eJournals ZNT – Zeitschrift für Neues Testament 21/42

ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
2018
2142 Dronsch Strecker Vogel

Applaus im Himmel?

2018
Marco Frenschkowski
Zeitschrift für Neues Testament Heft 42 21. Jahrgang (2018) Hermeneutik und Vermittlung Applaus im Himmel? Gedanken zum Gott der Apokalypse zwischen Phantastik und Politik Marco Frenschkowski Beginnen wir mit einer etwas anstößigen, in jedem Fall sperrigen und überraschenden Beobachtung zum letzten Buch der Bibel� 1 Man könnte ja meinen, der Gott der Apokalypse sei in besonderer Weise applaussüchtig� Ganze Ordnungen himmlischer Wesen scheinen ihre Daseinsberechtigung v� a� darin zu haben, ihm Beifall zu klatschen bzw� in Wort, Lied und Gestus sein Lob zu singen (Offb 1,6; 4,8-11; 5,9-14; 7,10-12 usw.). Nun ist eine solche Sichtweise polemisch und ein klein wenig zynisch� Sie soll hier aber nicht zu schnell in eine harmonisierende Variante von Theologie aufgelöst werden, sondern in einem weiteren kulturellen Rahmen zur Betrachtung kommen� Das in der religiösen Wahrnehmung Selbstverständliche eines solchen visionären antiken Textes muss erst fremd werden, d� h� erklärungsbedürftig, um ihn auf gegenwärtige Erschließung von Wirklichkeit anwenden zu können� Warum spielen Themen der Anbetung, der Verehrung, oder eben, polemisch-verfremdend gesagt, des Applauses eine solche Rolle? Und wie verhält sich dieser Aspekt zur Bildwelt, zur Gesamtkonstruktion der kulturellen, politischen und kosmischen Wirklichkeit in der Apokalypse? 1 Eine ausführliche Dokumentation ist an dieser Stelle nicht möglich: Vielfach kann hier nur (sehr viel mehr, als mir lieb ist) auf eigene Studien verwiesen werden, die eine solche Dokumentation bieten� 110 Marco Frenschkowski Der Seher der Johannesoffenbarung war der Überzeugung, dass „Verherrlichung“, kultische Verehrung, Anbetung die einzige angemessen Reaktion auf das Gottsein Gottes, seine königliche Stellung im Kosmos sind� Engel, Menschen und alle mythischen Lebewesen des himmlischen Hofstaates treffen sich in dieser Daseinsbestimmung, Gott zu ehren und anzubeten� Gott ist vor allem der himmlische König: eine monarchische Leitmetapher durchzieht das Buch, und Gott auf dem göttlichen Thron ist der Ausgangs- und Zielpunkt allen Geschehens� Als kosmischer Monarch ist Gott Gegenstand der rituellen Verehrung� Diese Anbetung konkretisiert sich in Wort und Lied, im uralten Gestus des sich Niederwerfens (Offb 4,10; 5,14; 7,11; 11,16; 19,4), 2 aber auch, und das ist vielleicht nicht sofort in gleicher Weise sichtbar, im Akt der visionären Imagination selbst� Auch die beschreibenden Passagen über die himmlische Welt in Theophanie-Tradition haben einen Zug der Verherrlichung, einen Grundton der Anbetung� 3 Gott auf seinem Thron, sein Hofstaat mit den ihn umgebenden mythischen Wesen, Christus als Löwe aus dem Stamm Juda und als Gotteslamm sind nur erste hervorgehobene Elemente dieser Imagination einer göttlichen Sinnmitte der Welt, die diese Welt zugleich transzendiert� Die Gott am nächsten stehenden Wesen sind neben dem „Lamm“ ein „Löwe“, ein „Stier“, ein „Mensch“ und ein „Adler“� Das ist bibelkundigen Leserinnen und Lesern zwar aus Hesekiel vertraut, aber doch vor allem ein eindrückliches Signal, dass wir einen Bereich numinoser, nur bildlich zu evozierender Majestät betreten, eines Geheimnisses, das nicht gelöst, sondern verehrt werden soll� Dabei wird von vornherein ein Element des Rätselhaften integriert: Gott wird nicht sichtbar gemacht, nur angedeutet: einer, der „aussieht wie ein Jaspis und Sarder“� Er ist der, „der auf dem Thron sitzt“ (Offb 4,2 f�; 21,5), der von Blitzen, Licht, Feuer umgeben ist, und zu ihm gesellt sich später als Throngenosse das Lamm� Gegenüber jüdischen Thronszenen (1Kön 22,19; Jes 6,1; Hes 1; Ps 97, 2; äthHen 14,15-23; 47,3 f; 90,20 etc.) liegt hierin der eigentlich Clou des Bildes: Gott thront nicht mehr allein 4 (Darauf wird sofort zurück zu kommen sein)� Der Thronsaal Gottes wird dabei in kosmischen Dimensionen geschildert; der gestirnte Himmel, zu dem Menschen aufblicken, stellt nur eine kleine Fläche zu Füßen Gottes dar, die wir sozusagen von der anderen Seite, von „unten“ sehen (4,6)� Die Apk trifft sich hierbei mit jüdischer Literatur, welche die gigantischen Ausmaße des 2 Vgl� zu seiner Geschichte S� Alexopoulos, Proskynesis, RAC 28, Stuttgart 2018, 360-372. 3 Vgl� allgemeiner zu den beschreibenden Elementen der Apk und ihrer spezifischen Rhetorik R� J� Whitaker, Ekphrasis, Vision, and Persuasion in the Book of Revelation (WUNT II 410), Tübingen 2015� 4 Vgl� M� Hengel, Die Throngemeinschaft des Lammes mit Gott in der Johannes-Apokalypse, in: ders�, Studien zur Christologie� Kleine Schriften IV� Hg� von C�-J� Thornton, Tübingen 2006, 368-385 (zuerst 1999). Applaus im Himmel? 111 Thronsaales oft ins Kosmische und Groteske, also Paradoxe steigert� Es ist dies ein wesentliches Thema der präkabbalistischen jüdischen Hekhalot-Literatur (3.