eJournals ZNT – Zeitschrift für Neues Testament 21/41

ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
2018
2141 Dronsch Strecker Vogel

Das Judasevangelium

2018
Simon Gathercole
26 Simon Gathercole Auch Wissenschaftler waren nicht davor gefeit, sensationelle Dinge über das Judasevangelium zu behaupten� Die Äußerung des amerikanischen Textkritikers Bart Ehrman, die Handschrift sei „eine der größten historischen Entdeckungen des 20� Jh�s“, ist allgemein genug, um unstrittig zu sein� 2 Sein Urteil jedoch, dass der Text „neue Wege zu unserem Verständnis Jesu und der von ihm gegründeten religiösen Bewegung eröffnen wird“, 3 ist, wie wir sehen werden, allenfalls eine Halbwahrheit� Seit seiner ersten Ankündigung im Jahr 2006 zieht der Text kontinuierlich das Interesse der Forschung auf sich, auch wenn sich die anfängliche Aufregung gelegt hat� Anfangs sind eine Anzahl von Büchern zum Judasevangelium erschienen� Der Band, dem wir die erste Übersetzung verdanken, enthält außerdem einige Aufsätze zur Interpretation des Textes und zu seinen historischen Ursprüngen� 4 Eine journalistische Darstellung der Fundgeschichte des Manuskripts und seines verschlungenen Weges von einem ägyptischen Grab bis zu seiner schlussendlichen Publikation wurde von National Geographic veröffentlicht, bei dem auch die Rechte am Manuskript liegen� 5 Beide Publikationen liegen auch auf Deutsch vor� 6 Tom Wright, der ehemalige Bischof von Durham, schrieb noch im selben Jahr ein kleines Buch darüber, dass das Judasevangelium nur ein weiteres Beispiel für die Unzuverlässigkeit gnostischer Jesusbilder sei, angesichts der Tatsache, dass diese Jesus von seinen jüdischen Ursprüngen abtrennen� 7 Hinzu kommen mindestens drei Konferenzen über die Schrift und Dutzende von Aufsätzen in Fachzeitschriften� Seit 2006 wurden außerdem neue Fragmente dieses Evangeliums gefunden und in das Puzzle des Manuskripts eingefügt� Irgendwann zwischen den 1970er Jahren, dem mutmaßlichen Zeitraum seiner Auffindung, und den frühen 2000er Jahren, als es ediert und übersetzt wurde, wurde das Manuskript zerstückelt, wohl deshalb, weil man sich vom Verkauf zahlreicher kleinerer Papyrusfragmente einen höheren Erlös versprach als von der Handschrift als ganzer, daher das Auftauchen neuer Fragmente� Obwohl dem Manuskript in unserer Zeit übel mitgespielt wurde (einer der Eigentümer bewahrte es in einer Gefriertruhe 2 R� Kasser / M� Meyer / G� Wurst (Hg�, mit einem ergänzenden Kommentar von B� D� Ehrman), The Gospel of Judas, Washington 2006, Umschlagtext� 3 B� D� Ehrman, Christianity Turned on its Head: The Alternative Vision of the Gospel of Judas, in: Kasser / Meyer / Wurst, Gospel, 77-120, 80. 4 Kasser / Meyer / Wurst, Gospel, 19-45. 5 H� Krosney, The Lost Gospel: The Quest for the Gospel of Judas Iscariot, Washington 2006� Vgl� auch die National Geographic DVD-Dokumentation zum Judasevangelium� 6 R. Kasser / M. Meyer / G. Wurst (Hg.), Das Evangelium nach Judas, Wiesbaden 2006; H� Krosney, Das verschollene Evangelium: Die abenteuerliche Entdeckung und Entschlüsselung des Evangeliums des Judas Iskarioth, Wiesbaden, 2006� 7 N� T� Wright, Jesus and the Gospel of Judas, London 2006� Das Judasevangelium 27 auf! ), ist es vergleichen mit anderen antiken Handschriften nicht allzu schlecht erhalten, und mit den neuerdings entdeckten Fragmenten besitzen wir wahrscheinlich 85 bis 90 Prozent des Gesamttextes� Unter den neueren Publikationen ist dementsprechend besonders auf eine aktualisierte Edition zu verweisen, die die im Laufe der Zeit aufgefundenen Fragmente berücksichtigt und dem koptischen Originaltext eine englische Übersetzung zur Seite stellt� 8 Die meiste öffentliche Aufmerksamkeit hat das Judasevangelium wegen seiner radikalen Reinterpretation des Verrates Jesu durch Judas auf sich gezogen� Dieser Verrat hat nach der Auffassung dieses neuen Evangeliums nicht die Verdammnis des Judas durch Gott nach sich gezogen, sondern es handelte sich um eine Tat, zu der Jesus seinen Segen gab� Jesus tut Judas kund, dass er verglichen mit den anderen Jüngern und dem Rest der Menschheit „sie alle übertreffen“ wird� „Denn du wirst den Menschen, der mich trägt, opfern“ (p� 56)� 9 Die Handschrift und ihre Herkunft Das erhaltene Manuskript des Judasevangeliums ist in der alten