eJournals ZNT – Zeitschrift für Neues Testament 21/41

ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
2018
2141 Dronsch Strecker Vogel

Apostasie im Neuen Testament

2018
B. J. Oropeza
62 B. J. Oropeza werden kann� 3 In einem früheren Aufsatz habe ich ausgeführt, dass Judas in den neutestamentlichen Texten tatsächlich als Verräter und Apostat erscheint, u� a� mit dem Hinweis, dass er in Lk 6,16 mit dem nominalen prodotēs eindeutig als „Verräter“ bezeichnet wird� Auch sein weiteres Geschick, das ihn zusätzlich in einem negativen Licht erscheinen lässt, wird von Auslegern, die versuchen Judas zu entlasten, oft ignoriert, etwa wenn Jesus in den synoptischen Evangelien sagt: „Der Menschensohn geht zwar dahin, wie über ihn geschrieben steht, doch wehe dem Menschen, durch den der Menschensohn ausgeliefert wird� Für diesen Menschen wäre es besser, wenn er nicht geboren wäre“ (Mk 14,21; vgl. Mt 26,24; Lk 22,22). 4 Die Untersuchung dieser Texte samt Judas’ tragischem Ende in Apg 1,15-21, wo er das Feld räumen und durch einen anderen Jünger ersetzt werden muss, ließ mich zu dem Schluss kommen, dass man sich das Jenseitsgeschick dieses Jüngers der neutestamentlichen Darstellung zufolge nicht sehr vielversprechend vorstellen darf� Ich habe allerdings auch betont, dass Judas mit seinem Verrat und seinem Abfall keinesfalls repräsentativ ist für „ den Juden“, der sich vom christlichen Glauben abwendet, wie in der Kirchengeschichte fatalerweise wiederholt behauptet wurde� Vielmehr betrachteten die frühen judenchristlichen Autoren Judas als einen der ihren � Er gilt mithin bei anderen frühen Christen als früh christlicher Apostat� 5 Dies ist ein bleibend wichtiger Punkt, denn es sind mindestens drei Tendenzen zu verzeichnen, die gegenwärtige Interpretationen der Judasgestalt beeinflussen und dem Unterfangen Vorschub leisten, alternative Judas-Darstellungen ins Spiel zu bringen, die ihn von Fehlverhalten freisprechen wollen� Die erste hat mit dem antisemitischen Erbe aus der Geschichte des Christentums zu tun, das Judas mit dem jüdischen Volk identifizierte, mit schrecklichen Folgen� Wenn nun der gegenwärtige Trend, Judas neu zu erfinden, unbewusst ein positiveres christliches Bild vom Judentum anstrebt, dann sitzt dieses Bestreben noch immer demselben fundamentalen Irrtum auf, der darin besteht, Judas mit den Juden gleichzusetzen� 3 Vgl� etwa F� A� Gosling, „Oh Judas! What Have You Done? “, EQ 71 / 1999, 117-25, der die Belege zu paradidōmi in der klassischen Literatur, der LXX und Josephus untersucht und zeigt, dass in vielen Fällen mit „verraten“ zu übersetzen ist� 4 B� J� Oropeza, Judas’ Death and Final Destiny in the Gospels and Earliest Christian Writings, Neotest 44 / 2010, 342-361. Ähnlich, jedoch weniger ausführlich, ders., In the Footsteps of Judas, 143-150. Zu meiner Auslegung dieses synoptischen Logions erwarte ich noch eine Publikation, die hierauf wie auch auf meine weiter ausgreifende These zu Judas direkt antworten wird� 5 Ich verstehe unter einem Apostaten / einer Apostatin jemanden, der oder die sich von einer Glaubens- und Lebensweise abgewendet hat, der er oder sie früher anhing; vgl. hierzu weiter Oropeza, Footsteps, 1-5. Apostasie im Neuen Testament 63 Die zweite Tendenz hat mit dem Bestreben zu tun, marginale religiöse Stimmen, oftmals gnostische, gegen die Übermacht des „orthodoxen“ Standpunktes zur Geltung zu bringen, der in den kanonischen Evangelien und dem Konzil von Nicäa zum Tragen kommt� 6 Das Judasevangelium kann dann als Stimme einer Minderheit mit Judas als dem exemplarischen Jünger Jesu verstanden werden, im Gegensatz zu den „niederträchtigen“ Jüngern, die den orthodoxen Glauben repräsentieren� Die Erforschung weniger bekannter „Christentümer“ ist gewiss nützlich und zugegebenermaßen ist es nicht möglich, all unseren Denkvoraussetzungen zu entkommen� Gleichwohl sollten wir nicht darauf verfallen, eine Hermeneutik des Verdachts anzuwenden, die uns zu den Anachronismus verleitet, Gemengelagen des 2� und 3� Jh�s auf Texte des 1� Jh�s anzuwenden, die bewährte Interpretationen auf der Grundlage guter und älterer innerer und äußerer Argumente für sich haben� Die dritte Tendenz hat es allgemeiner mit dem Tatbestand des Abfalls zu tun, von dem der „Zeitgeist“, wie ich sagen würde, seine eigene Auffassung hat: In der westlichen Welt wird Gottes Liebe, Barmherzigkeit und Gnade so sehr betont, dass Gottes Heiligkeit und sein Gericht über die Sünder außer Acht bleiben, mit der Folge, dass der Gedanke ewiger Bestrafung durch Gott bestritten wird� Und doch müssen wir uns damit auseinandersetzen, dass jemandes Taten oder Unterlassungen andere verletzen und eben auch mit möglichen zeitlichen und ewigen Konsequenzen, so unbequem dem westlichen Denken solche Vor- 6 Vgl� etwa B� D� Ehrman, Lost Christianities: The Battles for Scripture and the Faiths We Never Knew, Oxford 2003� B. J. Oropeza, Ph� D� in New Testament Theology (Durham, UK , 1998)� Er lehrte Biblical Studies an der George Fox University und ist nun Professor für Biblical and Religious Studies an der Azusa Pacific University� 2008 gründete er die Intertextuality in the New Testament Section der Society of Biblical Literature ( SBL ), die er sechs Jahre leitete� Er gehört zum editorial board der Reihe Rhetoric of Religious Antiquity ( SBL Press) und ist Mitglied des SBL -Seminars Scripture and Paul � Zu seinen zahlreichen Publikationen zählt ein Kommentar zum 1� Korintherbrief von 2017 (New Covenant Commentary), ein Kommentar zum 2� Korintherbrief ( Exploring Second Corinthians: Death and Life, Hardship and Rivalry ) von 2016, das Textbuch Exploring Intertextuality: Diverse Strategies for the New Testament Interpretation of Texts von 2016 sowie die Monographie Paul