eJournals ZNT – Zeitschrift für Neues Testament 21/42

ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
2018
2142 Dronsch Strecker Vogel

Der Fall der „Hure Babylon“ und das Schicksal der gealterten Prostituierten

2018
Hanna Roose
Zeitschrift für Neues Testament Heft 42 21. Jahrgang (2018) Der Fall der „Hure Babylon“ und das Schicksal der gealterten Prostituierten 1 Ein ikonographischer Zugang zu Offenbarung 18 Hanna Roose 1. Einleitung Offenbarung 18 verwendet das Bild vom Fall der „großen Hure“, um die Zerstörung der Stadt Rom und den Zusammenbruch der mit ihr verbundenen Weltordnung darzustellen� Bereits in 14,8 findet sich eine Ankündigung des Falls von Babylon� Das Urteil über Babylon wird in 17,16 kurz erwähnt� Kapitel 18 zeigt ein vergrößertes Bild von den Ergebnissen dieses Urteils� Es vergleicht die „große Hure“ vor und nach ihrem Fall� Vor ihrem Fall ist sie eine reiche Kurtisane „gekleidet in violett und scharlachrot und vergoldet mit Gold, Edelsteinen und Perlen“ (17,4; vgl� 18,16)� Sie umgibt sich mit Königen und Händlern (17,2; 18,3) - eine Demonstration ihrer Macht� Nach ihrem Fall ist „all dieser Reichtum verwüstet worden“ (18,17)� Die „große Hure” leidet unter Krankheit, Gram und Hunger (18,8)� Johannes beschreibt nicht den eigentlichen Fall� Vielmehr ist er daran interessiert, wie verschiedene Gruppen von Menschen sich zu der „Hure Babylon“ vor und nach ihrem Fall verhalten (sollen)� Die ganze Passage erinnert an eine dramatische Szene in einem Theaterstück. In 18,1-3 sagt ein Engel den 1 Der Beitrag geht in wesentlichen Teilen zurück auf H� Roose, The Fall of the Great Harlot and the Fate of the Aging Prostitute� An Iconographic Approach to Revelation 18, in: A� Weissenrieder / F� Wendt / P� v� Gmünden, Picturing the New Testament, WUNT 2 / 193, Tübingen 2005, 228-252. Dort finden sich auch Abbildungen. 42 Hanna Roose Fall Babylons voraus� Eine himmlische Stimme ermahnt das Volk Gottes, sich von Babylon vor ihrem Urteil zu trennen (18,4): „Geht hinaus aus ihr, mein Volk […]�“ Der bzw� die „betrachtende“ Leser / in ist anschließend mit einem „Selbstgespräch“ der Hure konfrontiert, die „in ihrem Herzen sagt: ‚Ich herrsche als Königin und bin keine Witwe, auf gar keinen Fall werde ich Trauer sehen�‘“ (18,7; vgl. Jes 47,7-8 LXX )� Aber die himmlische Stimme zeigt mit der Ankündigung „in einem Tag wird ihre Trauer kommen, Tod / Krankheit, 2 Trauer und Hunger, und sie wird vom Feuer verbrannt, denn mächtig ist Gott der Herr, der über sie urteilt“ (18,8, vgl� 17,16), dass sie Unrecht hat� 18,9-19 bezieht sich auf die Zeit nach ihrem Urteil. Drei verschiedene Gruppen - oder besser gesagt: Chöre 3 - betreten die Bühne und beklagen (in Klageliedern) den Fall der „großen Hure�“ Als erstes hören wir die Könige der Erde (9-10). Als zweites wird sie von den Händlern der Erde betrauert und beweint (11-17a). Die Schiffseigentümer und Matrosen bilden die dritte Gruppe (17b-19)� In V�20 informiert uns die himmlische Stimme über die Reaktion der Gläubigen: Sie werden über das Urteil jubeln, sobald es vollstreckt ist� Ein Engel gibt eine sehr anschauliche Beschreibung von den verheerenden Folgen des Urteils (21-23a): Die Stimmen der Sänger und Flötenspieler werden aufhören, und „kein Handwerker irgendeines Handwerks wird mehr in dir sein“ (22)� Die folgenden Verse (23b,24) erklären, warum Babylon dieses harsche Urteil verdient� In 19,1-6 erfahren wir, wie die frommen Menschen beim Fall der „großen Hure“ reagieren� 19,2 betont in diesem Zusammenhang, dass Babylons Urteil zu ihrem Verbrechen passt (vgl. bereits 18,2.5-7.20.23b-24). Aufgrund der großen Anteile an direkter Rede und aufgrund der vielen verschiedenen Gruppen, die ihre Gefühle äußern, erinnert Offb 18 an eine dramatische Szene, die auf einer Theaterbühne zur Aufführung kommt� Johannes bleibt jedoch „hinter der Bühne“, er betritt sie nicht selbst� Wir hören nicht die eigene Stimme des Sehers� Er macht sich weder das Trauern derjenigen, die mit Babylon kooperieren, noch den Jubel der Gläubigen explizit zu eigen� Wie genau ist hier der Ton? Verbittert? Befriedigt? Humorvoll? Spöttisch? An dieser Stelle kann uns - so die Hoffnung - die Ikonographie weiterhelfen� 2. Methode Wenn wir verstehen wollen, mit welchen Reaktionen Johannes bei seinen ersten Lesern und Hörerinnen im Zusammenhang mit dem Bild der Hure rechnen 2 Gemeint ist die Pest, vgl� 2,23; 6,8� H� Lichtenberger, Die Apokalypse (ThKNT 23), Stuttgart 2014, 235� 3 H� Jahnow, Das Hebräische Leichenlied im Rahmen der Völkerdichtung (BZAW 36), Gießen 1923, 219-220. Der Fall der „Hure Babylon“ und das Schicksal der gealterten Prostituierten 43 konnte, müssen wir uns näher mit der Wahrnehmung von Prostitution und Prostituierten in der Zeit des Johannes beschäftigen� Bisher wurden die Interpretationen von Offb 18 von traditionskritischen, formkritischen und sozialwissenschaftlichen 4 Zugängen dominiert� Dieser Beitrag entscheidet sich für einen ikonografischen Zugang, der sich auf das Bild der Prostitution in den griechischrömischen Komödien und Künsten fokussiert� Ikonographie betrachtet Bilder als Konstrukte der Realität� 5 Nach diesem Zugang zeigen uns Bilder nicht wie Dinge waren, sondern wie sie in den Gedanken der Leute und bestimmten Gesellschaften konstruiert wurden� Folglich fragt diese Studie, wie Prostitution in Kleinasien in der Zeit