eJournals ZNT – Zeitschrift für Neues Testament 21/41

ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
2018
2141 Dronsch Strecker Vogel

Judas Iskarioth

2018
Ralf Miggelbrink
98 Ralf Miggelbrink Dieser knappe Kern der Judas-Tradition ist für den sachlogischen Ablauf der Passionsgeschichte ebenso unnötig wie sie für das innere Verständnis der handelnden Personen verstörend wirkt� Jesus an diskretem Ort aufzuspüren dürfte der römischen Besatzungsmacht auch ohne die Kollaboration eines Jüngers möglich gewesen sein� Der Jüngerverrat aber wirft die verstörende Frage auf: Wie konnte aus dem inneren Bereich des menschgewordenen Gottes einer zum Werkzeug seiner Auslieferung werden? Matthäus spielt zur Beantwortung dieser Frage mit dem Prädestinationsgedanken: Obwohl zum Zeitpunkt des Abendmahls der matthäische Judas bereits den Verrat mit den Hohen Priestern abgesprochen hat (Mt 26,14 f�), beteiligt sich Judas an dem aufgeregten Fragen der Jünger, nachdem über sie das Orakel gesprochen wurde: „Der die Hand mit mir in die Schüssel getaucht hat, wird mich verraten“ (Mt 26,23)� Dabei wird er von Jesus als Verräter enttarnt, ohne dass die Abendmahlsgruppe daraus eine sachlogisch verständliche Konsequenz zöge� Über der ganzen Szene wird weiteres Nachfragen gebannt durch die ebenso fatalistische wie vieldeutige Formel „Der Menschensohn geht hinweg …“ (26,24), deren indikativisches hypagei die Einheitsübersetzung recht frei interpretiert mit den eher an einen Western erinnernden Worten „Der Menschensohn muss seinen Weg gehen …“� Matthäus beantwortet in seiner Passionserzählung bereits die Frage, ob durch einen prädestinierten Tod die an dessen Durchführung Beteiligten nicht exkulpiert wären: „Zwar muss der Menschensohn hinweggehen, aber wehe dem Menschen, durch den der Menschensohn verraten wird …“ (Mt 26,24)� Der Autor des Johannesevangeliums ergänzt diese denkerisch überaus unbefriedigende Lösung, indem er neben Judas und Gott als dem Lenker der Geschichte den Teufel als dritten Agenten einführt: Der Satan inspiriert zum Verrat ( Joh 13,2) und geht in Judas ein ( eisēlthen ) ( Joh 13,27)� Diese Machtübernahme des Satans aber erfolgt nach einer Ankündigung Jesu, so dass der Gottessohn auch hier als der eigentliche Regisseur seines eigenen Verratenwerdens erscheint� Hier ist der Haftpunkt für alle Traditionen, die Judas als prädestiniertes Werkzeug der von Gott selbst ins Werk gesetzten Opferung Jesu von Nazareth zur Erlösung der Menschheit sehen� 2. Die theologische Aussage der Judasgestalt Das Johannesevangelium führt vor, wie sich die Passionsgeschichte unter Rückgriff auf einen Erzbösewicht erzählen lässt� Für Johannes sind „die Juden“ die eigentlichen Drahtzieher der Passion� Diese folgenschwere Schuldzuweisung ist keine historische Information: Die römische Besatzungsmacht alleine hatte die Judas Iskarioth 99 rechtlichen und militärischen Möglichkeiten zur Verhaftung und Hinrichtung Jesu� 1 Die Jerusalemer Tempelautoritäten hatte ein Interesse am Tod Jesu und entsprechende Einflussmöglichkeiten� 2 Jedoch auch, wenn man einer gewissen „Volksmenge“ ebenfalls eine Rolle bei der Verurteilung Jesu zusprechen will 3 , so kann die Schuld „der Juden“ historisch in keiner Weise plausibel gemacht werden� Das „parting of the ways“ zwischen den Anhängern des Nazareners und den Juden, die ihn ablehnen, dauert bis in das 4� Jh� n� Chr� 4 „ Die Juden“ im Johannesevangelium sind deshalb weder eine andere gens noch eine andere religio � Der Jude Johannes verwendet den Begriff im Interesse seiner eigenen innerjüdischen Polemik gegen die jüdischen Opponenten des Nazareners� Die Einführung der Judasgestalt konterkariert die hinter beiden Schuldzuschreibungen stehende Logik: Wie sehr es auch Pontius Pilatus und seine Militärmacht gewesen sein mag und wie sehr die ersten Christen den Verächtern ihres neuen „Weges“ (Apg 9,2; 19,2; u. ö.) als „den Juden“ (Apg 9,23; u. ö.) die Schuld zuschreiben mochten, mit der Judasgestalt ist der Stachel im Fleisch der Christengemeinde selbst ausgemacht: Judas gehörte unzweifelhaft dem symbolischen Zwölferkreis des erneuerten Israel an, er nimmt am Abendmahl teil, er begrüßt seinen Rabbi mit dem für die Jesusgruppe kennzeichnenden Kuss (1Kor 16,20)� Damit wird er zum Vermittler einer wichtigen Einsicht: Wenn mit der Jesus-Gruppe und ihrem Wirken das Reich Gottes anbricht und Gottes Wirken geschichtlich offenbar wird, so bedeutet dies nicht, dass das Böse keinen Zugang zur Jesus-Gruppe hätte und dass die Frontlinie zwischen dem inneren 1 G� Theissen / A� Merz, Der historische Jesus� Ein Lehrbuch, Göttingen 4 2011, 339-402. 2 Theissen / Merz, Jesus, 403-408. 