and Apostasy: Eschatology, Perseverance and Falling Away in the Corinthian Congregation von 2000� 64 B. J. Oropeza stellungen auch sein mögen, besonders dort, wo eine Lebensweise vorherrscht, die der überkommenen Interpretation bestimmter biblischer Texte widerspricht� Ist es naiv und zu optimistisch, wenn ich hoffe, dass Exegeten in ehrlicher Absicht zu begründeten biblischen Einsichten vorzudringen, auch wenn sie sie persönlich nicht mögen? Nach diesen Bemerkungen über die drei genannten Tendenzen wende ich mich nun dem Thema der Apostasie zu, dem Phänomen der Abtrünnigkeit bzw� des Abfalls� Eine erschöpfende Darstellung zum Neuen Testament insgesamt von Matthäus bis zur Offenbarung liegt in einem dreibändigen Werk vor, das ich im Untertitel „Apostasie in den neutestamentlichen Gemeinden“ genannt habe� 7 Der vorliegende Beitrag legt seinen Fokus auf den ersten Band, In the Footsteps of Judas and Other Defectors , der, was Judas betrifft, der wichtigste ist� Freilich wird beim Lesen schnell deutlich, dass jener berühmte Verrat nur eine von vielen Facetten von Apostasie ist� Mit meiner Darstellung verfolge ich ein vierfaches Ziel: (1) Ich versuche ein Bild von der Gemeinde (bzw� den Gemeinden) hinter der jeweiligen Schrift zu gewinnen� (2) Sodann geht es mir um die Eigenart derjenigen Apostasie, die die jeweilige Gemeinde betrifft bzw� vor der sie warnt� (3) Gefragt wird dann nach den (potentiellen) Konsequenzen einer vollzogenen Apostasie� Schließlich stelle ich (4) einen Vergleich zwischen den einzelnen Perspektiven auf Apostasie an, die die jeweiligen Gemeinden erkennen lassen, um eine Schlussfolgerungen zu diesem Thema zu ziehen� Anders als in meinem Buch enthält dieser Beitrag keinen umfangreichen Fußnotenapparat zur weiteren Fundierung meiner eigenen Auffassung und zur Diskussion mir anderen Positionen� Wir beginnen mit dem Markusevangelium, das üblicherweise als das älteste der vier kanonischen Evangelien angesehen wird� Apostasie im Markusevangelium Die Gemeinde des Markusevangeliums vermute ich in Rom, und ich setze voraus, dass sie unter der neronischen Verfolgung gelitten hat (Irenäus, Adv� haer� 3,1,1; Eusebius h. e. 2,15,1-2; 3,39,14-16; 6,14,5-7). 8 Infolge dessen haben einige 7 B� J� Oropeza, Jews, Gentiles, and the Opponents of Paul: The Pauline Letters� Apostasy in the New Testament Communities, Bd. 2, Eugene 2012; B. J. Oropeza, Churches under Siege of Persecution and Assimilation: The General Epistles and Revelation� Apostasy in the New Testament Communities, Bd� 3, Eugene 2012� Zu Bd� 1 s� o�, Anm 1� Für weitere Aufsätze zu anderen Aspekten von Apostasie verweise ich auf meine Website https: / / azusa� academia�edu/ BjOropeza� 8 Zum Markusevangelium als eine gegen das Römische Imperium gerichtete Schrift vgl� A� Winn, The Purpose of Mark’s Gospel (WUNT II 245), Tübingen 2008, Kap. 4-5; B. J. Incigneri, The Gospel to the Romans: The Setting and Rhetoric of Mark’s Gospel, Leiden 2003� Apostasie im Neuen Testament 65 Gläubige ihre Identität als Nachfolger Jesu geleugnet und andere Gemeindemitglieder haben die Identität und den Aufenthaltsort von Mitgläubigen verraten� 9 Der Gemeinde war Apostasie also wohl nichts Unbekanntes� Das Markusevangelium ermahnt die Getreuen und die Treulosen, von Jesu Leben und Lehre zu lernen� Durch die Erzählung des Evangeliums erfährt die Gemeinde, dass geistliche Verstocktheit die Gefahr des Abfalls birgt� Die Volksmenge und die religiösen Autoritäten in der Zeit Jesu verwerfen seine Lehren, und als Konsequenz ihrer Weigerung zu „sehen“ und zu „hören“ betäubt Gott, so erfahren wir, ihre geistliche Auffassungsgabe in der Art einer lex talionis , ähnlich wie er zu Beginn des Jesajabuches Israels Abfall zu anderen Göttern ahndet (Mk 4,10-12; Jes 6,9 f�)� Diese Verhärtung der Herzen erreicht ihren Höhepunkt, wenn die religiösen Autoritäten und die von ihnen beeinflusste Volksmenge auf Jesu Tod in Jerusalem hinwirken� Die Verstocktheit der religiösen Autoritäten führt dazu, dass sie den Geist Gottes lästern, als sie die Zeichen und Wunder Jesu verächtlich einer dämonischen Macht zuschreiben und nicht Gott (Mk 3,22-30). Auch Jesu eigene Familie ist verstockt, aber sie lästern nicht den Geist� Stattdessen halten sich Jesus für verrückt (3,21.31-35). Diese negative Sicht auf Jesu Familie rührt möglicherweise daher, dass in der Gemeindesituation Gläubige von Familienmitgliedern verraten und vom rechten Weg abgebracht wurden (vgl� 13,12)� Andererseits können Einzelne aus der Masse der Outsider zu Insidern werden, wenn sie tiefer in die Lehren und Gleichnisse Jesu eindringen, sich danach richten, umkehren und Jesus folgen� Insider wiederum können geistlicher Verstocktheit anheimfallen, wie es von Jesu eigenen Jüngern erzählt wird (6,52; 8,17 f.). Ihr Mangel an Einsicht, Wachsamkeit und Gebet zieht schließlich ihre eigene Abtrünnigkeit nach sich, nachdem Jesus von Judas an die Autoritäten ausgeliefert wurde� Sie verlassen Jesus, als er festgenommen wird und Petrus bestreitet ihn überhaupt zu kennen (14,27; 49 f.,66-72; vgl. 14,37 f.). Für diese Nachfolger Jesu gibt es am Ende des Markusevangelium einen kleinen Hoffnungsschimmer (16,7; 14,28), 10 nicht aber für Judas� Anders als Petrus bleibt Judas, wie der Text impliziert, verstockt bis ans Ende und geht dem göttlichen Gericht entgegen (14,21; vgl. 14,44 f). Die 9 See M� F� Van Iersel, Failed Followers in Mark: Mark 13: 12 as a Key for the Identification of the Intended Readers, CBQ 58 / 1996, 244-63; G. W. H. Lampe, St. Peter’s Denial and the Treatment of the Lapsi, in: D� Neiman / M� Schatkin (Hg�), The Heritage of the Early Church in Honor of Georges Vasilievich Florovsky on the Occasion of His Eightieth Birthday, Charlottesville 1973, 113-33; T. Radcliffe, The Coming of the Son of Man. Mark’s Gospel and the Subversion of the Apocalyptic Imagination, in: Β. Davies (Hg.), Language, Meaning and God. Essays in Honour of Herbert McCabe Ο. Ρ., London 1987, 167-89. 