ägyptischen Sprache des Koptischen geschrieben, die von der Sprache herkommt, die in Hieroglyphen geschrieben wurde, die sich aber des griechischen Alphabets bedient, zuzüglich einiger Sonderzeichen� Das Evangelium umfasst 26 Papyrusseiten, die freilich sehr klein sind� Das Werk ist nicht länger als beispielsweise der Epheserbrief� Es handelt sich nicht um eine Rolle, sondern um einen Kodex, 8 L� Jennott, The Gospel of Judas: Coptic Text, Translation, and Historical Interpretation of „The Betrayer’s Gospel“, Tübingen 2011� 9 Übersetzung hier und nachfolgend aus: G� Wurst, Das Judasevangelium, in: C� Markschies / J� Schröter (Hg�), Antike christliche Apokryphen in deutscher Übersetzung, I. Band: Evangelien und Verwandtes, Teilband 2, Tübingen 2012, 1220-1234. Dr. Simon Gathercole, geb� 1974, studierte Klassische Philologie und Theologie am King’s College (Cambridge) und erwarb einen PhD an der Universität Durham� Er ist Autor mehrerer Bücher aus dem Bereich des Neuen Testaments und der frühchristlichen Evangelien, darunter The Gospel of Judas (Oxford, 2007) und The Gospel of Thomas (Leiden, 2014)� Er war Herausgeber des Journal for the Study of the New Testament und ist nun Mitherausgeber der Zeitschrift Early Christianity � Gegenwärtig ist er Reader in New Testament an der Universität Cambridge und Director in Studies in Theology am Fitzwilliam College, Cambridge� 28 Simon Gathercole also ein gebundenes Buch ähnlich zu den Texten, die 1945-1946 in der Nähe von Nag Hammadi in Ägypten gefunden wurden (Die Handschrift wird üblicherweise als Codex Tchacos bezeichnet, nach dem Namen ihrer zeitweiligen Eigentümerin)� Der Papyrus, auf dem der Text geschrieben ist, wurde mit der Carbon-Methode auf das 3� oder 4� Jh� n� Chr� datiert und die Schreibweise datiert zweifelsfrei in die Antike, d� h�, es handelt sich nicht um eine moderne Fälschung wie im Falle des sogenannten „Evangeliums der Ehefrau Jesu“� Unser Exemplar des Judasevangeliums scheint nicht weit von seinem Fundort entstanden zu sein, etwa 100 km südlich von Kairo� Die Sprache zeigt Einflüsse des koptischen Dialekts dieser Region� 10 Dies gilt aber nur vom erhaltenen Manuskript� Tatsächlich ist das Judasevangelium wesentlich älter als die im 4� Jh� entstandene Handschrift� Die erhaltene koptische Version geht mit größter Wahrscheinlichkeit auf ein griechisches Original zurück, das ca� auf 140 bis 170 n� Chr� zu datieren ist� Der terminus ante quem ist gesichert durch die erste Erwähnung bei den Kirchenvätern� Irenäus bezieht sich in seinem Werk Adversus haereses auf eine Schrift gleichen Namens und auf dessen Trägerkreis: „Andere wiederum lassen den Kain von der oberen Macht abstammen und bekennen Esau, Kore, die Sodomiten und ähnliche als ihre Verwandten, die zwar von ihrem Schöpfer gehasst würden, aber doch nichts Schlimmes von ihm erlitten hätten� Denn die Sophia nahm das von ihnen, was ihr Eigentum war, zu sich� Das habe auch der Verräter Judas genau gewusst; er allein habe die Wahrheit erkannt und das Geheimnis des Verrates vollendet; er habe alles Irdische und Himmlische getrennt. Diese Dichtung nennen sie das Evangelium des Judas“ (Adv. haer. I,31,1-2). 11 Zweihundert Jahre später, im Jahr 370, finden wir die nächste Erwähnung des Judasevangeliums bei Bischof Epiphanius von Salamis� Seinem Panarion („Hauspotheke“ gegen die Häeresien) zufolge war das Judasevangelium ein „kurzes Werk“ ( syntagmation ), was dazu passt, dass es wesentlich kürzer ist als die synoptischen Evangelien� Er erwähnt auch den Namen der Gruppe, die sich dieses Evangeliums bedienten, angeblich die Kainiten, die ihren Namen von Kain herleiteten ( Panarion 38,1,5)� 12 Im 5� Jh� ist es Theodoret, der sich als letzter Kirchenvater mit dem Werk auseinandersetzt� Augenscheinlich argumentiert 10 Zu all dem vgl� R� Kasser, The Story of Codex Tchacos and the Gospel of Judas, in: Kasser / Meyer / Wurst, Gospel, 47-76. 