eJournals ZNT – Zeitschrift für Neues Testament 21/41

ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
2018
2141 Dronsch Strecker Vogel

Judas: Wenn der Verworfene zum Modell wird

2018
Fredrik Wagener
44 Fredrik Wagener kontext des biblischen Textes ausklammert� Es geht bei der narrativen Ethik damit um zwei Perspektiven: Einerseits kommen die Normen und Bewertungen von Verhalten und Eigenschaften anhand der ‚Auftritte‘ von Judas in den Blick - also das, was die Erzählung präsentiert� So werden Figuren als Vorbilder zur Nachahmung oder als Mahnbilder (d� h� als Abschreckungsbeispiel) präsentiert� Andererseits geht es um ethische Impulse oder Reflexionen, die im Leseprozess wirksam werden - also das, was beim Lesen im Leser vorgeht� Der Leser ist eingeladen, die Erzählung als ethisches Spielfeld wahrzunehmen, Verhaltensweisen und Einstellungen zu beobachten, mögliche Konsequenzen mitzuerleben, eigene Reaktionen und Emotionen festzustellen, ethische Erfahrungen zu machen� Nach Paul Ricœur ereignen sich solche „Gedankenexperimente“ kontinuierlich beim Lesen und die Leser machen so „Forschungsreisen durch das Reich des Guten und Bösen“� 2 Figuren eröffnen dem Leser dabei im Besonderen die Möglichkeit sich selbst zu begegnen� Diese Perspektive kann und will nie erklären, was jeden Leser bewegt oder moralisch formt, sondern Horizonte aufzeigen, zwischen denen sich Ethik bewegt� Damit dieses Vorgehen nicht in einer Beliebigkeit der Assoziationen eines einzelnen Lesers mündet, gilt es, das methodische Vorgehen deutlich zu machen und abzusichern� Da hier weitgehend Ergebnisse dargestellt werden und auch die theoretische Diskussion ausgespart wird, sei dazu auf die Ausführungen in meiner Dissertation (Figuren als Handlungsmodelle, Mohr Siebeck 2015) verwiesen� Nun entstammt das eingangs präsentierte Beispiel, das eine Identifikation mit Judas auszulösen vermag (die Jüngerfrage „Bin ich’s“), gerade nicht dem Johannesevangelium� In der Darstellung der Szene dort ( Joh 13,21 ff�) bleibt offen, ob die Verlegenheit oder Bestürzung (gr� aporoumenos ) der Jünger sich eher auf eine Unsicherheit in Bezug auf das eigene Tun oder auf Angst und Misstrauen gegenüber den anderen bezieht� Aber damit hat bereits die exegetische Untersuchung einer Einzelszene begonnen, die hier zu Gunsten eines Überblicks (über die Figur Judas in den Evangelien und im Johannesevangelium) noch einmal zurück gestellt werden soll� In allen vier kanonischen Evangelien ist Judas ein Jünger aus dem engsten Jüngerkreis um Jesus (einer der Zwölf) und zugleich derjenige, der Jesus verrät� Die Synoptiker beschränken seine Auftritte auf die Nennung in der Zwölferliste, den ‚Verkauf ‘ von Jesus an die Hohepriester, die Ankündigung des Verrats durch Jesus beim Passamahl und den Verrat durch einen Kuss im Garten Gethsemane - sämtliche Auftritte liegen also zeitlich innerhalb der Passionspassage und hängen direkt mit dem Verrat zusammen� Im Joh variiert diese Darstellung� 2 P� Ricœur, Das Selbst als ein anderer, München 1996, S� 201� Judas: Wenn der Verworfene zum Modell wird 45 Im Gegensatz zu den Synoptikern spielt der johanneische Jesus das Verrats- und Aussonderungsmotiv mehrfach auch schon deutlich vor der Passionspassage ein, wobei der Erzähler dies zum Teil als auf Judas bezogen erklärt� Einen eigenen Schwerpunkt bekommt Judas in drei Szenen: In 12,4 f� stellt er eine kritische Anfrage gegen die Salbung Jesu durch Maria, in 13,21-30 kündigt Jesus Judas’ Überlieferung an und Judas verlässt die Jüngergemeinschaft, in 18,3-6 schließlich führt Judas die Soldaten zu Jesus, damit diese ihn gefangen nehmen� Zudem wird innerhalb der Szene des Bekenntnisses der Zwölf (6,67-71) sowie im Kontext der Fußwaschung unmittelbar vor der Überlieferungsankündigung (13,1-20) z. T. namentlich auf ihn verwiesen. Weiterhin bezieht sich der Ausdruck ‚Sohn des Verderbens‘ in Jesu Gebet (17,12) auf Judas� Eine letzte Anspielung auf Judas findet sich in 21,20 am Ende des Evangeliums in einem Rückverweis auf die Überlieferungsankündigung (13,21-30). Hingewiesen sei darauf, dass das griechische Wort paradidomi hier meist mit ‚überliefern‘ übersetzt wird, um das negativ konnotierte Wort ‚verraten‘ zu meiden� Im Folgenden wird die Figur Judas zweifach entfaltet� Zunächst erfolgt ein exegetischer Kommentar entlang der Auftritte von Judas� In einem Schnelldurchlauf werden die oben genannten Szenen besprochen, wobei einzelne Schlaglichter geworfen werden� In einem zweiten Schritt wird eine Auswahl ethischer Implikationen hervorgehoben� Judas im Johannesevangelium-- die Auftritte Der erste Auftritt von Judas Iskariot in 6,70 ist von besonderer Bedeutung, weil der sogenannte Primäreffekt die weitere Wahrnehmung einer Figur besonders prägt - so wie die letzte Nennung (Rezenzeffekt) besonders in Erinnerung bleibt� Unmittelbar vor dieser ersten Nennung verweist der Erzähler bereits darauf, dass Jesus wisse, wer ihn überliefern werde (6,64)� Dies ist insofern überraschend, als der Wechsel von den Ungläubigen - die das eigentliche Thema der Szene Dr. Fredrik Wagener, Jahrgang 1985, studierte Evangelische Theologie (sowie Mathematik und Erziehungswissenschaften) in Bielefeld und absolvierte eine Ausbildung zum Theaterpädagogen� Ab 2011 forschte er in Mainz im Rahmen des Zentrums für Ethik in Antike und Christentum an der Johannes Gutenberg-Universität zu den Charakteren und der Ethik des Johannesevangelium� 2015 wurde er in Mainz promoviert� Seit Abschluss seines Referendariats 2016 ist er als Lehrer an einem Mainzer Gymnasium tätig� 46 Fredrik Wagener sind - zum Überlieferer einen Gedankensprung voraussetzt� Damit ist bereits die Negativkonnotation des Verbs paradidomi (überliefern) eingeläutet: Unglaube und Überliefern