10 Weiteres zur markinischen Gemeinde bei D� N� Peterson, The Origins of Mark: The Markan Community in Current Debate, Leiden 2000; C. C. Black, Mark: Images of an Apostolic Interpreter, Columbia 1994, Kap. 3-5. 66 B. J. Oropeza Abgefallenen aus der markinischen Gemeinde konnten aus der Erzählung des Evangeliums lernen, dass ihre Apostasie nicht unvergebbar war� Es handelt sich mithin nicht zwingend um dasselbe wie das Lästern des Geistes Gottes� Fehltritte in der markinischen Gemeinde gleichen möglicherweise denen der Jesusjünger, die nur zeitweise verstockt waren� Es mag spirituelle Kurzsichtigkeit gewesen sein, die sie dazu verleitet hat, Jesus zu verlassen; eine Wiederannahme war aber möglich, wenn sie bereuten und nicht länger halsstarrig blieben� Apostasie hat im Markusevangelium etwas zu tun mit Verfolgung und Leid� Die Jünger fallen von Jesus ab aus Furcht, für die Jesusnachfolge Repressionen zu erleiden� Hierauf bezieht sich der zweite Saat-Typus im Sämanngleichnis: Es sind diejenigen, die das Evangelium enthusiastisch aufnehmen, aber in der Verfolgungssituation abfallen (4,5 f�16 f)� Die markinische Erzählung macht Gebrauch von einer Sprache eines neuen Exodus aus der prophetischen Tradition Israels, um den Weg der Gläubigen zu beschreiben� 11 Die folgen Jesus auf seinem eigenen Weg, der, wie Jesus seinen Jüngern in 8,34-38 mitteilt, Leiden und schließlich das Kreuz mit sich bringt. In der Situation der drohenden Verfolgung müssen sie ihr Kreuz auf sich nehmen, ohne Rücksicht auf ihr physisches Leben� Gläubige, die versuchen, ihr irdisches Leben zu retten, werden das ewige Leben einbüßen, und wenn sie sich des Bekenntnisses zu Jesus in dieser Weltzeit schämen, wird sich im neuen Äon Jesus ihrer schämen und sie verstoßen� Die letzte Konsequenz von Apostasie ist der Ausschluss vom Leben in der kommenden Welt� Die Feuer der Gehenna werden ihre Strafe sein� Gläubige wie Ungläubige dürfen keinesfalls Christen, seien es Kinder oder Erwachsene, zum Abfall bewegen� Tun sie es doch, wird es ihnen schlimmer ergehen als Ertrinkenden (9,42)� In hyperbolischer Sprache wird gefordert, Körperglieder, die für Sünde und Abfall missbraucht zu werden drohen, besser abzuschlagen als in die Gehenna geworfen zu werden (9,43-47). Diese Bildsprache reagiert möglicherweise auf Erfahrungen von Verrat aus erster Hand: Kinder, die abfallen, weil ihre Eltern abtrünnig wurden, oder aber Folter- und Feuerqualen von der Hand ihrer Peiniger� Freilich ist Verfolgung nicht die einzige mögliche Ursache für Apostasie: Nach Mk 9,42-50 muss jede Sünde, die zum Abfall führt, geahndet werden, und der dritte Saat-Typus des Sämann-Gleichnisses (4,7�18 f) steht für Reichtum und weltliche Belange, die zu geistlichem Versagen führen können� Das deutlichste Beispiel hierfür ist Judas, der Jesus nicht aus Furcht vor Verfolgung verraten hat, sondern für Geld (14,10 f)� 11 Vgl� Cf� R� E� Watts, Isaiah’s New Exodus and Mark (WUNT II 88), Tübingen 1997); U. Mauser, Christ in the Wilderness: The Wilderness Theme in the Second Gospel and its Basis in the Biblical Tradition, London 1963; Joel Marcus, Mark 9-16 (AncB), New Haven 2009, 589-92. Apostasie im Neuen Testament 67 Apostasie im Matthäusevangelium Die matthäische Gemeinde muss man sich wohl als eine Mehrzahl von Gemeinden vorstellen, die vorwiegend judenchristlich waren und gegen Ende des 1� Jh�s im Raum zwischen dem syrischen Antiochien und Galiläa lebten� 12 Sie befinden sich im Konflikt mit den Autoritäten der lokalen Synagogen pharisäischer Richtung� Möglicherweise nehmen diese Gruppen von Jesusgläubigen bereits nicht mehr an den Synagogengottesdiensten teil (vgl. Mt 4,23; 9,35; 10,17; 12,9; 13,54), doch ist dies nicht für alle matthäischen Gruppen in dieser Region gleichermaßen deutlich (vgl. 23,1-3). Einige befinden sich möglicherweise noch in einem Ablösungsprozess� Das Wort Jesu über die Offenbarung Gottes für die Jünger und die einfachen Leute, die den Pharisäern und Schriftgelehrten dagegen verborgen bleibt (vgl. Mt 11,27-30), bietet eine apologetische Erklärung dafür, warum die Elite und ihre Anhänger die Botschaft Jesu vom Reich Gottes ablehnen� Die Gegner der matthäischen Gemeinde, zumal die Pharisäer, haben wie dämonisch Besessene, die nach ihrer Befreiung von den Dämonen wieder zurückgefallen sind und denen es nun siebenmal schlimmer ergeht, ihre Herzen verhärtet bis dahin, dass sie den Geist gelästert haben (12,22-32.43-45). Ähnlich wie bei Markus ist bei Matthäus die Menge, die Jesus zuhört, verhärtet und muss mittels Gleichnissen belehrt werden, aber anders als bei Markus ist ihr mangelndes Empfinden mehr eine Wirkung ihres eigenen Handelns als ein Ausdruck des göttlichen Gerichts (13,13-15). Andererseits erscheinen die Jünger als solche, die mit spiritueller Einsicht begabt und von Jesus mit spiritueller Autorität ausgestattet sind (13,16 f; 18,15-20). Ihre Verantwortung für die „Herde“ Israel und für die Ausgrenzung devianter Gruppenmitglieder diente möglicherweise der Legitimierung der Leiter der matthäischen Gemeinde als autoritative Sachwalter der Lehre Jesu� Die sind außerdem verantwortlich dafür, dass die schwächeren Glieder der Gemeinde nicht verachtet werden� Ein Habitus der Selbstgefälligkeit, Überheblichkeit oder der Vernachlässigung oder der Misshandlung von Mitgläubigen zieht nicht nur den möglichen Ausschluss des betreffenden Gemeindeleiters vom Reich der Himmel nach sich, sondern eine solche Haltung kann außerdem die „Kleinen“ zum Abfall verleiten (18,1-14). Wenn Gleichnisse wie die vom Unkraut unter dem Weizen, vom Fischnetz, vom Hochzeitsmahl oder von den anvertrauten Talenten Verhältnisse der Gemeinde 12 Zum mutmaßlichen galiläischen Umfeld vgl� J� A� Overman, Matthew’s Gospel and Formative Judaism: The Social World of the Matthean Community, Minneapolis 1990, 159-160, der Tiberias oder Sepphoris als Ort der matthäischen Gemeinde(n) vorschlägt. Graham N� Stanton, A Gospel for a New People: Studies in Matthew, Louisville 1993, 378, sieht die Gemeinde in Syrien� Für einen Überblick über die verschiedenen Lokalisierungsvorschläge vgl. D. C. Allison / W. D. Davies, Matthew 1-7 (ICC), London 2004, 138-47. 