3 A�a�O�, S� 407 f� 4 M� Tiwald, Das Frühjudentum und die Anfänge des Christentums� Ein Studienbuch, Stuttgart 2016, 33-48. Prof. Dr. Ralf Miggelbrink, geboren 1959 im westlichen Münsterland, 1989 in Münster mit einer Arbeit über Karl Rahner zum Dr� theol� promoviert, 1999 an der Universität Innsbruck aufgrund einer bibeltheologischen Arbeit über den Zorn Gottes habilitiert und zum Universitätsdozenten ernannt, seit 2000 Professor für Systematische (katholische) Theologie an der Universität Duisburg-Essen, Mitbegründer und Mitglied des Interkonfessionellen Theologischen Arbeitskreises (ITA), zahlreiche Buch- und Aufsatzveröffentlichungen (Bibeltheologie, Sakramententheologie, Ekklesiologie, Ökumenische Theologie)� 100 Ralf Miggelbrink Kreis der „ Gemeinde der Heiligen“ (1Kor 14,33) einerseits und den Sadduzäern, Pharisäern, Zeloten und Römern außerhalb dieser Gemeinde gezogen werden könnte� Die provozierende Einsicht, dass der Verrat inmitten der eucharistischen Gemeinschaft nistet, beunruhigt Christen zutiefst: Das gesamte Mittelalter steht vor dem großen Problem der manducatio impiorum : Wie verhindert man, dass die Gegenwart Christi in den eucharistischen Gaben entweiht wird durch unwürdige Kommunikanten? Bereits die Traditio apostolica des Hippolytus von Rom zielt auf eine Beantwortung dieser Frage unter Rückgriff auf unterschiedliche (berufliche) Tätigkeiten, die eo ipso vom Empfang der Taufe ausschließen 5 � Eine sich dem Hochmittelalter nahelegende Antwort referiert auf Gruppenidentitäten: An den Außenseiten der Kathedralen finden sich Darstellungen der an der Kirche zerbrechenden Abständigen und Außenstehenden, allen voran der Juden� Schon der Name Judas legt es nahe, den Verräter als Repräsentanten der Juden zu deuten� Dabei gehört Judas eindeutig zur Jesus-Gruppe� Ab den blutigen Kreuzzügen gegen Katharer und Albigenser nimmt das Ringen der christlichen Gemeinden um ihre eigene innere Reinheit von Verrätern und heimlichen Abtrünnigen jene eliminatorische Schussfahrt auf, die paradoxerweise erst durch die Formalisierung und juristische Rationalisierung der Verfolgung in der Regie der römischen Inquisition gebremst wird� 6 Als ein neuzeitlicher Mythos ist heute das Narrativ entlarvt, es sei eben das formalisierte und rationalisierte neuzeitliche Staats- und Rechtswesen gewesen, das der Verfolgungswut der christlichen Kirchen gegenüber vermeintlichen Abweichlern ein Ende gesetzt habe� 7 Nie waren Verfolgungen von Außenseitergruppen blutiger als in der Neuzeit, nie wurde konsequenter und kompromissloser die Zugehörigkeit zu bestimmten Merkmalsgruppen zum Kriterium für Versuche restloser Ausrottung� Die Judasgestalt erscheint vor diesem christlich-postchristlichen Rezeptionskontext wie eine Illustration zu Mt 13,24-30: Jesus war macht- und tatenlos seinem Verräter gegenüber, obwohl er wusste, dass Judas ihn verraten würde� Die menschliche Geschichte ist nicht der Ort, an dem das Gute definitiv vom Bösen getrennt und das Böse ausgemacht und im „letzten Gefecht“ vernichtet werden könnte� Es gehört seit Jesus zum Wesen von Gemeinde und Kirche 5 Hippolytus von Rom, Traditio apostolica, 16� 6 J� Lauster, Grausame Vernunft: Die Inquisition, in: ders�, Die Verzauberung der Welt� Eine Kulturgeschichte des Christentums, München 2014, 200-205. 7 R� Miggelbrink, Confessional Wars and Religious Violence in Christianity from a Theological Viewpoint, in: W� Palaver / H� Rudolph / D� Regensburger (Hg�), The European Wars of Religion� An Interdisciplinary Reassessement of Sources, Interpretations, and Myths, London 2016, 205-216. Judas Iskarioth 101 als corpus permixtum 8 zu existieren und der Gegenwart des Verrates in den eigenen Reihen macht- und tatenlos ausgeliefert zu sein� Jeder Versuch, diese Bestimmung der Gemeinde Jesu Christi abzuwenden, führt zum Selbstverrat der Gemeinde� Wie ist diese Behauptung zu verstehen? Judas ist die in der Jesus-Überlieferung selbst verankerte Einsicht in die Unausweichlichkeit der Angefochtenheit des von Jesus verkündeten Gottesreiches, die nicht missverstanden werden darf nach dem Modell einer abwehrbaren äußeren Gefahr: Das Reich Gottes wird von innen her durch seine Jünger und seine Kirche gefährdet� Es basiert auf der inneren Wandlung und Bekehrung der Jünger, die weder erzwingbar noch als politischer Gruppenprozess steuerbar ist� Das Reich Gottes ist errichtet auf der labilen Basis der freien Hinwendung von Menschen, deren Einsicht und Treue nur in Freiheit wachsen� 3. Judas und die Wehrlosigkeit der Christengemeinde In dem Maße, in dem das Christentum sich selbst als vernünftig begreift, in dem Maße fällt es ihm schwer, den Verrätern und Abtrünnigen in den eigenen Reihen mit Respekt zu begegnen� Seit den ersten christlichen Apologeten argumentieren Theologen für die Einsicht, dass zwischen dem christlichen Glauben an Jesus Christus, dem Gekreuzigten und Auferstandenen und der menschlichen Vernunft kein Widerspruch besteht� Allerdings ziehen bereits die Kirchenväter die Konsequenz aus der Einsicht in die rationale Rechtfertigbarkeit des christlichen Glaubens, dass die Ablehnung des Christentums ihrerseits rational nicht rechtfertigbar wäre� Dem Nichtchristen wird bis ins 19� Jh� theologisch die rationale Würde abgesprochen� Der klassische fundamentaltheologische Weg der drei demonstrationes ( religiosa, christiana, catholica ) 9 hebt darauf ab, die Existenz Gottes, seine