von Johannes wahrgenommen wurde und ob diese Wahrnehmung neue Aspekte für die Interpretation von Offb 18 bietet� Eine sorgfältige Auswertung der Zeichnungen, Statuen und Texte, die das Thema Prostitution in der griechisch-römischen Gesellschaft behandeln, kann uns helfen zu verstehen, wie Johannes und seine Leser auf die Erzählung in Offb 18 reagiert haben könnten� Meine These lautet, dass das Bild des Falls der „großen Hure“ das fiktive, typisierte Bild des Schicksals einer einst vornehmen, dann aber gealterten griechischen oder römischen Prostituierten aufruft� Die Wirkung von Offb 18 beruht entscheidend auf einem bestimmten Stereotyp der gealterten Prostituierten� Sie hat - so das Stereotyp - ihre sexuelle Attraktivität verloren und ist daher nicht mehr „gefragt“� Griechisch-römische Statuen und Texte zeigen, dass die gealterte Prostituierte ein beliebtes Thema zur Zeit des Johannes war� Sie verraten viel über die Haltung der römischen Gesellschaft gegenüber alten Prostituierten� Der Seher reinterpretiert dieses Stereotyp, indem er es mit dem Konzept des Gerichts verknüpft� 4 Vgl� H� Lichtenberger, Rom, Luxus und die Johannesoffenbarung, in: W� Kraus (Hg�), Beiträge zur urchristlichen Theologiegeschichte (BZNW 163), Berlin 2009, 479-493. 5 A. Weissenrieder / F. Wendt, Introduction, in: dies./ P. v. Gmünden (Hg.), Picturing, 38-48. Hanna Roose, Studium der Ev� Theologie, Romanistik und Musik an der Universität und Musikhochschule des Saarlandes, 1997 Promotion an der Universität des Saarlandes (Neues Testament), 2002 Habilitation an der Universität Heidelberg (Neues Testament), von 1997-2000 Lehrkraft für besondere Aufgaben an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg, von 2000-2004 wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Koblenz-Landau, von 2004-2015 Professorin für Neues Testament und Religionspädagogik an der Universität Lüneburg, seit 2015 Professorin für Praktische Theologie / Religionspädagogik an der Universität Bochum� 44 Hanna Roose Um diese These zu entfalten, werde ich zunächst griechisch-römische Komödien, Epigramme, Objekte des täglichen Gebrauchs und eine künstlerische Statue betrachten, um mehr über die Wahrnehmung von Prostitution in verschiedenen Schichten der römischen Gesellschaft herauszufinden� Danach werde ich zeigen, wie das Wissen um diese Wahrnehmung unsere Interpretation von Offb 18 schärfen kann, besonders mit Blick auf die rhetorische Strategie des biblischen Erzählers� 3. Das Bild der Prostituierten in der griechisch-römischen Gesellschaft Das Bild der Prostituierten in der griechisch-römischen Gesellschaft ist von zwei wichtigen Faktoren abhängig: (1) dem Maß an Reichtum und (2) dem Alter� (1) Die „große Hure“ wird in Offb 18 als eine reiche Kurtisane dargestellt: Sie trägt violett und scharlachrot� Violett steht für „das dauerhafteste Statussymbol der antiken Welt�“ 6 Scharlachrot stellt ebenfalls ein pompöses Zeichen des Reichtums dar� 7 Ihre teure Kleidung und ihre Juwelen (Gold, Edelsteine und Perlen) zeigen den luxuriösen Lebensstil, den sie auf Kosten ihrer Liebhaber pflegt� Violett und scharlachrot stehen außerdem für Macht, da sie zudem die Farben der Kaiser waren� 8 Zu den Kunden der Hure zählen die „Könige der Erde“ (17,2.18; 18,9-10) - ein weiterer Beleg für ihren Reichtum und ihre Macht. Das heißt: Johannes zeichnet nicht das Bild einer gewöhnlichen Prostituierten, wie einige seiner ersten Leser sie vielleicht aus eigener Erfahrung kennen� Er scheint nicht an Prostitution als einem sozialen Phänomen interessiert zu sein� Seine Darstellung basiert eher auf einem idealisierten Stereotyp: Die „große Hure“ ist in wesentlichen Teilen dem Bild der reichen Hetäre der griechisch-römischen Zeit nachempfunden� Die griechische Hetäre ist eine Prostituierte, die an den griechischen „Symposien“ teilnimmt� Symposien waren Zusammenkünfte, bei denen es neben Essen und Trinken, Spielen und philosophischen Gesprächen auch zu öffentlichem Geschlechtsverkehr kam, und zwar mit Prostituierten, Konkubinen und anderen Männern, aber nicht mit Ehefrauen� 9 Bei einem griechischen Symposium , bei dem die Hetäre ihre Liebhaber unterhielt, war Wein (anders als Essen) 6 M� Reinhold, History of Purple as a Status Symbol in Antiquity, Brussels 1970, 71� 7 J. H. D’Arms, Commerce and Social Standing in Ancient Rome, Cambridge 1981, 97-120. 8 D� Pezzoli-Olgiati, Täuschung und Klarheit� Zur Wechselwirkung zwischen Vision und Geschichte in der Johannesoffenbarung (FRLANT 175), Göttingen 1997, 145� 9 E� C� Keuls, The Reign of the Phallus� Sexual Politics in Ancient Athens, New York 1970, 160� Der Fall der „Hure Babylon“ und das Schicksal der gealterten Prostituierten 45 ein wesentlicher Bestandteil� 10 Ein weiteres Motiv auf Vasen und Krügen, die ein Symposium darstellen, zeigt das Musizieren, häufig auf Flöten und Leiern� 11 Offb 18,22 will mit seiner Ermahnung, dass „der Klang von Harfenspielern und Musikern und Flötisten und Trompetern nie wieder in dir gehört wird“ möglicherweise auf dieses Motiv anspielen� Die einflussreiche Erzählung der reichen Kurtisane entstand im 5� Jh� v� Chr� und war noch im zweiten Jahrhundert n� Chr� populär� Dies belegen Lucian, Alciphron, Athenaios und Plutarch� 12 Die Hetäre stand im Ruf, einen Mann mit ihrer sexuellen Attraktivität finanziell ruinieren zu können� Obwohl dieser Topos sehr