68 B. J. Oropeza ansprechen, dann sind die matthäischen Gruppen ein Mischgebilde aus treuen und untreuen Mitgliedern (Mt 13; 22,1-14; 25,14-30). Hinzu kommt, dass die Gemeinde möglicherweise von Falschpropheten beeinflusst wurden, die den Namen Jesu gebrauchen, ihm aber nicht in der Weise der matthäischen Gruppen angehören, und dass die Gläubigen in je höherem Maße mit diesen Leuten zu tun bekommen, desto näher das Ende der Zeit herbeikommt (7,15-23; 24,11.24). Die Glaubens- und Lebensweise der Gemeinden ist augenscheinlich davon geprägt, dass sie Jesus als messianischen Sohn Davids verehren und in ihm den verheißenen Gottesknecht Jesajas sehen (vgl� Jes 52 f�)� Sie verstehen sich als Juden und halten die Tora dadurch, dass sie die Worte Jesu befolgen, die neben vielem anderen zum Beachten seiner Lehre aufrufen und dazu, Gott zu lieben und den nächsten wie sich selbst (Mt 5-7; 22,36-40). Für die Jünger heißt gerecht zu sein und gerecht zu handeln Gottes Willen zu tun, wie er untrennbar mit Jesu Lehre und Torainterpretation verbunden ist� Das Verletzen der Gebote Jesu heißt, vom Reich der Himmel ausgeschlossen zu werden (z. B. 5,17-20; vgl� 7,12�23)� Die Gefahr des Abfalls ist also dort am größten, wo Jesu Worte und seine Gesetzesauslegung missachtet werden. In der Bergpredigt (Mt 5-7) werden die Jünger unter Hinweis auf göttliche Strafen davor gewarnt, ihre „Würze“ zu verlieren, ihre gerechten Taten, die ein Zeugnis für Außenstehende sind� Sie sollen lernen, dass der Zorn wider den Bruder oder die Schwester so schwer wiegt wie Mord und der begehrliche Blick so schwer wie Ehebruch� Beide Sünden können geradewegs in die Gehenna führen� Die Art und Weise, wie Nachfolger Christi verurteilen und ihnen Vergebung verweigern, wird auf sie selbst zurückfallen und diejenigen, die nicht die Früchte der Gerechtigkeit bringen oder Gottes Willen tun, müssen damit rechnen, dass Jesus am Tag des Gerichts erklärt, dass er sie nicht kennt� Die Nachfolger Jesu müssen sich deshalb von seinen Worten in ihrem Handeln bestimmen lassen, sie sollen darum bitten, vor Versuchung bewahrt zu bleiben und ihnen wird die Anstrengung abverlangt, den schmalen Pfad der Gerechtigkeit zu gehen, denn der breite Weg führt in das eschatologische Verderben� Falsche Propheten, die im Namen Jesu Wunder tun, sind die deutlichsten Beispiele für diejenigen, die den falschen Weg gewählt haben� Auf dem Ölberg, wo Jesus die Zerstörung des Jerusalemer Tempels vorhersagt und über die Ereignisse vor seinem zweiten Kommen spricht, warnt er vor falschen Propheten, die viele Christen irreführen werden und vor überhandnehmender Gesetzlosigkeit und vor Hass sogar unter den Christusnachfolgern� Gott wird die Gemeinde der Erwählten vor dem völligen Untergang bewahren, doch viele werden abtrünnig werden (24,10-13.22-26). Die Erwählung der Gemeinde als kollektive Größe ist allem Anschein nach keine Garantie für die endgültige Errettung jedes Individuums, das zu dieser Gemeinde gehört� Vergehen wie Trunksucht oder Ehebruch führt zur Verurteilung, Apostasie im Neuen Testament 69 weshalb die Christusnachfolger wachsam und auf die Wiederkunft Jesu vorbereitet sein müssen, damit sie nicht, wenn er wiederkommt, bei lasterhaftem Tun überrascht und dafür bestraft werden (24,42-51; vgl. 5,28-30; 18,8 f). Auch Verfolgung kann zum Abfall führen, deshalb obliegt es den Gläubigen, sich vor anderen beständig zu Christus bekennen und zum Martyrium bereit zu sein� Die Rettung des irdischen Lebens zieht den Verlust des ewigen nach sich und Christus zu verleugnen heißt, von Christus am Tag des Gerichts verleugnet zu werden (10,32-39; 16,24-27). Christusnachfolger sollen nicht sein wie solche, die ihr Haus auf Sand bauen, das Sturm und Fluten nicht standhält und sie sollen nicht dem zweiten Saat-Typus im Sämann-Gleichnis entsprechen, indem sie in Zeiten der Verfolgung abtrünnig werden (7,24-28; 13,5 f.20 f). Die Konsequenzen der Verletzung der Gebote Jesu und des Abfalls im Matthäusevangelium sind vielfältig, aber die meisten können auf den Apostaten zugspitzt werden, der am Gerichtstag von Christus zurückgewiesen wird und zum realisierten Gottesreich nicht zugelassen wird� Apostaten, falsche Propheten und die böse Welt, die den Gläubigen Stolpersteine in den Weg legen, müssen die Gehenna und äußerste Finsternis erleiden (z. B. 5,19 f.22.29 f; 7,21-23; 10,28; 18,9; 22,12 f.; 25,30). Allerdings gibt es für den Apostaten eine Möglichkeit der Wiederaufnahme, die im Bild des Erbarmens Gottes für die irrenden Schafe begründet ist (18,12-14). Auch die erneute Annahme des Petrus und der Jünger, nachdem sie Jesus verlassen haben, ist bei Matthäus stärker ausgeprägt als bei Markus und anders als bei Markus sind die Jünger im Matthäusevangelium der spirituellen Einsicht fähig� Sogar Judas zeigt Reue angesichts seines Verrats (27,1-5; vgl. 26,24), im Unterschied zu der Zeichnung des Judas bei Markus, dessen mögliche Reue durchs nichts angedeutet wird� Sein Geschick bleibt freilich undeutlich angesichts seiner Selbsttötung, v� a� aber im Blick auf die Warnung Jesu an den Verräter in 26,24� Apostasie im lukanischen Doppelwerk Wir kommen nun zu einer ganzen Reihe wichtiger Beobachtungen zum Thema der Apostasie im Lukasevangelium und in der Apostelgeschichte� Lukas legt Theophilus und mit ihm einem größeren christlichen Publikum wohl teilweise von gehobenem Stand dar, dass Gottes heilvoller Plan in Erfüllung der Schriften Israels die Erlösung gebracht hat und dass dieser Plan auch das Hinzukommen der Heiden zu Gottes Volk Israel umfasst (vgl. Lk 4,14-30; Apg 2,22-24; 4,28-30). 