Offenbarung in Jesus Christus und seine durch die katholische Kirche vertretenen Ansprüche gegenüber jedem vernünftigen Menschen so zu begründen, dass diesen Geltungsansprüchen nicht vernünftig widersprochen werden könne� Wo die Rationalität des katholischen Glaubens derart hart vertreten wird, wird der Glaubensgehorsam des einzelnen gegenüber der Kirche zur ethischen Pflicht, der er sich nur durch Verleugnung der eigenen rationalen Natur entziehen kann� 8 Augustinus, De civitate Dei, 20, 9; A. B. Wugaa, The Church as Corpus Permixtum. Augustinian Ecclesiology in Response to the Donatist Concept of the Church, St� Paul (Minn) 2012� 9 Der auf Pierre Charron (1541-1603) zurückgehende Dreischritt des Beweisganges der Apologetik bildet bis heute ein Gliederungsprinzip der Fudamentaltheologie: C� Böttigheimer, Lehrbuch Fundamentaltheologie� Die Rationalität der Gottes-, Offenbarungs- und Kirchenfrage, Freiburg 2 2012, 72-78. 102 Ralf Miggelbrink Diese geradlinig rationalistische Argumentation verkennt, dass Menschen zum christlichen Glauben in konkreten Lebenssituationen gelangen, in denen es für sie kaum je abstrakt um die Vernünftigkeit des christlichen Glaubens geht, sondern, in denen die eigene Positionierung zu den Inhalten des christlichen Glaubens Handlungsentscheidungen umfasst� Zustimmung zum Glauben ereignet sich in Handlungsentscheidungen� Glauben ist lebensgeschichtlich verankert und deshalb nicht ausschließlich rational begründet, sondern eben auch gebunden an freie Selbstsetzungen� In solchen Akten der Selbstsetzung bestimmen Menschen sich nicht zunächst in ihrem Verhältnis zu den überlieferten dogmatischen Inhalten� In diesen Selbstsetzungen positionieren sich Menschen zu praktischen Fragen des alltäglichen Lebens� In diesen Akten der eigenen Selbstsetzung findet eine Integration von Momenten des Erkennens und des Wollens statt, bezogen auf die endlichen Situationen, in denen Menschen sich nun einmal befinden� Die innere Glaubenszustimmung (assensus fidei) wächst in biographisch situierten Akten der Selbstsetzungen, in denen Christen willentliche Hinwendungen zu dem in Jesus Christus offenbaren Gott und seiner Kirche vollziehen und dabei theologisch auch zu Glaubensaussagen kommen� Denken und Handeln bestimmen die Glaubensgenese des Einzelnen in enger Perichorese von Vernunft und Freiheit � Damit aber ist der Glaubensakt in seiner konkreten intellektuellen und praktischen Gestalt unausweichlich individuell und kontextuell� Dieser Situation führte etwa in der Reformation zu der These, sowohl der wahre Glaube als auch die wahre Kirche Jesu Christi seien so unsichtbar wie die innere Haltung eines Menschen letztlich eben unsichtbar ist� 10 Daraus aber ergibt sich, dass Christen in ihrer Gemeinde immer mit dem Risiko leben, dass in ihnen der christliche Glaube intellektuell und voluntativ von einzelnen innerhalb der Gemeinde verfehlt wird� Diese Selbstverfehlung des Christentums in den Akten, mit denen Christen ausgerechnet ihr Christsein zu vollziehen glauben oder behaupten, wird von der antihäretischen Polemik der Väterzeit bis zum Wirken der Glaubenskongregation als zu bekämpfende Gefährdung der Kirche und des Glaubens erkannt� Wie aber ist eine entsprechende Unterscheidung der Geister sinnvoll möglich, die denjenigen entlarvt, der sich im Herzen vom Glauben abwendet und intellektuell längst solchen Wegen folgt, die nicht vom Vorbild Jesu Christi inspiriert sind? Die ängstliche Behauptung der Traditionalisten, stets seien die Reformer und Erneuer die Verleumder und Verräter, passt nicht gut zu der Beobachtung, dass die Traditionen der Traditionalisten ja ihrerseits auch einmal aus Neuerungen hervorgegangen 10 Zur Problematik der unsichtbaren Kirche� J� Werbick, Kirche� Ein ekklesiologischer Entwurf für Studium und Praxis, Freiburg 1994, 34-38. Judas Iskarioth 103 sind, die in ihrer Zeit als gelungene Interpretationen des Christseins angenommen wurden, woraus angesichts der Veränderlichkeit der geschichtlichen Welt keineswegs folgt, dass sie auf alle Zeit und Ewigkeit die besten voluntativen und intellektuellen Aneignungen der christlichen Botschaft darstellen� 11 Das Fehlen klarer Grenzen und der eindeutigen Identifizierbarkeit der Verräter bewirkt eine konstitutive Wehrlosigkeit des Christentums, das seinen Verrätern immer ausgesetzt bleibt, weil es ohne dieses Ausgesetztsein seine eigene Bestimmung, Christsein in authentischen Akten der zeitgemäßen intellektuellen und tätigen Aneignung des Glaubens ermöglichend zu begleiten, nicht erreichen könnte� Dass Judas zum Zwölferkollegium gehört, also zur symbolischen Repräsentanz des erneuerten Stämmebundes Israels, ist in diesem Kontext ein starker Hinweis, dass es ohne Möglichkeit und Risiko des Verrates die freie Hinwendung zum Glauben nicht geben kann, die für das Christentum allerdings konstitutiv ist� Die Möglichkeit des Verrates von innen gehört zum Genom der christlichen Gemeinde� Dass der Verräter als Mitglied des Zwölferkollegiums nach dem Timotheusbrief zu den Amtsträgern