11 Übersetzung: Des heiligen Irenäus fünf Bücher gegen die Häresien, Bd� 1� Aus dem Griechischen übersetzt von E� Klebba (BKV 1� Reihe), München 1912, 91� 12 Die Kainiten sind bereits aus Kirchenvätertexten des 3� Jh�s bekannt, aber obwohl ihr Name vielfach in modernen Irenäus-Editionen enthalten ist, geht er höchstwahrscheinlich nicht auf Irenäus selbst zurück� Das Judasevangelium 29 er gegen die Zuschreibung an den Jünger Judas mit dem Argument, dass dieser sich bereits kurz nach dem Verrat erhängt hat, mithin gar nicht in der Lage gewesen sei, ein Evangelium zu verfassen (Kompendium I,15)� Es ist gut möglich, dass das Judasevangelium, mit dem sich die Kirchenväter befasst haben, mit dem uns bekannten wesentlich identisch ist� Dafür spricht zumal dies, dass es den Vätern als Schrift von geringem Umfang bekannt ist� Andererseits gibt es auffällige Unterschiede zu den patristischen Darstellungen� Erkennbar hat das Judasevangelium kein Interesse an Kain, ganz im Gegenteil: In unserem koptischen Text ist Seth der Urahn der Gnostiker� Aber dessen ungeachtet ist ein Zusammenhang zwischen unserem (möglicherweise mit unterschiedlichen Werktiteln überlieferten) Judasevangelium und der (möglicherweise in Teilen entstellenden) Darstellung der Kirchenväter wahrscheinlich� Das Judasevangelium: Inhalt und Bedeutung Die neue Sicht auf Judas und den Verrat bildet nicht den Fokus des Evangeliums� Sein Interesse gilt vielmehr der verborgenen Offenbarung über das Wesen der Welt und der Erlösung, die Judas von Jesus zuteilwird� Das Hauptthema des Judasevangeliums ist gnōsis , das geheime Wissen, das die Wissenden erlöst von der Sklaverei dieser gegenwärtigen, missgestalteten Welt und sie zurückführt zu jenem spirituellen Licht, von welchem das eigene, wahre Selbst ausgegangen ist� Das Judasevangelium kann, soweit wir dies aus dem fragmentierten Zustand der Handschrift rekonstruieren können, grob in zwei Hauptteile untergliedert werden� Die erste Hälfte besteht aus einem Dialog zwischen Jesus und seinen sämtlichen Jüngern, und die zweite hauptsächlich aus einem Dialog mit Judas, einschließlich einer ausgedehnte Abhandlung Jesu über die erwähnte gnōsis , das geheime Wissen� Die beiden Hauptteile sind gerahmt von einem Prolog, der ein Summarium des Wirkens Jesu enthält, und ein Epilog, der den „Verrat“ Jesu durch Judas thematisiert� Am Ende der Handschrift ist der Werktitel notiert� Prolog (p. 33) Das Judasevangelium beginnt mit einer Ankündigung seines Inhalts: „Das geheime Wort der Offenbarung, mit welchem Jesus mit Judas Iskariot gesprochen hat, während acht Tagen, drei Tage, bevor er das Pascha gefeiert hat“ (p� 33)� Hier wird deutlich, um was für eine Schrift es sich handelt, um ein Evangelium, das in mancher Hinsicht dem Thomasevangelium und dem Evangelium der Maria gleicht� Es ist keine Erzählung vom öffentlichen Wirken Jesu, seinem Tod und seiner Auferstehung, wie wir sie von den vier neutestamentlichen Evangelien kennen� Vielmehr liegt eine geheime Offenbarung an ein Individuum vor� Die Offenbarung findet ihren Abschluss „drei Tage, bevor er das Pascha gefeiert 30 Simon Gathercole hat“, möglicherweise deshalb, weil in der traditionellen Darstellung der Passion die Verschwörung gegen Jesus zwei Tage vor dem Passafest in Gang kommt (Mk 14,1)� Summarium des Wirkens Jesu (p. 33) Die Einleitung des Evangeliums enthält sodann einen Abschnitt, der Jesu öffentliches Wirken beschreibt: „Als er auf der Erde erschienen war, hat er Zeichen und große Wunder getan für das Heil der Menschheit. Und da zwar einige auf dem Weg der Gerechtigkeit wan[delten] und andere in ihren Übertretungen wandelten, wurden die zwölf [ Jün]ger beru[fen]. Er fing an, mit ihnen über die innerweltlichen Geheimnisse zu sprechen sowie über die Dinge, die am Ende geschehen werden� Mehrmals aber zeigt er sich seinen Jüngern nicht, sondern … [als Kind] findest du ihn in ihrer Mitte.“ (p. 33). Abgesehen von dieser merkwürdigen Notiz über die Weise des Erscheinens Jesu ist dies eine recht konventionelle Beschreibung dessen, was Jesus während seines Wirkens getan hat� Das Evangelium führt uns dann aber unvermittelt auf weit weniger vertrautes Terrain� Teil 1: Dialog zwischen Jesus und den Jüngern (p. 33 - 34) Der Dialog zerfällt in drei Teile, von denen jeder an einem anderen Tag stattfindet� Am ersten Tag kommt Jesus zu den Jüngern, um die „Eucharistie“ zu feiern� Dies ist der erste Hinweis auf einige etwas anachronistische Elemente in diesem Evangelium, auch wenn die Stelle möglicherweise nur von einer „Danksagung“ der Jünger für ein Mahl handelt� Die noch größere Überraschung besteht aber jedenfalls in der Antwort Jesu an