13 Hierbei sind Unglaube und Abfall unausweichlich (Lk 17,1; 22,22), 13 J� T� Squires, The Plan of God in Luke-Acts (SNTS�MS 76), Cambridge 1993); C. H. Cosgrove, The Divine DEI in Luke-Acts: Investigations into the Lukan Understanding of God’s 70 B. J. Oropeza aber Gott vermag selbst damit seine Ziele voranzubringen� Eine Anzahl jüdischer Gruppen und einige nichtjüdische Kreise lehnen die apostolische Botschaft ab, aber dies eröffnet neue Möglichkeiten für andere Nichtjuden und Gottesfürchtige, zum Glauben zu kommen� Auch Juden kommen zum Glauben an Jesus als den Messias, darunter Hellenisten und sogar Pharisäer (vgl. Apg 2,41; 6,1-6; 15,1-5; 21,20). Auch Ausgestoßene und an den Rand Gedrängte, von denen das Lukasevangelium erzählt, werden zu Nachfolgern Jesu� Jesus wird von den Autoritäten in Jerusalem angeklagt, durch seine Lehren zur Apostasie zu verleiten (Lk 23,2� 5� 14)� Ebenso denken auch einige jüdische Gläubige, dass Paulus den Abfall von Mose lehrt (Apg 21,21)� Beide werden jedoch in der lukanischen Erzählung von diesem Vorwurf freigesprochen: Jesus wird als der wahre Prophet Gottes dargestellt und Paulus als treuer Bote Gottes und Christi� Unter den Gläubigen der frühesten Zeit gibt es Konflikte zwischen palästinischen und hellenistischen Juden (Apg 6 f�), wie auch zwischen pharisäischen Gläubigen und den Akteuren der paulinischen Mission (Apg 15,1-5). Streitpunkte sind Fragen des Mosegesetzes, v� a� Beschneidung und Tischgemeinschaft mit Gläubigen aus den Völkern� Das Jerusalemer Treffen in Apg 15 sollte das Blatt wenden, jedoch mit mäßigem Erfolg� Toraobservante jüdische Gläubige verstehen das paulinische Evangelium für die Völker als Apostasie� Diese Konflikte sind für unser Thema von Belang, v� a� deshalb, weil sie uns die Unterschiedlichkeit der Glaubensweisen innerhalb der frühesten christlichen Gemeinden vor Augen führen� Es verhält sich keineswegs so, dass alle dasselbe geglaubt und praktiziert haben� Das heißt: Ihre Auffassung davon, was eigentlich Apostasie ist, variierte, ebenso, wer wen als Apostat bezeichnete� Während die lukanische Darstellung pharisäische Gemeindeglieder als „Gläubige“ gelten lässt, nennt Paulus diese oder eng verwandte Gruppen in Gal 2,4 „Falschbrüder“� Frühe christliche Gemeinden in der Apostelgeschichte sind sich über die Erlösung, die Gott denen, die dem Messias Jesus nachfolgen, zuteilwerden lässt, einig� Aber nicht alle stimmen darin überein, welchen Stellenwert das Mosegesetz einerseits und die Gemeinschaft mit den Gläubigen aus den Völkern andererseits in Gottes Plan haben� Die Gegner Jesu und des neuen Weges sind freilich nicht identisch mit denjenigen, die Gottes heilvollen Plan ablehnen� Jesus warnt seine Nachfolger, dass Versuchung Abfall bewirken kann� Das Sämanngleichnis zeigt, dass die Jesusnachfolger Versuchungen durchstehen müssen (Lk 8,6.13; vgl. 11,4; 18,8; Providence, NT 26 / 1984, 168-190; zum Gedanken der Schrifterfüllung im lukanischen Doppelwerk vgl� D� W� Pao, Acts and the Isaianic New Exodus (WUNT II 130) Tübingen 2000; F. Bovon, Luke the Theologian: Fifty-Five Years of Research (1950-2005), Waco 2006, 87-121.525-31. Apostasie im Neuen Testament 71 22,40�46)� Während im Markusevangelium ein enger Zusammenhang besteht zwischen Abfall und Verfolgung und bei Matthäus zwischen Apostasie und der Geringachtung der Lehre Jesu, geht es bei Lukas um das Ausharren in Versuchungen, die vielfach in Gestalt von Reichtum und Habsucht über die Gläubigen kommen� Judas verrät Jesus für eine Summe Geldes, Ananias und Saphira ereilt das göttliche Gericht, weil sie heimlich ihren Besitz zurückhalten, der Magier Simon versucht Petrus zu bestechen, um in den Besitz pneumatischer Macht zu kommen und die Christusnachfolger müssen ihre Aufmerksamkeit darauf verwenden, sich nicht in den täglichen Besorgungen zu verlieren und so des ewigen Lebens verlustig zu gehen (Lk 22,2-6; Apg 5,1-10; 8,4-24; vgl. Lk 8,7.14; 17,27-33). Dieser lukanische Akzent verrät möglicherweise etwas vom gehobenen sozialen Stand des Theophilus, mit der Absicht, ihn dazu anzureizen, den Armen zu geben und sich einen Schatz im Himmel zu schaffen anstatt einen irdischen zu horten� Die mancherlei Geschichten von Reichtum und Armut haben möglicherweise einen entsprechenden Einfluss auch auf die weiteren Erstadressaten des Evangeliums� Abfall ist außerdem möglich durch sittenlose Lebensweise und das Verbreiten von Irrlehren� Deshalb werden die Gläubigen zu steter Wachsamkeit aufgerufen (Lk 12,40-48; 21,34-36). Die Gefahr des Abfalls und der Irreführung besteht auch dort, wo Leiter der Gemeinde ihrer Verantwortung nicht gerecht werden� Jesus warnt seine Jünger, dass ihr Verhalten an den Rand gedrängte Gläubige zum Abfall verleiten könnte und Paulus spricht an die ephesinische Gemeinde die Warnung aus, dass in ihren eigenen Reihen Irrlehrer auftreten und der Gemeinde schaden werden (Lk 17,1-4; Apg 20,28-30). Abtrünnigkeit aufgrund von Verfolgung stellt Lukas dagegen nicht als besondere Gefahr dar� Stattdessen führt er Jesus und die Jünger als Beispiele für Beharrungsvermögen vor Augen� Eine Ausnahme ist die Verleugnung Jesu durch Petrus (Lk 22,54-62; vgl. v.31-34), sowie die Möglichkeit, dass Gläubige den heiligen Geist lästern� Anders als