gehören zusammen� Wer dieser Überliefernde ist, ist hier noch eine Leerstelle, die aber wenig später gefüllt wird� In 6,70 ist der Kontext Jesu Frage an die Zwölf, ob sie ihn - wie viele andere - auch verlassen wollen� Die Wortkombination ‚auch ihr‘ (gr�: kai hymeis ) wird später in Joh 13 mehrfach aufgegriffen� Sprachlich ist die Parallele in 9,27 im Mund des Blindgeborenen bemerkenswert� Nur in diesen beiden Versen taucht die Wortfolge ‚wollt auch ihr …? ‘ (gr� mē kai hymeis thelete ) auf� Jeweils bildet eine stark polarisierende Positionierung zu Jesus - durch Ablehnung oder Nachfolge - den inhaltlichen Kontext� Jesus fragt nach dem Abwenden aus seiner Jüngerschaft, der Blindgeborene nach dem Eintritt� Beides mal bleibt der status quo erhalten, wie das einleitende mē bereits impliziert� Zusammen gelesen spannen die beiden Fragen einen Dualismus auf, der eine Reaktion auf die Begegnung mit Jesus fordert: entweder Jünger werden oder weggehen� Eine dritte Option gibt es nach dieser Lesart nicht� So muss jede Figur - und jeder Leser - entscheiden, was er will (gr� thelō )� Allerdings scheint ein zeitliches Aufeinanderfolgen der Reaktionen nicht ausgeschlossen (vgl� Judas’ Hinausgehen in 13,30)� Erst das Ende der Erzählung macht eine Entscheidung endgültig� In 6,69 knüpft Jesus an Petrus’ Bekenntnis mit der Frage nach der Erwählung der Zwölf an� Sind die Zwölf im Gegensatz zu anderen bei Jesus geblieben, hebt Jesus ihren Status noch an, indem er sie als ‚erwählt‘ bezeichnet� Umso deutlicher ist der Kontrast, den Jesus aufmacht, indem er einen von den Zwölf als Teufel (gr� diabolos ) stigmatisiert� Durch die genaue Festlegung auf eine Figur wird eine Spannung zwischen dem Einen , dem Teufel, und den übrigen Elf aufgebaut� Während der Erzähler im Folgevers Judas als diesen Teufel für den Leser identifiziert, wissen die Jünger davon nichts� Für sie ist er einer von ihnen und gehört genauso dazu wie die übrigen� Damit prägt das Vorwissen des Lesers die Wahrnehmung anders, als diese innerhalb der erzählten Welt unter den Figuren herrscht� Der Erzähler begründet die Bezeichnung Jesu noch mit Judas’ Überlieferungsabsicht� Dabei lässt das griechische emellen offen, ob Judas eigenmächtig wählt, Jesus zu überliefern, oder fremdbestimmt dazu auserkoren wurde� Für letzteres spricht 6,65, wo nach dem ersten Verweis auf den Überlieferer die Entscheidung über Glaube oder Unglaube in Gottes Verantwortung gegeben wird� Aber auch wenn unsicher bleibt, inwiefern Judas selbst von dieser zukünftigen Handlung weiß, ist diese Handlung die für Judas zentrale� Bei jedem seiner Auftritte wird sie erwähnt� Wie auch Simon Petrus (in 1,42) wird Judas eingeführt, indem der Name seines Vaters (Simon) angefügt wird� Dies ist nur einer von vielen Anhaltspunkten Judas: Wenn der Verworfene zum Modell wird 47 für eine Parallelisierung� Markant ist in dieser Szene, dass Petrus die Zwölf mit seinem Bekenntnis vertritt, während Judas in dieser Gruppe stigmatisiert wird� Judas bleibt aber ausdrücklich „einer der Zwölf “ (6,71)� Diese ausdrückliche Integration wird neben Judas nur noch Thomas (20,24) zuteil� Inhaltlich teilt dieser abschließende Halbsatz dem Leser keine neue Information mit� Er unterstreicht an dieser Stelle jedoch den dramatischen Moment� Die bittere Erkenntnis, dass der Überlieferer zum engsten und sogar ausgewählten Vertrautenkreis Jesu gehört, steht am Ende der Szene� Judas’ erste Szene zeigt insgesamt eine Diskrepanz zwischen zwei Bewertungen auf und hierarchisiert diese� Zum einen die äußere Zugehörigkeit zum engsten Jüngerkreis, zum anderen die stärker gewichtete Verteufelung, die bereits mit dem Überlieferungsmotiv, dem (noch) nicht Sichtbaren, verbunden ist� Damit steht Judas von Beginn an zwischen zwei Extrempolen, in einem Widerspruch von Schein und Sein� Die Unterordnung des öffentlich Sichtbaren unter die Identität ist aber keine Absage an moralisches Handeln, sondern verschiebt das Bewertungskriterium auf die Person� Weitergeführt erhöht diese ‚Verschiebung‘ die Notwendigkeit der Reflexion für den Einzelnen, da es nicht genügt, sich irgendwo anzuschließen und sich gleich zu verhalten (wie Judas, der mit den anderen Elf bei Jesus bleibt), sondern jegliches Tun eigens und ehrlich motiviert sein muss� Judas’ zweite Nennung und der erste Auftritt, bei dem er in Aktion tritt, erfolgen in 12,1-8. Hier ergreift er erst- (und ein-)malig das Wort und wird durch den Erzähler markant negativ charakterisiert� Die Szene bildet den Abschluss der Erzählung von der Auferweckung des Lazarus� Jesus und seine Jünger sind erneut in Bethanien, wohl bei Lazarus, Maria und Martha� Martha bedient (12,2), wobei auffällig ist, dass der Vers mit einem Plural beginnt� Wer Jesus das Essen zubereitet, ist damit nicht eindeutig; eine (nach 11,17-45) plausible Deutung ist, dass Maria damit gemeint ist� Martha ordnet sich durch ihre Handlung den Anwesenden unter� Es entfaltet sich in der Figurenkonstellation folgende soziale Hierarchie� Martha nimmt die unterste Position ein (vgl� die Diener in Joh 2)� Jesus, dem das Mahl gilt, steht an der Spitze der Rangordnung - erzählerisch besitzt Jesus ohnehin die höchste Autorität unter allen Figuren� Marthas Bruder Lazarus wird im Gegensatz zu ihr mit den Gästen auf eine Stufe gestellt� Maria bleibt ungenannt und kann nur mutmaßlich mit Martha auf einer Stufe eingeordnet werden� Somit ist ein hierarchisches Setting am Anfang der Szene installiert� In diesem Setting setzt die Handlung ein� Maria salbt Jesu Füße und trocknet sie mit ihrem Haar - hierarchisch ist spätestens hier die Unterordnung klar� Besonders auffällig sind die sinnliche Ausschmückung, die Steigerung der persönlichen Geste durch mehr Verben als bei der ersten Nennung