seine Jünger: „Und eines Tages war er in Judaea bei seinen Jüngern, und er fand sie, wie sie versammelt dasaßen und sich in der Frömmigkeit übten� Als er seine Jünger getroffen hatte, wie sie versammelt dasaßen und Dank sagt[en] über dem Brot, lachte er. Die Jünger [aber] sprachen [zu ihm]: ,Meister, warum lachst du über [unsre] Danksagung? Oder was haben wir getan? [Dies] ist es (doch), was sich ziemt (zu tun)! ‘ Er antwortete und sprach zu ihnen: ,Über euch lache ich nicht, ihr tut dies (ja) auch nicht a[uslachen Jesu, eu]rem (eigenen) Willen, sondern (weil) dadurch euer das Gott Lobpreis [empfangen wird]‘“ (p. 33-34). Das Lachen Jesu, ein Topos mittelalterlicher christlicher Debatten und ein Thema in Umberto Ecos Der Name der Rose , überrascht an dieser Stelle� Dabei lacht Jesus nicht über die Jünger selbst, sondern sein Spott gilt ihrem Handeln� Sie mögen der Ansicht sein, dass sie mit dieser Eucharistie dem wahren Gott dienen, tatsächlich begehen sie jedoch eine Form der Idolatrie� Hier stoßen wir auf die Das Judasevangelium 31 grundlegende Unterscheidung des Judasevangeliums zwischen dem Gott Jesu (der so überlegen ist, dass er nicht „Gott“ genannt werden kann) und dem Gott der Jünger� Auf der einen Seite gilt es die wahre, höchste Gottheit, die „großer unsichtbarer Geist“ genannt wird, und im Gegensatz dazu auch ein minderwertiges Wesen, der geringere, böse Demiurg Saklas (zu diesem später mehr)� Die Jünger wurden von verirrten himmlischen Mächten getäuscht, sodass sie diese falsche, böse Gottheit anbeten� Es bedarf keiner besonderen Vorstellungskraft, um der extratextuellen Referenz an dieser Stelle ansichtig zu werden� Eindeutig liegt hier eine Polemik gegen die etwa zeitgleich von dem paganen Philosophen Kelsos so genannten „Großkirche“ vor, gegen die Christenheit, die sich auf die zwölf Jünger gründete, und die für ihre Unterweisung in Anspruch nahm, dass sie auf die Lehre der Apostel zurückging� Dagegen vernehmen wir im Judasevangelium die Stimme einer dissidenten gnostischen Gruppe, die in einer unerbittlichen Opposition zur „Großkirche“ stand� Nach den Begebenheiten des ersten Tages verschwindet Jesus� Der zweite Tag beginnt damit, dass Jesus wieder erscheint, und er erklärt, dass er während seiner Abwesenheit von seinen Jüngern eine „große und heilige Generation“ besucht habe, offensichtlich eine Art von Wesen, die den götzendienerischen Jüngern weit überlegen sind� Die Jünger befragen ihn über diese Generation und wiederum lacht Jesus, nun über die Torheit ihres Versuchs, etwas zu ergründen, das unendlich weit jenseits ihres Fassungsvermögens liegt� Damit setzt sich die Polemik fort: Die Gnostiker sind diese überlegenen Wesen, die von den minderwertigen Falschgläubigen nicht erfasst werden können und für die Jesu Spott fast schon zu viel der Ehre ist� Am dritten Tag erhalten die Jünger den heftigsten Schlag� Sie berichten Jesus von einer gemeinschaftlichen Vision, in welcher Priester in einem Tempel Opfer darbringen: „Sie aber [sprachen: ,Wir haben] ein großes [Haus gesehen, in dem sich ein gro]ßer Altar [befindet, un]d zwölf Menschen - wir (würden) sagen, dass es Priester sind - und ein Name <…>. Ein Menge (Menschen) aber harrt aus an jenem Altar, [bis] die Priester [die Darbringung] der Opfer [vollendet haben]. Wir aber harten aus‘. J[esus sprach]: Von welcher [Art sind …? ] Sie aber [sagten: ] Einige nun fas[ten] zwei Wochen [lang. Andere] aber opfern ihre eigenen Kinder, andere ihre Frauen, sich segnend [und] in gegenseitiger Demut; andere schlafen mit Männern, andere sind dabei zu morden, wieder andere begehen viele Sünden und Ungerechtigkeiten�“ (p� 38)� Bei diesen Priestern handelt es sich eindeutig nicht um gewöhnliche treue Diener Gottes, da sie in der Vision des Mordes, homosexuellen Verhaltens, des Kinderopfers und anderer Handlungen schuldig sind, die sämtlich als gleich widerwärtig gelten� Jesus gibt dann eine Deutung dieser Vision: Die Priester sind 32 Simon Gathercole die Jünger selbst! Auch hier setzt sich der Angriff auf die nichtgnostische Kirche fort: Die Autoritäten der unerleuchteten Pseudo-Christen sind korrupte Priester, die die armen, unwissenden Massen in die Irre führen� Im Laufe dieser drei Tage angespannter Diskussionen zwischen Jesus und den Jüngern hat