die anderen synoptischen Evangelien kann diese unvergebbare Sünde eher von Christen als von ihren Gegnern begangen werden (Lk 12,5-12). Einige synoptische Jesuslogien erscheinen im Lukasevangelium an zwei Stellen, etwa die Mahnung an die Jünger, sich Jesu nicht zu schämen bzw. ihn vor den Menschen nicht zu verleugnen (9,26; 12,9), und hierbei spielt Abfall durch Verfolgung dann doch eine Rolle (vgl. 9,23 f.; 12,8-11). Die Apostelgeschichte kommt hierauf im Zusammenhang des Selbstzeugnisses des Paulus zu sprechen, er habe die hellenistischen Gläubigen verfolgt, um sie zur Lästerung zu zwingen (Apg 26,11), wobei offen bleibt, wie erfolgreich er damit war� Die Konsequenzen von Apostasie umfassen göttliche Strafen, Verlust ewigen Lebens und Erleiden der Gehenna (Lk 9,24; 12,5.9; 17,33). Es wird im Lukasevangelium allerdings nicht völlig deutlich, ob diese Strafen auf die Wiederkunft Jesu 72 B. J. Oropeza terminiert sind� Das Gericht kann auch unmittelbar nach dem Tod stattfinden (Lk 16,19-31; 23,43). Wer eine christliche Leitungsposition innehat und dennoch abfällt, wird „viele Schläge erhalten“, d� h� strenger bestraft werden als andere (Lk 12,47 f�)� Der Abfall des Judas wird zum drastischsten Beispiel des ewigen Gerichts über christliche Leiter und sonstige Christusnachfolger� Bei Lukas ist er nicht der reuevolle Verräter, wie ihn Matthäus präsentiert und er endet auch nicht durch Selbsttötung� Es ist vielmehr ein redlicher Christusnachfolger, der zum Apostaten wird, von dem der Satan Besitz ergreift und dessen Leib zerbirst als Folge seines Verrats (Apg 1,15-25; vgl. 22,22). Nach dem Judasevangelium, das mit der Darstellung des von Judas’ Tod in der Apostelgeschichte vertraut zu sein scheint, ist auch die Interpretation möglich, dass sein Tod durch Steinigung erfolgte� Dass er nach seinem Tod durch Matthias ersetzt wird, kann auch heißen: Es war nicht mehr damit zu rechnen, dass er dereinst als einer der Zwölf im Reich Gottes herrschen würde� Er geht „an seinen Platz“ (Apg 1,25), womit möglicherweise sein Ort in der jenseitigen Verdammnis gemeint ist� Ebenso kommen Ananias und Saphira durch ein Gottesurteil zu Tode wegen ihrer Sünde, den Geist Gottes belogen zu haben (Apg 5,1-10). Sie stehen beispielhaft für die Weise Gottes, jemanden aus der Gemeinde Christi auszustoßen� Gleichwohl wird den Christus-Nachfolgern zugesichert, dass Umkehr durch die Vermittlung Christi die völlige Wiederannahme von Abgefallenen ermöglicht� Petrus und der jüngere Sohn im Gleichnis vom verlorenen Sohn sind zwei Beispiele (Lk 15, 22,55-62; vgl. 22,31 f.). Theophilus samt den anderen Adressaten waren damit unterrichtet über Beharrlichkeit und Apostasie� Der unabgeschlossene Erzählverlauf am Ende von Apg 28 las sich für nichtjüdische Gläubige als Bekräftigung, dass sie nun zum Volk Gottes gehörten und zugleich waren sie herausgefordert, die apostolische Mission des Paulus fortzusetzen� Ebenso zielte das Ende darauf, dass jüdische Adressaten zum Glauben kommen und sich nicht wie die in Jesaja 6 Genannten verhalten sollten, die sich gegen Gott auflehnten und spirituell blind wurden� Schließlich konnte auch die offene Erzählung vom Geschick des Simon Magus aus den Reihen der samaritanischen Gläubigen und vom Jenseitsgeschick von Ananias und Saphira speziell die wohlhabenden Christusnachfolger dazu animieren, sich über ihr Streben nach materiellen Dingen bis hin zu dem Versuch, Gottes Geist zu manipulieren, klarzuwerden� Apostasie im Neuen Testament 73 Apostasie im Johannesevangelium und in den Johannesbriefen Ich setze voraus, dass das vierte Evangelium und die Johannesbriefe zusammen gelesen werden sollten, 14 und dass eine Lektüre des Evangeliums auf zwei Ebenen dabei helfen kann, die Situation der johanneischen Gemeinde besser zu verstehen� 15 Diese Gemeinde hat ihren Ursprung mutmaßlich in Palästina, wurde aus der Synagoge ausgeschlossen ( Joh 9,22; 16,1-4) und siedelte nach Ephesus über� Am neuen Ort schlossen sich Nichtjuden den jüdischen Gläubigen an� Zu einer Lagerbildung kam es in der Frage des Wesens Christi� Dies führte dazu, dass eine Anzahl von Mitgliedern sich von der Gruppe abwandte (1Joh 2,19)� Sie leugneten, so der Presbyter Johannes, dass Jesus der Christus ist (1Joh 2,22 f�)� Diese Erfahrungen haben anscheinend die Sicht der johanneischen Gemeinde auf Apostasie geformt und außerdem die negative Meinung des vierten Evangeliums über Judäer geprägt, die Jesus ablehnen� Im Johannesevangelium gelten die Judäer als spirituell erblindet, ähnlich wie in Jes 6 ( Joh 12,37-41). Trotz des Anscheins eines von göttlicher Souveränität bestimmten unausweichlichen Laufs der Dinge, weiß der Verfasser gleichermaßen etwas von Gottes Initiative und des Menschen Verantwortlichkeit� Im Johannesevangelium und seine jesajanischen Echos ist Gott in gewisser Weise an der Verhärtung „der Juden“ beteiligt, sei es direkt oder durch den Widersacher� Ihre Blindheit ist ein Resultat des göttlichen Gerichts, das wegen ihrer früheren Ablehnung der Offenbarung Gottes durch Jesus und ihre eigenen Schriften über sie gekommen ist (vgl� Joh 5 f�)� Zwar sind einige „Juden“ gläubig, doch eine große Anzahl verfällt dem Unglauben gegenüber Jesu Selbstoffenbarung über seine Präexistenz, seine Einheit mit dem Vater und die Ereignisse vor seinem nahen Tod ( Joh 6,59-66; 8,30-58). Für die johanneische Gemeinde heißt Jesus als Christus anzuerkennen seine Präexistenz und sein göttliches Wesen anzuerkennen (z. B. Joh 1,1-18; 5,18; 20,28; 1Joh 5,20). Unter den Abtrünnigen ist eine Gruppe Judäer, unbesonnene Überläufer, die sich feindselig gegen Jesus stellen und ihn zweimal sogar stei- 14 Zur Auffassung, dass Evangelium und Briefe vom selben Autor stammen, wobei das Evangelium in mehreren Phasen abgefasst wurden und die Briefe einige Zeit vor der Endgestalt des Evangeliums vgl� M� Hengel, The Johannine Question, Philadelphia 1989, v� a� 48.176-77. Für die weitere Diskussion zur Verfasserfrage der Briefe vgl. R. E. Brown, The Epistles of John (AncB), New Haven 1982, 14-35. 