wahrscheinlich nie der realen sozialen Stellung der Hetäre entsprach, spielte er doch eine wichtige Rolle in der Wahrnehmung der kultivierten Prostituierten in der römischen Zeit� Ihr wurden mächtige Männer, sogar Könige, als Klienten nachgesagt, die es ihr ermöglichten, einen unglaublichen Reichtum anzusammeln� Die reichen Hetären wurden für ihre sexuelle Attraktivität, ihre Schönheit und ihren Charme bewundert und gleichzeitig für ihre (angebliche) finanzielle und emotionale Macht über Männer gefürchtet und verachtet� Prostituierten wurden magische Kräfte nachgesagt, mit denen sie ihre Klienten verführen konnten� Folglich war die männliche Reaktion gegenüber der Hetäre ambivalent: Auf der einen Seite bewunderten Männer ihre Schönheit, auf der anderen Seite hatten sie große Vorbehalte gegenüber diesen Frauen, die (angeblich) Macht über sie ausüben konnten� Römische Autoren wie Plautus 13 und Lucian 14 bauten auf diesen Topos, um über die (reichen) Männer zu spotten, die sich in den Händen der klugen Hetäre zu willenlosen Marionetten machen ließen� 15 Das Gefühl, in den manipulativen Händen einer Prostituierten „gefangen zu sein“, konnte leicht zur Verbitterung führen, und diese Verbitterung entlud sich besonders gegenüber der gealterten Prostituierten� Der Verlust der Schönheit und der sexuellen Attraktivität im Alter war gleichbedeutend mit dem Verlust 10 I� Peschel, Die Hetäre bei Symposion und Kosmos in der attisch-rotfigurigen Vasenmalerei des 6.-4. Jahrhunderts, Frankfurt / M. 1987. 11 C� Reinsberg, Ehe, Hetärentum und Knabenliebe im antiken Griechenland, München 1989, 91-96. 12 Vgl. zum Folgenden Reinsberg, Ehe, 153-162. 13 Plautus, Komödien� 6 Bände� Lateinisch und deutsch, hrsg�, übers� u� komm� von Peter Rau, Darmstadt 2007-2009. 14 Lucian, Dialogus of the Dead, et al�, transl� by M� D� Macleod (LCL 431�7), London 1961� Vgl� Lukian, Hetärengespräche und andere satirische Prosa, hg� v� Bernhard Kytzler, Hamburg / Berlin o. J., 27-29. 15 Vgl. R. Kirchhoff, Die Sünde gegen den eigenen Leib. Studien zu πορνή und πορνεία in 1Kor 6,12-20 und dem sozio-kulturellen Kontext der Adressaten, StUNT 18, Göttingen 1994, 66 Anm� 287� 46 Hanna Roose der Macht über Männer� So führte das Alter in gewisser Hinsicht zu einer Umkehr der Machtverhältnisse� Die Gesellschaft hatte kein Mitgefühl für das düstere Schicksal der gealterten Prostituierten, sondern sah es als einen gerechten Ausgleich für ihren Lebensstil� Aus Verbitterung wurde bösartiger Spott� (2) So war, abgesehen vom finanziellen Wohlstand - oder dem Fehlen desselben - das Alter der zweite wesentliche Faktor, der das Bild von einer Prostituierten bestimmte� Alter ist ebenso eine biologische Tatsache wie ein soziales Konstrukt� In der griechisch-römischen Gesellschaft wurde es bei Männern und Frauen unterschiedlich wahrgenommen� 16 Das bezeugt exemplarisch ein Becher, der zwei Bilder einer mythologischen Szene zeigt: 17 Herakles und sein Bruder, Iphikles, nehmen Musikstunden bei ihrem Lehrer, Linus� Auf einer Seite des Bechers erhält Iphikles eine Lektion und beobachtet aufmerksam, wie sein Meister die Saiten zupft� Auf der Rückseite kommt Herakles, gefolgt von seiner Amme, dazu� Sowohl Linus, der Lehrer, als auch die Amme sind alt� Aber ihr Alter wird sehr unterschiedlich dargestellt: „Die Amme, die tiefe Falten hat, sogar auf ihrem rechten Arm, hat einen Ausdruck von demütiger Unterwürfigkeit auf ihrem Gesicht�“ 18 Sie geht gekrümmt, wobei ihr Gang ihre körperliche Schwäche verrät, trägt aber dennoch die Lyra für den jungen Herakles, ihren Herrn� Linus „hat“, im Gegensatz dazu, „immer noch eine Rolle in der Gesellschaft und eine Position der Autorität gegenüber seinem Schüler inne“ 19 � Ob der Maler sich dieses auffälligen Unterschiedes in der Darstellung hohen Alters bewusst war oder nicht, ist schwer zu sagen� In jedem Fall bildet der Becher ab, wie unterschiedlich hohes Alter bei Männern und Frauen wahrgenommen wurde� Die Wahrnehmung des Alters bei Frauen war nicht nur genderspezifisch geprägt, sondern variierte auch je nach ihrer sozialen Stellung� In der klassischen griechischen Kunst finden sich keine Spuren des Alters auf Bildern oder Statuen von Bürgerinnen� 20 Hohes Alter wird nur - wie wir schon gesehen haben - bei Ammen oder Prostituierten dargestellt� Ebenso erscheinen alte Frauen in griechisch-römischen Komödien nur in einer von zwei Rollen: als Amme oder als Prostituierte / Hetäre� 21 Während die typische Amme ein irgendwie lächerlicher oder unterwürfiger, aber grundsätzlich liebenswerter Charakter ist, wird die alte Prostituierte als verabscheuungswürdige Figur dargestellt� Keuls stellt lakonisch fest: „Was die Griechen den Prostituierten am meisten vorhielten, war die 16 Keuls, Reign, 200-201. 17 Abbildung in Keuls, Reign, 200-201. 