gleichwohl einer der Zwölf ein Verständnis für die esoterischen Lehren Jesu entwickelt� Judas hat erkannt, wer Jesus wirklich ist: „Judas sprach zu ihm: ,Ich weiß, wer du bist und von welchem Ort du gekommen bist� Du bist aus dem unsterblichen Äon der Barbêlô gekommen; und derjenige, der dich gesandt hat, ist es, dessen Namen auszusprechen ich nicht würdig bin�“ (p� 35) Jesus ist also nicht ein Sohn des Gottes, der in der Eucharistie verehrt wird, sondern ein Botschafter aus dem Äon der Barbêlô, gesandt von der höchsten Gottheit (Barbêlô ist eine weibliche oder androgyne Gottheit, eine aus der höchsten gnostischen Hierarchie, wenngleich nicht selbst die höchste Gottheit)� Da Judas sich würdig erwiesen hat, weitere gnōsis zu erhalten, nimmt Jesus ihn beiseite: „Da aber Jesus wusste, dass er an das übrige Erhabene dachte, sprach er zu ihm: ,Trenne dich von ihnen, und ich werde dir die Geheimnisse des Königreiches sagen, nicht damit du dorthin gehst, aber du wirst mehr seufzen� Denn ein anderer wird an deinem Platz sein, damit die zwölf [ Jünger] wieder vollendet werden durch ihren Gott.“ (p. 35-36). Diese Stelle knüpft an das traditionelle Bild des Judas an, einschließlich seines Kummers, von dem in Mt 27 die Rede ist und der Nachwahl eines Jüngers an seiner statt zu Beginn der Apostelgeschichte� Dass aber Jesus Judas herausgreift und ihn zum exklusiven Empfänger von Offenbarung macht, ist völlig neu� Teil 2: Dialog zwischen Jesus und Judas. Der Schöpfungsmythos. Judas wird nun von seiner hoffnungslosen Verbindung mit den Jüngern befreit� Obwohl er einst an der Eucharistie teilgenommen hat, hat er mehr und mehr seinen Irrtum eingesehen und sich von den anderen zurückgezogen� Es ist dieser zweite Teil der Schrift, die allem Anschein nach das Versprechen des Prologs einlöst, dass Judas von Jesus geheime Offenbarungen erhält� Bei diesen Offenbarungen geht es schwerpunktmäßig um die Geschehnisse der Schöpfung� Es handelt sich freilich nicht um eine Schöpfung vertrauten Zuschnitts, da wie gesagt eine scharfe Unterscheidung zwischen der höchsten Gottheit und dem Schöpfergott vorausgesetzt ist� Es handelt sich um einen gattungstypischen gnostischen Offenbarungsdialog, entsprechend der Beschreibung gnostischen Denkens durch die frühesten Kirchenväter wie auch durch pagane Philosophen: Der Schöpfer der Welt ist nicht nur, ja nicht einmal unfähig, sondern schlicht böse, und deshalb ist die Welt, die von diesem bösen Schöpfer geschaffen wur- Das Judasevangelium 33 de, ihrerseits böse� Das Drama dieser Schöpfung beginnt in der reinen, guten Sphäre� Die Geschichte nimmt ihren Anfang mit einer großen Wolke aus Licht, wahrscheinlich eine Repräsentation des „Großen Unsichtbaren Geistes“, und von dieser Wolke geht ein großer Engel aus, genannt „Autogenes“ (ein griechischer Name, der „selbsterzeugt“ bedeutet)� Er heißt „Licht-Gott“ und ist damit eine eigene Figur, die die höchste Realität des Heiligen repräsentiert� Dieser Autogenes erschafft nun seinerseits eine Anzahl von himmlischen „Lichtern“ (die Bezeichnung der Genesis für Sonne und Mond), Myriaden von Engeln zu seinen Diensten und, kennzeichnend für gnostische Schöpfungsmythen, die „Äonen“� Diese Äonen sind himmlische Sphären oder Zeitzonen mit einem Abwärtsdrall: Sie sind zugleich quasi-personale göttliche Wesen und zwölf von ihnen verbinden sich beispielsweise zur Bildung eines Nachkommen des Autogenes, des himmlischen Urmenschen „Adamas“� Dieser Adamas lässt weitere Kreaturen ins Sein treten und auch die Lichter generieren weitere Lichter� Diese verwickelte Ereignisfolge ist der erste Teil des „Mythos“ des Judasevangeliums: „[Komm,] damit ich dich belehre über die […] sie (pl) sehen wird das menschliche Ge[schlecht]. Denn es existiert ein großer und unendlicher Äon, dessen Maß (noch) kein Engelsgeschlecht gesehen hat, [in dem der] große unsichtbare [Geist ist,] den kein Engelsauge je gesehen und kein Herzensgedanke je erfasst hat und der mit keinem Namen je benannt worden ist. Und es offenbarte sich an jenem Ort eine Lichtwolke� Und er ( scil � der Geist) sprach: ,Es möge ein Engel entstehen zu meinem Beistand�‘ Und es kam ein großer Engel heraus aus der Wolke, der Autogenes, der Gott des Lichts und es entstanden seinetwegen vier weitere Engel aus einer anderen