15 Vgl. etwa R. E. Brown, Introduction to the New Testament, New York 1997, 373-76; P� N� Anderson, Antichristic Errors: Proselytization Back into Jewish Religious Certainty - The Threat of Schismatic Abandonment, in: J� H� Ellens (Hg�), Text and Community: Essays in Memory of Bruce M. Metzger, Bd. 1., Sheffield 2007, 217-240; J. L. Martyn, History and Theology in the Fourth Gospel, Nashville 1979� 74 B. J. Oropeza nigen wollen, weil sie in seinen Äußerungen einen blasphemischen Anspruch sehen ( Joh 8,30-58; 10,30-33). Auf einer sekundären Ebene lassen sich hierin Abtrünnige der johanneischen Gemeinde erblicken� Außerdem scheint es im Johannesevangelium eine weitere Gruppe von „Juden“ zu geben, die „heimliche Gläubige“ sind� Sie ziehen es vor, in der Synagoge zu bleiben, anstatt die Härten des offenen Bekenntnisses zu Jesus auf sich zu nehmen (z� B� 12,42 f)� Wenn Jesus aber gekreuzigt und erhöht ist, werden „alle“ zu ihm gezogen und ihm vom Vater gegeben werden, Juden wie Nichtjuden, entsprechend der jesajanischen Prophetie ( Joh 12,32; vgl. 6,44; Jes 54-56). Im Unterschied zu den religiösen Autoritäten der Synagoge, die die Nachfolger Jesu ausschließen, wird derjenige, der zu Jesus kommt und sich ihm beständig anvertraut, von ihm nicht verstoßen werden ( Joh 6,37)� Als vollkommener Hirte wird Jesus seine Herde vor äußerem Schaden bewahren (10,1-30; vgl� 18,8 f)� Die johanneische Literatur betont die Gewissheit der Errettung der Gläubigen, um einer weiteren Abspaltung von der Gruppe vorzubeugen (z� B� Joh 20,31; 1Joh 5,13). Einige Apostaten aus der ephesinischen Zeit der johanneischen Gemeinde sorgen noch immer für Unruhe unter den Mitgliedern der Gruppe (1Joh 2,18�26), und falsche Propheten im Geist des Antichrists sind eine weitere mögliche Bedrohung am Horizont (1Joh 4,1-6; 2Joh 7-9). Wir wissen freilich nichts darüber, wie die Abtrünnigen über ihre eigene Beziehung zu Gott und Jesus gedacht haben� Möglicherweise haben sie nach wie vor Jesus als den Christus bekannt, jedoch nicht die Auffassung der Gemeinde von Jesus als eines präexistenten, gottgleichen Wesens geteilt� Apostaten werden in diesen Schriften üblicherweise als Falschgläubige bezeichnet ( Joh 6,64 f�70 f�)� Im 1� Johannesbrief gelten Abtrünnige aus den eigenen Reihen als solche, die niemals wirklich zur spirituellen Gefolgschaft der Gruppe gehört haben (1Joh 2,19), und Diotrephes, der eine mit der johanneischen Gemeinde in Verbindung stehende Autorität zu sein scheint, wird als jemand dargestellt, der der Gemeinde schwer schadet (3Joh 9-11). Das Hauptanliegen der Briefe besteht darin, die Unterscheidungsgabe der Gläubigen zu stärken und sie ihres Heils zu versichern� Unglaube ist das Gegenteil davon� Diejenigen, die am Glauben festhalten, haben ewiges Leben, und diejenigen, die nicht von ihrer sündigen Lebensweise abstehen, bleiben im Tod (1Joh 3,14)� Im vierten Evangelium erscheinen Apostaten aus den Reihen jüdischer Gläubiger als solche, die seine Worte nicht hinreichend verstanden und ihnen nicht geglaubt haben� Judas ist der Apostat schlechthin� Er war immer schon ein Pseudo-Jünger, ein Kind des Teufels, „Sohn des Verderbens“ ( Joh 6,70 f.; 13,2; 17,12). Wenn gilt, dass in den johanneischen Schriften Apostaten Falschgläubige sind, dann gibt es hiervon wichtige Ausnahmen� Das Bleiben in Christus schließt auch in dem Apostasie im Neuen Testament 75 Maße Beständigkeit ein, wie diejenigen, die jetzt in Christus bleiben, dies auch kontinuierlich tun müssen oder aber riskieren, von Christus getrennt zu sein und dem Verderben anheimzufallen ( Joh 15,1-6). Ein Präludium hierzu könnte in der Warnung Jesu liegen, die er an den von ihm geheilten Mann am Teich Bethesda ausspricht ( Joh 5,14), oder im Wort vom Dieb in der Rede vom Guten Hirten (10,10a)� Im Horizont des Gerichts steht nicht nur Jesu Mahnrede, an ihm als dem wahren Weinstock zu bleiben, sondern auch die Warnung an die Gläubigen, dass diejenigen beim zweiten Kommen Jesu beschämt werden, die nicht in ihm bleiben (1Joh 2,28)� Wenn sie Irrlehrern zum Opfer fallen, werden die Leiter samt ihrer Gemeinde des eschatologischen Lohnes verlustig gehen (2Joh 8)� Alle diese Warnungen gelten redlichen Gläubigen und wie in den synoptischen Evangelien erklärt Jesus seinen Anhängern, dass Abfall in der Verfolgung den Verlust ewigen Lebens bedeutet, denn wer sein Leben liebt, wird es verlieren ( Joh 12,25)� Aus Sicht der johanneischen Gemeinde sollen freilich nicht alle Sünden gleich behandelt werden� Sie unterscheidet zwischen Apostasie als Sünde zum Tod, wer aber eine Sünde „nicht zum Tod“ begeht, d� h�, wer sündigt, aber nicht abfällt, für dessen Wiederannahme soll man beten (1Joh 5,16 f)� Dass diese Gläubigen wie zum „Leben“ gebracht werden müssen, eröffnet innerhalb des johanneischen Denkens die Möglichkeit, dass angesichts bestimmter Sünden unterhalb der Apostasie der Glaube echter Christen deutlich hervortritt, nämlich bei solchen Sünden, an denen sich entscheidet, ob sich jemand an die Lebensweise der umgebenden Mehrheitsgesellschaft anpasst, johanneisch gesprochen an die „Welt“ (z. B. 1Joh 2,15-17; vgl. 3,1-10; 5,21; Joh 5,40). Der johanneische Autor wahrt die klare Grenzlinie zwischen Gruppenmitgliedern und Außenstehenden� Was uns also in der johanneischen Literatur begegnet, ist nicht eine einzige Perspektive auf Apostasie, sondern derer zwei� Wer falschen Lehren anheimfällt, war niemals ein echter Gläubiger, aber echte Gläubige können allem Anschein nach echte Apostaten werden durch Irreführung, Verfolgung und bestimmte Arten von Sünden� Diese Spannung lässt sich vielleicht plausibel damit erklären, dass Gegner mittels Statusabwertung etikettiert werden� Dies funktioniert so, dass diejenigen, die bisher mit der jeweiligen Gemeinschaft identifiziert wurden, nun als Outsider denunziert werden, die niemals etwas mit der Gemeinde zu tun hatten und deren frühere Partizipation als Fassade abgetan wird� 16 Formal ähnelt die johanneische Sicht auf solche, die von der Gemeinde abtrünnig geworden sind, den matthäischen falschen Propheten, die behaupten, 16 Vgl� L� Pietersen, Despicable Deviants: Labelling Theory and the Polemic of the Pastorals, Sociology of Religion 58 / 1997, 343-523, v. a. 347-50. 