18 Keuls, Reign, 201� 19 Keuls, Reign, 201� 20 P� Zanker, Die trunkene Alte� Das Lachen der Verhöhnten, Frankfurt / M� 1989, 42� 21 Zanker, Alte, 25� Der Fall der „Hure Babylon“ und das Schicksal der gealterten Prostituierten 47 Tatsache, dass sie alt wurden�“ 22 In der Komödie „Die Samierin“ von Menander 23 beschreibt Demeas, dargestellt als anständiger, vom Guten bewegter Charakter, das übliche Schicksal einer Hetäre: „Nicht deinesgleichen, Chrysis, laufen andre zum Verdienst von nur zehn Drachmen zu Banketten hin und trinken puren Wein, bis sie daran sterben, oder sie darben, wenn sie das nicht prompt und schnell betreiben“ (392-396). Berücksichtigt man, dass der attische Staat keinerlei finanzielle Unterstützung für Frauen im hohen Alter bot, außer durch ihre männlichen Verwandten, 24 erhält diese Aussage eine realistische Note� Die Situation für römische Prostituierte blieb im Grunde dieselbe� Während die glücklicheren vielleicht ihren Lebensunterhalt als Bordellbetreiberinnen bestritten, 25 waren andere ohne jede Versorgung� 26 Die Haltung der griechisch-römischen Gesellschaft gegenüber dem sozialen Schicksal der gealterten Prostituierten wird in literarischem und ikonographischem Material bezeugt� Während das Bild der jungen Hetäre in der römischen Zeit idealisiert wurde, blieb das Bild der alten Prostituierten durchweg sehr negativ� Weit davon entfernt, Mitgefühl oder Sozialkritik zu äußern, benutzen Komödien und Statuen die alte Prostituierte als leichtes Ziel für Spott und Satire� Einige Züge tauchen in der Darstellung von alten Prostituierten häufig auf: Sie sind (1�) extrem hässlich� Falten, die in der klassischen Porträtierung griechischer Bürgerinnen nicht vorkommen, werden auf Masken und Statuen von Prostituierten stark überzeichnet� Griechische Epigramme machen sich ebenfalls lustig über diese Frauen mit faltigen Gesichtern, die ihre Schönheit verloren haben: „Lockend war einst ihre Haut, und schön wie der Frühling ihr Busen, hübsch ihre Knöchel, ihr Wuchs, hübsch auch ihr Auge und Haar� Anders nun schuf es so Zeit wie Alter und Schnee auf dem Haupte, von der früheren Pracht blieb nicht im Traum was zurück� Falsch ist das Haar auf dem Kopf, und ihr Antlitz ist derart verrunzelt, wie auch ein Affengesicht selbst nicht im Alter es ist“ (Gr� Anth� V 76)� 27 (2�) Fehlende Zähne kommen ebenfalls regelmäßig in der Darstellung hohen Alters vor und veranlassten zu gehässigen Bemerkungen� „Öffne nur niemals 22 Keuls, Reign, 200� 23 Menander, Komödien� Griechisch und Deutsch� 2 Bände� Herausgegeben, übersetzt und kommentiert von Peter Rau, Darmstadt 2013 (Bd� 1) und 2014 (Bd� 2), Band II, Die Samierin� 24 S� Pomeroy, Goddesses, Whores, Wives and Slaves: Women in Classical Antiquity, New York 1975, 91� 25 H� Herter, Die Soziologie der antiken Prostitution im Lichte des heidnischen und christlichen Schrifttums, JbAC 3, 1960, 70-111; 75. 26 Reinsberg, Ehe, 153� 27 Anthologia Graeca� Griechisch - Deutsch, hg� v� Hermann Beckby, 4 Bde�, München 1957-1958. 48 Hanna Roose den Mund! Den nirgends gibt’s einen Meister, der in kosmetischem Trug Zähne in Reihen dir setzt“ (Gr� Anth� XI 374)� 28 Plautus beschreibt, indem er einen Topos aus der griechischen Komödie heranzieht, höhnisch, wie die Hetären versuchen, die Spuren ihres hohen Alters zu verdecken - natürlich vergeblich: „Wenn bei denen Schweiß und Salben sich vermischen, riechen sie ebenso, wie wenn ein Koch ein Saucen-Mischmasch angerührt� Wonach’s riecht, kann man nicht sagen, eins nur merkt man: es riecht schlecht�“ 29 (3�) Eine weitere Eigenschaft, die regelmäßig bei der Darstellung der alten Hetäre wiederkehrt, ist die Flasche, die ihre Abhängigkeit von Wein symbolisiert� Dieses Motiv ist besonders prominent bei Statuen von alten Prostituierten, die als Trinkgefäße dienten� Ein großer Terrakottakrug aus dem 1� Jh� n� Chr� (Neapel) 30 stellt eine Frau dar, die die typischen Zeichen hohen Alters trägt: ein fast zahnloser Mund, langes, ungekämmtes Haar, ein faltiges Gesicht� Die Frau hat nackte, hängende Brüste - was ihren ehemaligen Beruf als Prostituierte offenbart und sie als unwürdig und geil charakterisiert� Die alte Prostituierte sitzt auf einer Art Stuhl und hält einen Becher� Sie hat die Weinflasche neben ihre Füße gestellt und benutzt einen Becher zum Trinken� Die Geste ihrer rechten Hand zeigt, dass sie keift� Sie wird als eine lächerliche, verabscheuungswürdige Figur dargestellt� Der Krug zeichnet die typische alte Prostituierte, wie sie in vielen Komödien dargestellt wurde� Die Leute kauften Krüge wie diesen, um sich an ein Stück, das sie im Theater gesehen hatten, zu erinnern� Wann immer sie den Krug benutzten oder anschauten, wurden sie an die schöne Zeit erinnert, die sie dort verbracht hatten� Manche dieser Krüge wurden in Gräbern gefunden, wo sie auch als Andenken an den Theaterbesuch der verstorbenen Person dienten� 31 Im Blick auf Offb 18 ist eine Statue des hellenistischen Realismus besonders interessant, die in Alltagsgegenständen (Trinkgefäßen) vielfach kopiert wurde und in dieser Form im Kleinasien des ersten Jh�s n� Chr� - also im örtlichen und zeitlichen Kontext der Offb - durchaus verbreitet war� 32 Die Statue 33 zeigt eine alte Frau, die auf dem Boden hockt� Ihr Körper, insbesondere ihr Gesicht, ist gezeichnet von Alter, Hunger und Krankheit� Trotzdem erscheint sie glücklich, oder eher: beschwingt� Das rührt offensichtlich von ihrem exzessiven Weinkonsum her, symbolisiert durch die übergroße, efeubekränzte Flasche, die die Frau 28 Ebd� 29 Plautus, Komödien� 6 Bände� Lateinisch und deutsch, hrsg�, übers� u� komm� von Peter Rau, Band IV, Darmstadt 2007-2009, 153. [Plautus, The Merchant et al., translated by P� Nixon, LCL 163�3, London 1924, 315]� 30 Trinkgefäß, Nationalmuseum München; abgebildet bei Zanker, Alte, Fig� 39� 31 Vgl� Zanker, Alte, passim� 32 Vgl. N. Himmelmann, Realistic Art in Alexandria, London 1981; Zanker, Alte, 15-22. 