gehört, die so etwas wie eine apostolische Sukzession begründen, eröffnet intertextuell die erschütternde Einsicht, dass selbst das höchste kirchliche Amt nicht vor dem tödlichen Verrat an Jesus Christus und seine Kirche schützt� 4. Judas, der verräterische Kassenwart Im Johannesevangelium findet sich der Hinweis, dass Judas „die Kasse hatte“ ( Joh 13,29)� Als Kassenwart der Jesus-Gruppe trifft er Absprachen mit Jesus� Das Motiv des Mannes, der mit Geld zu tun hat, findet in der matthäischen Judastradition eine Steigerung in dem Sondergut von den dreißig Silberstücken, die Judas als Lohn für seinen Verrat von den „Hohen Priestern“ nimmt (Mt 26,15) die er nach der Verurteilung Jesu zurückgeben will (Mt 27,9) und die er, nachdem die Rücknahme verweigert wurde, in den Tempel wirft (Mt 27,5), von wo die Hohen Priester das Geld nehmen, um „von dem Geld den Töpferacker zu kaufen als Begräbnisplatz für die Fremden�“ (Mt 27,7) Die ausführliche Erzählung der sachlogischen Marginalie vom Verräterlohn und seiner späteren Verwendung erheischt durchaus eine theologische Interpretation, insbesondere, da ja der Umgang mit Geld für die Jesus-Gruppe die Funktion eines identitity markers hatte (Mk 6,8)� 11 Zur Problematik: K� Rahner, Was ist Häresie, in: ders, Schriften zur Theologie, Bd� 5, Einsiedeln 1964, 527-576; ders., Häresien in der Kirche heute, in: ders, Schriften zur Theologie, Bd. 9, Einsiedeln 1970, 453-478. 104 Ralf Miggelbrink Der Geldverwalter wird zum Verräter� Hat diese Pointe mit der Anthropologie des Geldes zu tun? Geld wird definiert als Mittel der Erleichterung des Tausches� Diese besteht im Wesentlichen in der Erleichterung der Ermittlung von Äquivalenten � Die unterschiedlichsten Dinge, Schafe etwa und Ackerland, werden tauschbar, indem man sie auf den gemeinsamen Nenner des Geldes hin definiert� Dieser zivilisatorische Prozess geht einher mit einer Ausblendung grundlegender Momente des Tausches, die in menschlichen Kulturen eine wichtige Rolle spielen� Der Tausch als Austausch von Gaben begründet eine wechselseitige Verpflichtung von Geber und Nehmer der Gabe, die so in eine durch die Gabe begründete, soziale Beziehung eintreten� Je mehr dagegen der Tausch zum Äquivalententausch wird, zu Kauf und Bezahlung, umso weniger müssen sich Verkäufer und Käufer über den Kauf hinaus einander verpflichtet fühlen� Im Idealfall wird das durch den Tausch begründete Ungleichgewicht durch die gerechte Bezahlung präzise ausgeglichen� Geld ermöglicht so das ökonomische In-Beziehung-Treten unter Verzicht auf ein soziales In-Beziehung-Treten� 12 Beim unmittelbaren Austausch von Gaben bleibt stets ein unabgegoltenes Mehr an Gegebenem, das auf menschliche Weise verpflichtet, in weiteren Gabehandlungen das durch die Gabe irritierte Gleichgewicht zwischen Geber und Nehmer wieder herzustellen� So begründet die Gabe Beziehung, Gemeinschaft und eine Geneigtheit zu weiterem Austausch, eine „Ökonomie der Gaben“ 13 , deren Pointe gerade darin besteht, dass der Tausch der Dinge mit der Bezahlung nicht zu seinem Abschluss kommt, sondern Geber und Nehmer einander durch die Gabe verpflichtet bleiben� Die Speisung der Fünftausend thematisiert diese Gabe-Dynamik in der Überschwänglichkeit des galiläischen Anfanges (Mt 14,13-21), die konkrete Lebenswirklichkeit der wandernden Charismatikergruppe war jedoch anscheinend auf dem Weg nach Jerusalem auch durch Gabe- und Gemeinschaftsverweigerungen geprägt, wie Lukas über die Nichtaufnahme der Gruppe in einem samaritanischen Dorf zu berichten weiß (Lk 9,52-56). Judas als Kassenwart ist disponiert, der Anwalt des Äquivalententausches in der Gruppe zu sein� Er unterliegt dem Ökonomieprinzip � Für einen möglichst geringen Preis muss er viel und gut einkaufen� Die so erwirtschaftbaren Rücklagen dienen der ökonomischen Absicherung der Gruppe gegen etwaige Risiken� Es liegt auf der Hand, dass die Eigenlogik des ökonomischen Handelns zur ökonomischen Grundintuition der Jesus-Gruppe im Widerspruch steht� Die 12 J� Negel, Überfülle und Erlösung� Trinitätstheologische, soteriologische und eschatologische Implikationen des Gabediskurses, in: V� Hoffmann / U� Link-Wieczorek / C� Mandry (Hg�), Die Gabe� Zum Stand der interdisziplinären Diskussion, Freiburg / München, 257-286. 13 K� Wolf, Philosophie der Gabe� Meditationen über die Liebe in der französischen Gegenwartsphilosophie, Stuttgart 2006, 78-109. Judas Iskarioth 105 Grundintuition Jesu ist die Botschaft von der bedingungslosen Güte Gottes, die sich auch ökonomisch übersetzen lässt: Wo großzügig gegeben wird, da wird in Menschen der verbindende Geist der Großzügigkeit geweckt� Der verrückte Bauer, 14 der sein kostbares Saatgut wahllos verstreut, hat eine überreiche Ernte� Nicht das Sparsamkeitsprinzip des faulen und nichtsnutzigen Knechtes, der ängstlich sein Talent vergräbt, bringt den Erfolg, sondern die Risikofreudigkeit dessen, der freimütig austeilt und „erntet, wo er nicht gesät hat“ (Mt 25,24)� Wo hingegen ängstlich der Pfennig gedreht wird, drohen die für die Ökonomie