eJournals ZNT – Zeitschrift für Neues Testament 21/41

ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
2018
2141 Dronsch Strecker Vogel

Judas – die kleine Figur mit der großen Frage

2018
Kristina Dronsch
90 Kristina Dronsch die Jesus salbt, dem blinden Bartimäus, den Pharisäern und bis zu Zachäus� Damit gehört auch die Geschichte von Judas in die große Geschichte, die von Gott und Mensch erzählt� Sie ist eine Geschichte unter vielen� Und wer etwas über Judas erfahren will in den Schriften des Neuen Testaments, wird vergeblich eine große Geschichte suchen� Es gibt kein tragendes Judas-Narrativ, von dem die Erzählungen des Neuen Testaments irgendwie zehren� Die Nichterwähnung des Judas in den paulinischen Briefen mag dies noch einmal unterstreichen� Vielmehr erschließt sich die Figur des Judas gerade vom anderen Ende her: Die kleine Geschichte von Judas, wie sie in den neutestamentlichen Erzähltexten zu finden ist, zeigt sich tief verwoben mit der großen Geschichte Gottes mit den Menschen, wie sie schon in den Schriften Israels thematisiert wird� Wohlgemerkt, es geht dabei um Geschichte im Sinne von Erzählung� Eine Erzählung hat bestimmte Fähigkeiten� Zu ihrer wichtigsten zählt: Sie verausgabt sich nicht� Das Kennzeichen der biblischen Geschichten ist somit, dass sie ihre Kraft bewahren� Das ist der grundlegende Unterschied zu einer Information: Die Information lebt ganz für den Augenblick der Informationspreisgabe� Ihre Kraft entfaltet die Information also zur Gänze in dem Moment, in dem sie die Information preisgibt� Was wir nun im Neuen Testament über Judas erfahren, ist eingebunden in die neutestamentliche Erzählwelt� Wer die Erzählungen zu Judas liest, merkt sofort, wie wenig Information sie übermitteln� Das Markusevangelium beispielsweise versorgt uns mit der spärlichen Information, dass Judas einer von den Zwölf war und Jesus verraten hat� Mehr nicht� Das Johannesevangelium und das Lukasevangelium fügen demgegenüber noch die Information hinzu, dass der Satan in Judas fuhr (vgl� Lk 22,3 sowie Joh 13,2�26 f�)� Durch diese spärlich gegebene Information öffnen sich die neutestamentlichen Erzählungen über Judas für neue Epochen, die in der Auslegung einer alten Erzählung etwas über sich selbst begreifen wollen� D� h�, die Erzählungen zu Judas, wie wir sie im Neuen Testament finden, bewahren als Erzählungen ihr Potenzial an Auslegungen, die in historisch versetzten Epochen entstehen - das macht die Qualität von Erzählung aus� Insofern lebt die kleine Figur Judas vor allem von der Fähigkeit, ihn immer wieder neu auszulegen - die Geschichte von und mit Judas weiterzuerzählen� Doch nicht als isolierte Judas-Geschichte, sondern als eine Geschichte Gottes mit den Menschen� Es ist eine Geschichte, die sich durch zwei Pole markiert entfaltet: Auf der einen Seite steht Gottes bedingungslose Treue zu den Menschen und auf der anderen Seite steht das menschliche Handeln, das sich immer wieder als gegen Gott und seine Barmherzigkeit gewandt zeigt� Die Treue Gottes bildet die Kontinuität all der menschlichen Geschichten, die sich in den biblischen Erzählungen finden lassen� Erlesbar wird diese Treue Gottes von der Schöpfung, über Abraham bis Jesus� Sie gilt auch da, wo menschliche