33 Abgebildet in Roose, Fall, 242� Der Fall der „Hure Babylon“ und das Schicksal der gealterten Prostituierten 49 in ihrem Schoß hält� Überraschenderweise zeugt ihre Kleidung von Reichtum und Luxus� Die Frau trägt ein hochwertiges Kleid� Die hohe Qualität zeigt sich in den schweren und ornamentartigen Falten in ihrem Gewand� Die Hetäre trägt Schmuck: zwei Ringe an ihrer linken Hand� Ohrlöcher zeigen, dass sie ursprünglich auch Ohrringe trug� Mit diesen Eigenschaften spiegelt die Statue den Topos des unglaublichen Reichtums, den Hetären angeblich anhäuften� Paul Zanker hat überzeugend argumentiert, dass die Statue das Schicksal einer alten Hetäre präsentiert, die früher einmal reich war, jetzt aber alt und deshalb heruntergekommen ist� 34 Die alte Frau war - dieser These zufolge - einmal eine Prostituierte� Dennoch wird ihr Beruf nicht, wie in anderen Statuen, durch Nacktheit gezeigt� Es gibt subtilere Hinweise auf ihre Tätigkeit� Einerseits trägt sie ein Kopftuch, das typische Kleidungsstück der Prostituierten� 35 Andererseits liegt die rechte Schulter der Frau frei, ihre Kleidung ist verrutscht� Zanker interpretiert die Statue als eine Anspielung auf die Göttin Aphrodite� 36 Während die freie Schulter in Verbindung mit Aphrodite Liebe und sexuelle Attraktivität symbolisiert, verkörpert sie in Verbindung mit der alten Frau, die ein Kopftuch trägt, Prostitution� Die enge Verbindung zwischen Prostituierten und ihrer Göttin Aphrodite bezeugt Menander, wenn wir von Hetären hören, die beim Namen Aphrodites schwören� 37 Reichtum und sexuelle Attraktivität sind bei der Statue ein Nachhall vergangener Tage� Ihr gegenwärtiger Status ist von Verfall gekennzeichnet� Das verrutschende Kleid entblößt den knochigen Oberkörper der Frau: ihre Schlüsselbeine und einen Teil ihres Brustkorbs, wo einige Rippen hervorstehen� Was einmal sexuell attraktiv war, ist zu einem Zeichen für den Verfall der Frau geworden� Der Körper der Frau ist zu einem Skelett abgemagert� Der Körper zeigt Spuren hohen Alters� Das Gesicht der Frau ist faltig, ihr Mund offenbart fehlende Zähne� Ihr graues Haar ist unter einem Schal verborgen� Die übergroße Flasche bildet das Zentrum der Skulptur� Der Efeukranz spielt auf den Dionysoskult und das dionysische Symposium an� 38 Die unrealistische Größe der Flasche offenbart und verhöhnt die Alkoholsucht der Frau� Keuls vergleicht die Art, wie sie die Flasche hält, mit der Art, wie eine Frau ihren „letzten 34 Zanker, Alte� 35 Herter, Soziologie, 93� 36 Zanker, Alte, 41-42. 37 Menander, Komödien� Griechisch und Deutsch� 2 Bände� Herausgegeben, übersetzt und kommentiert von Peter Rau, Darmstadt 2013 (Bd� 1) und 2014 (Bd� 2), Das Schiedsgericht 199, [peric 479]� 38 Vgl. Zanker, Alte, 50-55. 50 Hanna Roose Liebhaber“ umklammert� 39 Die „trunkene Alte“ verbindet typische Elemente der alten Prostituierten und Erinnerungen an ihre Vergangenheit als reiche und mächtige junge Hetäre� So stellt die Statue das Schicksal der alternden Prostituierten dar: „Bei der Alten verweist das Schönheitsmotiv aber wie die Gewänder auf das ‚Einst‘ und enthüllt zugleich dramatisch die Wahrheit des ‚Jetzt‘�“ 40 Bei heutigen Betrachtern könnte die realistische Darstellung Mitgefühl und Mitleid mit der alten Prostituierten auslösen� Sie könnte als Sozialkritik, als Aufforderung zur Solidarität mit den Armen verstanden werden� Wir wissen jedoch, dass die meisten Betrachter zu Johannes’ Zeiten anders auf die Statue reagierten� Die vielen Varianten des Motivs der gealterten Prostituierten in der „Alltagskunst“, hauptsächlich in Gegenständen des täglichen Gebrauchs, zeigen deutlich, dass die „trunkene Alte“ als verabscheuungswürdige, lächerliche Figur betrachtet wurde� Wir wissen, dass sowohl der Seher Johannes als auch seine Adressatinnen und Adressaten in einer Gegend lebten, wo Skulpturen und Gegenstände des täglichen Gebrauchs um die Zeitenwende von diesem Motiv beeinflusst wurden� Die Wahrnehmung gealterter Prostituierter war von diesem Motiv tief geprägt� Meiner Ansicht nach verdankt sich auch die Darstellung der „Mutter der Huren“ (Offb 17,5) in Offb 18 in wesentlichen Zügen diesem Motiv� 4. Das Schicksal der alternden Prostituierten und Offb 18 Interpreten haben zu Recht darauf hingewiesen, dass das Bild von der Hure in Offb 18 die Boshaftigkeit zweier großer Städte der alttestamentlichen Prophetie verbindet. Babylon (vgl. Jer 50-51; Jes 13,1-14.23; 21,1-10; 47; Jer 25,12-38) und Tyrus (vgl. Ez 26-28; Jes 23). 41 Es ist jedoch interessant zu sehen, wie es Johannes gelingt, durch die Kombination traditioneller Elemente ein neues Ganzes zu erschaffen� Ein Konzept (unter mehreren), das seine Auswahl leitet, ist das Bild der reichen Hetäre in der griechisch-römischen Zeit� Von den beiden bösen Städten wird nur Tyrus von Jesaja als Hure dargestellt ( Jes 23,15-18). Das Handelsgewerbe in Tyrus wird mit Prostitution verglichen, weil die Stadt sich dadurch auszeichnet, dass sie sich mit anderen Völkern zusammentut, um mehr Profit zu machen� Das Bild der Hure hat also in traditionsgeschichtlicher Sicht einen ökonomischen Anstrich� Handelsbeziehungen werden durch Sex symbolisiert, der aus Geldgier erfolgt� 42 Es gibt jedoch einen 39 Keuls, Reign, 203� 40 Zanker, Alte, 42� 41 R� Bauckham, Economic Critique of Rome in Revelation, in: L� Alexander (Hg�), Images of Empire (JSOT�S 122), Sheffield 