Wolke� Und sie entstanden zum Beistand des Engel Autogenes� Und der Autogenes sprach: ,Es möge A[damas] entstehen‘. Und es geschah, [wie er gesagt hatte]. Und er erschuf den ersten Erleuchter, um über ihn zu herrschen� Und er sprach: ,Es mögen Engel entstehen zu seiner Verehrung‘. Und es entstanden zehntausende ohne Zahl. Und er [sprach]: ,Es möge entstehen ein lichter Äon! ‘ Und er entstand� Er errichtete den zweiten Erleuchter, um über ihn zu herrschen, und zehntausende von Engeln ohne Zahl zur Verehrung� Und auf diese Weise hat er die übrigen Äonen des Lichts erschaffen und ließ sie über sie herrschen� Und er erschuf für sie zehntausende von Engeln ohne Zahl zu ihrer Unterstützung.“ (p. 47-48). Dieser Passus vermittelt einen Eindruck von der Offenbarung, die im Judasevangelium enthalten ist� Bis hierher sind wir auf zwei hauptsächliche Unterschiede zwischen dieser Schöpfungsdarstellung und derjenigen der Genesis gestoßen� Erstens konzentriert sich die Darstellung nicht auf das schöpferische Handeln einer einzelnen Figur, nämlich Gott� Sie gleicht eher einer Genealogie: A erschafft B, welcher C erschafft, und so weiter� Zweitens ist unser gnostischer Autor der Ansicht, dass der Verfasser der Genesis voreilig auf die Erschaffung 34 Simon Gathercole des materiellen Kosmos zu sprechen gekommen sei� Bereits vorher müsse es, wie einige von Platon beeinflusste Theologen meinten, eine ideale himmlische Welt gegeben haben, bevor die irdische Welt nach ihrem Bild geformt ins Dasein treten konnte� Aber es gibt noch weitere Abweichungen von der biblischen Version der Schöpfungsgeschichte� An einer Stelle innerhalb der Kaskade an Schöpfungsakten ist etwas schief gelaufen, ein gemeinsames Thema aller gnostischer Schöpfungsdarstellungen, entweder als eine Art Sündenfall, wahrscheinlicher aber eine alternative gnostische Erklärung des Bösen, nicht als singulärer Fall, sondern ein graduelles Schwächerwerden des Lichts, je größer der Abstand zur ursprünglichen Quelle der Lichtwolke wird� Nach den ersten Schöpfungsakten begegnen wir dem Kosmos - nicht die materielle Welt, denn wir befinden uns noch immer in den Sphären der himmlischen Formen der irdischen Welt, die nach diesen Formen gestaltet wird� Gleichwohl: Bereits dieses archetypische Urbild ist verdorben� Das Judasevangelium nennt den Kosmos „Verderben“ (p� 50)� Die Erschaffung der materiellen Welt und der Menschen ist deshalb nicht das Werk der obersten Gottheit� Vielmehr sind hierbei Akteure ganz anderer Art beteiligt: „[… D]anach sprach […]: ,Es mögen entstehen zwölf Engel [um zu] herrschen über das Chaos und die [Unterwelt]‘. Und siehe, es erschien ein [Engel] aus der Wolke, dessen Gesicht Feuer sprühte, seine Gestalt aber war von Blut be[fleckt], wobei er den Namen ,Nebro‘ trug, welchen man mit ,Abgefallener‘ übersetzt hat, andere aber mit ,Ialdabaôth‘� Und noch ein weiterer Engel namens Saklas kam aus der Wolke� Nebro also erschuf sechs Engel, und Saklas (tat ebenso? ), zum Beistand� Und diese brachten zwölf Engel in den Himmeln hervor, und sie empfingen jeder ihren Teil in den Himmeln�“ (p� 51)� Wir erfahren sodann, dass diese dämonische Figur namens Saklas derjenige war, der das erste Paar erschaffen hat: „Daraufhin sprach Saklas zu seinen Engeln: ,Lasst uns einen Menschen erschaffen nach dem Gleichnis und dem Bild�‘“ (p� 52)� Adam und Eva sind also nicht Geschöpfe des gutartigen höchsten Gottes wie in der Genesis� Sie haben in der Sequenz der Erschaffungen ihren Platz nach den Herrschern der Unterwelt und des Chaos, die alle von der bösen Gottheit Saklas (das aramäische sakla heißt „Dummkopf “) und seinen angelischen Lakaien hervorgebracht wurden� Wie in der Genesis bilden Adam und Eva den Abschluss der Schöpfungswerke, aber im Judasevangelium sind sie nicht die Krone der Schöpfung, sondern sie werden zuletzt geschaffen, weil sie der Abschaum sind� Um aber zu angenehmeren Dingen zurückzukehren: Nebenbei haben wir bereits die schöpferischen Aktivitäten des Adamas angesprochen� In der Genesis ist Adams wahrer Erbe Seth, durch den die Menschheit sich fortpflanzt� Das Judasevangelium 35 Adamas, das himmlische Gegenstück zu Adam, hat seinerseits einen himmlischen Sohn namens Seth, und im Judasevangelium wie auch anderswo in der gnostischen Tradition ist