folgen will, wird in den allermeisten Fällen die Entwicklung und Intensivierung des Kaiserkults im kleinasiatischen Raum als Krise im Hintergrund des Texts verstanden� Dieser wiederum wird in manchen Publikationen als der Versuch des römischen Reiches verstanden, einen geradezu totalitären Anspruch auf Kontrolle von religiöser Solidarität auf seine Bewohner auszuüben� 48 Dem wie auch der aus der Organisation des römischen Reichs sich ergebenden tiefen sozialen Ungleichheit habe die Johannesapokalypse eine prophetische Gegenstimme entgegengestellt� 49 So sehr es durchaus möglich bleibt, dass der Kaiserkult zu den Phänomenen gehörte, die die Apokalypse als Bedrohung für die Verehrung des einzigen Gottes und des Böckleins, Christus, ansah, so wenig jedoch sollte man dies zum zentralen, vielleicht sogar einzigen Schlüssel für das Verständnis der Johannesapokalypse machen� So sehr die Entschiedenheit der Johannesapokalypse im Gegenüber zu jeder Form einer Bindung an entmenschende Strukturen und Mächte für ihre Auslegungsgeschichte bedeutsam war und ist, 50 so wenig sollte man deswegen jedoch die Erfahrungen mit totalitären Systemen des 20� und 21� Jahrhunderts in die Antike rückprojizieren, in der Kulte lokal und nicht zentral organisiert wurden - und die Wahrscheinlichkeit groß ist, dass die um die Verehrung von Kaisern inszenierten Feste weder zu organisierten Verfolgungen anders Denkender führten, noch als Bedrohung aufgefasst wurden� 51 Auch die Frage, wie sehr die Johannesapokalypse ein „sozial engagierter“ Text sein möchte, der bestehende Strukturen aufbricht, muss offenbleiben� Auch wenn die Apokalypse - wie jeder andere frühchristliche Text - keine explizite Sozial- 47 Th� Witulski, Die Johannesoffenbarung und Kaiser Hadrian� Studien zur Datierung der neutestamentlichen Apokalypse (FRLANT 221), Göttingen 2007; ders�, Apk 11 und der Bar-Kochba-Aufstand (WUNT II�337), Tübingen 2012; ders�, Die vier ‚apokalyptischen Reiter‘ Apk 6,1-8. Ein Versuch ihrer zeitgeschichtlichen (Neu-)Interpretation (BTHSt 154), Neukirchen-Vluyn 2015 u� a� 48 Besonders deutlich A� Hammes, „Er trägt den Namen ‚König der Könige und Herr der Herren‘“ (Offb 19,16)� Die Johannesapokalypse als Politische Theologie, in: B� Heininger (Hg�), Mächtige Bilder� Zeit- und Wirkungsgeschichte der Johannesoffenbarung (SBS 225), Stuttgart 2011, 167-186, hier 180 (allerdings in Auseinandersetzung mit E. Petersons politischer Theologie)� 49 So z� B� die Voraussetzung des Beitrags von S� Friesen, A Useful Apocalypse: Domestication and Destabilization in the Second Century, in: Collins, New Perspectives, 79-104. 50 Vgl� z� B� S� Alkier, Witness or Warrior? How the Book of Revelation can Help Christians to Live their Political Lives, in: Hays / Alkier, Politics, 125-142. 51 Wichtige Beiträge hierzu in M� Ebner / E� Esch-Wermeling (Hg�), Kaiserkult, Wirtschaft und spectacula� Zum politischen und gesellschaftlichen Umfeld der Offenbarung (NTOA 72), Göttingen 2010� Neue Forschungen zur Johannesapokalypse 17 aus die Ereignisse in der „großen Welt“ der Städte beobachtet, inszeniert� 42 Erkennbar wird das Profil eines jüdischen Christusanhängers mit großem Interesse an Fragen des Kults, 43 der die Schriften Israels geradezu in sich aufgesogen hat und nun im Gewand des Propheten und Zeugen Christi vor Tendenzen in den Gemeinden Kleinasiens warnt, die er als geradezu „dämonischen“, teuflischen Mächten geschuldet versteht� Auch wenn sein Text sicherlich ein stark defizitäres