1991, 54� 42 Diese ökonomische Dimension spricht entscheidend dafür, die griechischen Wörter pornē und porneia , die grundsätzlich jegliche Art außerehelichen Geschlechtsverkehrs bezeich- Der Fall der „Hure Babylon“ und das Schicksal der gealterten Prostituierten 51 markanten Unterschied zwischen den beiden Huren, die von Jesaja und Johannes dargestellt werden� Die Motive von Trunkenheit und Wein, das Bild von der Hure, die einen überlaufenden goldenen Becher hält - Elemente, die die Darstellung in Offb 17-18 (17,2.4.6; 18,3.6) ausmachen - gibt es im Bild der Hure in Jes 23 nicht� Diese Motive sind den Drohreden gegen Babylon ( Jer 25,15 ff�; 51,7) entlehnt, die die Stadt nicht als Hure darstellen� Es ist also Johannes, der, indem er diese verschiedenen Traditionen verbindet, das Bild von der betrunkenen Hure erschafft, die einen goldenen Becher hält und die Könige der Erde und alle Erdbewohner verführt und willig macht� Diese Verbindung von Hurerei und Trunkenheit rückt das alttestamentliche Bild der Hure in große Nähe zur generellen Wahrnehmung von reichen Huren in Johannes’ Zeit� Die (junge) Hure in Offb 18 ist unglaublich reich, sie verkehrt mit Königen und Händlern und nutzt „Zauberei“, um Männer unter ihre Kontrolle zu bekommen (V�23)� Dieses Bild ist zu großen Teilen dem fiktiven Bild der jungen, wohlhabenden und attraktiven Hetäre geschuldet (s� o�)� Die Attraktivität der Hure spiegelt in Offb 18 (ironisch) die hohe Attraktivität des Kaiserkults in der damaligen Zeit� Der Kult des Kaisers wurde mehrheitlich als Kult für das Allgemeinwohl angesehen� 43 Er hatte erhebliche wirtschaftliche Bedeutung, 44 u� a� die Prostitution profitierte von ihm im Rahmen von Festen zu Ehren des Kaisers� 45 Unter den Adressatinnen und Adressaten der Offb waren offenbar eine ganze Reihe von Leuten, die es als opportun und unproblematisch ansahen, mit dem Römischen Staat zu kooperieren bzw� - je nach Perspektive - zu kollaborieren� Ihnen ruft der Seher in 18,4 zu: „Geht hinaus aus ihr, mein Volk […]�“ 46 Indem er die attraktive Hure als Symbol für Rom wählt, zeigt Johannes ein kritisches Bewusstsein für die verführerischen (wirtschaftlichen) Aspekte des Kaiserkults� Durch seine Bilder entlarvt er diese Attraktivität als zeitlich begrenzten Schein� Indem er Rom als „Babylon“ bezeichnet, rekurriert er auf die kollektive jüdische Erinnerung an den Untergang Judas� Indem er der Hure net, in Offb 17-18 auf Prostitution, also bezahlten Sex, zu beziehen. 43 G� Biguzzi, Ephesus, its Artemision, its Temple to the Flavian Emperors, and Idolatry in Revelation, NTS 40 (1998), 276-290; 288; S. Witetschek, Ephesische Enthüllungen 1. Frühe Christen in einer antiken Großstadt� Zugleich ein Beitrag zur Frage nach den Kontexten der Johannesapokalypse (Biblical Tools and Studies 6), Leuven / Paris / Dudley 2008, 99-135 reiht den Kaiserkult in die „Wohltäterkulte“ ein. 44 K� Wengst spricht von „totaler Merkantilität“, „Wie lange noch? “ Schreien nach Gerechtigkeit - eine Deutung der Apokalypse des Johannes, Stuttgart 2010, 169� 45 P� Herz, Der Kaiserkult und die Wirtschaft� Ein gewinnbringendes Wechselspiel, in: M� Ebner / E� Esch-Wermeling (Hg�), Kaiserkult, Wirtschaft und specula� Zum politischen und gesellschaftlichen Umfeld der Offenbarung, NTOA 72, Göttingen 2011, 55-80; 74. 46 H�-J� Klauck, Das Sendschreiben nach Pergamon und der Kaiserkult in Kleinasien, Biblica 73 (1992), 153-182; 176-182. 52 Hanna Roose magische Fähigkeiten zuspricht (Offb 18,23), mit denen sie die Völker des Imperiums täuscht, rekurriert er auf einen kollektiven paganen Topos zur reichen Hetäre� Der Ausdruck in Offb 18,23 spiegelt einiges von der Bitterkeit, die die wohlhabende Kurtisane in ihren „Opfern“ auslösen konnte� Der Rekurs auf den Topos der jungen und attraktiven, aber auch manipulativen Hetäre liegt in Offb 18 nahe� Aber ist es angemessen, hier das Konzept vom Schicksal der alternden Prostituierten einzubringen? Kann der Fall der „Hure Babylon“, der - wie der Text mehrfach betont - ganz plötzlich, „an einem Tag“ (18,8), „in einer Stunde“ (18,10� 17� 19) geschieht, durch den graduellen Prozess des Alterns sachgemäß interpretiert werden? Ich denke, ja� Meiner Ansicht nach hat das Bild vom Schicksal der alten Prostituierten die Beschreibung des Falls der Hure in Offb 18 beeinflusst� Tatsächlich stellt die Verbindung der Konzepte von Hure, Alter und göttlichem Gericht einen wichtigen Teil sder rhetorischen Strategie 47 in Offb 18 dar� Zwei Faktoren deuten in diese Richtung: (1�) Der scharfe Kontrast zwischen „damals“ und „heute“ 48 ist sowohl im Konzept des Schicksals der alternden Prostituierten als auch im Konzept des Gerichts prominent� Babylon, einst „die große“ (vgl� Dan 4,27), hat sich in einen Ort verwandelt, an dem Dämonen umherstreifen (Offb 18,2)� Vor ihrem Fall ist die Hure reich und mächtig� Sie sieht sich selbst als Königin, die auf einem Thron sitzt (18,7)� Nach ihrem Fall „ist all dieser Reichtum vergangen“ (18,17)� Sie leidet an Krankheit und Hunger (18,8)� Der Kontrast zwischen der Hure vor ihrem Fall und danach entspricht dem Kontrast zwischen der jungen und der alten Prostituierten, wie er in zeitgenössischen griechisch-römischen Komödien, Gebrauchsgegenständen und Kunstwerken dargestellt wird� (2�) Das Konzept des hohen Alters wird von Johannes reinterpretiert� In Offb 18 wird die „große