Verfehlungen diese Treue Gottes unterlaufen� So wie Kain, der seinen Judas-- die kleine Figur mit der großen Frage 91 Bruder tötet oder David, der das von Gott geschenkte Königtum missbraucht und zum Mörder des Uria wird, oder wie das Volk Israel, das um das goldene Kalb tanzt� Von Anfang an zeigt sich die Geschichte Gottes mit den Menschen als eine Geschichte, die menschliche Schuld und Verfehlung kennt� Deshalb ist die Figur Judas allenfalls diejenige, der man in den Evangelien die Schuld zuschieben kann� Diese Funktion teilt er jedoch durchaus mit anderen Figuren aus den biblischen Schriften� Aber eines ist Judas gewiss nicht: er ist nicht der souverän Handelnde anstelle Gottes� Wie sehr das Geschick der Figur Judas als verwoben mit der Geschichte Gottes zu verstehen ist, zeigt jedes der Evangelien auf seine eigene Art und Weise� Dennoch lässt sich dabei eine Grundstruktur erkennen, die paradoxe Züge hat� Einerseits die Unvermeidlichkeit der Passion Jesu aus der Perspektive der Geschichte Gottes und anderseits die Schuld dessen, der sie auslöst: „Der Menschensohn geht zwar hin, wie von ihm geschrieben steht; weh aber dem Menschen, durch den der Menschensohn verraten wird“ (Mk 14,21; vgl. Mt 26,24; Lk 22,22)� Es ist das planvoll verstandene Handeln Gottes, in das hinein das verräterische Handeln der Figur des Judas sich entfaltet, somit ist Judas nicht mehr und nicht weniger als die kleine Figur in der großen Geschichte Gottes mit den Menschen� Von daher verbieten sich Überhöhungen der Figur des Judas, nach der es sein Verdienst sei, den Weg für Passion und Auferstehung freigemacht zu haben oder seinen Verrat als eine Art Freundschaftsdienst verstanden wissen wollen, der mit Jesu Einverständnis geschah� Judas-- ein Einzelner, weil es viele sind Die Figur Judas wird in den neutestamentlichen Evangelien nicht als Einzelfigur in Szene gesetzt, sondern vielmehr als einer von den Zwölf� Die Zwölf sind narrativ bei den Evangelien immer eng an Jesus gebunden - sind sozusagen ganz nah dran am Geschehen rund um Jesus� Von den Zwölf wird geradezu im Dr. Kristina Dronsch, geboren 1971, Studium der Theologie in Deutschland und der Schweiz, arbeitet als Dozentin für Neues Testament, Exegese und Ethik am Wichernkolleg in Berlin� Forschungsschwerpunkte: Neutestamentliche Hermeneutik, Markusevangelium und Johannesevangelium� 92 Kristina Dronsch Sinne eines institutionellen Aktes gesagt, dass Jesus sie macht (vgl. Mk 3,14.16; gr� poiein )� Sie sind als Gemeinschaft da, um mit Jesus zu sein (vgl� Mk 3,14)� Im Zuge dessen wird Judas als einer von den Zwölf eingeführt, nicht ohne zu verschweigen, dass er es sein wird, der Jesus verrät (vgl. Mk 3,19; Mt 10,4; Lk 6,16). Vor allem in den Abendmahlsszenen der Synoptiker wird Judas als einer von den Zwölf dargestellt� D� h�, das Motiv des Verrats wird aufs Engste an die Zwölf gebunden und ist gerade kein Alleinstellungsmerkmal von Judas, der damit der Gemeinschaft der Zwölf enthoben wäre� Sehr deutlich hat das Markusevangelium diesen Zusammenhang herausgestellt: In der Passionserzählung werden die Zwölf vier Mal erwähnt - jedes Mal im Zusammenhang des Verrats (vgl� Mk 14,10� 17� 20�43)� Wie stark der Erzähler des Markusevangeliums gerade nicht die Einzelfigur