dieses Gesche- 48 Fredrik Wagener hens (in der Prolepse in 11,2) und die Betonung von Menge (ca� 327g) und Wert des Salböls� Durch den olfaktorischen Ausdruck wird der Leser stärker in die Situation hineingenommen� Für heutige Leser wirkt die Szene möglicherweise befremdlich, aber durch die ausgedrückte Wertschätzung Jesu ist sie in jedem Fall positiv� Mit Judas und seiner Anfrage (11,4 f�) kündigt sich ein Umbruch an� Er wird als Kontrastfigur zu Maria profiliert� Durch seine Negativzeichnung in seiner ersten Szene ist hier nun nichts Positives zu erwarten� Die Negativkonnotation wird explizit in Erinnerung gerufen, indem das Überlieferungsmotiv aus 6,71 erneut genannt wird� In der Hierarchie nimmt Judas (explizit als einer der Jünger bezeichnet) seine Position auf mittlerer Ebene innerhalb der Gästegruppe ein� Judas adressiert niemanden konkret� So scheinen nicht nur alle Anwesenden als implizite Adressaten angesprochen, sondern auch der Leser, der so zu Reflexion des Erzählten geleitet wird: Ist Marias Wertschätzung gegenüber Jesus uneingeschränkt positiv, wie die Darstellung es vermuten ließ? Judas formuliert eine Alternativhandlung und fragt, warum diese nicht gewählt wurde� Judas scheint auf eine gewohnte Sitte, das Almosengeben, Bezug zu nehmen� Somit setzt er der konkreten Handlung Marias an Jesus eine abstrakte allgemeine gute Tat entgegen� Durch die Formulierung im Passiv bleibt offen, ob Maria den Verkauf und die Almosenverteilung hätte unternehmen sollen - oder Jesus oder gar jemand Drittes? Liest man die Rückfrage nicht sachlich, sondern als Forderung einer Rechtfertigung, ergibt sich ein anderes Bild: In dem vom Duft angefüllten Haus ergreift Judas das Wort und wertet Marias Salbung ab� Er bringt sie, die sich bereits erniedrigte, subtil in die Rolle einer Angeklagten� Mit einem plausiblen Einwand ist sie und ihr Liebesdienst diffamiert und alle Anwesenden erwarten ihre Rechtfertigung (vgl� auch zur Situation die angeklagte Frau in 8,3 f�)� Ob nun abwertend oder neutral - was Judas anspricht, klingt einleuchtend� Der Leser ist jedoch vorgewarnt, dass er kritisch lesen soll� Wenn der negativ stigmatisierte Judas die Frage stellt, kann sie nicht rechtmäßig sein� Judas liefert aber auch ein neues Detail - den bislang unbekannten immensen Gegenwert der Salbe (ca� ein Jahreslohn eines Tagelöhners)� Zum einen steigert diese Information die Jesus entgegenbrachte Wertschätzung Marias� Sie hat ihm nicht nur etwas „Kostbares“ (12,3) gewidmet, sondern einen unglaublich großen Wert - mutmaßlich sogar ihren kostbarsten Besitz - an ihn verschenkt� Zwar kann über den Besitz der Betanischen Geschwister kaum eine Aussage getroffen werden, doch dass Martha das Bedienen übernimmt und keine Bediensteten wie bei der Hochzeit (2,1-11) oder dem königlichen Beamten (4,51) erkennbar sind, spricht gegen Reichtum� Diese Information sagt aber auch etwas über Judas aus� Er kann einschätzen, wieviel ein Verkauf der Salbe einbringen würde und auch die große Summe von 300 Denaren ist ihm nicht fremd� Oder ist die Nennung Judas: Wenn der Verworfene zum Modell wird 49 der Summe nur eine Übertreibung und soll das Ausmaß der Verschwendung verdeutlichen? Dann würde Judas’ Aussage aber ironisch und sein Anliegen, das Geld den Armen zu geben, wirkte lächerlich� Einen Transfer der moralisch guten Forderung auf Judas’ Charakter wird vom Erzähler in 12,6 unterbunden� Er deckt Judas’ Motivation auf und macht ihn somit zum Heuchler� Außerdem belegt er ihn mit einem weiteren negativen Merkmal. Judas ist ein Dieb (vgl. dazu 10,1-10, wo der Dieb der Gegenspieler zu Jesus, dem guten Hirten, ist)� Explizit wird ihm die Sorge um das Ergehen der Armen abgestritten� Dass er stattdessen das Geld für sich (oder für die Jünger) habe hinterziehen wollen, legt der Ausdruck Dieb nahe� Er sammelt auch Geld, wobei der griechische Text nicht eindeutig sagt, ob er Geld veruntreut oder in die Kasse einsammelt� Ferner wird Judas als ‚Kassenwart‘ der Jüngergruppe um Jesus vorgestellt� Wie die finanzielle Situation der Jünger vorzustellen ist, bleibt weitgehend unklar (vgl� auch 6,7)� Jesus wirkt jedenfalls am Umgang mit Geld unbeteiligt und überlässt diesen seinen Jüngern� Die Verknüpfung der Figur Judas mit dem Motiv ‚Geld‘ ist markant� Als Kassenträger, Geldsammler und Werteinschätzer ist er die Figur mit der stärksten Affinität zum Geld (auch wenn die synoptische Tradition der Bezahlung für die Überlieferung Jesu 3 im Johannesevangelium nicht erwähnt wird)� So kann Judas’ Negativzeichnung als Negativkonnotation für Finanzielles gelesen werden� Im Anschluss an die Erklärung durch den Erzähler weist Jesus - als höchste Autorität - Judas scharf zurecht (12,7)� Er verteidigt Maria, begründet ihr Tun und nivelliert Judas’ Alternativvorschlag� Die Hierarchie der Szene wird durch Jesu Eingreifen aufgehoben� Judas, der als Gast über Maria steht, stärkt seine Position durch die Rechtfertigungsforderung in 12,5� Sein scheinheiliger Vorschlag sichert ihm die Zustimmung der Anwesenden und festigt seine hierarchische Position� Jesus jedoch wertet Maria auf und durch die harsche Antwort an Judas diesen ab� Er durchbricht die konventionelle Hierarchie, auf der Judas Maria dominieren kann� Indem Jesus als Zweck der Salbung sein Begräbnis nennt, wird Maria auch Judas gegenübergestellt� So fungieren Maria und Judas als Kontrastfiguren in Musterrollen einer möglichen Vorbereitung auf Jesu Tod� Maria salbt ihn, Judas plant, ihn auszuliefern� Hinsichtlich einer ethischen Lesart ist natürlich auch Jesu Reaktion zu Judas’ Alternativvorschlag interessant� Diesem wird nicht prinzipiell widersprochen, er wird nur für unzeitig erklärt� Marias Handlung ist nur in einem bestimmten Zeitfenster möglich - dem