Hure“ nicht buchstäblich als alt charakterisiert� Die radikale Wende ihres Schicksals ist nicht durch ihr Alter, sondern durch Gottes Gericht begründet� Ihr Fall, d� h� ihr Verlust von Schönheit, Wohlstand und Gesundheit, ist nicht das Ergebnis eines langen Prozesses, sondern geschieht „in einer Stunde“ (18,10� 17� 19)� Trotz dieser Unterschiede ist es wichtig zu sehen, dass die Vorstellung eines vernichtenden Gerichtsurteils in der römischen Gesellschaft dem Konzept des hohen Alters innewohnte , wenn es um Prostituierte ging� Hohes Alter wurde bei einer Prostituierten als eine Bestrafung gesehen; eine Bestrafung, die der Art, wie sie gelebt hatte, angemessen war� Nach der Meinung der römischen Gesellschaft verdienten Prostituierte ihr jämmerliches Schicksal im hohen Alter� Der Seher verstärkt diesen Aspekt, indem er den Fall 47 Vgl� D� A� deSilva, Seeing Things John’s Way� The Rhetoric of the Book of Revelation, Louisville 2009; M. Karrer, Johannesoffenbarung. Offb 1,1-5,14 (EKK XXIV / 1), Ostfildern / Göttingen 2017, 95-102. 48 Vgl. Müller, Offenbarung, 303-304. Der Fall der „Hure Babylon“ und das Schicksal der gealterten Prostituierten 53 der Hure mit dem göttlichen Gericht in Verbindung bringt� „Zahl ihr ihre Taten zweifach zurück“ (Offb 18,6), verlangt die himmlische Stimme, und fährt fort: „So wie sie sich selbst verherrlicht hat und sinnlich gelebt hat, in demselben Maße gib Qual und Trauer“ (7a)� Da die Hure einst sehr reich war, verdient sie es jetzt, sehr arm zu sein� Diese Sichtweise war den Adressaten des Autors vertraut� So kann Johannes, indem er die Konzepte von hohem Alter und Gericht verbindet, ein unterschwelliges Gefühl in der römischen Gesellschaft als Resonanzraum nutzen� Das Konzept des Gerichts erhält neue Implikationen, wenn es vor dem Hintergrund der Wahrnehmung hohen Alters interpretiert wird� Der Ausdruck „an einem Tag“ (18,8) oder „in einer Stunde“ (18,10�17a�19) betont traditionell das plötzliche Hereinbrechen des Falls (vgl� Jes 47,9)� In Verbindung mit dem Konzept vom hohen Alter jedoch wird das Urteil, d� h� die Bestrafung der Beschuldigten, als unvermeidliches Resultat eines langen Prozesses interpretiert� Mit anderen Worten: Wenn die Könige, die Händler und die Schiffsbesitzer die plötzliche Verödung von Babylon beklagen, erweisen sie sich als völlig ahnungslos gegenüber dem, was eigentlich jeder weiß� Reiche Kurtisanen altern und verlieren ihre Attraktivität ebenso wie ihren Wohlstand - das ist eine triviale Wahrheit� Das „Gerichtsverfahren“ bringt nur ans Licht, was - nach Johannes - dem Charakter der Hure immer inhärent gewesen ist: Ihre Hässlichkeit, ihre Machtlosigkeit und ihre Eitelkeit (vgl� Offb 18,7 f�)� Deswegen, so legt es der Autor nahe, war es dumm, überhaupt jemals ihrer Schönheit und ihrem Charme verfallen zu sein� Wenn wir die Szene, die in Offb 18 beschrieben wird, auf der Bühne inszenieren sollten, müssten wir uns die Hure so vorstellen, dass sie - wenn es um ihren Fall geht - plötzlich ihre Maske abnimmt und sich so von einer jungen und attraktiven in eine alte und abstoßende Prostituierte verwandelt� Verschiedene Gruppen betreten die Bühne und reagieren auf diese plötzliche Verwandlung� 49 Die Könige, Händler und Schiffsbesitzer beklagen ihren Fall: „Sie, die auf Rom fixiert waren, bleiben es auch in ihrem Untergang�“ 50 Die Gläubigen hingegen jubeln� Wie sollen die Leserinnen und Hörer auf diese Szene reagieren? An dieser Stelle nähern wir uns der Frage nach der rhetorischen Strategie, die der Seher in Offb 18 verwendet� Selbstverständlich will Johannes, dass seine Leser sich mit der Gruppe der Gläubigen identifizieren� Seine Forderung, ihren Verführungskräften zu widerstehen (18,4), ist an den Leser gerichtet� Für einige seiner Adressaten erforderte die Identifikation mit den Gläubigen als denjenigen, die sich nicht auf Rom „eingelassen“ haben, einen Seitenwechsel� Nelson Kraybill hat überzeugend argu- 49 Vgl. Wengst, Schreien, 170-174. 50 Wengst, Schreien, 174� 54 Hanna Roose mentiert, dass, von einem sozialwissenschaftlichen Standpunkt aus betrachtet, unter den ersten Adressaten der Offb Händler und Schiffsbesitzer waren, die sich als „gute Christen“ verstanden� 51 In Offb 18 konfrontiert Johannes diese Nachfolger Jesu mit einer unbequemen Alternative: entweder machen sie weiter wie bisher und finden sich irgendwann ihres Reichtums und ihrer Würde beraubt, oder sie wechseln die Seiten und hören auf, mit Rom Geschäfte zu machen� Der Fall der „großen Hure“ steht nicht für ein individuelles Schicksal, sondern stellt die Zerstörung der Weltordnung, die mit Rom verbunden ist, dar� Gott selbst bringt sein Gericht über diese Stadt� Deswegen jubeln die Gläubigen� Dennoch denke ich, dass die intendierte Reaktion der Leser oder „Zuschauer“ nicht auf die Reaktion der „Gläubigen“ in Offb 18 beschränkt werden darf� Wenn die hier vertretene These richtig ist, lag die Darstellung der heruntergekommenen „alten Prostituierten“ nahe und sollte Hohn und Spott auslösen - wie auch die Statue der „trunkenen Alten“ und die Krüge, die auf dieses Motiv anspielten, es taten� Dieses soziale Konstrukt bietet den Hintergrund für die Darstellung der Könige, Händler und Schiffsbesitzer� Vor dem Fall der Hure verfallen sie ihrem Charme und werden so zu Opfern ihrer Manipulation� Mächtige, wohlhabende Männer werden zu unwissenden, willigen