Judas als Verräter vor Augen hatte, sondern die Gemeinschaft der Zwölf, zu denen eben auch Judas gehörte, wird vor dem Hintergrund, dass im gesamten Markusevangelium überhaupt nur sieben Mal von den Zwölfen die Rede ist, eindrücklich unterstrichen� Als Jesus versammelt mit dieser Gemeinschaft seinen Verrat ankündigt (vgl� Mk 14,18), reagiert jeder aus dieser Gemeinschaft mit der Frage „Bin ich es? “ (vgl� Mk 14,19)� Diese Gemeinschaft der Zwölf fragt nicht nach der Identität des Verräters - die der Erzählerkommentar den LeserInnen ja schon bei der Berufung der Zwölf mitgeteilt hat (vgl. Mk 3,19; Mt 10,4; Lk 6,16), sondern gibt mit dieser Frage zu verstehen, dass potenziell jeder aus dieser Gemeinschaft Judas ist� Das Gemeinsame dieser Gemeinschaft, die hier um Jesus versammelt ist, ist zuallererst das Gemeine, das Gewöhnliche� Die hier zur Sprache kommende Sozialität ist keine, in der es um herausragende Eigenschaften oder kollektive Werte einer besonderen In-Group um Jesus geht und von denen sich Judas mit seinem Verrat sodann absetzt, sondern diese Gemeinschaft kennzeichnet sich als Ganze durch das menschlich Gewöhnliche, das die Möglichkeit des Verrats gerade einschließt� Sowohl die erzählerischen Bestrebungen in den Evangelien, Judas fortschreitend negativer darzustellen, als auch die Erzählstrategie, einen großen Gegenspieler Gottes auf die Bühne zu bitten - nämlich Satan (vgl. Lk 22,3; Joh 13,26 f.) -, sind als narrative Schadensbegrenzungen für diese Gemeinschaft um Jesus zu verstehen� Beide Male wird die Gemeinschaft um Jesus entlastet und die In-Group als Ganze entschuldigt, denn die Gemeinschaft der Zwölf teilt als conditio communis das Gewöhnliche miteinander, das den Verrat nicht aussondern einschließt und sich in der Frage „Bin ich es? “ kondensiert� Das Matthäusevangelium weitet deshalb ganz im Sinne dieser conditio communis mit seinen Ausführungen in der Passionserzählung den Kreis der Verräter aus� Das Gemeine wird über den Verrat hin ausgeweitet als die potenzielle Möglichkeit verräterischer Ausübung menschlicher Macht, die der menschlichen Gemeinschaft als solcher innewohnt: Judas, als einer von den Zwölf, verrät ihn Judas-- die kleine Figur mit der großen Frage 93 mit einem trügerischen Kuss (vgl� Mt 26,48 ff�)� Der Hohe Rat versucht mittels Falschaussagen, Jesus ein Verbrechen anzuhängen, das seine Hinrichtung begründet (vgl� Mt 26,59)� Als dieser Plan misslingt, tritt der Hohepriester auf und nutzt seine Macht, um Jesu Worte als Gotteslästerung zu interpretieren� Petrus verrät Jesus, in dem er ihn dreimal verleugnet (vgl. Mt 26,69-75). Pilatus, obwohl er durch einen Traum von Jesus Unschuld informiert wurde, lässt wissentlich die Kreuzigung zu (vgl. Mt 27,11-24 ff.). Die römischen Soldaten foltern und verspotten Jesus, bevor sie ihn ans Kreuz schlagen (vgl. Mt 27,27-36). Im Matthäusevangelium ist es bezeichnenderweise Judas, der Verräter, der diese conditio communis menschlichen Handelns aufdeckt: als Judas „sah“ (vgl� Mt 27,3), dass Jesus zum Tode verurteilt war, bereut er sein Tun mit den Worten: „Ich habe Unrecht getan, dass ich unschuldiges Blut verraten habe“ (Mt 27,4) - der Verräter Judas wird zum Zeugen der Unschuld Jesu, indem er das Gemeine