eJournals ZNT – Zeitschrift für Neues Testament 21/41

ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
2018
2141 Dronsch Strecker Vogel

Carol A. Hebron Judas Iscariot: Damned or Redeemed. A Critical Examination of the Portrayal of Judas in Jesus Films (1902 – 2014) London u. a.: Bloomsbury T&T Clark 2016 (Scriptural Traces: Critical Perspectives on the Reception and Influence of the Bible 9 = Library of New Testament Studies 563) XV, 298 Seiten, gebunden ISBN 978-0-56766-829-5

2018
Günter Röhser
114 Buchreport Das Buch von Carol Hebron beginnt mit der Eingangsszene aus dem Film „Sorry, Judas“ von Celia Lowenstein, in der die Karikatur des ideologisierten prototypischen „Juden“ (welcher identisch ist mit Judas) erscheint und dem Zuschauer die Frage stellt: „Jewish enough for you? “, und endet mit der Schlussszene desselben Films, in der Judas im Vatikan anruft und fragt, ob es nicht an der Zeit sei, ihm Danke zu sagen wegen seiner Unterstützerrolle für das Christentum� Damit ist gleichsam die Entwicklung beschrieben, die Hebron in ihrem Buch nachzeichnet, nämlich die Rehabilitation der Judasfigur in Jesusfilmen der letzten hundert Jahre, und zugleich ist das wichtigste theologische Thema benannt, das sich mit dieser Fragestellung verbindet, nämlich das Verhältnis zwischen Judas und dem Judentum in christlicher Wahrnehmung und Rezeption� Hebron beginnt damit, dass sie die Entwicklung der christlichen Wahrnehmung der Judasfigur, und damit des Verhältnisses zum Judentum, in drei Phasen beschreibt: von der Dämonisierung ( Judas und die Juden als Werkzeuge des Satans, ausgehend vom Neuen Testament) über die Isolierung (gesellschaftliche Ausgrenzung der Juden seit dem Mittelalter) bis zur Eliminierung (von Martin Luther bis zum Holocaust)� Die theologische Voraussetzung für den Antisemitismus ist dabei immer die christliche Enterbungs- und Substitutionslehre („Christian supersessionism“) gewesen: An die Stelle der Juden als auserwähltes Gottesvolk sei die Kirche (aus den Heiden) getreten� Im Anschluss an diese Einführung ins Thema erzählt Hebron dann in neun Kapiteln gewissermaßen eine gegenläufige Geschichte: die Entwicklung der Wahrnehmung der Judasfigur, und damit des Verhältnisses zum Judentum, im Jesusfilm des 20� und beginnenden 21� Jh�s von der traditionellen Antihaltung hin zu einer Neubestimmung und Erneuerung� Dazu werden 24 Jesusfilme ausgewählt und in ihrer jeweiligen Epoche dargestellt� Der Schwerpunkt der Analysen liegt dabei auf der Porträtierung der Judasfigur (in ihrem Verhältnis zu Jesus) und - aus naheliegenden Gründen - auf der Szene des Letzten Abendmahls und der Rolle des Judas in ihr (die Länge dieser Szene wird bei jedem Film vermerkt)� Weitere Schlüsselszenen liefern natürlich der sog� Verrat des Judas (eine Bezeichnung, die schon vom neutestamentlichen paradidōmi her in Frage zu stellen wäre [15]), der Judaskuss im Garten Gethsemane und der Selbstmord des Judas� Die übergreifenden Fragestellungen in allen Kapiteln lauten (siehe die Zwischenüberschriften in Kapitel 1): „How Is Judas Portrayed in Film? Film Studies“, „Why Does the Judas Character Change? Cultural Studies“, “What Are the Theological Implications of These Changes? Theological Studies”� Der hier sich zeigende “interdisciplinary approach” (33), der von filmwissenschaftlichen Analysen ausgehend theologische Fragestellungen bearbeitet, macht zweifellos Buchreport 115 den besonderen Reiz dieses Buches aus (vgl� 32 zur Filmanalyse als „theological method“ unter Bezugnahme auf Clive Marsh)� 1 Methodisch operationalisiert wird dieser Ansatz wie folgt: Jedes Kapitel bzw� jeder Zeitabschnitt beginnt in der Regel mit einer allgemeinen Einführung und endet mit einer Zusammenfassung� Innerhalb jedes Zeitabschnitts wird jeder einzelne ausgewählte Film nach dem gleichen Muster analysiert: Zunächst wird er durch drei „Linsen“ betrachtet, die ursprünglich von R� Stern, C� N� Jefford und G� Debona für die Analyse von Jesusdarstellungen im Film entwickelt wurden (25, 