er der erste der großen, heiligen Generation, von der Jesus im ersten Teil des Evangeliums spricht� Die Nachkommen von Adamas und Seth sind nichts geringeres als das wahre himmlische Selbst der kleinen Gruppe der gnostischen Jünger� Die wahre, heilige Generation, die die korrupte „apostolische Kirche“ spirituell weit überragt, hat ihre wirkliche Identität in den urzeitlichen Geistern, die von Adamas abstammen� Dies ist das Hauptthema des Judasevangeliums: Dass die materielle geschaffene Welt böse ist und dass unser wahres, geistliches Selbst in diesem materiellen Körper gefangen ist, der eigentlich gar nicht zu uns gehört� „Erkenntnis“ ( gnōsis ) ist der Weg, den Körper zu transzendieren und mit der höchsten, guten Gottheit durch die mentale Aktivität zu kommunizieren, die sich über die materielle Sphäre empor zu schwingen vermag� Der Umstand, dem das Evangelium seine Berühmtheit verdankt, dass nämlich Judas Empfänger der Offenbarung ist, ist im Evangelium selbst nicht von entscheidender Bedeutung� Gleichwohl: Judas erweist sich als Priester des „Großen Unsichtbaren Geistes“ und er unterscheidet sich darin von den Jüngern, die korrupte Priester in jenem Tempel sind, den die Jünger in ihrer Vision am dritten Tag geschaut haben� Judas bringt das ultimative „Opfer“ dar, während die anderen Jünger diejenigen sind, die „dem Saklas Opfer darbringen“, so Jesus zu Judas: „Derjenige, der mich trägt, wird morgen gequält werden� Amen, ich sage euch: Nicht wird eine Hand eines sterblichen Menschen sich an mir vergehen (…)� Du aber wirst sie alle übertreffen� Denn du wirst den Menschen, der mich trägt, opfern“ (p� 56)� Bemerkenswert ist die strikte Unterscheidung zwischen dem „wirklichen“ Jesus und seinem physischen Körper, der ihn lediglich „trägt“, vergleichbar einem Fahrzeug� Diejenigen, die in die Kreuzigung Jesu involviert sind, unterliegen also einer Täuschung, wenn sie denken, dass sie Jesus Schaden zufügen, wo sie dieses doch tatsächlich keineswegs tun� Was allerdings geschieht, ist dies, dass Judas den Körper, der den Geist Jesu herumträgt, „opfert“, mit der Folge, dass Judas eine eminente Statussteigerung erfährt: Er ist nun den anderen elf Jüngern, die den Saklas verehren, weit überlegen� Einige Ausleger verstehen den Text sogar so, dass er zur großen Wolke aufsteigen wird wie ein wahrer Gnostiker� Diese Frage hat die Forschung zum Judasevangelium schon früh beschäftigt: Andere sehen in Judas im Gegenteil einen Dämon, der die niedrigsten Kreise des Infernos anführte� Es verhält sich wohl so, dass er eine Mittelposition zwischen den wahren Gnostikern und den inferioren Lakaien des Saklas innehat, die Jesus den „dreizehnten Äon“ nennt� 36 Simon Gathercole Epilog: Der Verrat (p. 58) Nach der schwer verständlichen Offenbarung an Judas und der abschließenden Anrede Jesu an ihn kehrt die Handlung zurück zu Ereignissen, die uns aus den kanonischen Evangelien vertrauter sind: Die Hohepriester waren empört darüber, dass er, Jesus, sich zum Gebet in sein Quartier zurückgezogen hatte� Einige der Schriftgelehrten lauerten ihm dort auf, um ihn beim Gebet zu verhaften� Sie fürchteten nämlich die Bevölkerung, die ihn durchweg für einen Propheten hielt� Und sie drangen bis zu Judas vor und sprachen ihn an: „Was tust du an diesem Ort? Du bist (doch) der Jünger Jesu! Er aber antwortete ihnen gemäß ihrem Willen� Judas aber empfing Geld und überlieferte ihn an sie�“ (p� 58)� So endet das Judasevangelium� Der Verrat selbst wird nur ganz kurz erwähnt, und das Ende ist dementsprechend abrupt� Die Hohepriester suchen nach einer Möglichkeit, Jesus zu verhaften, sind aber auch nervös wegen seiner Populatität bei den Leuten, die in ihm einen Propheten sehen� Sie wenden sich an Judas, der sich von ihnen bezahlen lässt und Jesus ausliefert� Ende der Geschichte� Das wirkt, wenn man mit den neutestamentlichen Evangelien und ihren ausführlichen Schilderungen von Kreuz und Auferstehung vertraut ist, merkwürdig� Aber diese evidente Antiklimax des Judasevangeliums macht deutlich, worum es nach den Worten des Prologs geht: Nicht um historische Ereignisse, sondern um „das geheime Wort der Offenbarung“� Titel (p. 58) Der Titel, „Das Evangelium des Judas“, ist keine moderne Erfindung, sondern derjenige Titel, der, wie in koptischen Texten