76 B. J. Oropeza sie würden Christus nachfolgen� Die Eigenart von Apostasie bei Johannes und Matthäus besteht wesentlich in Irreführung und falschen Glaubensüberzeugungen� Beide Evangelien rechnen dabei mit der Möglichkeit, dass aus redlichen Christus-Anhängern Apostaten werden, weil die der Irreführung erliegen oder aus anderen Gründen� Bei Matthäus ist dies stärker noch als bei Johannes der Fall� Kennzeichnend für Johannes ist, dass die Apostaten die Gemeinde verlassen haben, auch wenn sie möglicherweise versuchen, weiterhin die Gemeinde zu beeinflussen, mit Diotrephes als Sonderfall� Bei Matthäus sind die falschen Propheten nicht eo ipso Apostaten, sondern Blender, die in der matthäischen Gemeinde noch immer eine Rolle spielen� Und während sich bei Matthäus die falschen Propheten ungerechten und gesetzwidrigen Verhaltens schuldig machen, das der Torainterpretation Jesu zuwider läuft, besteht bei Johannes der Hauptstreitpunkt mit den Apostaten darin, dass sie Jesus nicht als Messias anerkennen, zumindest nicht nach den Vorgaben der johanneischen Gemeinde� Die falschen Propheten bei Matthäus bekennen Jesus als den Christus, aber sie leben nicht so, dass sie ihr Bekenntnis in Ehren halten� Die johanneischen Schriften stimmen mit den Synoptikern darin überein, dass Apostaten dem eschatologischen Gericht unterliegen� Johannes hat mit Markus gemeinsam, dass er keine Schilderung von Judas Tod enthält, und er bleibt bis zum Schluss verhärtet� Ein eklatanter Unterschied zu den Synoptikern liegt darin, dass Judas nach Johannes zu keiner Zeit ein wahrer Nachfolger Jesu war� Bei Johannes gibt es keine Wiederannahme für Judas, wozu sich fügt, dass der 1� Johannesbrief zwar dazu ermutigt, für diejenigen zu beten, die Sünden „nicht zum Tode“ begangen haben, dass er aber keine Fürbitte für Apostaten empfiehlt� Abschließende Beobachtungen zu Apostasie in den Evangelien, den johanneischen Schriften und der Apostelgeschichte Apostasie bei den Synoptikern, bei Johannes und in der Apostelgeschichte hat fünf Aspekte, die einander teilweise überlagern� Erstens spiegelt sich in allen vier Evangelien die Erfahrung, dass Verfolgung die Gläubigen zum Abfall treibt� Die Abschwächung dieses Moments durch den Verfasser des lukanischen Doppelwerkes ist möglicherweise auf dem Hintergrund seiner idealisierenden Darstellung des Paulus und anderer Apostel zu verstehen� Paulus selbst hat jedenfalls eine robuste Konstitution, die es ihm erlaubt, an seiner Mission trotz Verfolgung und anderen Ungemachs festzuhalten (z. B. Röm 1,16, 8,34-38, 2Kor 11,23-12,10). Seine ernste Besorgnis über die Gemeinde in Thessalonich gibt freilich auch einen kleinen Einblick in ganz andere Stimmungslagen (1Thess 3,5)� Apostasie im Neuen Testament 77 Bei Markus spielen Erfahrungen von Leid und Verfolgung eine wichtige Rolle, wohl im Kontext der besonderen Situation der Gemeinde in Rom� Zweitens sind in den vier Evangelien Unglaube und spirituelle Verhärtung entscheidende Faktoren, wobei der Abfall Israels aus Jesaja 6 den Hintergrund bildet� Bei Markus sind auch Jesu Familie und die Jünger von Verstockung betroffen� Hier schlagen sich möglicherweise Fälle von Verrat aus dem engsten persönlichen Umfeld nieder, die sich in Verfolgungssituationen ereignet haben� Der johanneische Autor hebt Unglauben unter „Juden“ hervor, die einst Gläubige waren und nun der johanneischen Gemeinde den Rücken gekehrt haben� Drittens wird Apostasie mit Irrlehren und mit Personen in Verbindung gebracht, die ihre leitende Stellung in der Gemeinde missbrauchen� Matthäus warnt seine Gemeinden vor falschen Propheten wie auch vor korrupten Leitern und vor Lehrern, deren Lebensweise ihre Lehre Lügen straft� In der Apostelgeschichte gerät Paulus in Konflikte mit anderen christusgläubigen Juden, für die seine Lehren zum Abfall führen� Johannes spricht von Betrügern und Irrlehren, die die Gläubigen vom Weg abzubringen drohen� Viertens kann eine Lebensweise, die rücksichtslos zu Lasten anderer geht, Apostasie gleichkommen� Wer Jesu Torainterpretation missachtet, gilt im Matthäusevangelium als Gesetzesübertreter� In Erwartung des zweiten Kommens Jesu werden die Gläubigen vor dem göttlichen Strafgericht über ungerechtes Tun gewarnt� Der 1� Johannesbrief insistiert darauf, dass die Gläubigen sich vor Sünde und Weltförmigkeit gleichermaßen in acht nehmen sollen� Schließlich geht es fünftens um Besitzgier und grenzenlose Geschäftigkeit, Versuchungen, die im Sämanngleichnis zur Sprache kommen, und mannigfach im lukanischen Doppelwerk� Der tiefe Fall des Judas hat nicht zuletzt etwas mit Geld zu tun! Weitere Facetten unseres Themas wären bei Paulus, in der übrigen Briefliteratur und in der Johannesoffenbarung zu entdecken, womit aber das für diesen Beitrag abgesteckte Feld überschritten wäre� 17 17 Für eine ausführlichere Zusammenfassung zum Thema im Blick auf das Neue Testament insgesamt sei auf meinen dritten Band (Churches under Siege of Persecution), 234-248 verwiesen