von Jesu leibhaftiger Gegenwart� Die Präsenz von 3 Vgl� Mk 14,10 f parr� 50 Fredrik Wagener Armen wird über einen konkreten Zeitraum hinaus für immerwährend erklärt� Somit würde die daraus abgeleitete Forderung lauten: Solange Jesus da ist, ist ihm Gutes zu tun, sobald er nicht da ist, sind Arme zu versorgen� Jesu Satz lässt sich so aber nicht für den Leser pauschalisieren� Weder ruft Jesus zu weiteren ‚Liebestaten‘ an ihm auf, noch leitet Jesus aus der Möglichkeit des Almosengebens einen Aufruf dazu ab - die Entscheidung scheint er den Hörern (und Lesern) vielmehr selbst zu überlassen� Dabei greift Jesus in seinem Parallelismus das gleiche Verhältnis von Abstraktion und Konkretion auf, das bereits Judas in seiner Anfrage deutlich werden ließ� Der unspezifischen Größe der Armen stellt er sich als Individuum gegenüber� Die Bewusstmachung der abstrakten Formulierung ist wichtig, da konkrete Arme schließlich ja gerade nicht ewig leben, aber die soziale Gruppierung fortwährend besteht� Dieser Sammelbegriff wird Jesu Hinwendung zum Einzelnen, der kontinuierlich erzählt wurde, nicht gerecht� So scheint er sogar das Almosengeben als solches zu ironisieren� Wenn es Judas nur darum geht, Armen Geld zu geben und er keine konkrete Situation, kein konkretes Notleiden, nennen kann, ist dies zumindest nicht akut wichtig� Eine solche Lesart rückt das ‚Immer‘ der Möglichkeit der Armenversorgung nah an ein ‚Nie‘ der Notwendigkeit der Armenversorgung� Im Kontext von narrativer Ethik kann dies als Plädoyer dafür gelesen werden, dass ein allgemeines Prinzip ohne Anbindung einer konkreten Situation seine Gültigkeit insofern verliert, als seine Relevanz nachgeordnet wird� Im Sinne einer Metareflexion sei noch auf eine dritte Möglichkeit - jenseits von Marias Tun und Judas’ Vorschlag - hingewiesen: das Salböl bzw� dessen immensen Gegenwert für sich zu behalten� Was für Maria narrativ nicht erwogen wird, berichtet der Erzähler über Judas� Er möchte das Geld für sich haben� Seine Anfrage muss umgedreht werden: Was ist eine legitime Alternative zum Almosen geben? Diese Frage beantwortet diese Szene narrativ� Die Alternative zum Spenden ist nicht Luxus sondern eine Liebestat� Insgesamt bietet die Szene viele solcher Leerstellen, auch bzgl� des Verhaltens der Figuren und der Einstellungen von ihnen zueinander, z� B� sind Marias Reaktion und die der anderen Gäste auf Judas Wortmeldung ausgespart� So schafft die Szene einen Spielraum, sich als Leser in der Situation zu positionieren und mögliche Reaktionen abzuschätzen� Dadurch dient sie als ethisches Spielfeld, um eine Konfliktsituation mit Aggression, Rechtfertigungsforderung, Verteidigung, Gruppendynamik und Hierarchiegefälle zu erleben� Im Anschluss an die Lazarus-Episode (12,12) wird deutlich, dass mit Jesu Einzug in Jerusalem nun der Ort, an dem er sterben wird, erreicht ist� Nach einer letzten Rede dort (12,44-50) ist Jesus nur noch mit seinen Jüngern (mutmaßlich den Zwölf) zusammen� Judas: Wenn der Verworfene zum Modell wird 51 Die dritte Szene, in der Judas genannt wird, umfasst beinahe das gesamte Kapitel Joh 13� Insgesamt (und insbesondere im Vergleich mit der synoptischen Parallele) fällt auf, wie stark Judas’ Überlieferungstat und Aussonderung aus dem Jüngerkreis in diese Szene hineingewoben ist� Gleich zu Beginn wird die Begründung (und Motivation) aufgedeckt, warum Judas Jesus überliefert� Ein übernatürlicher Auslöser wird genannt� Der Teufel (gr� diabolos ), mit dem Judas in seiner ersten Szene gleichgesetzt wurde, tritt handelnd in Aktion� Allerdings kann diese Formulierung auch als sprachliches Bild für das Treffen einer bösen Entscheidung, das Fassen seines teuflischen Überlieferungsplanes, fungieren� Dass nicht nur Judas allgemein, sondern sein Herz betroffen ist, verstärkt seine Einordnung in die Sphäre des Bösen� Das Herz (gr� kardia ) ist als Zentrum des Inneren, von Leben und Gefühlswelt, Entscheidungen und geheimer Erkenntnis der entscheidende Kern des menschlichen Selbst� Wird so die Negativzeichnung weiter untermauert, bleibt allerdings offen, wie groß der Anteil an persönlicher Schuld und bewusstem Wissen sind� Die Handlung setzt in 13,4 ein� Jesus wäscht seinen Jüngern (und damit auch Judas) die Füße. Jesus selbst bringt sich in die Dienerposition (vgl. 2,1-11 und 12,2)� Diese symbolisch stark aufgeladene Szene wird von Jesus zweimal gedeutet� Zum einen erklärt er die Fußwaschung als Akt zur Anteilhabe an ihm (6-10), wobei Judas als nicht-rein von dieser Möglichkeit ausgeschlossen wird. Zum anderen deutet er sie als Beispielhandlung (13-18), wobei Judas trotz seiner Erwählung aus der Seligkeitsverheißung ausgeschlossen wird� Bei beiden Aussonderungen von Judas aus dem Jüngerkollektiv verschweigen sowohl Jesus als auch der Erzähler dessen Namen, sodass die Nennung nur implizit über das Überlieferungsmotiv erfolgt� An dieser Stelle wird nun erläutert, warum Jesus jemanden erwählt, von dem er weiß, dass er ihn überliefern wird und der sogar ein Teufel ist� Die Begründung ist die Erfüllung einer alttestamentlichen Prophezeiung� Dabei spielt das Psalmzitat (Ps 41,10) sowohl die psychisch-soziale Dimension der Überlieferung - den Vertrauensbruch des Brotessenden - als auch die physische Dimension ein - der Tritt als Zeichen der bevorstehenden Gewalt� 13,21 schildert eine Stimmungsänderung Jesu und setzt somit eine Zäsur� Da Gefühle im Johannesevangelium selten thematisiert werden, sticht diese besonders hervor: Das Folgende betrifft und erschüttert Jesus persönlich� Die weitere Abwertung der Figur Judas wird dramatisch inszeniert� Was der Leser längst weiß, teilt Jesus nun seinen Jüngern mit: Einer von den Zwölf wird ihn überliefern� Wie eingangs geschildert, erfolgt nun keine „Bin