-10. Jh.), die einen Aufstieg des Visionärs bis vor den Thron Gottes als Gegenstand einer meditativen Ekstase schildert� 5 Sie ist erst in den letzten Jahren ernstlich in einen Fokus der Forschung geraten� 6 Ähnlichkeiten zur Vision des Johannes liegen auf der Hand (Gottes Thron in einem gigantischen, kosmisch konnotierten Thronsaal, vier mysteriöse Lebewesen und Engelchöre, Qeduscha bzw� Trishagion, Akklamation und Doxologie, Hymnus, Gesang und Gebet, usw�)� Die Irrungen und Wirrungen der irdischen Welt, mit ihren Anfechtungen, Versuchungen und ihrer imperialen Unterdrückung der christlichen Gemeinden laufen wie ein geplantes Theaterstück vor dem göttlichen Publikum des Thronsaales ab� Doch die Grenze zwischen beiden Wirklichkeiten verschwindet, wenn das himmlische Jerusalem auf die Erde herabkommt, und die himmlische die irdische Realität in sich aufnimmt (21,2)� Indem das „himmlische Jerusalem“, ein zentrales Bild eschatologischer Vollendung in der Apokalypse, auf die Erde kommt, und keinen Tempel benötigt, da Gott in ihr allenthalben präsent ist, erhält die Eschatologie selbst einen inkarnatorischen Zug� Im Endzustand aller Dinge ist Gott in unüberbietbarer Nähe bei seinem Volk (Offb 21,3�22)� Was das Johannesevangelium von der Inkarnation Christi sagt ( Joh 1,14�18), weitet 5 Vgl� etwa P� Schäfer, The Origins of Jewish Mysticism� Tübingen 2009; ders� (Hg�), Übersetzung der Hekhalot-Literatur. Vier Bände. Tübingen 1987-1995 (ein abschließender Register-Band ist angekündigt)� 6 Ein erster Versuch, diese Forschungen für die Apk fruchtbar zu machen, war G� Schimanowski, Die himmlische Liturgie in der Apokalypse des Johannes� Die frühjüdischen Traditionen in Offenbarung 4-5 unter Einschluß der Hekhalotliteratur. Tübingen 2002 (WUNT II, 154)� Prof. Dr. Marco Frenschkowski, geb� 1960 in Hamburg, lehrt seit 2011 an der Universität Leipzig Neues Testament unter Berücksichtigung der Religionsgeschichte der hellenistisch-römischen Welt� Forschungsgebiete sind das frühe Christentum und die antike Religionsgeschichte, daneben Religionskulturen der Moderne, neue religiöse Bewegungen, Klischee- und Stereotypforschung, Geschichte magischer und esoterischer Diskurse, Alteritätsforschung, phantastische und imaginative Literaturen, Geschichte der Konzepte von „Wissen“, Bibliotheksgeschichte� Hauptprojekt ist eine Religionsgeschichte des frühen Christentums� 112 Marco Frenschkowski sich gewissermaßen aus, ohne seinen christologischen Haftpunkt zu verlieren� 7 Tenor dieses gewaltigen Bilderkosmos ist in jedem Fall die Überzeugung, dass alle Kreatur dazu berufen ist, Gott anzubeten� Die Apokalypse bringt es auf eine kurze Formel: Gott ist „würdig“ ( axios )� „Herr, unser Gott, du bist würdig, zu nehmen Preis und Ehre und Kraft; denn du hast alle Dinge geschaffen, und durch deinen Willen waren sie und wurden sie geschaffen“ (4,11)� Es sprechen die 24 Ältesten, eine Art kosmischer Thronrat� Das Stichwort der Würde wird darüber hinaus in zwei weiteren Zusammenhängen eingebracht� Ein Engel spricht vor dem Thron: „Wer ist würdig, das Buch aufzutun und seine Siegel zu brechen? Und niemand, weder im Himmel noch auf Erden noch unter der Erde, konnte das Buch auftun noch es sehen� Und ich weinte sehr, weil niemand für würdig befunden wurde, das Buch aufzutun und hineinzusehen.“ (5,2-4). Wenn es so bliebe, wäre die Zukunft für alle Zeit ein Buch mit sieben Siegeln, und ein verborgener Sinn des Geschehens würde nicht sichtbar� Aber das mythische Szenario im Himmel verbindet sich mit den geschichtlichen Ereignissen auf der Erde, und das „Lamm, das geschlachtet wurde“ ist würdig, das Buch zu öffnen� Von diesem Punkt aus entfalten sich die Zyklen der apokalyptischen Endereignisse mit apokalyptischen Reitern, Siegeln, Weherufen, Posaunen, Zornschalen, und mehreren Einschüben� In einem dritten Zusammenhang werden die Mörder der (öffentlichen) Zeugen des Lammes (das Wort meint noch nicht exklusiv Märtyrer) ebenfalls als „Würdige“ bezeichnet: Die sich gegen diese Zeugen stellen, haben „verdient“, was ihnen im Gericht widerfährt (16,6)� Und die Christen selbst, die sich nicht mit der Welt besudelt haben, sind ihren eschatologischen Lohn „wert“ (3,4)� Das verbindende Schlagwort, mit dem deutschen „würdig“ nur teilweise wiederzugeben, bezeichnet in jedem Fall eine „Angemessenheit“ in hohem Maße, die eine Reaktion erfordert� Und ein Aspekt dieser „Angemessenheit“ in Hinsicht auf Gott ist die Anbetung Gottes: er ist in besonderer und nicht zu überbietender Weise „würdig“� Wie können wir uns ein Verständnis dieser Überzeugung erschließen? Bevor wir in einer intelligenten Wahl in diese Überzeugung einstimmen können, oder aber auch in eine Spannung zu ihr treten, müssen wir sie verstehen� Wählen wir einen indirekten Zugang und beginnen mit einem berühmten Text der britischen Literaturgeschichte� C� S� Lewis erzählt am Beginn seines Buches „The 7 Über das komplizierte Verhältnis zwischen Corpus Ioanneum und Apk vgl� zuletzt M� Karrer, Die johanneischen Schriften und die Apokalypse� Beobachtungen zu einer komplizierten Beziehung, in: M� Labahn (Hg�), Spurensuche zur Einleitung in das Neue Testament: Eine Festschrift im Dialog mit Udo Schnelle, Göttingen 2017, 373-394, dessen Lösung (literarische Unabhängigkeit der Texte) wohl zuzustimmen sein wird� Applaus im Himmel? 113 Abolition of Man“ 8 über die Frage einer objektivierbaren Moral eine Anekdote über den englischen Schriftsteller Samuel Taylor Coleridge� Dieser hatte sich verärgert gezeigt über ein Gespräch bei einem Besuch angesichts eines gewaltigen Wasserfalls in Schottland� Von zwei Beobachtern bezeichnet diesen der eine als „beautiful“, der andere als „majestic“ bzw� „sublime“ (die Anekdote stammt aus Dorothy Wordsworths „Recollections of a Tour in Scotland, A� D� 1803“)� In einer heftigen Diskussion mit einer Dame stellt sich Coleridge ganz auf die Seite des letzteren, und unterzieht das erstere Statement einer scharfen Kritik� Lewis spitzt den Gegensatz etwas zu auf „pretty“ (hübsch) vs� „sublime“, und zitiert dazu neben Augustins Ordo amoris auch Thomas Trahernes „Centuries of Meditations“ (um 1670): „Can you be righteous, unless you be just in rendering to things their due esteem? All things were made to be yours and you were made to prize them according to their value“ (1,12 ed� A� Ridler 1966)� Das bringt es auf den Punkt� „Not pretty but sublime” wurde in der Literaturwissenschaft zu einer Art geflügeltem Wort für das Thema einer unangemessenen Würdigung eines ästhetischen Sachverhaltes� Das Unangemessene kann dabei das