lebenswichtigen Gabe- und Tauschprozesse zu erlahmen� Damit aber verliert das Geld seinen Wert, der ja aus dem Bedürfnis nach Austausch und Kauf resultiert� Der Kindervers „Taler, Taler, du musst wandern�“ ist in einem ökonomisch präzisen Sinne zutreffend: Nur das laufende Geld kann seinen Wert behalten� Der Kassenwart aber jedes Vereins tendiert zur Einfrierung der Ausgaben, weil sein Erfolg ja an der Größe seines Kassenvermögens gemessen wird� Mit dem Hinweis, Judas sei der Kassenwart der Jesus-Gruppe gewesen, thematisiert Johannes einen Grundwiderspruch innerhalb der christlichen Gemeinde� Sie steht zum einen in der Nachfolge dessen, der die Großzügigkeit Gottes verkündet und so die Großzügigkeit der Menschen weckt� Jesus will echte Gabeprozesse wecken und muss gerade deshalb selbst arm sein und auch seinen Jüngern die Armut empfehlen� Aber schon die Jesus-Gruppe selbst kommt nicht vollkommen ohne Geld aus, ja der vollkommene Verzicht auf Geld läuft auf sozialparasitäres Verhalten hinaus� So findet sich die Jesus-Gruppe bereits in einem Grundwiderspruch, der alles folgende christliche Leben prägt: Wie kann das ganze Leben die alles tragende und erfüllende Großzügigkeit Gottes bezeugen, wenn die Zeugen nicht nur verkündend von Gastmahl zu Gastmahl ziehen, Kranke heilend und von Sünden freisprechend, sondern wenn sie wie alle anderen Menschen auch mit ihren endlichen Ressourcen sparsam umgehen müssen? Jesus selbst gibt einen Hinweis: Markus gestaltet die Speisung der Fünftausend mit einem aufschlussreichen Zwiegespräch� Jesus lässt zunächst die eigenen Lebensmittelvorräte der Jüngergruppe zählen (Mk 6,38) und gibt dann erst die vor dem Hintergrund des Zählergebnisses (fünf Brote und zwei Fische) lächerlich inadäquate Anweisung zur Lagerung der Fünftausend in Mahlgruppen (Mk 6,39)� Markus stellt auf diese Weise die Erfahrung der Spannung zwischen ökonomischer Vernunft (zählen) und Reich-Gottes-inspirierter Zeichenhandlung in den Vordergrund� Das Speisungswunder ist das Wunder der alle sättigenden Gabe-Dynamik, die da in Gang kommt, wo einer das ökonomische 14 U. Busse, Der verrückte Bauer: Mk 4,3-8. Gotteserfahrung in der Jesustradition, Kairos 29 / 1987, 166-175. 106 Ralf Miggelbrink Sicherheitsdenken überwindet� Der markinische Jesus handelt nicht wie der matthäische Brotvermehrer im unbesiegbaren Bewusstsein seiner göttlichen Vollmacht� Er riskiert den Lebensmittelvorrat der Gruppe für eine Zeichenhandlung, die die Großzügigkeit seiner Gäste mobilisiert und so zur Offenbarungserfahrung wird: Gelebte Großzügigkeit setzt menschliche Gabe-Dynamik frei, von der alle leben können� Aber dieser Zusammenhang ist so unsichtbar wie unberechenbar� Der vorsichtige Kaufmann wird von einem so riskanten Gabehandeln unbedingt abraten und verwehrt sich damit den Zugang zur Gotteserfahrung der Jesus-Gruppe (Mt 19,22)� Judas kann gelesen werden als die Gestalt, in der der unvermeidliche Grundkonflikt der christlichen Gemeinde zum Austrag kommt� Sie bezeugt Gottes grenzenlose Lebensfülle als Grund einer gabefreudigen, Fülle für alle frei setzenden Dynamik� Dabei aber bleibt sie in einer Welt, die als Natur vom Gesetz des Mangels geprägt ist� Die Überwindung des Mangels in der Erfahrung gelingenden Gebens und Nehmens unter dem Faszinosum einer sich so erschließenden Lebensfülle Gottes bleibt immer gekettet an das harte Gesetz des Mangels, dem alle Naturwesen als solche unterstehen� Das ökonomische Denken steht in der Gefahr, im Gesetz des Mangels ökonomistisch das Grundgesetz jedweden Lebens überhaupt zu erblicken� So entsteht die Karikatur des Menschen als des hortenden Sparers, dessen Geld seinen Wert nicht behalten kann, weil der Wert des Geldes abhängt von wirtschaftlichen Tauschprozessen� Wenigstens einige Menschen müssen Geld ausgeben, damit andere sparen können� Freigiebigkeit und Sparen sind ökonomische Geschwister, die sich gleichwohl schlecht verstehen� Der kassenführende Jesus-Jünger löst den hier angedeuteten anthropologischen Grundkonflikt zugunsten des Geldes und des Sparens� Die dreißig Silberlinge aber, die er für seinen Verrat kassiert, sind für den Selbstmörder, der sein Leben verliert, so sinnlos wie die Kornspeicher des sterbenden reichen Bauern im Lukasevangelium (Lk 12,20)� 5. Judas, der verzweifelte Selbstmörder Das matthäischen Sondergut berichtet vom Tod des Judas (Mt 27,3-10). Die Verurteilung Jesu zum Tode ist nach Matthäus der Auslöser für Judas, den Judaslohn zurückgeben zu wollen (V� 3 f�)� Nach dem Text bereut Judas, „unschuldiges Blut“ verraten zu haben (V� 4)� Der Versuch, den Lohn des Verräters zu erstatten, kann weder die Verurteilung ungeschehen machen, noch die bevorstehende Hinrichtung aufhalten� Vielmehr geht es Judas um eine symbolische Distanzierung� Mit der Erstattung des Blutgeldes will Judas die symbolische Brücke zwischen sich selbst und dem Tod Jesu zerstören� Das Motiv der symbolischen Distanzierung von der Bluttat erinnert an die Händewaschung des Pilatus (Mt 27,24)� Schärfer Judas Iskarioth 107 als bei Pilatus