ich’s? “-Fragerunde der Jünger, aber die Identität des Einen beunruhigt die versammelten Jünger� Sie wenden sich aber nicht an Jesus, sondern kommunizieren - dramatisch wirkungsvoll - durch Blicke� Simon Petrus und der Jünger, den Jesus liebte, 52 Fredrik Wagener bewirken eine Auflösung der Spannung durch Jesus (- angemerkt sei, dass der Jünger, den Jesus liebte, hier erstmalig auftaucht und namentlich unbenannt bleibt)� Anstelle eines Namens antwortet Jesus mit einer geheimnisvollen Handlung, die den Überlieferer aufdecken soll� Judas bekommt von Jesus (gemäß 13,18) das Brot gereicht und wird zeitgleich vom Satan besetzt, der von da an in Judas ist� Als Referenz fällt dazu auf, dass später den anderen Jüngern der Paraklet verheißen wird, der in ihnen sein wird� Ferner gibt Jesus an anderer Stelle eine metaphysische Größe weiter - den heiligen Geist an die anderen Jünger (20,22)� So dient Judas auch hier als Kontrastfolie� Bemerkenswert ist bei der Geste, dass Jesus das Sataneinfahren durch seine Handlung auslöst� Eine Charakterisierung des Satans (gr� satanas ) ist jedoch schwierig, da er nur an dieser Stelle genannt wird� Als Gegenspieler Gottes gedacht würde er sich in die dualistische Konzeption des Johannesevangeliums einfügen� Weiß Judas (gemäß einer bildlichen Lesart von 13,2) bis zu diesem Zeitpunkt selbst noch nicht, dass er Jesus überliefern wird, so erscheint er als besonders tragische Figur� Dann bliebe er bis zu Jesu Offenbarung seiner Identität im Folgenden der zwar kriminelle (12,6), aber doch treue Nachfolger Jesu, den die Botschaft seiner Überlieferungs- und Verratstat und das Einfahren des Satans völlig überrascht� Diese Alternativlesart, die Judas als unschuldig und unwissend ansieht, lässt sich anhand der Negativzeichnung durch den Erzähler innertextlich kaum plausibilisieren, kann aber als Metabewertung vom Leser vollzogen werden� Jesu Geste wird von keinem der Jünger verstanden, sodass eine Reaktion von diesen ausbleibt� Der Appell Jesu zum schnellen Handeln treibt den Erzählverlauf voran und veranlasst Judas, die Szene zu verlassen und so durch die neue Figurenkonstellation den größten und intimsten Vertrauenskontext zwischen Jesus und den Jüngern bis zu Jesu Tod zu ermöglichen� Der Erzähler nutzt das Missverstehen der Jünger, um mit einem Einblick ins Innenleben der Jünger zwei Themen aus Judas’ zweiter Szene erneut einzuspielen: Judas’ Verbindung zum Geld und die Armenfürsorge� Aus der Perspektive anderer Jünger ist Judas’ Handeln naheliegender Weise auf seine Funktion als Kassenwart bezogen - Alternativen werden nicht genannt� Das Bild aus Szene 2 findet sich verstärkt: Wenn Judas etwas macht, hat es mit Geld zu tun� Dabei erwägen dir Jünger zwei Handlungsoptionen� Er soll entweder Festutensilien kaufen oder den Armen Geld geben� Wenn einige der Jünger Jesus eine solche Forderung zutrauen, ist damit die prinzipielle Ablehnung des Almosengebens zurückgewiesen� Vielmehr erscheinen die beiden Optionen (Almosen geben oder Einkauf) sogar als die einzigen, die die Jünger überhaupt erwägen� Bemerkenswert ist, dass die mildtätige Handlung im gesamten Johannesevangelium nicht zur Umsetzung kommt� Weder treten Arme auf noch werden sie konkret bedacht� Judas: Wenn der Verworfene zum Modell wird 53 Die Szene endet mit einer zeitlichen Einordnung in einem Nachsatz: es war aber Nacht� Dabei ist ‚Nacht‘ ein stark metaphorisch aufgeladener Begriff und ein Wertungswort� Im Joh werden ‚Licht‘ und ‚Finsternis‘ als Gegenpole aufgebaut� Die Nacht ist der Finsternis zugeordnet, der Sphäre des Unglaubens, der Gottesferne und Verlorenheit� 4 Damit ist Judas als schwarze Kontrastfolie vollständig - und das erstaunlicher Weise, bevor er Jesu Handlungsappell gefolgt ist, bevor er überhaupt etwas getan hat� Er ist verloren, stigmatisiert und verurteilt, ohne dass dies an vollzogenen Handlungen begründet würde� In seiner Abwesenheit gibt es einen Verweis auf Judas - und zwar in Jesu Gebet in 17,12� Jesus spricht dort von dem Einzigen, den er verloren habe, dem Sohn des Verderbens (gr� apōleia )� Dieser Ausdruck fügt sich in die Negativcharakterisierungen von Judas ein� Dabei kann das griechische Wort auch ‚Verlorenheit‘ oder ‚Zerstörung‘ bedeuten� Letztere Deutung fragt nach einem Ziel, für das sowohl Jesus als auch Judas selbst in Frage kommen� Da innerhalb der narrativen Entwicklung Jesu Ergehen als Verherrlichung und Vollendung geschildert wird, verweist der Ausdruck wohl eher auf Judas’ eigenen Untergang, der sich im Überlieferungsgeschehen manifestiert, das sich an Jesu Gebet anschließt� In derselben Nacht wie Szene 3 stoßen Jesus und seine Jünger außerhalb eines Gartens am Bach Kidron auf Judas und eine Schar Soldaten� Die (durch Erzähler und Jesus) mehrfach angekündigte Handlung der Überlieferung setzt ein� Wie gewohnt wird Judas durch das Verb paradidōmi (überliefern) charakterisiert� Hier erscheint es erstmalig ohne ein Modalverb im Indikativ Präsens� Judas ist nicht mehr der, der Jesus überliefern wird, will oder soll� Jetzt führt er seinen Plan bzw� seine Bestimmung aus� Judas aktive Handlung beschränkt sich aber darauf, eine Kohorte Soldaten und zudem Diener der Hohepriester und Pharisäer zu Jesu Aufenthaltsort zu führen� Dabei spielen die mitgeführten Lichtquellen erneut die Licht-Finsternis- Metaphorik ein, auf die derjenige angewiesen ist, der in der Finsternis wandelt (8,12)� Der Singular in 18,3b („kommt“) unterstreicht dabei sein federführendes Handeln und kontrastiert ihn zugleich mit Jesu Kommen (18,1; ebenfalls Singular)� Aber Jesus und Judas treten sich nicht als gleichwertige Kontrahenten gegenüber� In Anzahl, Bewaffnung und Gewaltpotential steht Judas’ Seite der Jesu als unüberwindbar gegenüber� Doch mit dieser Aufstellung endet Judas’ Aktion, er bleibt erstaunlich passiv� Im weiteren Verlauf agieren die Soldaten und Jesus unabhängig von Judas� Mit seinem Hervortreten übernimmt Jesus die für Judas verheißene Überlieferung� Jesus gerät nicht in die Hände seiner Gegenspieler, sondern begibt sich hinein� 4 Vgl. u. a. Joh 1,5; 8,12; 11,10. 