Banausenhafte, Bildungsferne, Zynische, Verniedlichende, Vorschnelle genauso sein wie das Überhebliche, Desinteressierte oder Manierierte� Das Unangemessene hat viele Gesichter� Und das Angemessene? Es soll noch einmal betont werden, dass dies in unserem Kontext keineswegs nur eine „ethische“ Frage ist, sondern nicht weniger eine ästhetische, ja eine ontologische� Wie nimmt der Mensch „angemessen“ als wahrnehmendes und denkendes Wesen seinen Platz im Gefüge der Welt ein? Die Johannesapokalypse antwortet: in der Anbetung Gottes angesichts einer theozentrischen Gesamtvision der Wirklichkeit, angesichts der ihrem Ende entgegengehenden Welt, der himmlischen Thronwelt Gottes und angesichts der Weltvollendung in der „goldenen Stadt“, deren Bäume mit ihren Früchten und Blättern „die Völker heilen“ (22,2)� Wer wollte leugnen, dass dies in hohem Maße provozierende, paradoxe, änigmatische Bilder sind? In unserer Situation des interreligiösen Dialogs sind wir auch an das islamische Insistieren auf der „Schönheit Gottes“ als einer zentralen spirituellen 8 C� S� Lewis, The Abolition of Man� Reflections on education with special reference to the teaching of English in the upper forms of schools, Oxford 1943� Das Buch ist vermutlich die einflussreichste britische Schrift zum Thema Moralphilosophie im 20� Jh� gewesen; die vorliegenden deutschen Übersetzungen der Bücher von C� S� Lewis sind jedoch fast ausnahmslos eher dilettantisch angefertigt, was nicht wenig dazu beigetragen hat, dass der Autor in Deutschland nie in dem Maße wahrgenommen wurde wie in der angloamerikanischen Welt� 114 Marco Frenschkowski Kategorie erinnert� 9 Im Zentrum dieser Imagination und Einsicht steht für den Seher Gott� Aber wie kann etwas nicht Sichtbares, nur im Modus der Andeutung zu Beschreibendes „schön“ sein? Es kann dies nur, indem es sich symbolisch repräsentiert� Dazu treten andere Aspekte: Gott ist „würdig“ als Schöpfer und Vollender der Welt, und als derjenige, der diese Vollendung durch das „Lamm“ schafft� Die Steigerung des Symbols ist die sakramentale und darüber hinaus die inkarnatorische Repräsentation Gottes und des Lammes� Es ist genau dies, was die Bildwelt der Apokalypse leistet� Nach Coleridge gäbe es gegenüber der Majestät des Naturphänomens eine angemessene und eine unangemessene Reaktionsweise� Ästhetik ist für ihn nicht einfach eine Sache persönlicher Vorlieben, sondern einer kultivierten Sensibilität, die dem Menschen auch ermangeln kann� Mit dem Fehlen dieser Sensibilität (die selbstverständlich etwas mit Erziehung und persönlicher Lebensgeschichte zu tun hat) werde dem Menschen etwas gestohlen, etwas geraubt (so Lewis)� Nun kennen wir als heutige Leserinnen und Leser das Thema der „Angemessenheit“ einer Reaktion vor allem in ethischer Hinsicht� Trotz aller kulturellen Bedingtheit der Ethik (eine Grundüberzeugung der Postmoderne) lassen wir es uns nicht ausreden, dass z� B� bei einem Unfall die Hilfskräfte zu behindern, um zu gaffen, ein „unangemessenes“ Verhalten ist, und in der konkreten Konfrontation mit Leid und Schmerz etwa kein Mitleid zu empfinden als eigentümlich „unmenschlich“ zu gelten hat� Unterlassene Hilfeleistung in lebensbedrohlicher Situation, das Fälschen von Fakten in der Wissenschaft oder im Journalismus, oder auch in einem totalitären System das Fähnlein überhaupt nach dem Wind zu drehen: all das ist für uns ein verächtliches Verhalten, und wir kämen nicht auf die Idee, dies durch die kulturelle Varianz ethischer Systeme in Frage stellen zu lassen� Damit behaupten wir keine „universale“ oder „globale“ Moral: uns ist im Allgemeinen sehr bewusst, dass in vielen Lebensbereichen z� B� naturrechtliche Argumentationen scheitern� Aber es ist doch ein Faktum, das wir in uns selbst vorfinden (auch wenn wir es ganz unterschiedlich begründen, legitimieren oder auch in Frage stellen), dass wir ethische Urteile fällen, an denen zu rütteln uns überhaupt nicht in den Sinn kommt� Es geht dabei an dieser Stelle nicht um die Frage, ob wir das tun sollten oder nicht, sondern um die schlichte Feststellung, dass es so ist� Sehr viel schwieriger wird es, wenn das „Angemessene“ Bereiche betreffen soll, die nicht direkt ethischer Art sind� Ästhetische Urteile etwa sind für uns (sehr plakativ gesagt) in einem postmodernen kulturellen Kontext in hohem Maße relativ, eventuell subjektiv, Ergebnisse eines Konstruktionsdiskurses� 9 N� Kermani, Gott ist schön: Das ästhetische Erleben des Koran, München 1999 (Neuausgabe 2018)� Applaus im Himmel? 115 Dennoch erkennen wir auch hier im Allgemeinen an, dass es gebildete, sensible und sogar „genialische“ Sichtweisen geben kann, oder auch banausische, triviale, bildungsferne, unsensible, unaufgeklärte� Anders gesagt: bei aller Relativität des ästhetischen Urteils können wir nicht umhin, ein besser oder schlechter, eine Entwicklung zum solideren Urteil, oder auch ein Abfallen der Urteilskraft anzunehmen� Das gilt ganz unabhängig davon, welchen ethischen oder ästhetischen Systemen wir Plausibilität zusprechen: und zwar wieder gilt es erst einmal sehr schlicht faktisch, als Beobachtung unseres Umganges mit ästhetischen Urteilen� Wir entkommen der Frage nach dem Angemessenen nicht� Wir entkommen ihr weder in der Ethik noch in der Ästhetik� Die angemessene Reaktion des Menschen auf die Theophanie Gottes hat aber ethische, ästhetische, lebensweltliche, rituelle und andere Aspekte� 10 Das Schöne, das Erhabene, das Majestätische, das Glänzende, das, was den Menschen in der Betrachtung über sich hinaushebt, kann dabei auch Elemente des Numinosen, des Erschreckenden aufweisen� Diese äußern sich auch in seinem Schatten: im Hässlichen, Bestürzenden, Erschreckenden, im Widerwillen und allen anderen Spielarten der dunkleren Seite des Schönen� Mit Rilkes „Das Schöne ist