qualifiziert Matthäus am Beispiel des Judas die Sinnlosigkeit der nachtäglichen Distanzierungsversuche des Täters� In einer nachgerade lakonischen Reihung von vier Verben innerhalb eines kurzen Satzes mit nur elf Worten wird eine drängende Abfolge von scheinbar ganz selbstverständlich aufeinander folgender Handlungen mehr benannt als beschrieben: Judas wirft ( ripsas ) die Silberstücke in das Innerste des Tempels ( eis ton naon ), geht hinweg (anechōrēsen) und weggehend ( apēlthōn ) erhängt er sich ( apēgxato ) (Mt 27,5)� Gnilka vermutet hinter dem Einwurf des Geldes in die cella des Tempels den Versuch eines rituellen Kaufrücktritts� 15 Aber die rechtlichen Möglichkeiten von einem Verrat analog zu einem Ackerkauf durch Rückgabe des Kaufpreises zurückzutreten, sind doch höchst unwahrscheinlich� Der Ackerkäufer konnte durch die Darbringung des Kaufpreises im Vorhof des Tempels den Versuch eines kultisch assistierten Kaufrücktritts unternehmen� Aber der Verräter? Der Einwurf des Geldes scheint eher psychischer und symbolischer Natur zu sein� Psychisch ist er wohl Ausdruck des verzweifelten Bemühens, das Geschehene ungeschehen zu machen� Symbolisch beinhaltet er eine tragische Bestätigung des Verrates: Der Verräter entweiht das Innerste des Tempels mit seinem Einwurf der Silberstücke, die ja vermutlich das Bildnis des Kaisers zeigten� Nicht etwa in den Vorhof ( proaulion ), sondern in das Innerste ( naon ) des Tempels als des Ortes der Deszendenz und Wirksamkeit Gottes wirft der Verräter seinen Lohn� So kann er keinen Rücktritt von dem Geschäft des Verrates erreichen, sondern so lässt er dem Verrat an Jesus den Verrat am Tempel folgen� Der Distanzierungsversuch läuft auf eine Bestätigung von Verrat und eigener Verworfenheit hinaus� Es bleibt kein Ort, an den Judas vor sich und seiner Schuld fliehen könnte� Der Selbstmord lässt konsequenterweise nur drei Worte auf sich warten (kai apelthōn apēgxato) � Mit dem Einwurf der Silberstücke in das Allerheiligste des Tempels werden die beiden konkurrierenden Sinnsysteme des Judas in ihrem unlöslichen Konflikt dargestellt: Das Geld wird auf dem Höhepunkt dieses Konfliktes noch einmal in seiner scheinbaren göttlichen Würde exponiert� In Wahrheit aber entweiht es den Tempel und hinterlässt bei dem, der sich darauf verlässt, tiefste Einsamkeit und Verzweiflung� Judas, der Kassenwart der Jesus-Gruppe, scheitert an genau der doppelten Loyalität, vor der Jesus stets gewarnt hat (Mt 6,24)� Die Haltlosigkeit seines Existenzkonzeptes lässt ihn abgleiten in die Existenzlosigkeit des Todes� 15 J� Gnilka, Das Matthäusevangelium (HThK I, 2), Freiburg 1988, 445 f� 108 Ralf Miggelbrink 6. Die Tragik der Judasgestalt Als Typos menschlichen Verhaltens gegenüber der Zumutung der Menschwerdung Gottes ist Judas die theologische Gestalt, die Aufschluss gibt über Reaktionsmöglichkeiten auf die Menschwerdung Gottes� Die erste Reaktionsmöglichkeit ist diejenige des berufenen Jüngers, der sich der Wirklichkeit Jesu öffnet, der dem Messias-Bekenntnis des Petrus zugestimmt haben mag (Mt 16,16) und auch in dessen Namen Petrus sagen kann: „Siehe, wir haben alles verlassen uns sind dir nachgefolgt …“ (Mt 19,27)� Diese erste Reaktionsmöglichkeit steht in der dramatischen Komposition der Synoptiker, je mehr der Weg Jesu sich gen Jerusalem wendet, unter Bestreitungs- und Bewährungsdruck� Die durch die Kornfelder streifende Jesus- Gruppe, deren Jünger unbekümmert Ähren abbrechen, um sich mit den Körnern zu stärken (Mt 12,1), trifft auf unerwartete theologische Anfragen: Sie ernten am Sabbat? Sie essen mit ungewaschenen Händen ? Sie missachten die Überlieferung der Alten ? (Mt 15,2) In der Anfeindung entwickeln die Jünger Erklärungsbedarf: „Erkläre uns das Gleichnis vom Unkraut auf dem Acker! “ (Mt 13,36)� Ja, sie beginnen Diskussionen über das Verhalten Jesu: „Wozu diese Verschwendung? “ (Mt 26,8)� Schließlich verlassen sie Jesus und fliehen (Mt 26,56)� Johannes inszeniert die sogenannte eucharistische Brotrede zum status confessionis ( Joh 6,51-65). Viele verlassen Jesus nach dieser Rede und Jesus fragt die Zwölf: „Wollt auch ihr weggehen? “ ( Joh 6,67)� Im Kontext katechetischer Auslegungen und Predigten ist die Nachfolge- Begeisterung der Jünger ein wohlfeiler Topos� Er verkennt die überdeutlichen Zeichen von Zweifeln, Diskussionen und Konflikten in der Jüngergruppe� Dabei sind diese Zweifel, Diskussionen und Konflikte angesichts des mit Leidensankündigungen gesäumten Weges nach Jerusalem in den schließlich tödlichen Konflikt mit der römischen Besatzungsmacht und den religiösen Eliten mehr als nachvollziehbar� Die Entdeckungen der Leben-Jesu-Forschung haben die zentrale Bedeutung der eschatologischen Naherwartung für Jesus von Nazareth zu Bewusstsein gebracht� 16 Jesus wollte das Reich Gottes für die Welt, nicht den eigenen Tod� Die jahrhundertelang bei der Deutung des Kreuzestodes zentrale Idee der notwendigen Sühne (Röm 3,26: hilastērion ) oder Genugtuung (satisfactio) trat in den Hintergrund� Die mit ihr verbundene Vorstellung