54 Fredrik Wagener Jesu Frage an die Hinzugekommenen (18,4b) wirkt berechnend� Sie zentriert die Szene um seine Person� War diese Szene als großer Auftritt für Judas angelegt, wendet Jesus die Darstellung. In seinem „Ich bin [es]“ (gr. egō eimi ) drückt er zugleich seinen Gottesanspruch aus (vgl� Ex 3,14) und erinnert den Leser an die sieben Ich-bin-Worte� Im Anschluss erfolgt Judas’ letzte Nennung im Evangelium� Wieder wird seine primäre Eigenschaft genannt: Er überliefert Jesus� Die gerade geschilderten Ereignisse zeigen jedoch das Gegenteil: Jesus überliefert sich selbst! Das letzte Judas zugeordnete Prädikat ist ein statisches� Judas verharrt unbeweglich an seiner persönlichen Endposition, das Plusquamperfekt weist auf das Resultat� Diese Figur stagniert hier� Wird Glauben durch Verben der Bewegung wie ‚nachfolgen‘ und ‚gehen‘ ausgedrückt, entspricht dies dem genauen Gegenteil� Ferner positioniert es Judas eindeutig unter den Gegenspielern Jesu, die dessen Tod herbeiführen werden� Während Jesu Gefangennahme sich vollzieht und die Jünger fliehen, wird Judas nicht mehr erwähnt, er bleibt auf der Seite der Soldaten und Feinde Jesu stehen - vielleicht sogar über die Erzählte Zeit der Szene hinaus� Sein Ende wird dem Ersinnen des Lesers überlassen� Auch wenn Judas nicht mehr auftritt, muss noch die letzte Szene des Evangeliums genannt werden� Dort (21,20) wird auf diesen in einer Analepse verwiesen, die aus dem Erzählzusammenhang nicht notwendig ist� Explizit wird an die Situation in 13,25 erinnert, in der der Jünger, den Jesus liebte, nach dem Überlieferer fragt� Dabei variiert die Frage im Wortlaut und ergänzt den Ausdruck zur eindeutigen Identifikation von Judas: der, der dich überliefert (gr� paradidōmi )� Für Judas bedeutet diese Einspielung im letzten Kapitel, dass er als Kontrastfigur zu den nun Jesus nachfolgenden Jüngern herangezogen wird� War er mit seinem Verschwinden nach 18,6 vielleicht in Vergessenheit geraten, wird die Erinnerung an ihn noch einmal reaktiviert� Wenn es um Fragen der Nachfolge geht, ist er die bestmögliche Konkretion von falschem Handeln, das eben nicht in der Gegenwart Jesu endet� Außerdem wird die Kontrastierung zwischen Judas und dem Geliebten Jünger verstärkt, denn bei dessen Erst- und Letztnennung wird auf Judas verwiesen� Dabei ist das verbindende Element zwischen beiden die Überlieferung Jesu� Dies ist die Tat, die Judas auszeichnet und nach welcher der Jünger, den Jesus liebte, fragt� Ob dieser letzte Hinweis die Einordnung der Figur Judas verändert, muss der Leser entscheiden� Zum einen wird einer möglichen Positivbewertung der Figur Judas die Basis entzogen, indem am Ende noch einmal seine Stigmatisierung betont wird: Er ist derjenige, der Jesus überlieferte, was ihn zum Teufel und Sohn der Verlorenheit macht, der in der Finsternis der Nacht bleibt und letztendlich dem Kollektiv der Jünger nicht angehört� Zum anderen ist aber Jesus Judas: Wenn der Verworfene zum Modell wird 55 auferstanden und sein Tod ist als Verherrlichung dargestellt worden� In unmittelbarem Umfeld des Verweises auf Judas wird dieser als lebendige, sprechende und handelnde Figur gezeigt� Judas’ Überlieferung ist ein notwendiger Baustein in Gottes Plan, welcher in einem guten Ende mündet� Wie schon in der von Judas miterlebten Auferweckung des Lazarus ist in der Auferweckung Jesu der Tod, zu dem Judas Jesus überlieferte, überwunden und außer Kraft gesetzt� Damit wird die gesamte Negativzeichnung des vorausgehenden Evangeliums aufgehoben� Im Spannungsfeld dieser Extrempositionen ist der Leser zur Metabewertung herausgefordert� Schlaglichter ethischer Implikationen Die Figur Judas wird im Johannesevangelium (nach Jesus) mit den meisten expliziten Charakterisierungen versehen� Diese zeichnen ein durchgängig negatives Bild von seiner Identität� Am markantesten ist die Bezeichnung, die wie ein Name - und sogar häufiger noch als sein Name - als Hinweis auf Judas verwendet wird: der Überliefernde (gr� paradidōmi )� Dieser Ausdruck beschreibt nicht nur eine Handlung, sondern macht auch Judas’ Identität aus und kennzeichnet seine Beziehung zu Jesus� Judas wird zum Auslöser oder gar Verantwortlichen für Jesu Kreuzigung� Judas ist derjenige, der Jesus in die Hände seiner Gegner spielt, der die Begegnung im Garten herbeiführt und dessen Ankunft dort die Überlieferung markiert� Es gibt jedoch keine konkrete Überlieferungshandlung: kein Fingerzeig, keine wörtliche Rede, erst recht kein Kuss� 5 Nachdem Judas im Garten bei Jesus angelangt ist, nimmt ihm dieser jegliches Tun ab� Darin lässt sich eine mögliche Entmachtung von Judas sehen, vielleicht sogar eine Entschuldung� Er bereitet die Situation zwar vor, vollzieht sie aber dank Jesus nicht� Stattdessen wird Jesu Selbsthingabe betont� Er ist souverän in seinem Tun, insbesondere in seinem Sterben (vgl� 10,18)� Jesu Vormachtstellung und Judas’ Handlungsfreiheit sind zwei Seiten derselben Medaille� Die vollkommene Freiwilligkeit Jesu, sich in die Situation der Gefangennahme und Kreuzigung hineinzubegeben, hebt nicht Judas’ Verantwortung für seinen Beitrag dazu auf� Inwiefern Judas Jesus überliefern möchte, also sich dazu entschließt, bleibt sprachlich und erzählerisch unsicher� Denn seine Rolle ist auch als übernatürliche Führung, gewissermaßen als Determination, verstehbar� So stehen in der Bezeichnung als Überliefernder verschiedene widersprechende Deutungen