nichts als des Schrecklichen Anfang, den wir noch grade ertragen, und wir bewundern es so, weil es gelassen verschmäht, uns zu zerstören“ (1� Duineser Elegie) sind wir sehr dicht an der theophanialen Ästhetik der Thronsaalszenen der Apk, die eben auch befremdende Elemente enthalten und enthalten wollen� Erinnern wir auch daran, dass ehemals Gerhard von Rad eine biblische Ästhetik primär aus den alttestamentlichen Theophanieszenen entwickelt hat� 11 Das Schöne erhält in solchen Kontexten einen numinosen Grundzug, und sich diesem zu verweigern oder zu öffnen ist nicht nur eine Frage der Ethik� Ein Verständnis der „Angemessenheit“ der Gottesverehrung in Apk ist für uns erschwert, weil diese Angemessenheit weder einfach eine Sache der Ethik noch einfach eine solche der Ästhetik ist� Es wäre für den Seher ohne Frage nicht nur „böse“ oder sogar blasphemisch, Gott nicht anzubeten: es wäre in einem tiefen Sinn absurd, ein Verlust an eigener Menschlichkeit, ein Herausfallen aus dem Angemessenen angesichts einer überwältigenden göttlichen Präsenz� Allein die Anbetung Gottes stellt sich der Wirklichkeit und ist in diesem Sinn angemessen 10 Über die in die Zukunft verlagerte Theophanie Gottes als Grundthema der jüdischen und christlichen Apokalyptik s� A� Scriba, Die Geschichte des Motivkomplexes Theophanie� Seine Elemente, Einbindung in Geschehensabläufe und Verwendungsweisen in altisraelitischer, frühjüdischer und frühchristlicher Literatur (FRLANT 167), Göttingen 1995� 11 G� v� Rad, Theologie des Alten Testaments� Bd� 1: Die Theologie der geschichtlichen Überlieferungen, München 7 1978, 375-379. Jahwebilder wurden im idealtypischen Israel des Alten Testaments nicht angebetet, sondern waren als literarische Bilder selbst Ausdruck der Anbetung, wie von Rad treffend sagt (376 Anm� 18)� 116 Marco Frenschkowski und „realistisch“, nicht als Auftrag einer Ethik, sondern als natürliche und selbstverständliche Reaktion auf das Gottsein Gottes� Sich dieser Anbetung zu verweigern - wie es das römische Imperium tut und sich darin gerade als solches definiert - ist im tiefsten nur denkbaren Sinn „unangemessen“, ein Verlassen der Conditio humana � Der Mensch verliert seinen Platz in der Ordnung der Dinge, wenn er nicht staunen, nicht verehren, nicht anbeten kann: oder wenn er sich für diese Objekte sucht, die das nicht wert sind� Das ist die Situation, in welcher der Prophet Johannes seine eigene kleinasiatische Gesellschaft vorfindet� Daher kann die Nachahmung der Gottesverehrung im Kaiserkult, in der Verehrung Roms 12 und im Kult des Imperiums selbst (Offb 13,4.11-18 u. ö.), als Persiflage dessen, was im Himmel geschieht, zu keinem guten Ende führen: Sie ist unangemessen nicht nur in einem ethischen Sinn, sie verweigert sich der größeren Realität Gottes� Nicht die „ewige Stadt“ 13 ist ewig, sondern allein Gott kommt Ewigkeit zu� Daher wird der unausweichliche Untergang Roms in ganz verschiedenen Bildern zur Sprache gebracht: die Stadt wird im Feuer verbrannt (17,16; 18,8 f� 18; 19,3), sie wird von plündernden Armeen aus dem Osten eingenommen (17,16), ein Erdbeben zerstört sie (16,19 und vielleicht 18,21), eine Hungersnot verwüstet sie (18,8) und sie wird ganz allgemein zur Ruinenstätte (18,2.22-24). Offb 18,10. 17. 19 vergeht sie in nur einer Stunde (vg. 14,8), wie einst Atlantis in nur einem Tag und einer Nacht untergegangen sein soll� Sehr auffällig ist das Nebeneinander dieser ja durchaus divergierenden Bilder� 14 Das Motiv der Ewigkeit Roms wird damit ad absurdum geführt: Ewig ist allein der über der Welt thronende Gott, und die, welche er daran teilhaben lässt� Daraus folgt für den Propheten Johannes: ein Nicht-Einstimmen in die Anbetung Gottes verschließt die Augen vor der theophanialen Erscheinung, sie verkürzt die Wirklichkeit und stiehlt Gott und dem Himmel, was ihnen zusteht� Sie ist willentliche Blindheit der größeren Wirklichkeit gegenüber� Die Kritik am Imperium ist damit nicht nur eine politische Totalitarismuskritik (wie wir etwas anachronistisch vielleicht doch sagen dürfen), sondern eine Entlarvung einer ontologischen Verweigerung� Wie der Satan aus dem Himmel gestürzt wird (in den er ursprünglich gehört, Offb 12), so fällt das Imperium aus der Ordnung der kreatürlichen Wahrheit heraus� Es lässt dem Kaiser, der Stadt Rom, dem 12 Über die Verehrung der Göttin Roma in Kleinasien s� C� Habicht, Die Augusteische Zeit und das erste Jahrhundert nach Christi Geburt, in: S� R� F� Price (Hg�), Rituals and Power� The Roman Imperial Cult in Asia Minor, Cambridge 1984, 41-88. 13 Zu diesem Motiv (zuerst in dieser Formulierung Tibull, carmen 2,5,23 f�) vgl� B� Kytzler (Hg�), Roma aeterna� Romdichtung von der Antike bis in die Gegenwart, Darmstadt 1984� 14 Ausführlich zu den damit zusammenhängenden Fragen M� Frenschkowski, Parthica apocalyptica� Mythologie und Militärwesen iranischer Völker in ihrer Rezeption durch die Johannesoffenbarung, JAC 47, Münster 2004, 16-57, bes. 40 f. Applaus im Himmel? 