des von Gott gewollten Todes seines Gesandten wurde energisch zurückgewiesen� Am Ende sei die Verkündigung Jesu an einer menschlichen Freiheit gescheitert, die sich ihr auch hätte öffnen können, die sie jedoch abgelehnt hat� Ebenso wenig wie es eine 16 E� Koziel, Apokalyptische Eschatologie als Zentrum der Botschaft Jesu und der frühen Christen� Ein Diskurs zwischen Exegese, Kulturphilosophie und Systematischer Theologie über die bleibende Bedeutung einer neuzeitlichen Denklinie, Frankfurt 2007, 82-100. Judas Iskarioth 109 Determination zur Sünde gibt, konnte es eine Determination Jesu von Nazareth zum Scheitern an der menschlichen Freiheit seiner Adressaten geben� Demgegenüber betonen die Synoptiker in ihrer Komposition der Evangelien die Zwangsläufigkeit , mit der der Weg Jesu auf wachsenden Zweifel, Diskussionen, Ablehnung, Widerstand und Verschwörungsbereitschaft trifft� Am Ende kooperieren nicht nur religiöse Eliten und Besatzungsmacht, um Jesus zu töten� Sie werden anlässlich der Verurteilung Jesu auch von der Bevölkerung Jerusalems unterstützt (Mk 15,13)� Zu diesem Zeitpunkt haben alle seine Jünger Jesus bereits verlassen (Mk 14,50)� Ihre Flucht gestaltet Markus als so beschämend ehrlos, dass weder Matthäus noch Lukas seinen Bericht vom nackt davonrennenden Jüngling (Mk 14,50 f�) übernehmen� Judas ist also beileibe nicht der einzige Verräter� Der Verrat folgt anscheinend einer anthropologischen Zwangsläufigkeit� Der von Augustinus in die christliche Anthropologie eingeführte Begriff einer genetisch bedingten Schwächung des menschlichen Willens, der menschlichen Erkenntniskraft und Freiheit, kurz die augustinische Erbsündentheologie, stößt hart auf die Autonomieansprüche der Neuzeit� Dabei wird verkannt, dass Autonomie eine Idee ist, unter der Menschen ihr Leben deuten, wo sie erkennen und bejahen, dass es ihnen gemäß ist, das Leben frei zu gestalten, indem sie sich ausrichten an dem, was sie als gut und wahr erkennen� Mitnichten aber ist Autonomie ein factum , eine empirische Tatsache� Gerade da, wo Menschen ihr Leben unter der Idee von Freiheit und Autonomie denken und zu leben versuchen, bemerken sie, wie viel nicht nur hinsichtlich der Äußerlichkeiten des Lebens, sondern wie viel gerade hinsichtlich ihres freien Entscheidens und Handelns in den dunklen Abgründen ihrer selbst wurzelt, statt in der lichten Klarheit von Erkenntnis und bewusster Entscheidung� Gerade unter der Idee der Autonomie werden Menschen schmerzhaft ihrer Heteronomien inne� Gerade wer sein Leben vernünftig gestalten will, wird schmerzhaft der Grenzen seiner Vernunft inne� Wer schließlich erkennt, dass der vernünftigen Erkenntnis des Guten immer ein Moment der freien Bejahung des Guten innewohnt, der begreift: Nicht nur ist unser Wollen des Guten mangelhaft und unsere Erkenntnis des Guten getrübt� Bei der Mangelhaftigkeit der beiden Vermögen von Wille und Erkenntnis bedingt der Mangel des einen den Mangel des anderen: Weil wir das Gute nicht eigentlich wollen, erkennen wir es nicht nüchtern und weil wir nur unklar erkennen, was gut ist, wollen wir das Gute nur bedingt� Wer so etwas wie eine Zwangsläufigkeit des Verrates Jesu sieht, muss keine göttliche Prädestination eines Individuums zum Bösen annehmen, nach der Judas von Gott zum Verräter an Jesus bestellt wurde, um so das Passionsgeschehen um der Erlösung der Menschheit willen in Gang zu setzen� Vielmehr manifestiert sich in Judas die zur Tat hindrängende kritische Auseinanderset- 110 Ralf Miggelbrink zung der Jünger mit dem Hiatus zwischen der Reich-Gottes-Botschaft auf der einen und den zunehmenden Anzeichen des absehbaren Scheiterns Jesu auf der anderen Seite� Das Erschrecken des Judas über die Verurteilung Jesu (Mt 27,3) könnte Spekulationen Raum geben, der Verräter habe gar nicht den Tod Jesu intendiert, sondern durch seinen Verrat die machtvolle Selbstmanifestation Jesu als der Messias zu provozieren versucht� Dann aber wäre Judas eine Gestalt des Scheiterns an der in Tod und Auferweckung offenbar werdenden Wahrheit des Messias, dass nämlich Gottes verwandelnde Macht und Herrlichkeit das Sterben des Menschen und Gottes Handeln an ihm voraussetzt� Judas wäre dann einer der vielfältigen Fälle des menschlichen Scheiterns an der Wahrheit Jesu� Dieses Scheitern gründet in einer auch genetisch kodierten Fremdheit des konkreten Menschen gegenüber Gott und der Wahrheit seines Gesalbten, die sich gerade nicht durch Selbstbehauptung und Gewalt durchsetzt, sondern in einem gläubigen Vertrauen, das Scheitern und Tod in der Hoffnung auf den Gott des Lebens erleidet� In der markinischen Komposition reicht der Kontext der Nachfolge logien , um Petrus argumentieren zu lassen: „Du weißt, wir haben alles verlassen und sind dir nachgefolgt�“ (Mk 10,28)� Matthäus macht in seiner Fassung dieser Überlieferung die damit implizierte Frage überdeutlich: „Was werden wir dafür bekommen? “ (Mt 19,27)� Im Horizont des drohenden Scheiterns wägen seine Jünger Risiko und Nutzen, Investition und Rendite der Nachfolge� Eine Variante