Bild von Frauen bietet 44 sowie in Teilen Formen von aggressiver Polemik zeigt, die wir heute nicht mehr gutheißen können, 45 tritt uns in ihm die Stimme eines hoch Gebildeten entgegen, den wir als „Intellektuellen“ bezeichnen und als solchen (trotz ihrer z� T� sehr unterschiedlichen Profile) in die Reihe der großen frühchristlichen Autoren wie Paulus, die Autoren der Evangelien, aber auch Ignatius von Antiochien oder Clemens von Alexandrien einreihen können� In einem naturgemäß sehr engen Zusammenhang stehen Versuche, den konkreten Entstehungskontext der Johannesapokalypse zu bestimmen, und Überlegungen zu ihrer Datierung� Die altkirchlich bezeugte Datierung der Schrift in die Regierungszeit des Domitian (81-96 n. Chr.) wurde in den vergangenen Jahren von verschiedenen Seiten v� a� deswegen der Kritik unterzogen, weil sich die damit verbundene Idee, unter Domitian sei es zu intensiven, organisierten Christenverfolgungen gekommen, deren Auswirkungen sich im Text der Johannesapokalypse spiegelten, heute nicht mehr halten lässt� 46 Während damit nicht geleugnet werden wird, dass die Offenbarung auf eine Krise von außen her zu reagieren scheint, ist es damit gleichzeitig deutlich schwieriger geworden, diese Krise historisch klar einzuordnen� Häufig in Bezug zu Deutungen der geheimnisvollen Königsliste in Offb 17,10-12 wird deswegen in den vergangenen Jahren eine Bandbreite von Datierungen vorgeschlagen, die sich zwischen der Regierungszeit Neros (gest� 68 n� Chr�) und der Hadrians (gest� 138 n� Chr�) bewegt� Gerade die letztere Neudatierung wurde in den vergangenen Jahren mit besonderer Vehemenz und immer neuen Argumenten von Thomas Witulski verteidigt, die jedoch weite Passagen der Johannesapokalypse geradezu als Al- 42 Hierzu T� Nicklas, Anti-Urban Sentiments in Early Christianity? , in: M� Tiwald / J� Zangenberg (Hg�), Early Christian Encounters with Town and Countryside (NTOA), Göttingen 2018 [im Druck]� 43 Hierzu F� Tóth, Der himmlische Kult: Wirklichkeitskonstruktion und Sinnbildung in der Johannesoffenbarung (Arbeiten zur Bibel und ihrer Geschichte 22), Leipzig 2006� 44 Besonders scharf die Kritik von T� Pippin, Death and Desire: The Rhetoric of Gender in the Apocalypse of John, Louisville, Ky� 1992� 45 Z� B� M� Mayordomo, Gewalt in der Johannesoffenbarung als theologisches Problem, in: Schmeller / Hoppe, Offenbarung, 107-136 und J. W. van Henten, Violence in Revelation, in: Collins, New Perspectives, 49-78. 46 Überblick bei S� Witetschek, Ein weit geöffnetes Zeitfenster? Überlegungen zur Datierung der Johannesapokalypse, in: Frey / Kelhoffer / Tóth, Johannesapokalypse, 117-148. 16 Tobias Nicklas Mit anderen Worten: Eine Exegese, die im Text der Johannesoffenbarung Anspielungen auf historische Ereignisse ihrer Entstehungszeit sucht, geht nicht grundsätzlich falsch; wo jedoch ein angemessenes Verständnis des Textes allein an solche Entschlüsselungsversuche gebunden wird, sind bereits entscheidende Aspekte des im Text erhobenen Anspruchs, auch über die konkrete Adressatenschaft in den Gemeinden der Asia hinaus an ein breiteres Publikum gerichtet, Bedeutsames zu sagen, 40 verkannt� Historische Einordnung In diesen Hintergrund möchte ich auch die bleibend sehr lebendigen Diskussionen um die historische Einordnung der Schrift einordnen� Selbst wenn postmoderne Literatur- und Texttheorien davor warnen, vom Text her zu direkt und unreflektiert auf dessen Autor zu schließen, so treten uns - aufgrund des Textes - doch