menschlicher Machtausübung gegen Jesus „sieht“� Das Handeln des Judas ist somit kein irgendwie exzeptionelles Handeln, dem eine Ziel- und Zweckgerichtetheit in herausragendem Maße zuzuschreiben ist� Im Horizont gemeinschaftlichen Daseins zeigt die Figur des Judas auf, was diesem Gemeinen und Gewöhnlichen auf menschlicher Seite zuzurechnen ist: verräterisches und betrügerisches Handeln� Die Tat des Judas ist nicht als Tat eines Einzelnen entscheidend, sondern weil sie sich in keiner Weise von den Taten der anderen unterscheidet� Anders gewendet: Die Existenz des Verrats ist keine, die einem herausragenden Individuum Judas einzig anhaftet und somit einem Einzelnen zuzuschreiben wäre, sondern ist als das Gemeine und Gewöhnliche in der Gemeinschaft nicht nur der Zwölf verankert� Judas-- der Parasit am Tische Jesu Was auch immer zu der Figur Judas sonst noch zu sagen ist, greifbar wird sie als einer von den Zwölf, mit der Besonderheit, dass die „schlechte Presse“ ihn in der Rezeptionsgeschichte immer begleitet hat� Diese schlechte Presse ist aufgrund der sozialen Stellung, die er als einer von den Zwölf einnimmt, begründet, keineswegs jedoch in Judas selbst zu suchen� Sie ist näherhin als eine parasitäre Stellung zu beschreiben� Das griechische Wort parasitos bezeichnet von seiner Etymologie her jemanden, der sich aus einer Nebenposition heraus (gr� para ) ernährt (von gr� sitos )� In der klassischen Antike wurden zunächst die Inhaber eines religiösen Amtes mit diesem Ausdruck belegt; das war insbesondere bei den in Attika beheimateten Kulten der Fall� Als Vertreter ihrer Polis hatten die Parasiten das Opfermahl mit den Göttern zu verspeisen� Parasiten sind somit niemals welche, die aus einer Hauptrolle heraus agieren, sondern eingebunden 94 Kristina Dronsch sind in eine Nebenrolle, deren Funktion aber eine grundlegende ist� Judas ist deshalb vor allem als der Parasit - der Mit-Esser am Tische Jesu zu verstehen� „Einer unter euch, der mit mir isst, wird mich verraten“ - lässt der markinische Jesus die versammelten Jünger beim letzten Mahl wissen (Mk 14,18)� So betonen die Evangelien alle, dass es Judas als einer von den Zwölfen ist, der beim letzten Mahl mit Jesus seinen Bissen in die Schüssel taucht (vgl. Mk 14,20; Mt 26,23; Lk 22,21 f.; Joh 13,26). Michel Serres’ Buch Der Parasit zeigt auf, dass parasitäre Nebenrollen ein allgemeines und letztlich unvermeidbares Phänomen sind - sie sind niemals etwas Besonderes� Auf jedem sozialen Ordnungsniveau existieren Parasiten, die von Serres als die Rückkehr des Ausgeschlossenen ins Innere beschrieben werden� Überall dort, wo ein ordnungsbildender Ausschluss stattfindet, können sie vorkommen� Demnach ist die parasitäre Störung der Normalfall, infolgedessen verlieren unterkomplexe Reinheitsvorstellungen ihre Überzeugungskraft� Die Figur des Parasiten erweist sich so als ein Sinnbild für die Verschränkung von Ordnung und Unordnung� In der integren Gemeinschaft der Zwölf symbolisiert die Figur „Judas“ die „Störung“ innerhalb des Ordnungszusammenhangs der Gemeinschaft um Jesus� Judas ist der Parasit, der aus der Perspektive der Logik der eingeschlossene ausgeschlossene Dritte ist� Die parasitäre Störung, die mit Judas hervorgebracht wird, bringt