nebeneinander, die den Leser herausfordern� 5 Vgl. Mk 14,44-46 parr. 56 Fredrik Wagener Ein Themenfeld, das im Johannesevangelium insgesamt wenig zur Sprache kommt, wird durch die Figur Judas beleuchtet: Geld� Innerhalb des Jüngerkollektivs ist er der, der die Geldtasche hat, Geld in diese sammelt (oder aus dieser veruntreut), der den Gegenwert von Marias Salböl einschätzt und von anderen Jüngern auf die Funktion als Kassenwart reduziert wird� Wieviel Geld Jesus und die Jünger besitzen, bleibt dabei unklar. Nahrungsmittelkauf (4,8; 6,5; 13,29) und Almosengeben (13,29) werden zwar genannt, aber Umfang und Häufigkeit werden aus den Angaben nicht deutlich� Da Judas auch als Dieb bezeichnet wird, ist naheliegend, dass der im griechischen mehrdeutige Textbefund in 12,6 meint, dass er sich an der Jüngerkasse bereichert� Was trägt nun die Figur Judas für eine moralische Einschätzung von Geldgeschäften aus? Jesus selbst nimmt diese als Normalität wahr, offensichtlich duldet er die Jünger-Kasse und hat die Hoheit über den Haushalt inne (vgl� 13,29)� Eine prinzipielle Verurteilung von Besitz, Wohlstand oder Umgang mit Geld kann somit nicht erschlossen werden� Dennoch spiegelt sich in der Figur Judas eine Warnung vor dem Umgang mit Geld im Sinne einer Sensibilisierung� Der Kassenwart ist gleichzeitig Dieb und Verräter� Geld wird für Judas zum Antrieb für Heuchelei, sein Ausbrechen aus der Gemeinschaft mit seiner Funktion als Kassenverwalter assoziiert� Die zeitliche Reihenfolge ist dabei auch bemerkenswert� Für Judas ist das Vergreifen an fremdem Eigentum (sein diebisches Verhalten) kein Finalpunkt, sondern ein Übergangsstadium, welches weit Schlimmeres nach sich zieht - Jesu Auslieferung in den Tod� Im Sinne eines ‚Wehret den Anfängen‘ ist Judas’ negatives Verhalten in einen Steigerungsprozess eingebettet und dem Leser als warnendes Beispiel vor Augen geführt� So vollführt Judas eine Negativentfaltung des Themas ‚Finanzen‘, die dem Leser als Prüfstein dienen kann� Wozu verwendet er Geld - um anderen Gutes zu tun, für den persönlichen Luxus oder für wohltätige Zwecke? Zu was treibt Geld ihn an - motiviert Geld ihn zur Unehrlichkeit? Somit erfolgt keine Abwertung von Judas wegen seines Bezugs zum Geld� Vielmehr verläuft die Konnotationskette in entgegengesetzter Richtung� In der Leserreflexion kann durch Judas’ negative Charakterisierung finanzieller Besitz und die Anregung zu Geldgeschäften (kaufen und verkaufen) als kritisiert wahrgenommen werden� Dies geschieht durch die Figur Judas im Johannesevangelium viel subtiler als in synoptischen Parallelen mit dem dortigen Ethos der Besitzlosigkeit� 6 Als Diabolos (Teufel) ist Judas mit dem eindeutig Bösen identifiziert� Die etymologische Bedeutung des ‚Durcheinanderwerfers‘ wird nicht nur theologisch in Judas’ Überlieferung dargelegt, sondern auch ethisch� In Szene 2 wird Judas zu einem Beispiel für die Verdrehung einer moralisch guten Konvention� Dort 6 Vgl. z. B. Mt 6,19; Mk 6,8 f parr.; 10,21-27 parr.; 11,15-17 parr.; Lk 6,20; 10,4; 12,15-21. Judas: Wenn der Verworfene zum Modell wird 57 wird die Aufforderung zur Mildtätigkeit gegenüber Armen nicht prinzipiell kritisiert, sondern nur in der Situation als unangebracht abgetan� Judas will einen falschen Dualismus (zwischen Liebe zu Jesus und Liebe zu den Armen) erzeugen� Jedoch hat beides seinen Raum in der Nachfolge� Judas bringt die Dinge durcheinander: Er verwendet das Gute als ‚Waffe‘ gegen die Gute (Maria)� Damit wird dies als mögliche Argumentation, die auch dem Leser begegnen kann, 7 vorgestellt und zugleich kritisiert� Szene 2 bietet noch weitere ethische Implikationen� So werden Judas und Maria als Kontrastfiguren zueinander aufgebaut, sodass sie als Personifikationen von Tugenden bzw� Lastern erscheinen� Wahre Jüngerschaft zeichnet sich demnach nicht durch Gruppenzugehörigkeit aus, die Judas dort attestiert wird, sondern durch die Haltung und die Taten, die Maria vorlegt� Doch in der Gegenüberstellung von Judas und Maria werden noch grundsätzlichere Einstellungen kontrastiert� Judas repräsentiert die Habgier, Maria die Großzügigkeit� Indem Jesus Judas zurückweist, durchbricht er die Hierarchie� So wird Großzügigkeit als vorbildliches Motiv zur Anschauung gebracht� Die Umordnung der Hierarchie spielt eine weitere Gegenüberstellung ein� Maria äußert Demut in ihrer Salbung der Füße Jesu (nicht des Kopf wie bei Königssalbungen durch Propheten)� Judas hingegen erhebt sich über Maria und meint, für ihr Verhalten Rechtfertigung einfordern zu dürfen� Mit Jesu Einwand wird auch diese Hierarchie aufgesprengt� Hochmut (in Gestalt von Judas) wird der (in Maria personifizierten) Demut untergeordnet� In Szene 4 erscheinen Waffen als mit Judas assoziiert� Insbesondere da zumindest grammatikalisch Judas (und nicht die Soldaten) die Waffen trägt, signalisiert er die Bereitschaft, seine Ziele mit Gewalt durchzusetzen� Judas baut eine Bedrohung auf, setzt die Waffen aber nicht ein (sodass er zumindest nicht gewalttätig wird)� In seiner freiwilligen Auslieferung gegenüber Judas tritt Jesus für Gewaltverzicht ein (vgl� auch seinen Einwand gegen Petrus’ Handeln in 18,11)� Dabei gibt sich Jesus nicht der Gewalt hin und lässt sie über sich ergehen, sondern spricht diese an und verhindert sie� Die Waffen, die Judas mit sich führt, kommen nicht zum Einsatz� Gewalt wird als Mittel zur Durchsetzung von Interessen abgelehnt� Gerade weil Judas derjenige ist, der die Waffen trägt, werden diese zusätzlich negativ belegt� Was ‚der Böse‘ mit sich herumträgt, ist auch moralisch verwerflich� Dabei ist zweitrangig, ob (oder wozu) die Waffen verwendet werden: Schon die Bereitschaft zur Gewalt ist falsch� Das Bild von Judas bleibt durchgängig negativ, eine Entwicklungslinie vom positiven, glaubenden Zwölferjünger zum negativen, unehrenhaften Verräter 7 Vgl� dahingehend die gewissermaßen synoptische Parallele der Versuchung Jesu (Mt 4,1-11; Lk 4,1-13). 