wenigstens einige Profillinien des Verfassers der Schrift wohl klarer als bisher entgegen� Klar ist im Grunde bereits seit der altkirchlichen, v� a� auf Dionysios von Alexandria (überliefert bei Eusebius von Caesarea, h� e� VII 25) zurückgehenden Kritik, dass wir den Autor der Johannesapokalypse und den bzw� die Verfasser des vierten Evangeliums (sowie der Johannesbriefe) voneinander zu differenzieren haben� Ob dieser Autor nun wirklich Johannes hieß und seinen Text auf Patmos verfasste oder sich nur als solcher in Szene setzte, ist dagegen umstritten 41 - und mag gerne offenbleiben� Viel spannender ist stattdessen, welches Profil uns hinter dem Text entgegentritt� Noch vor wenigen Jahrzehnten, als Apokalyptik als Phänomen eines religiösen Niedergangs im Kontext des abschätzig so genannten „Spätjudentums“ verstanden wurde, musste die Offenbarung des Johannes entweder so weit wie möglich vom Judentum abgegrenzt oder als Zeichen eines ebenfalls (etwa im Vergleich zu Paulus) minderwertigeren Christentums gedeutet werden� Dies hat sich gründlich geändert: Aufgrund der Beobachtungen zu Aspekten von Poetik und Intertextualität der Johannesapokalypse tritt uns der Seher der Offenbarung als eigenständiger, origineller, ja in manchen Punkten extravaganter Gestalter eines hoch komplexen Textes entgegen, welcher sich aufgrund seines intertextuellen Profils als an einer Vielfalt von Diskursen beteiligt zeigt� Dem tut auch die Tatsache keinen Abbruch, dass er sich als prophetischer Außenseiter, der von der Insel Patmos 40 Entscheidende Beobachtungen zu den zwei von der Apokalypse implizierten Leserkreisen bei Alkier, Zusammenhängendes Ganzes� 41 Zur Möglichkeit der Pseudepigraphie vgl� J� Frey, Das Corpus Johanneum und die Apokalypse des Johannes� Die Johanneslegende, die Probleme der johanneischen Verfasserschaft und die Frage der Pseudonymität der Apokalypse, in: Alkier / Hieke / Nicklas, Poetik, 71-133, hier 118-133. Neue Forschungen zur Johannesapokalypse 15 Mythos begreift, dessen Bild- und Symbolwelten nicht zu schnell in historische Realitäten hinein aufgelöst werden dürfen� 35 Obwohl er selbst im Zusammenhang mit Kapitel 12 der Johannesoffenbarung nicht von einem Mythos sprechen möchte, kommt in der neuesten Literatur Jan Dochhorn Lohmeyers Ansatz sehr nahe� 36 Dass die Visionen nicht einfach auf historische Ereignisse der Gegenwart des Sehers zu beziehen seien, liege schon daran, dass der Text sich ab Kapitel 4 als auf die Zukunft richtend gebe: „Derart auf die Zukunft gerichtet, müßte der Leser prinzipiell überfordert sein, wenn er mit dem ersten (13,1 ff) und dem zweiten Tier (13,11 ff) dann auf einmal wieder auf seine Gegenwart verwiesen würde� Dennoch wird immer wieder behauptet, das erste Tier stehe für Domitian oder überhaupt für das Kaisertum oder das römische Reich … Und das zweite für die asiatische Provinzpriesterschaft … Dies ist jedoch nicht nur aufgrund des Vortextes ausgeschlossen, sondern auch durch den Folgetext: ApcJoh 17,9c-11 zeigt, vorbereitet durch 13,3� 12� 13 und 17,8, hinreichend deutlich, daß beim ersten Tier an eine zukünftig auftretende Gestalt gedacht ist� Nichts weist darauf hin, daß es sich beim zweiten anders verhalten sollte; immerhin wird es ja das erste Tier begleiten�“ 37 Obwohl Dochhorn vielleicht zu weit geht, sind seine Anfragen ernst zu nehmen - und keineswegs geklärt� Ein Ausweg ergibt sich vielleicht, wo man bedenkt, dass auch ein Mythos, wenn er für konkrete Menschen und deren