33)� „Lense One“ bietet allgemeine Hinweise zu den Entstehungsverhältnissen des jeweiligen Films und zu seinem Regisseur und fragt nach dem Inhalt der Filmhandlung im Verhältnis zu den Quellen (biblische, christliche, jüdische, apokryphe; andere Kunstwerke oder Filme als Inspirationsquellen). „Lense Two“ konzentriert sich auf die eigentliche Filmanalyse und untersucht jeweils detailliert die Inszenierung des Letzten Abendmahls� Von besonderem Interesse ist dabei das jeweilige (Teilnahme- oder Nicht-Teilnahme-)Verhalten des Jüngers Judas� „Lense Three“ fokussiert sich auf den soziokulturellen und zeitgeschichtlichen Kontext des jeweiligen Films� Auch wenn die gebotenen Informationen oftmals eher holzschnittartig und die Zusammenhänge nicht immer einsichtig sind, ist diese Fragestellung dennoch wichtig und wesentlich für die Erfassung der Botschaft (Fragen und Antworten, Zeitstimmung) eines Films� Es sind diese kontextuellen Aspekte, von denen die Verfasserin bekennt: „These questions kept me focused, stimulated and enthused with the topic“ (26; vgl. 148-151 als besonders eindrückliches Beispiel die versteckten Anspielungen in einem mexikanischen Jesusfilm von 1971 auf das Massaker von Tlatelolco aus dem Jahre 1968 und die politischen Verhältnisse in Mexiko)� An die „three lenses“ schließt sich jeweils ein Abschnitt „The Portrayal of Judas“ an, der den gesamten Film auf seine Judasdarstellung hin untersucht� Diese Abschnitte bilden zusammen mit der Analyse der Abendmahlsszenen das Kernstück des ganzen Buches� Aus der Untersuchung der handelnden Personen und ihres Verhaltens, ihrer Dialoge, ihrer Körpersprache, ihrer rituellen Praxis sowie des Settings, der Kostüme, der Maske, der Musik etc� werden Rückschlüsse auf die (theologische) Deutung und Bewertung der Judasfigur und des Judentums überhaupt gezogen� Das Buch schließt mit einem Blick auf die 10 Thesen der Seelisberger Konferenz von 1947 (Internationale Konferenz von Christen und Juden, deren 70� Jahrestag 2017 begangen wurde) und Beispielen 1 Es steht damit in einem Forschungskontext, der auch in der ZNT immer wieder Aufmerksamkeit gefunden hat; vgl. C. Urban in ZNT Heft 6, 3. Jg. 2000, 54-63; U. Böhm / G. Buschmann in ZNT Heft 10, 5. Jg. 2002, 69-77; R. Zwick in ZNT Heft 30, 15. Jg. 2012, 33-44 oder den Buchreport von P� Busch zu R� Jewetts „Saint Paul Returns to the Movies“ in ZNT Heft 14, 7� Jg� 2004, 65 f� 116 Buchreport dafür, wie sich diese in der Shoa-Theologie widerspiegeln und auf die Filmproduktion eingewirkt haben� Der chronologische Durchgang in den genannten Kapiteln erstreckt sich auf Filme der Jahre 1902 bis 2014 und ergibt ungefähr folgendes Bild: In der Stummfilm-Ära und der Zeit bis nach dem Zweiten Weltkrieg herrscht noch ganz eine traditionelle antisemitische Grundhaltung („Theology of Rejection“ [vgl. 231 ff]) mit einer wechselseitigen Verwerfung: Judas lehnt Jesus als Messias und die Teilnahme an der Eucharistie ab, wird im Gegenzug von der Eucharistie ausgeschlossen und erscheint als stereotyper Bösewicht und zusammen mit dem durch ihn repräsentierten Judentum ( Jude = Judas! ) als von Gott verworfen� Dennoch ist er die interessantere Gestalt: Während die Rolle Jesu noch festgelegt ist (77: „sacrosanct and governed by censorship codes“), fordern die relativ spärlichen Angaben in den Evangelien die Filmemacher dazu heraus, die Gestalt des Judas und die Motive seines „Verrats“ auszuschmücken und auszudeuten (ebd�: „open for interpretation and embellishment“) - worauf die Evangelien noch verzichtet haben� Dies ist ein Grundzug der gesamten Entwicklung und führt dazu, dass die Judasfigur der Filme von Anfang an - und in der Folge immer mehr - sich von derjenigen der Evangelien unterscheidet� Darin liegt die eigentliche theologische Herausforderung� Die Zeit bis zum Beginn der Sechzigerjahre ist dann eine Epoche des Übergangs: Man beginnt Judas differenzierter wahrzunehmen und kann ihn auch schon einmal von der Schuld am Tode Jesu entlasten� Diese trifft allerdings dann