117 Imperium, den paganen Göttern an Ehre zukommen, was allein Gott gebührt, weil es nur in diesem einer Wirklichkeit korrespondiert� In einem weiteren Schritt ist für uns das Thema der „Anbetung“ (die natürlich etwas ganz anderes ist als Bitte oder Dank, Klage oder Fürbitte) über die Kategorie des Staunens zugänglich� Der Mensch, der nicht staunen kann, hat etwas eingebüßt: oder es ist etwas in ihm oder ihr nicht gewachsen, nicht gereift, noch nicht zur Blüte gekommen� Nicht staunen zu können, ist in einem sehr tiefen Sinn des Wortes „bedauerlich“: wir würden das nicht durch das Wissen um die kulturelle Variabilität aller ethischen Systeme relativieren lassen� Ohne Frage will die Schilderung des himmlischen Thronsaales eine Art Staunen evozieren, auch wenn sich dieses in der Imagination abspielt� Dabei ist das rituelle Inventar der Anbetung Gottes in Apk jedoch nicht einfach eine spontane Reaktion auf die Theophanie Gottes (insbesondere als des Schöpfers), also eines Staunens in direkter Reaktion: es ist vielmehr himmlischer Kult� Träger dieses Kultes sind die Engel, aber die Menschen werden sukzessive integriert� In diesem Kult stabilisiert und perpetuiert sich die „angemessene Reaktion“ auf das Gottsein Gottes, und er hat, über das Staunen hinaus, wie jeder Kult, Elemente des Spieles, der Variation wie auch der Stabilität und des Rhythmus� Es ist nicht „vorauszusehen“, wann die 24 Ältesten ihre Kronen ablegen und vor Gott niederfallen (4,10 f): es bringt dieses Tun der himmlischen Wesen 15 ein dynamisches Element in die Thronsaalszene� Dieses steigert sich dann noch einmal mit der Ankündigung des „Löwen aus dem Stamm Juda“, des messianischen Königs� Doch verwirklicht sich diese Ankündigung in starkem Kontrast und erstaunlicher Paradoxie im Kommen des geschlachteten Lammes (5,5 vs� 6)� Gerade dieses Lamm kann die Schriftrolle öffnen, in der sich die Rätsel der Zukunft enträtseln und der Weltenplan Gottes sichtbar wird (5,2-4). Damit ist die christologische und akklamatorische Mitte der Apokalypse erreicht� Das Ereignis im himmlischen Thronsaal korrespondiert in gewisser Weise der Himmelfahrt und Erhöhung Jesu in anderen neutestamentlichen Ausdrucksweisen� Ein dritter Aspekt ist zu bedenken� Es ist eine konsenshafte Überzeugung der alten Welt: Ehre wem Ehre gebührt� Und wem gebührt Ehre? Aspekte von Scham- und Ehre unterscheiden sich in antiken Gesellschaften durchaus von vergleichbaren Kategorien in unserer Lebenswelt� Ehre ist keine moralische Kategorie, sondern eine soziale� Der Kaiser und seine militärischen und administrativen Vertreter, überhaupt die Träger der imperialen Macht, beanspruchen 15 Die vier Tiere und 24 Ältesten haben offenbar auch Aspekte astraler Symbolik� Dazu M� Frenschkowski, Die Johannesoffenbarung zwischen Vision, astralmythologischer Imagination und Literatur� Perspektiven und Desiderate der Apokalypseforschung, in: F� Wilhelm Horn / M� Wolter (Hg�), Studien zur Johannesoffenbarung und ihrer Auslegung (FS O. Böcher), Neukirchen-Vluyn 2005, 20-45. 118 Marco Frenschkowski Ehre� 16 Dazu dient ein elaboriertes System symbolischer Präsenz des Reiches in den Provinzen: auf der Agora, in den städtischen Versammlungen, in Umzügen und anderen öffentlichen Aktionen, in Bauten, Bildern, Stand- und Reiterstatuen, im Münzwesen, in rituellen Akten der Ehrerbietung� Ehre gebührt jedoch nach der Apk vor allem Gott, aber auch dem Lamm� Damit tritt die Ehre Gottes in eine Konkurrenz zur Ehre der imperialen Träger von „Würde“� Aus der Fokussierung auf Anbetung, Ehre, Staunen und Lob, die allein Gott zukommen, resultiert ein in hohem Maße kritischer Blick auf den römischen Staat� Dieser muss ein für frühe Leserinnen und Leser hervorstechender Zug der Apokalypse gewesen sein� Der Propaganda-Apparat des Imperiums ist direkter Ausdruck einer Art teuflischen Epiphanieweise: Satan, die „alte Schlange“, erschafft sich auf der Erde ein dämonisches „Tier“, das alle Züge des Imperiums trägt (Offb 13)� Ein „zweites Tier“ ist offenbar nichts anderes als der Kult um Imperium und Kaiser mit seinen Funktionären� Viele konkrete Züge aus der imperialen Ideologie werden in diese visionäre Staatskritik eingebaut� Das gilt u� a� für die in der paganen Umwelt umlaufenden Geschichten über einen wiederkehrenden Nero, einen „Nero redivivus“ (13,3.12; 17,8-11), 17 welche die Apokalypse in ihrem Sinn deutet� Der aus dem Totenreich wiederkehrende Nero ist der Anti- Christus� Damit wird die politische Bildwelt des Imperiums radikal verfremdet und zur Gegenwelt gegen die himmlische Monarchie� An und für sich weist das Neue Testament ein breites Spektrum an potentiellen Staatstheorien auf, die aber noch nicht entfaltet werden, und immer im Modus der Andeutung bleiben� Von der Unterstützung rechtsstaatlicher Strukturen durch Paulus (Röm 13,1-7) reicht dieses Spektrum über die vorsichtige Annäherung an den Staat in der lukanischen Apostelgeschichte 18 bis zur radikalen Dämonisierung des Staates in der Versuchungsgeschichte der Logienquelle (Mt 4,1-11; Lk 4,1-13). In dieser ist es der Teufel, der die politische Macht (die Königsherrschaft auf der Erde) vergibt� In der Apokalypse wird diese letztere Linie einer Dämonisierung des Imperiums breit ausgebaut, und zu einer umfassenden religiösen, politischen und kulturellen Kritik genutzt� In beiden Fällen macht eine solche Sicht auf den Staat frei von jeder Selbstüberhöhung 16 Vgl� etwa A� Heller / O� M� van Nijf (Hg�), The Politics of Honour in the Greek Cities of the Roman Empire, Leiden 2017� Zum Thema in der Bibel zusammenfassend: C� Janssen / R� Kessler, Art� Ehre / Schande, in: F� Crüsemann u� a� (Hg�), Sozialgeschichtliches Wörterbuch zur Bibel. Gütersloh 2009, 97-100. 17 Vgl� M� Frenschkowski, Art� Nero, RAC 25, Stuttgart 2013, 839-878 und ergänzend ders., Nero Redivivus as a Subject of Early Christian Arcane Teaching, in: M� Labahn / O� Lehtipuu (Hg�), People under Power� Early Jewish and Christian Responses to the Roman Empire, Amsterdam 2015, 229-248. 18 Apg 26,28 wird zum ersten Mal im NT denkmöglich, dass auch Mitglieder der staatstragenden Elite und überhaupt der Herrschaftsschicht Christen werden könnten� Applaus im Himmel? 