dieser Frage ist diejenige nach etwaigen eigenen Beförderungsaussichten für das Reich Gottes: Wer wird der Größte sein im Himmelreich? (Mt 18,1)� Die Unangemessenheit der Frage nach den eigenen Erfolgsaussichten im Gottesreich bekommen die Jünger von Jesus mitgeteilt� Begriffen zu haben scheinen sie seine Auskünfte aber eben nicht� Bei allem offensichtlichen Erfolg der Jesus-Bewegung, deren Meister gar Wind und Wellen gebieten kann (Mk 4,41), bleiben die Erfolge Jesu an dessen Grundintuition gebunden, letztlich den eigenen Nutzen nicht zu suchen und den eigenen Tod nicht um jeden Preis zu meiden� Die österliche Predigt vom endgültigen Erfolg des Gottesreiches bleibt gebunden an die Geschichte vom katastrophalen Ende seines Boten und wirft für die Jünger Jesu damals wie heute die Frage auf: Was ist für uns drin im Gottesreich? Die christliche Kirche hat in ihrer theologischen Entwicklung die zentrale Bedeutung der Botschaft von der österlichen Auferstehung so stark in das Zentrum ihrer Verkündigung und Liturgie gestellt, dass es zeitweise notwendig erschien an das Leben vor dem Tod zu erinnern� Ganz unproblematisch wurden orakelnde Formeln wie die vom Jenseits zu zentralen Elementen der christlichen Verkündigung� Sie ent-dramatisieren, ja banalisierten, die christliche Grunderfahrung, dass die Verkündigung und Verbreitung des Gottes-Reiches seit Jesu Tod gebunden ist an die Erfahrung des Todes seiner Boten (apostoloi) und Zeugen Judas Iskarioth 111 (martyres) � Dieser Tod ist nicht nur der riskierte und schließlich erlittene Tod am Ende des Lebens, sondern die Erfahrungen des Scheiterns im Leben und das Durchleiden der Furcht vor diesem Scheitern� Diese Furcht vor dem Scheitern und dem Tod gehört zum genetisch kodierten Überlebensprogramm jedes biologischen Lebewesens� Ihre Überwindung ist nicht natürlich� Die Evangelien entfalten die Vielfalt der möglichen Alternativerfahrungen zur Angst vor dem Tod in den Auferstehungsgeschichten� Sie handeln von individuellen Erfahrungen, mit denen die Zeugen der Auferstehung zu individuellen Gewissheiten gelangten, die sie bezeugen können, die aber für das Erkennen und Handeln von Menschen nur da verwandelnde Kraft annehmen, wo sie individuell rezipiert und verstanden werden� Die individuelle Rezeption des alle verbindenden Auferstehungszeugnisses legt das Neue Testament mithilfe des Begriffes Geist aus� „Geist“ bezeichnet das intersubjektive Prinzip individueller Erkenntnis� Im Geist (en pneumati) erkennt der Einzelne die Wirklichkeit der Auferstehung als einer intersubjektiv bezeugten in ihrer individuellen Relevanz für das eigene Leben� Diese Individualitätsgebundenheit neutestamentlicher Intersubjektivität des Auferstehungszeugnisses wird durch eine weltbildhaft orakelnde Rede vom Jenseits nicht erreicht� Anders als der Glaube an ein Jenseits , in dem die Rechnungen des Gottesreiches endgültig aufgehen, stehen die Auferstehungszeugnisse für lebensnahe Erfahrungen der transformierenden Kraft des Gottesreiches in einer Gegenwart, die gleichwohl von Tod und Scheitern umfasst bleibt� Aber mit diesen vielfältigen lebensnahen Erfahrungen der Auferstehung wächst die christliche Glaubenszuversicht, dass die Gesetze der nach Überleben strebenden Lebewesen, dass dieses Leben dem Fleische nach ( kata sarka ) nicht die letzte bestimmende Wirklichkeit menschlicher Existenz ist, sondern dass von Gott her das Leben im Geist begonnen hat, dessen Kraft auch im individuellen Tod obsiegt und jetzt bereits erfahrbar zur eschatologisch bestimmenden Wirklichkeit des Lebens wird� 7. Der Ort, der Judas bestimmt war Als sich in der Jünger-Gemeinde in den vielen Geschichten von der einen Auferstehung die vielfältigen individuellen Auslegungen der einen Überzeugung von der Kraft des Reiches Gottes im Angesicht seiner Widerlegung durch den individuellen Tod durchzusetzen beginnen, ist Judas nicht mehr dabei� Sein Zweifeln, Diskutieren und Streiten hat ihn an den Punkt gebracht, an dem ihn der alle verbindende Geist nicht mehr erreicht� Er endet in der Einsamkeit des trostlosen Todes� Dass die Apostelgeschichte den Selbstmord des Judas umschreibt mit den Worten, Judas sei an den Ort gegangen, „der ihm bestimmt war“ (Apg 1,26) lässt die Hoffnung mitschwingen, dass auch die Verweigerung gegenüber der 112 Ralf Miggelbrink Auferstehungsbotschaft eine tragische heilsgeschichtliche Funktion enthalten könnte� Der Verweigerer illustriert mit seiner Verweigerung die Aussichts- und Hoffnungslosigkeit eines Menschen, der der Dynamik des Gottesreiches nicht trauen mag und dessen Sorge um das biologische Leben ihn als geistiges Wesen zu keinem befriedigenden Ziel führen kann� Buchreport Günter Röhser Carol A� Hebron Judas Iscariot: Damned or Redeemed. A Critical Examination of the Portrayal of Judas in Jesus Films (1902-2014) London u� a�: Bloomsbury T&T Clark 2016 (Scriptural Traces: Critical Perspectives on the Reception and Influence of the Bible 9 = Library of New Testament Studies 563) XV , 298 Seiten, gebunden ISBN 978-0-56766-829-5