andere Vertreter des Judentums (z� B� den Hohepriester Kaiphas) mit voller Härte, sodass der zutiefst antijüdische Charakter des Jesusfilms immer noch nicht überwunden erscheint (vgl� 111)� Der Wandel zeigt sich aber z� B� daran, dass das Letzte Abendmahl jetzt nicht mehr quasi als römisch-katholische Messe - so z� B� schon in dem ersten der besprochenen Filme ( La Vie et la Passion de Jésus Christ von Ferdinand Zecca und Lucien Nonquet aus den Jahren 1902 bis 1905 [40]) -, sondern stärker als jüdisches Passamahl dargestellt werden kann (vgl. 97, 117 f�, 169, 174 f�, 212)� Das wichtigste Ereignis, das diesen Wandel beeinflusst hat, war der Holocaust / die Shoa (vgl� 14, 230, 245)� Der dadurch ausgelöste Schock führte ab den 60er Jahren zu einer neuen Darstellung des Judentums im Film, aber auch zu völlig neuen Deutungen der Judasgestalt (Hebron nennt das „Theology of Acceptance“ [241 ff]). Vor allem wird jetzt die Beteiligung und Verantwortung der Römer beim Prozess Jesu herausgestellt (vgl� 120) und auch die Gestalt des Judas ins Verhältnis zu den Römern gesetzt� „From the 1960s, Judas is no longer recognized by Jewish traits but by his zealous pursuit in ending Roman oppression“ (29)� So kann er zum Anwalt der Unterdrückten und zum Freiheitskämpfer, schließlich zum tragischen Helden werden, der den göttlichen Willen vollstreckt und dem Buchreport 117 darum kein Vorwurf, sondern eher Mitleid gilt (zum ersten Mal in I Beheld His Glory von 1952, wo die Passionsgeschichte aus der Sicht des - Cornelius genannten - römischen Zenturios aus Mk 15,39 erzählt wird; Judas als Zelot zum ersten Mal in Day of Triumph von 1954)� Da mittlerweile auch mit der Jesusgestalt experimentiert wird - herausragende Beispiele sind Pasolinis „ Evangelium nach Matthäus“ (131: „In fact, Pasolini created Jesus in his own image: Marxist, atheist, homosexual“), Jesus Christ Superstar (152: „a new type of Jesus, one who sings and who might be characterized as a ‚hippy‘“; vgl. 154: „a continuous changing between ancient and modern scenes“) und The Last Temptation of Christ (197: „the first film to deal with Jesus‘ sexuality - and bisexuality“ [Judas und Maria Magdalena]) -, entstehen völlig neue Deutungen und Konstellationen - jenseits des traditionellen, mit der Judasfigur verbundenen Antisemitismus (z� B� Judas als Afroamerikaner in Jesus Christ Superstar )� Diese entfernen sich immer weiter von traditionellen Deutungen des biblischen Stoffes (was nicht heißt, dass sie nicht auch antisemitische Restbestände enthalten können! ) und führen schließlich zu einer vollständigen Rehabilitierung des Jüngers Judas - wie etwa in Jesus Christ Superstar , in dem Musical-Film Godspell , in Franco Zeffirellis „Jesus of Nazareth“ oder in den Filmen des neuen Jahrtausends wie z� B� Color of the Cross (228: „Judas, like Jesus, is a mouthpiece for Black theology“) oder The Passion ( Judas tut, was er tun muss - deshalb wird ihm vergeben)� Während also das Bild des zwölften Jüngers in der biblisch-christlichen Überlieferung immer dunkler wird, hellt es sich in der Geschichte des neueren Jesusfilms immer weiter auf� Die Frage drängt sich nach der Lektüre auf: Wie soll man mit diesen theologischen „Ergebnissen“ umgehen? Die Vorstellung von Judas als Freiheitskämpfer (als Zelot, z� B� zusammen mit Barabbas [183 ff]) hat außer vielleicht am Namen (Sikarier? ) keinerlei Anhalt an den Texten� Auch der Einsatz des (falsch verstandenen) Prädestinationsgedankens (vgl� 204 ff) ist an dieser Stelle nicht „textgemäß“� Denn bei aller heilsgeschichtlichen Sinngebung des Passionsgeschehens lassen die neutestamentlichen Texte keinen Zweifel an der schuldhaften Verstrickung und Verantwortlichkeit des Judas, der keine Vergebung erlangt� Die Neueröffnung des „Falles Judas“ und seine Neudeutungen durch theologisch kreative Filmemacher und andere Kulturschaffende füllen also eine Lücke, die das neutestamentliche Zeugnis hinterlassen hat 2 - ja, für die es sich nicht einmal interessiert� Die Jesus- und