119 politischer Systeme� Sie ist aber nicht sozialutopisch: sie fordert weder zu einem konkreten politischen Handeln heraus (das für Christen in Kleinasien auch gar nicht möglich gewesen wäre), noch entwirft sie eine verwirklichbare utopische Gegenwelt� 19 Offb 19,11-21; 20,7-10 wird der „Endkampf“ gegen das Böse von himmlischen Mächten ausgefochten: eine Beteiligung etwa der Christen ist nicht im Blick� Das Nebeneinander dieser auf den ersten Blick divergierenden Positionen war für frühe Christinnen und Christen offenbar deshalb erträglich, weil es sich auf sehr verschiedene Aspekte der empirischen Realität „Staat“ bezog, und diese jeweils theologisch deutete� Als Ordnungs- und Verwaltungsinstanz konnte auch der römische Staat als gottgegeben qualifiziert werden, als Anmaßung eines absoluten Herrschaftsanspruches über Menschen und Völker dagegen war er eine widergöttliche Angelegenheit� Jeder Vereinnahmung der apokalyptischen Bildwelt zu konkreten politischen oder geschichtlichen Voraussagen setzt sich die Apokalypse durch ihren zyklischen, symbolisch-änigmatischen Charakter entgegen� Nur an einer einzigen Stelle wird die Leserschaft dazu aufgefordert, einen symbolischen Sachverhalt in die politische Realität zu übertragen (Offb 13, 18)� 20 Die Apokalypse wird damit zu einer umfassenden Konkurrenzimagination� Sie spannt im Mittel literarischer Gestaltung eine Gegenwirklichkeit nicht nur gegen Kaiserkult und Romverehrung auf, sondern auch gegen die Kommerzialisierung aller Lebensbezüge, und gegen die angemaßte Allmacht von Militär und Wirtschaft (Offb 17 f�)� Politische, militärische, ideologische und wirtschaftliche Macht gehen eine unheilige Allianz ein: darum sind es die Kaufleute aus aller Welt, die über den Untergangs Roms „wehklagen“ (Offb 18, 15-19). Das römische Reich wird zu einem Imaginarium, aus dem die Apokalypse entheimatet� Sie macht Christen zu Fremden, indem sie sie auf einen sehr aktiven Himmel ausrichtet� 21 Bekanntlich kommt dieser Himmel auf die Erde: er ist nicht Ziel eines „Aufstiegs“ oder einer Seelenreise, sondern vereint sich selbst aktiv mit der Erde, in dem das himmlische Jerusalem auf die Erde herabkommt, ein Bild von seltener Eindrücklichkeit für die inkarnatorische Theologie der Apokalypse� Anbetung oder, um es etwas untheologischer zu sagen, Applaus für Gott werden damit zu einem Politikum: Sie emanzipieren 19 Zum Verhältnis Apokalyptik - Utopie s� M� Frenschkowski, Utopia and Apocalypsis� The Case of the Golden City, in: M� Labahn / O� Lehtipuu (Hg�), Imagery in the Book of Revelation, Leuven 2011 (Contributions to Biblical Theology and Exegesis 60), 29-41. 20 Zu den altkirchlichen Deutungen s. M. Frenschkowski, Nero, 859-861. 21 Zur „Aktivität“ und Dynamik des Himmels in Apk vgl� M� Frenschkowski, Die Entrückung der zwei Zeugen zum Himmel (Offb 11,11-14), JBTh 20, Neukirchen-Vluyn 2005, 261-290. 120 Marco Frenschkowski die Gemeinschaft der Christinnen und Christen gegenüber den Ansprüchen des vereinnahmenden Staates� Indem das Lamm in eine Throngemeinschaft mit Gott tritt, wird es ebenfalls zum Gegenstand der Ehre und Verehrung, die Gott gebührt� Soll man das eine binitarische Theologie nennen? Tatsächlich ist die Theologie der Apokalypse mit ihren Aussagen zu Lamm und Geist 22 bereits ausgeprägt trinitarisch, obwohl sie noch weit von der theologischen Formelsprache der Alten Kirche entfernt ist� „Unjüdisch“ ist das nicht: tatsächlich denkt das Judentum dem Christentum in der Figur eines „zweiten Gottes“ (wie Philon tatsächlich sehr anstößig vom Logos sagen kann) voraus, eines „kleinen Jahwe“, der auch als Menschensohn, Messias, Metatron, Weisheit usw� auftreten kann� 23 Diese verschiedenen Figuren sind mythologische Ausdrucksweisen für den „Zweiten nach Gott“ (oder die Zweite, wie im Fall der Weisheit) und diesem direkt zugeordnet� Sie wurden offenbar weder von Juden noch von Christen als Konkurrenzfiguren gedeutet� Christologie entwickelt sich in Bahnen, die das Judentum vielfach vorgedacht hat: neu ist vor allem die Identifikation mit dem geschichtlichen Menschen Jesus, dem Gekreuzigten und Auferstandenen� Die Apokalypse ist ohne Frage der am stärksten visuell geprägte Text des Neuen Testaments� Sie ist Literatur als Evokation einer Flut gewaltiger Bilder� „Sehen“ ist in der Apokalypse, auch da, wo es mit einem inneren Auge, mit einer inneren Anschauung geschieht, ein transformativer Akt, der die Sehenden verändert� Damit steht es in einer sowohl jüdischen als auch griechisch-hellenistischen Tradition (exemplarisch: Platon, Phaedrus 251A-C� 255C-D; Achilles Tatius, Leukippe und Kleitophon 5,13,4)� Das Bild des göttlichen Thronsaales ist dabei nicht aus der Audienzsprache des römischen Reiches genommen, sondern aus derjenigen der altorientalischen Großreiche� Im Alten Testament kann man exemplarisch an 2. Chron 9,17-19 denken. Anders gesagt: das Bild hat einen sakralen, altertümlichen Beigeschmack, bzw� (wenn wir es nicht missverstehen) etwas Märchenhaftes (so wie die Königsfiguren der Salomo- oder Arthussage eben keinen realen Königen entsprechen)� In Jes 66,1 war der Himmel selbst als Thron Gottes, die Erde als Schemel vor seinen Füßen bezeichnet worden: hier kündigt sich die Linie an, die in der Apokalypse zu einem Zentrum des Gottesbildes wird� Auch in ihren Hoffnungsbildern ist sie dabei nicht idyllisch� Sie nimmt Gut und Böse sehr ernst: und ohne Frage gibt es Himmel und Hölle, 22 Dieser wird pluralisch entfaltet und auf Gott wie Christus bezogen: Offb 1,4; 3,1; 4,5; 5,6� Prätext ist Jes 11,2� 23 Das ist die Grundthese des Buches von P� Schäfer, Zwei Götter im Himmel: Gottesvorstellungen in der jüdischen Antike, München 2017, das sich freilich in einer Attitüde starker Polemik gegen christliche Theologie gefällt� Einflussreich zur Sache war schon M� Barker, The Great Angel: A Study of Israel’s Second God� London 1992� Applaus im Himmel? 