Marionetten� Ich denke, es liegt eine ganze Menge Spott in der Beschreibung dieser Gruppen� Nach dem Fall der Hure setzt die Wehklage der Könige, Händler und Schiffsbesitzer sie noch größerem Spott aus, nicht zuletzt, weil ihr Verhalten mit römischen Sozialkonventionen bricht� Die Römer wandten sich nämlich von der gealterten Hure ab, sie beklagten ihr Schicksal nicht öffentlich� In der Apokalypse stellt Johannes zwei Wertesysteme einander gegenüber: Die Werte der römischen Gesellschaft und seine eigenen� Nach den Regeln der römischen Gesellschaft war der Kontakt mit jungen Prostituierten ein grundsätzlich akzeptiertes Verhalten, insbesondere dann, wenn diese Frauen ein gewisses Maß an Luxus bieten konnten� 52 Obwohl römische Schriftsteller wie Plautus oder Lucian sich über reiche Männer, die Geld für Hetären ausgaben, lustig machten, fand der Großteil der römischen Gesellschaft nichts Verwerfliches daran, wenn männliche Bürger die Dienste von Prostituierten in Anspruch nahmen� So zeigen die Könige, Händler und Schiffsbesitzer vor dem Fall der „großen Hure“ ein Verhalten, das grundsätzlich sozial akzeptiert war� Johannes vertritt selbstverständlich andere Werte: Für ihn sind sowohl der Kontakt mit Prostituierten als auch die Kooperation mit Rom unmoralisch� Daher 51 J� N� Kraybill, Imperial Cult and Commerce in John’s Apocalypse (JSNT�S 132), Sheffield 1996, 94-101. 52 Kirchhoff, Sünde, 66; vgl� 52� Der Fall der „Hure Babylon“ und das Schicksal der gealterten Prostituierten 55 sein Appell, „Geht hinaus aus ihr! “ (18,4; vgl� Offb 14,4)� Seine scharfe Kritik hat eine ironische Note: Während die Händler und Schiffsbesitzer mit Rom kooperieren, um ihre wirtschaftliche Situation zu verbessern, unterstellt das Bild der reichen Kurtisane, dass sie in Wirklichkeit ihr finanzielles - oder in diesem Fall eher: eschatologisches - Wohlergehen riskieren, indem sie die Huren bezahlen� Die rhetorische Strategie des Sehers ist in Offb 18 gekennzeichnet durch einen Rollentausch� Während die Händler vor dem Fall auf einer Linie mit den Werten der römischen Gesellschaft sind, während die Gläubigen es nicht sind, sind diese Rollen nach dem Fall umgekehrt verteilt� Jetzt sind es die gläubigen Anhänger Jesu, die den sozialen Erwartungen entsprechen, indem sie über das gerechte (! ) Schicksal der Hure jubeln (18,20)� Die Könige, Händler und Schiffsbesitzer machen sich auf der anderen Seite lächerlich, indem sie das Schicksal einer alten und heruntergekommenen Prostituierten beklagen� Sie zeigen ein Verhalten, das, selbst nach ihren eigenen Wertvorstellungen, nicht akzeptiert war� Beachtet man, was die römische Gesellschaft über alte Prostituierte dachte, muss die Rolle, die Johannes denen zuschreibt, die mit Rom kooperieren, als Zeichen bösartigen Spotts von Seiten des Sehers her interpretiert werden� Wie die Statue von der „trunkenen Alten“ ist auch die Klage der Händler und Schiffsbesitzer nicht darauf angelegt, Mitgefühl und Mitleid beim Leser oder Zuschauer auszulösen� Im Gegenteil: Johannes drückt denen, die mit Rom kooperieren, eine nach den Vorstellungen der römischen Gesellschaft völlig inakzeptable Rolle auf� Er präsentiert seine Gegner in einer Rolle, die sie beißendem Spott aussetzt� Johannes‘ rhetorische Strategie besteht nicht nur darin, zwei verschiedene Wertesysteme einander gegenüberzustellen, sondern auch darin, zu zeigen, dass seine Gegner sogar ihrem eigenen Wertesystem nicht entsprechen� 5. Schluss Auf den ersten Blick erscheint der Autor der Apokalypse als „Außenseiter“ in der römischen Gesellschaft� Er ist „aus ihr ausgezogen“ (vgl� 18,4) und fordert seine Adressatinnen und Adressaten auf, es ihm gleichzutun� Seine Opposition gegen Rom hat ihn nach Patmos gebracht (1,9), so dass er auch geographisch am Rand der römischen Gesellschaft verortet ist� Dennoch haben insbesondere sozialwissenschaftliche Studien überzeugend gezeigt, dass Johannes mit Aspekten der wirtschaftlichen Situation in Kleinasien wohlvertraut war� 53 Ebenso war er nicht völlig ahnungslos, was römische Gewohnheiten und Wertvorstellungen angeht� Seine Darstellung des Falls der „großen Hure“ zeichnet sich sowohl durch seine Abneigung gegen und seine Vertrautheit mit Rom aus� 53 Bauckham, Critique� 56 Hanna Roose Die rhetorische Strategie in Offb 18 basiert auf einem Rollentausch zwischen den Gläubigen und denen, die mit Rom kooperieren� Während es vor dem Fall die Gläubigen sind, die den römischen Moralvorstellungen nicht entsprechen, wird diese Rolle des „Außenseiters“ nach dem Fall den Königen, Händlern und Schiffsbesitzern aufgezwungen� Es ist schwer zu sagen, wie viele der alttestamentlichen Anspielungen, die sich in Offb 18 finden, dem Leser tatsächlich ins Gedächtnis kamen� In jedem Fall waren Referenzen aus dem Alten Testament nicht die einzigen, vielleicht nicht einmal die überwiegenden, die die Reaktion seiner Leser auf den „Fall der großen Hure“ formten� Johannes muss sich dessen bewusst gewesen sein, dass das Bild der Prostituierten in der römischen Gesellschaft - und so bei vielen seiner Leser - eine wichtige Rolle bei der Wahrnehmung von Offb 18 gespielt hat� Ein ikonographischer Zugang zu Offb 18 kann uns wenigstens einen groben Eindruck von den visuellen Konzepten und den ihnen innewohnenden Werten geben, die den Seher in seiner Darstellung der „großen Hure“ geleitet haben