Lebensdeutung relevant sein will, sich für Fragen, die aus diesen konkreten Leben hervorgehen, öffnen muss� 38 Die Relevanz des Mythos muss geschichtlich erfahrbar sein, wenn er konkret relevant bleiben möchte� Umgekehrt aber gilt trotzdem für jeden Mythos - und auch für die Johannesapokalypse, wenn man sie wenigstens als Text mit mythologischen Elementen verstehen möchte: „Auch Passagen, in denen die Offenbarung des Johannes auf zeitgeschichtliche Ereignisse anzuspielen scheint, gehen nicht in diesen Anspielungen auf� Eine allegorische Interpretation des Textes, die dort, wo der Text Assoziationen weckt, Gleichsetzungen vornimmt, geht am Charakter der Schrift vorbei�“ 39 35 E� Lohmeyer, Die Offenbarung des Johannes (HNT 16), Tübingen 3 1970 [ 2 1953; 1926]� 36 J� Dochhorn, Schriftgelehrte Prophetie: Der eschatologische Teufelsfall in ApcJoh 12 und seine Bedeutung für das Verständnis der Johannesoffenbarung (WUNT 268), Tübingen 2010� 37 Ebd�, 53� 38 Zum Folgenden T� Nicklas, Die Johannesapokalypse zwischen Sozialkritik, Geschichtsdeutung und ‚Mythos‘, in: C� Pardee/ J� Tripp, Festschrift Edmondo Lupieri, Turnhout 2018 [im Druck]� 39 Ebd� 14 Tobias Nicklas (eventuell) anachronistischen Vorstellung einer gleichmäßig linear verlaufenden Zeit? Tatsächlich lässt sich (auch in Fortführung der bekannten Definition von John J� Collins 32 ) ein entscheidender Aspekt dessen, was Apokalypsen zum Ausdruck bringen wollen, gerade als die „Präsentation des ganz anderen“ beschreiben� 33 Dies zeigt sich in einer Reihe von Texten, denen es erzählerisch gelingt, eine Berührung von auf diesseitige Räume und Zeiten bezogenen Ereignissen (z. B. Offb 1,9-10: Herrentag / Insel Patmos) mit einer (z. B. in 1,12 durch das Umdrehen signalisiert) diesen Raum und diese Zeit überschreitenden Realität darzustellen (vgl. auch Offb 4-5; 12 u. a.). Diese kann aber gerade damit ihre Wirkmächtigkeit auf Zeiten und Räume dieser Welt entwickeln (vgl� z� B� die Präsentation der Himmelsstadt aus Offb 21 in einer durch die in Offb 2-3 geschilderten Probleme bestimmten Zeit): „Die Johannesapokalypse argumentiert kairologisch, indem sie den irdischen mit dem himmlischen Raum verbindet und die erlebte chronologische Zeit kairologisch bestimmt … Dabei thematisiert die Apokalypse auf vielfältige und nicht zuletzt sprach- und metaphernkritische Weise die standortbedingte Beschränktheit der Wahrnehmung des geöffneten Himmels� Doch auch noch der beschränkte Blick menschlicher Wahrnehmung lässt die frohe Botschaft von den abgewischten Tränen als Hoffnungsgewissheit verstehen, die zur Ausbildung von Zeugenschaft Anlass genug gibt, auch wenn diese Zeugenschaft selbst in den christlichen Gemeinden immer wieder gefährdet ist�“ 34 Gedanken wie diese berühren gleichzeitig ein für die Auslegung der Apokalypse fundamentales Problem: Wie ist das Verhältnis von Mythos und Geschichte in der Offenbarung des Johannes zu bestimmen? Dabei mag ein „Mythos“ zunächst einmal ganz einfach mit den Worten des Neuplatonikers Sallust ( De Diis et Mundo 4,9; Mitte des 4� Jh�s) als eine Erzählung verstanden werden, die beschreibt, „was niemals war, aber immer ist“� Während die meisten heutigen Ausleger der Johannesapokalypse ganz selbstverständlich davon ausgehen, dass nicht nur Offb 2-3, sondern auch entscheidende Passagen des Visionenteils (z. B. Offb 13 und Offb 17) voller Anspielungen auf tatsächliche historische Ereignisse in der Zeit des Sehers sind, die es nur zu entschlüsseln gilt, wenn man den Text der Johannesapokalypse angemessen verstehen möchte, steht vor allem der bereits auf das Jahr 1926 (mit Neuauflagen 1953 und 1970) zurückgehende Kommentar von Ernst Lohmeyer für einen Zugang, der die Apokalypse weitestgehend als 32 J. J. Collins, Towards the Morphology of a Genre, Semeia 14 (1979) 1-20. 