121 Heil und Unheil� Gott und Christus ergreifen selbst das Wort, wie ehemals in der alttestamentlichen Prophetie, mit der sich der Seher selbst auf Augenhöhe sieht (darum bedarf er keiner legitimierender Zitationsformeln): er „verschwistert“ sich sozusagen mit der kanonischen Schriftprophetie� 24 Die Apokalypse ist das einzige Buch des Neuen Testaments, das von Anfang an kanonische Geltung beansprucht (22,18 f�)� 25 Es ist insofern auch nicht ganz zutreffend, wenn sie gerne primär als „Trostbuch für eine angefochtene Gemeinde“ u� ä� beschrieben wird� Dann wäre die Intention der Apokalypse nur auf die Leserinnen und Leser ausgerichtet: das ist aber ein Missverständnis� Die literarische Kreation und die in ihr freigesetzte Imagination ist nämlich selbst ein Akt der Anbetung, der Gottesverehrung� In ihm wird den imperialen Leitimaginationen widersprochen� An ihre Stelle tritt eine ganz andere - im buchstäblichen Sinn - „Anschauung“ der Wirklichkeit� Der Vorwurf gegenüber dem Staat ist dabei nicht in erster Linie Grausamkeit oder Unterdrückung, sondern Vergötterung dessen, was keine Götter sind� Die himmlische Welt der Apokalypse ist damit eine Art Subversion� Gerade in ihrer Bildsprache findet sie „Machtworte“ 26 und partizipiert an der Anbetung Gottes und des Lammes� Wie verhält sich der theologische Tenor dieser Anbetung Gottes zur Wirklichkeitskonstruktion der Apokalypse? Diese ist archaisierend-sakral� Sie ist eine Gegenwirklichkeit gegen die sich aufdrängenden Wirklichkeiten des Imperiums und der vereinnahmenden hellenistisch-römischen Kultur� Oben und unten sind Richtungen einer sakralen Topographie: nicht eigentlich einer astronomischen Kosmologie� Die Apokalypse ist dabei kein Dokument der „Lehre“: sie verweigert sich jeder Verrechenbarkeit zu einer beobachtbaren, aufweisbaren Sequenz der eschatologischen Ereignisse� Die Zyklen der Siegel, Posaunen, Zornesschalen, Weherufe haben keinen konsekutiven Charakter, sondern nehmen die gleichen Themen in immer neuer Bildlichkeit auf� Allerdings sind sie zielgerichtet: die Geschichte verläuft nicht zyklisch� 27 Bilder können komplex-paradox koexistieren: Christus ist ebenso 24 Diese treffende Formulierung stammt von M� Karrer, Die Johannesoffenbarung, Teilband 1: Offb 1,1-5,14, Ostfildern / Göttingen 2017, 192, der einen Akzent darauf legen möchte, der Seher bezeichne sich nicht explizit als Propheten� Das dürfte an Stellen wie 1,3; 22,18 doch für jeden Leser deutlich impliziert sein� 25 Vgl� M� Tilly, Textsicherung und Prophetie� Beobachtungen zur Septuagintarezeption in Apk 22,18 f., in: Friedrich W. Horn / M. Wolter (Hg.), Studien, 232-247. 26 Vgl� zum Begriff das originelle Buch von A� Mauz, Machtworte: Studien zur Poetik des ‚heiligen Textes‘ (HUTh 70), Tübingen 2016� 27 Vgl� über die Spannung zwischen zyklischen und linearen Geschichtsmetaphern M� Frenschkowski, Alles schon dagewesen? Zyklische und lineare Geschichtsbilder seit der Antike: ein geschichtsphilosophischer Spaziergang, in: E� Schenkel / K� Voigt (Hg.), Verweile doch … Über die Erforschung der Zeit, Leipzig 2015, 37-74. 122 Marco Frenschkowski das geschlachtete Lamm 28 wie der himmlische Feldherr, dessen Gewand vom Blut seiner Feinde blutrot ist (Offb 19,13)� Im Gegensatz zu verharmlosenden Interpretationen frühchristlicher Christologien kennen diese Bilder Jesus gerade nicht nur als „Opfer“, als Objekt menschlicher Gewalt, sondern auch als „Sieger“ (ein zentrales Wortfeld der Apokalypse)� Dabei werden aggressive Bildlichkeiten nicht vermieden (auch 2 Thess 2 ist es Jesus persönlich, der den Antichrist tötet)� Der „weiße Reiter“ in Offb 6 weist dabei als Antizipationsfigur voraus auf den epiphanen Parusie-Christus Offb 19, der als Reiter auf weißem Pferd die himmlischen Heerscharen in die Schlacht führt� (Der Vergleich mit einem „Triumphator“, gelegentlich zu lesen, ist exegetisch unsinnig, denn Christus reitet aus in die Schlacht, nicht aus dieser zurück, und ein Triumphator reitet nicht, sondern fährt auf einer Quadriga)� 29 Christen sind an diesem quasi-militärischen Geschehen dezidiert nicht beteiligt� Sie sind Zuschauerinnen, Zuschauer beim „Endkampf“ (dessen Imaginarium sich schon deshalb nicht zur Deutung politischer Vorgänge eignet)� Daher fordert die Apokalypse auch zu keinem „Aktionismus“ gegen Rom oder das imperiale System auf� Subjekt der Vernichtung der widergöttlichen Mächte bleiben Gott, Christus und die himmlische Armee (als deren Anführer Offb 12 der Engel Michael gedacht ist: ein antidualistischer Zug; nicht Gott selbst kämpft gegen den Teufel)� Kommen wir zu einer letzte Frage, die in diesem kurzen Essay in den Blick genommen werden soll: Ist die Johannesapokalypse in ihrer Bildwelt „phantastisch“, oder sogar eine Art antiker Fantasy? 30 Das Phantastische ist eine spielerische Entgrenzung und Infragestellung der Wirklichkeit� Im phantastischen Text konkurrieren und unterwandern „andere“ Wirklichkeiten die vertraute� Sie ist aber zuerst ein Textphänomen: Wirklichkeiten konkurrieren im Text, nicht einfach zwischen Text und „unserer“ Welt� 31 Phantastik wird in dieser Sichtweise nicht text-extern als Verstoß gegen naturwissenschaftliche Plausibilitäten o� ä� definiert, sondern als Modus spezifischer text-interner Gestaltungen des 28 Die gelegentlich geäußerte Vermutung, arnion ( tou theou ) solle eigentlich „Widder (Gottes)“ heißen, und metaphorisch auf den Leitwidder der Herde anspielen, ist sprachlich nicht möglich� Vgl� zu den Hintergründen und zur altkirchlichen Auslegungsgeschichte des „Lammes Gottes“ M� Frenschkowski, Art� Lamm Gottes, RAC 22, Stuttgart 2008, 853-882. 29 Dazu M� Frenschkowski, Art� Reiter, in: RAC 28, Stuttgart 2018, 966-992. 30 Vgl� ausführlicher M� Frenschkowski, Apokalyptik und Phantastik� Kann die Johannesoffenbarung als Text phantastischer Literatur verstanden werden? In: S� Alkier / Th� Hieke / T� Nicklas (Hg�), Poetik und Intertextualität der Johannesapokalypse, Tübingen 2015 (WUNT 346), 177-204. Aus dieser Darstellung sind im Folgenden einige Sätze übernommen, jedoch die Akzente etwas anders gesetzt� 31 Es war dies eine zentrale Einsicht der strukturalistischen Studie von U� Durst, Theorie der phantastischen Literatur, Berlin 2 2010� Applaus im Himmel? 