Judas-Filmdarstellungen zeigen, dass man es dabei nicht belassen kann� Sie 2 Nicht unerwähnt soll bleiben, dass die Rehabilitierung des Judas als „instrument of salvation“ an das gnostische Judas-Evangelium aus dem 2� Jh� anknüpfen kann (s� dazu den Beitrag von S� Gathercole in diesem Heft)� Dort gilt - in Abgrenzung von der kanonischen und altkirchlichen Judasgestalt -: „Judas’ act of betrayal is in faithful obedience to Jesus’ will“ (6)� 118 Buchreport fordern uns vielmehr heraus, auch selbst theologisch kreativ zu werden, wenn wir mit Fällen wie demjenigen des Jüngers Judas zu tun bekommen� Gegenüber der wissenschaftlich reflektierten Theologie hat sich die Judas-Theologie der Jesusfilme längst verselbständigt und emanzipiert und folgt ihren eigenen Gesetzen und Interessen� Allerdings vollzieht sie damit - und das wäre gegenüber der Darstellung von Hebron dringend zu ergänzen! - eine Entwicklung nach, die innerhalb und außerhalb der Theologie bereits in der Zeit der Aufklärung begonnen hat und seitdem nicht zum Stillstand gekommen ist: Von Schleiermacher bis Barth und Gollwitzer, von Goethe bis Walter Jens und Hermann Levin Goldschmidt (vgl� TRE 17 [1988] 300-307) reichen die Versuche, mit der Gestalt des Judas zu Rande zu kommen - zum Teil auch, ihr positiv gerecht zu werden, sie zu „rehabilitieren“� Die Auseinandersetzung in den Filmen ist insofern nichts wirklich thematisch Neues - wenn auch die Antworten zum Teil andere sind� Carol Hebron ist ihrem Gegenstand jedenfalls in glänzender Weise gerecht geworden� Filme für andere zu beschreiben, die sie selbst nicht sehen, ist ja keine leichte Aufgabe� Hebron gelingt es, ihre Leserinnen und Leser auf spannende Weise in ihre eigene (wiederholte) Filmschau einzubeziehen� Dass die Fülle der Filme manchmal ermüdet (auch wenn man, anders als im Kino, immer wieder zurückblättern und nachlesen kann), ist unvermeidlich, macht aber das Ergebnis nur umso nachdrücklicher� Am wichtigsten erscheint mir der „kulturtheologische“ Ertrag des Werkes: Es gibt eine eigenständige Theologie von Kulturschaffenden (230: die Filme als „bearers of meaning and theology in their own right“ [Zitat Jon Rainey]) und diese ist legitim, solange sie sich auf die Quellen bezieht und grundlegenden Sachverstand walten lässt� Und ernsthafte und intensive Anstrengungen dieser Art sind in vielen Filmen deutlich zu erkennen� Diese sind deshalb als Gesprächspartner der Fachtheologie ernst zu nehmen - nicht zuletzt, weil sie eine größere öffentliche Reichweite besitzen als Letztere� Theologische Entwicklungen (im weitesten Sinne) spiegeln sich einerseits in ihnen wider, wie sie andererseits selbst einen Beitrag dazu leisten� Das Buch ist durch Verzeichnisse und Register (Abbildungen, Abkürzungen, Bibliographie, Filmographie, Stellen, Autoren, Sachen) vorzüglich erschlossen und auch als Nachschlagewerk sehr gut geeignet� 41 JUDAS ZNT Heft 41 · 21. Jahrgang · 2018 ZNT Zeitschrift für Neues Testament Das Neue Testament in Universität, Kirche, Schule und Gesellschaft Kristina Dronsch, Christian Strecker, Manuel Vogel (Hrsg.) 41 JUDAS www.francke.de Das aktuelle Heft der ZNT befasst sich mit einer neutestamentlichen Figur, die der Jesus-Erzählung der Evangelien immer wieder ein breites öffentliches Interesse weit jenseits kirchlicher, schulischer und akademischer Milieus beschert. Die finstere und tragische Gestalt des Judas übt allem Anschein nach auch dort einen bleibenden Reiz aus, wo das Neue Testament sonst kaum oder gar nicht vorkommt. Judas animiert zur literarischen und künstlerischen Beschäftigung ebenso wie zum engagierten religiösen Streitgespräch. Die Beiträge des vorliegenden Heftes nähern sich der Figur des Judas an im Rückgriff auf die neutestamentlichen Texte, auf apokryphe Quellen sowie auf ihre schon im Neuen Testament anhebende und bis heute fortdauernde Rezeptionsgeschichte. Mit Beiträgen von Kristina Dronsch, Simon Gathercole, Martin Meiser, Paul Metzger, Ralf Miggelbrink, B.J. Oropeza, Günter Röhser und Fredrik Wagener