eine gewisse Paradoxalität zur Sprache, die der Nebenrolle des Parasiten innewohnt: Zum einen ist festzuhalten, dass Judas im Rahmen seiner parasitären Nebenrolle für den Handlungsverlauf der Passion, wie sie erzählerisch in den Evangelien dargestellt wird, in keinem Fall zwingend notwendig ist� Alles hätte sich auch ohne die Figur des Judas ereignen können� Zum anderen: Als nicht vorgesehener Verräter nährt sich Judas von der bestehenden Tischgemeinschaft - und lässt damit ihre Grenzen brüchig werden� Was mit dem Auftreten von Judas sich verändert, ist vor allem die Gemeinschaft, die nicht mehr als eine geschlossene harmonische und nur vom Guten bewegte In-Group um Jesus zu verstehen ist� Was bleibt? -… Die große Frage Die Figur des Judas führt heraus aus der Erzählwelt hin zu den Leserinnen und Lesern� Anhand seiner Geschichte eröffnen die Evangelien in ihrer narrativen Gestaltung Einsichten in die komplexe Wirklichkeit menschlichen Schuldigwerdens� In der je unterschiedlichen Ausgestaltung der Judas-Geschichte offenbaren die Texte des Neuen Testaments, dass diesem Schuldigwerden nicht auszuweichen ist und dass es keine letztgültige Antwort darauf gibt� Insofern leistet die Figur des Judas der theologischen Frage nach dem Menschsein in all seiner Verstricktheit Vorschub� Wir mögen uns mit weißer Weste auf der großen Judas-- die kleine Figur mit der großen Frage 95 Bühne des Lebens darstellen, aber allein schon in unserem Angewiesensein auf die weiße Weste zeigen wir, dass wir dem Schuldigsein nicht entrinnen können� Am dramatischsten hat dies das Markusevangelium narrativ in Szene gesetzt� Keiner von den Zwölf kann während des letzten gemeinsamen Mahls mit Jesus ausschließen, der Verräter zu sein� Einer nach dem anderen von den Zwölfen fragt: „Bin ich es? “ (Mk 14,19; vgl. auch Mt 26,22; Lk 22,23 und Joh 13,22). Von der Möglichkeit des Schuldigwerdens ist keiner enthoben, auch keiner aus dem engsten Vertrautenkreis Jesu� Und so antwortet Jesus: „Einer von den Zwölfen, der mit mir seinen Bissen in die Schüssel taucht“ (Mk 14,20)� Deshalb ist und bleibt Judas eine Figur, die die Leserinnen und Leser verstrickt sein lässt in die Frage nach dem Schuldigwerden� Doch Judas ist bei weitem nicht die einzige Figur in den biblischen Erzählungen, die das Thema der Schuld in die Welt der Lesenden hereinträgt� Deshalb ist es interessant sich anzuschauen, wie dieses Verstricktwerden in die Frage nach dem Schuldigwerden narrativ geschieht� Denn es kann auf sehr unterschiedliche Weise realisiert werden, wie ein Vergleich mit der Nathan-Parabel aus 1 Sam 2,12-14 zeigt. Die kurze Parabel, die anlässlich der Begegnung des Propheten Nathan mit dem König David erzählt wird, ist kunstvoll gestaltet und handelt von einem reichen und einem armen Mann, die in derselben Stadt wohnen� Als der reiche Mann Besuch bekommt, nimmt er das einzige Schaf des armen Mannes, das dieser wie sein eigenes Kind geliebt und aufgezogen hatte, und bereitet es seinem Gast als Mahl zu� Nachdem David das moralische Statement abgeben hat, mit dem er das Handeln des reichen Mannes verurteilt, sagt der Autor der Erzählung - Nathan - dem König David auf den Kopf zu: „Du bist der Mann“� Im Modus der selbsterkennenden Feststellung