58 Fredrik Wagener ist im Erzählverlauf nicht zu entdecken� Sowohl der Erzähler als auch Jesus 8 zeichnen ein durchgängig finsteres Bild� Dieses negativ gezeichnete Figurenkonzept von Judas bietet keinen Raum zur Identifikation� Was können Leser aus der Figur Judas dann lernen? Er fungiert als abschreckendes Beispiel und weist den Leser darauf hin, sich in Verhalten und vor allem in Einstellungen von diesem abzugrenzen� Er ist als Negativfigur ein ‚Anti-Vorbild‘, ein Mahnbild, dem nicht entsprochen oder nachgeeifert werden soll� Gegentugenden zur Figur Judas können Glaube, Genügsamkeit und Aufrichtigkeit sein� Sehen Leser Judas innerhalb der verwendeten Finsternis-Metaphorik als Repräsentanten für Ungläubige oder nicht wahrhaftige Jünger, können die Bewertung durch Jesus und den Erzähler auch ein Verhalten gegenüber Menschen legitimieren, die der Leser in seinem eigenen Umfeld diesem Bereich zuordnet� Tatsächlich ist eine Ablehnung von Menschen, die sich von der Gemeinschaft abgewendet haben, anhand von Judas einfach zu rechtfertigen und in der Bezeichnung als ‚Kinder der Finsternis‘ vielleicht gar geboten� Eine solche Ablehnungs- und Ausgrenzungsethik spiegelt sich vielfach in der Figur Judas� Einen solchen Ansatz darf der Leser - insbesondere wenn er sich nicht auf Verhaltensweisen, sondern Personen richtet - durchaus hinterfragen� Das Verhalten, das in den Verben zum Ausdruck kommt, zu denen Judas das Subjekt ist, spiegelt die kontinuierliche Abwertung, die er erfährt, nicht wider� An äußerlichem Tun ist nur das Führen der Soldaten zu Jesus negativ� Innerhalb der erzählten Welt ist Judas bis dahin nicht als böse zu erkennen� So entsteht eine Diskrepanz zwischen den Zuschreibungen durch den Erzähler und Jesus einerseits und den Rückschlüssen aus Judas’ Handlungen andererseits� Diese Diskrepanz regt den Leser zu einer Metabewertung an� So kann die Figur Judas aus der unbarmherzigen und ungerechten Abwertung, die ihm scheinbar schuldlos widerfährt, Empathie gewinnen� Hier kann sich der Leser emanzipieren und für Judas eintreten� Gerade die Ungerechtigkeit, dass der Erzähler und Jesus Judas keine Chance bieten, wirkt fruchtbar� Zwar bleibt Judas innerhalb der Erzählung verloren und endet außerhalb der Jüngerschaft, der Leser kann seine Geschichte aber frei weiterdenken� Verstärkt wird dies in einer Reflexion von Judas’ Funktion im Plot des Johannesevangeliums� Judas’ Überlieferung ist darin eine dramaturgische Unabdingbarkeit� So wirkt der Fall Judas in der Metareflexion des Lesers anregend, als Schicksal einer diskriminierten Person, eines Opfers von Vorurteilen, eines Beispiels von Chancenlosigkeit� Dieser Impuls kann außerhalb der Erzählung Leser dazu animieren, in einem ersten Schritt für Judas einzutreten und zumindest Chancengleichheit und die Möglichkeit 8 Obwohl Jesus Judas bewusst erwählt hat, spricht er über ihn zahlreiche Verurteilungen aus: Unglaube (6,64), Verteufelung (6,70), Unreinheit (13,10) und Verlorenheit (17,12)� Judas: Wenn der Verworfene zum Modell wird 59 zur Rehabilitation zu verlangen und in einem zweiten Schritt, diese Forderung in ihre eigenen Lebensbezüge hineinzutragen� Wenn so ein prinzipielles Eintreten gegen Vorabkategorisierungen erwächst, hat die Lektüre des Johannesevangeliums ein ethisches Ziel erreicht, was weit über die Erzählung als solche hinausgeht� Wenn hiesige Ausführungen im Rückblick eher finster wirken, korreliert das mit der Judasdarstellung� Mit und an ihm wurden die Abgründe theologischer Verwerfung, menschlicher Ablehnung und moralischer Verurteilung aufgetan und durchschritten� Obwohl Judas selbst nur in vier Szenen namentlich genannt wird und dabei kaum handelt, vernetzen ihn intratextuelle Bezüge mit Negativwertungen im gesamten Evangelium� Im wörtlichen Sinne ist die Erzählung für ihn kein Evangelium (gr� eu-a[n]ggelion = gute Nachricht)� Für Judas gibt es keine gute Botschaft� Der Erzähler schöpft ein erstaunliches Repertoire aus, um Judas zu stigmatisieren und den Leser gegen ihn einzunehmen� Auf der ästhetischen, sittlichen und empathischen Ebene wird Judas dem Leser entfremdet� Der Erzähler nutzt die Negativzeichnung von Judas, um zu verschiedenen ethischen Themen eine moralische Position einzuspielen� Entlang der Figur Judas verläuft eine Trennlinie, welcher Verhaltensweisen und Haltungen als Laster zugeordnet oder an welcher Tugenden oder Werte als Gegenpole entdeckt werden können� So fungiert Judas als moralischer Trigger, als Abwertungsschlüssel, der sittliche Fehler markiert und dem Leser eine Korrekturfolie für den eigenen Lebenswandel bietet� Judas steht bis zuletzt - schon rein sprachlich, was in möglichen Übersetzungen deutlich wird - in einem Spannungsfeld zwischen Determination und Willensfreiheit, die den Leser in die Reflexion drängt� Judas’ grundlegende Verurteilung kann zwar bedrohlich wirken, vermag aber auch den Leser zum Protest zu animieren� Der Leser steht gegenüber Judas in der Spannung, dem Urteil des Erzählers zu folgen, der Judas keine Chance lässt, oder gegen diese Vorverurteilung aufzubegehren� Steht damit am Ende ein Freispruch für Judas? Wird der Stigmatisierte zum Helden erhoben, das dunkle Kapitel ‚Judas‘ im Joh überstrahlt, die Finsternis einfach als Licht neudefiniert? Wohl kaum� Ob tragisch oder gerechtfertigt: Judas bleibt verworfen, bleibt verurteilt� Doch im Verstehen muss der Leser als ethisches Subjekt selbst entscheiden: Ihm bleibt überlassen, ob eine solche Verurteilung - wenn schon im Joh, dann zumindest nicht in seiner eigenen Lebensrealität - das letzte Wort behält