33 Zum Folgenden S� Alkier / T� Nicklas, Wenn sich Welten berühren� Beobachtungen zu zeitlichen und räumlichen Strukturen in der Apokalypse des Johannes, in: Alkier / Hieke / Nicklas, Poetik, 205-226. 34 Ebd�, 225� Neue Forschungen zur Johannesapokalypse 13 welche Möglichkeiten (und Grenzen) sich aus dem Material ergeben, das im Neuen Wettstein gesammelt ist; er bietet spannende Beispiele dafür, wie griechisch-römische Mythologie und Aspekte der Johannesapokalypse miteinander ins Spiel gebracht werden können� 28 Gleichzeitig hat etwa Martin Karrer gezeigt, wie sehr das Gottesbild der Apokalypse auch von der Öffnung des Texts zur Verehrung dieses Gottes für die Völker bestimmt ist: 29 Er entdeckt Verbindungen des Thronenden aus Offb 4 mit dem Bild des Zeus von Olympia (wie auch anderen Zeus- und Jupiterdarstellungen), aber auch Parallelen zu Vorstellungen anderer Gottheiten wie Dionysos oder Apoll� Neben das Verbindende aber träten auch Elemente der Kontrastierung: „Würde die Religionsbegegnung nur Nähe und Transzendenz herausstellen, würden sich Spezifika der eigenen Religion verlieren� Um dem zu entgehen, hebt unser Autor gegenläufig Kontraste hervor und vermeidet selbst naheliegende Äquivalenzen� Weil Zeus hört, verzichtet er darauf, das Hören des einen Gottes zu formulieren, und weil Jupiter als ‚Retter‘ oder ‚Wächter / Beschützer‘ gilt, vermeidet er letztere Prädikate, obwohl sie hervorragend ausdrücken würden, dass alle Rettung bei dem einen Gott steht�“ 30 Die Einbettung des durch die Johannesapokalypse initiierten Kommunikationsprozesses in seine Zeit und die aus dieser Zeit bekannten Textwelten bleibt somit ein faszinierendes, kaum abgeschlossenes oder je abschließbares Forschungsfeld, das in vielen Bereichen - z� B� der Bedeutung der Numismatik für das Verständnis des Textes 31 - noch kaum ausgelotet ist� Zu den klassischen Modellen der Deutung apokalyptischer Schriften gehört der Gedanke, dass diese von einer absteigenden Zeitlinie ausgehen und dabei ein so negatives Verständnis von Geschichte entwickeln, dass Hoffnung sich nicht mehr auf eine innergeschichtliche Wende, sondern auf ein den Verlauf der Geschichte durchbrechendes Handeln Gottes richtet� Doch lesen wir, wenn wir ein solches Modell für die Johannesapokalypse anwenden, diese nicht mit einer 28 J� W� van Henten, The Intertextual Nexus of Revelation and Graeco-Roman Literature, in: Alkier / Hieke / Nicklas, Poetik, 395-422. 29 M� Karrer, Das Gottesbild der Offenbarung vor hellenistisch-frühkaiserzeitlichem Hintergrund, in: M� Stowasser (Hg�), Das Gottesbild in der Offenbarung des Johannes (WUNT II.397), Tübingen, 64-81. Interessante Beispiele auch ders., Hellenistische und frühkaiserzeitliche Motive in der Johannesapokalypse, in: Th� Schmeller/ R� Hoppe (Hg�), Die Offenbarung des Johannes� Kommunikation im Konflikt (QD 253), Freiburg 2013, 32-73. 30 Ebd�, 80� 31 Erste auch die Methodik problematisierende Ansätze z� B� bei M� Sommer, Die Jesusgeschichte und die Identitätsgeschichte der Offenbarung, in: P� Dragutinovic / T� Nicklas / K� Rodenbiker / V� Tatalovic (Hg�), Christ of the Sacred Stories (WUNT II�453), Tübingen 2017, 201-219.