123 „Wunderbaren“ gedeutet� Es müssen also immer zwei radikal divergierende Realitätssysteme in einem Text präsent sein, damit sinnvollerweise von Phantastik gesprochen werden kann� Das unterscheidet von Fantasy, die in rein fiktionalen Gegenwelten spielt und eine moderne Form des Märchens ist� Beide erheben als Formen von Literatur keinen direkten Wirklichkeitsanspruch: das unterscheidet sie von religiöser, auch von visionärer und prophetischer Literatur, bei aller Berührung im Bereich der Motive� 32 Auch Science Fiction - als modernes Genre potentieller Zukünfte und alternativer Gesellschaften - ist durchaus von prophetischer Literatur zu unterscheiden, so fruchtbar der Vergleich im Einzelnen sein kann (etwa für Lukians „Wahre Geschichten“ 33 )� In Hinsicht auf die Apokalypse führt es jedoch eher auf eine falsche Fährte, sie mit dem Phantastikbegriff deuten zu wollen� Ihr eignet nichts Spielerisches oder Tentatives� In gewisser Hinsicht ist sie geradezu anti-phantastisch, denn die Welt wird in ihr nicht spielerisch entgrenzt, wie wir es für das Phantastische angesetzt haben� Vielmehr werden das Bedrohliche, Chaotische, das Böse und Übermächtige des Imperiums, das Kontingente der Geschichte ebenso wie das Dämonische und Fremde, das Ferne jenseits des Euphrat (9,14; 16,12) 34 ebenso wie die Mächte der Unterwelt in ein gewaltiges Gesamtsystem hinein genommen� Dieses System ist kein diskursiver Raum theologischer Begriffe, sondern ein Symbolraum imaginierter Wesen und Welten� Der Audienzsaal Gottes ist sozusagen der Ort des Kosmos: vor seinem Thron ist das Dach der Himmelskuppel, blau wie ein Meer, und darunter die Menschenwelt mit Christen und Heiden, Imperien und Verfolgungen, Katastrophen und Hoffnungen� Die Welt wird klein vor Gottes Thron: ein Grundgedanke jüdischer Thronmystik, der in der Johannesoffenbarung zumindest angedeutet ist� Andere Aspekte der Apokalypse sind ebenfalls sozusagen Versuche der Ordnung einer wirren Welt: Die komplexe Vielfalt der antiken Großstadt differenziert sich gewissermaßen aus� Babylon und das himmlische Jerusalem werden zu antithetischen Polen urbaner Kultur� Es wird anders als in der Phantastik nicht ein bestehender Symbolkosmos durchbrochen und spielerisch-experimentell außer Kraft gesetzt, 32 Das ist die Forschung zusammenfassend dargestellt in: M� Frenschkowski, Phantastik und Religion, in: H� R� Brittnacher / M� May (Hg�), Phantastik� Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart - Weimar 2013, 553-561. 33 Vgl� A� Georgiadou / D� H� J� Larmour, Lucian’s Science Fiction Novel „True Histories“: Interpretation and Commentary, Leiden u� a� 1998; S� C� Fredericks, Lucian, True History as SF, Science-Fiction Studies 3 (1976), 49-60; R. A. Swanson, The True, the False, and the Truly False: Lucian’s Philosophical Science Fiction, Science Fiction Studies 3 (1976), 227-239; dazu allgemein der detaillierte Textkommentar von P. v. Möllendorff, Auf der Suche nach der verlogenen Wahrheit� Lukians Wahre Geschichten (Classica Monacensia 21), Tübingen 2000� 34 Vgl. dazu M. Frenschkowski, Parthica apocalyptica, 36-39. 124 Marco Frenschkowski sondern im Gegenteil eine chaotische und bedrohlich-bösartige Wirklichkeit für Gottes Herrschaft in Anspruch genommen und geordnet� Alles findet seinen Ort vor dem großen Thron, der damit zur stabilen Sinnmitte der Welt und ihrer kontingenten Geschichte wird� Die Thronsymbolik hat einen deutlich anderen Akzent als Ez 1-3, dem wichtigsten literarische Prätext von Offb 4 und 5. Bei Hesekiel geht es um die Mobilität Gottes, inszeniert in dem kuriosen Zug, dass Gottes Thron dort bekanntlich Räder hat und in alle Richtungen fahren kann� Anders in der Johannesoffenbarung: Gottes Thron ist die Axis mundi, um den sich die Welt der Himmelswesen, Engel und eben auch Menschen strukturiert� Der ethische und theologische Rigorismus des Autors disambiguiert dabei die kulturellen Symbolsysteme� Damit inszeniert Johannes ein großes Entweder- Oder, das nun aber nicht einfach eines zwischen Gut und Böse ist, sondern zwischen der Anbetung Gottes und der Verehrung eines Gegenübers, das dieser Verehrung nicht würdig ist� Die Johannesoffenbarung in ihrer komplexen binnentextlichen Konstruktion von Wirklichkeiten bietet sowohl „realistische“ als auch „phantastische“, aber auch dezidiert anti-phantastische Strukturen und Genrebausteine� Sie tut das gerade da, wo sie beansprucht, dass alle spannungsvolle Realität vor dem einen großen Thron Gottes und des Lammes steht� Die „Gewalttätigkeit“ der Apk, oft beklagt, ja als Argument gegen ihre kanonische Dignität ins Feld geführt, ist sehr gut verständlich als ein Aspekt ihrer Realitätsbezogenheit� Mit diesen Beobachtungen wird die Apokalypse noch kein „einfaches“ Buch� Fundamentalistische Lektüre übersieht gerne, dass sich schon die Alte Kirche schwer mit der Offenbarung tat� Sie wurde nicht leicht und auch nicht überall Teil des Kanons (im Gegensatz zu dem gerne in westlichen Kirchen promulgierten Satz, alle Christen hätten die gleiche Bibel, unterscheiden sich die Kanones der orientalischen Kirchen zum Teil beträchtlich von dem uns vertrauten, wenn auch eher zum Alten Testament)� Der himmlische „Applaus“ der Apokalypse ist dabei eine Art eschatologisches Pendant zum „Siehe, es ist alles sehr gut“ des Schöpfungsberichtes� Er überspringt das Böse, das Leid, den Tod gerade nicht� Aber er stellt es in den Kontext einer sehr viel größeren Realität: und in dieser ist die Anbetung Gottes die sich selbstverständlich einstellende Reaktion auf die Vollendung der Welt, die der Seher kommen sieht