werden hier die Leserinnen und Leser über die Identifikation mit der Davidfigur in das Thema Schuldigwerden verstrickt� In der Identifikation mit dem Täter David sollen sie alternative Handlungsmöglichkeiten entwerfen� Anders bei Judas: Hier ist es der Modus der Frage, der die Leserinnen und Leser verstrickt sein lässt in die nicht auszuschließende menschliche Möglichkeit des Schuldigwerdens� Ob in den Worten des Matthäusevangeliums „Bin ich’s, Rabbi? “ (Mt 26,25) oder in den Worten des Markusevangeliums „Bin ich’s? “ (Mk 14,19) oder in den Worten des Johannesevangeliums „Herr, wer ist’s? “ ( Joh 13,25), oder wenn im Lukasevangelium der Erzähler mitteilt, dass die Jünger untereinander sich fragen, wer von ihnen der Verräter sei (vgl� Lk 22,23) - es ist der Modus der Frage, mit dem das Thema des Schuldigwerdens auf den Plan tritt� Eine Frage wartet immer auf eine Antwort, sie adressiert sich stets neu an alle Antwortwilligen� Sie hält die Unabgeschlossenheit der Antwort als sich stets wiederholende Frage wach� Somit ist Judas als die kleine Figur mit der großen Frage zu verstehen, die eine anthropologische Möglichkeit zur Sprache bringt - das Schuldigwerden� 96 Kristina Dronsch Judas lässt uns nicht los, weil wir die Frage nach der menschlichen Schuld nicht loswerden� Wir bleiben in die Frage nach Schuld verstrickt� Das gehört zu unserem Menschsein� Dennoch ist und bleibt Judas in der neutestamentlichen Erzählung eine Randfigur� Er ist der Parasit am Tische Jesu, der die Frage wach hält: Bin ich es? Zum Weiterlesen Eckart Reinmuth: Anthropologie im Neuen Testament (utb 2768), Tübingen 2005 (bes� 125-135). Michel Serres: Der Parasit (stw 677), Frankfurt / M� 1981� Zeitschrift für Neues Testament Heft 41 21. Jahrgang (2018) Hermeneutik und Vermittlung Judas Iskarioth Zur theologischen Hermeneutik einer neutestamentlichen Gestalt Ralf Miggelbrink 1. Judas, eine für die Passionsgeschichte sachlogisch nicht notwendige Figur Die synoptischen Evangelien nennen Judas als einen der in den Zwölferkreis Berufenen (Mt 10,4; Mk 3,19; Lk 6,16). Judas ermöglicht durch sein Insider-Wissen die diskrete nächtliche Verhaftung Jesu an abgelegenem Ort� Mk gestaltet den Verrat am nüchternsten: Der Verräter geht zu den Hohen Priestern� Diese freuen sich und stellen ihm Geld in Aussicht� Judas sinnt auf eine Gelegenheit, Jesus auszuliefern (Mk 14,10 f�)� Im Anschluss an die Getsemani-Perikope erscheint Judas dann als Vorläufer einer „mit Schwertern und Knüppeln“ bewaffneten Rotte (14,43), der Jesus durch Begrüßung mit einem Kuss (14,45) seinen Häschern anzeigt� Die knappen Sachverhaltsschilderungen bei Mk geben der Ereignisfolge etwas Drängendes� Durch die Eröffnung der Verrat-Szene mit den Worten „Noch während er redete …“ werden Getsemani-Perikope und Verrats- Perikope überlappend verknüpft� Die gewaltsam vorandrängende äußere Handlung scheint innere Zweifel des Verräters zu verdrängen� Der Kontrast zwischen innerem Ringen und äußerer Gewalt und die Pervertierung des Liebessymbols zum Verratsmedium betonen die innere Distanz des Judas zu Jesus� Lukas macht das zwischen beiden Männern herrschende Unverständnis explizit mit der Frage Jesu: „Judas, mit einem Kuss verrätst du den Menschensohn? “ (Lk 22,48)