weithin üblich, am Ende der Handschrift selbst notiert ist� Die „gute Nachricht“ bzw� das „Evangelium“ besteht nicht darin, das Jesus für unsere Sünden stirbt, sondern in der Zueignung der „Erkenntnis“, die an mehreren Stellen im Text erwähnt wird und die von Jesus an Judas besonders in der langen Unterweisung über das Wesen der Welt und der Erlösung gegeben wird� Mit der Wahl des Titels „Evangelium“ reiht sich das Werk unter kanonische wie nichtkanonische Schriften derselben Gattung ein� Wir wissen nicht, wieviele Jesus-Darstellungen vor dem Judasevangelium verfasst wurden, aber man kann wohl davon ausgehen, dass sein Verhältnis zu diesen anderen Texten recht unterschiedlich war� Es will erkennbar die kanonischen Evangelien weit hinter sich lassen, stand aber gewiss in freundlicheren Relationen mit anderen gnostischen Evangelien wie etwa dem Ägypterevangelium� Das Judasevangelium 37 Zur Bedeutung des Judasevangeliums Wir haben bereits die Aufregung angesprochen, die die Publikation des Judasevangeliums ausgelöst hat� Für viele ist es nicht einfach eine weitere gnostische Schrift, die in einem ägyptischen Kodex enthalten ist� Wir besitzen davon eine ganze Menge aus derselben Zeit und doch waren etwa der Zostrianos , die Hypsiphronē oder die Dreigestaltige Protennoia zu keiner Zeit Thema für aufsehenerregende Bücher, die über Wochen auf der Bestseller-Liste der New York Times standen� Fraglos hat das Judasevangelium in gewissem Maße das öffentliche Interesse erregt und zugleich auch nicht geringe Aufmerksamkeit in der Forschung auf sich gezogen� Gleichwohl ist so manche Behauptung seiner Bewunderer mit einer gewissen Vorsicht zu genießen� Wir werfen zunächst einen Blick auf Themen, für die das Judasevangelium direkt etwas austrägt, und wenden uns dann zurück bis in die Zeit Jesu� Das Judasevangelium und der Gnostizismus Eine der kompliziertesten Fragen in der Geschichte des frühen Christentums ist der gnostische Schöpfungsmythos, von dem wir weiter oben eine Momentaufnahme erhalten haben� Wo hat er seinen Ursprung? Ist er von Hause aus jüdisch, pagan oder christlich? Wie hat er sich entwickelt? Wir kennen diesen Mythos aus den erhaltenen Quellen in mehreren Versionen, in Irenäus’ Adversus haereses , in den verschiedenen Fassungen des Johannesapokryphons und in den bei Nag Hammadi neu entdeckten Texten wie etwa dem Eugnostosbrief oder dem Ägypterevangelium 13 � Nun betritt also das Judasevangelium die Szene: Diejenigen, die die Idee einer bereits vorchristlichen gnostischen Mythologie favorisieren wie etwa Marvin Meyer, sind besonders an der Frage interessiert, zu welchen Anteilen das Judasevangelium auf „jüdische gnostische Überlieferung“ zurückgeht 14 � Andererseits haftet das Interesse derjenigen Forscher, die von der Theorie ein vorchristlichen jüdischen Gnosis nicht überzeugt sind, mehr an einer Verortung des Judasevangeliums im Blick auf die Ausprägungen dieses Mythos, wie sie im 2� Jh� greifbar sind� „Gnostizismus“ und „Christentum“ im 2. Jh. Die Neubewertung des Gnostizismus in der vorigen Generation hat dezidiert die Position vertreten, dass Gnostiker genauso wie orthodoxe Christen waren, mit beiden Gruppen als Teil des großen Schmelztiegels frühchristlicher Glaubensweisen� Schwierig ist daran, dass allzu oft keine der beiden Seiten die jeweils 13 Vgl� hierzu die eindringliche Darstellung von A� Logan, Gnostic Truth and Christian Heresy: A Study in the History of Gnosticism (Edinburgh: T&T Clark, 1996)� 14 M. Meyer, ‘Introduction’, in Kasser et al., Gospel of Judas, pp. 1-16 (10). 38 Simon Gathercole andere als Teil derselben Bewegung anerkannt hat� Beispielsweise hat Irenäus die Gnostiker keinesfalls als Christen anerkannt und ebenso waren die Gnostiker nicht der Auffassung, dass sie zusammen mit den „Orthodoxen“ eine einzige (wenngleich unglückliche) Familie bildeten� Wenn man diese Gruppen sämtlich unter die eine Kategorie des Christlichen fasst, bedient man damit gegenwärtige ideologische Absichten (die freilich auch dort vorliegen, wo man auf einer Trennung beharrt), trägt aber wenig zum Verständnis des Phänomens bei� Dabei ist gerade das Judasevangelium ein interessantes Beispiel für die Tendenz, den hässlichen Graben zwischen Gnostikern und Orthodoxie im 2� Jh� zu betonen� Die „Großkirche“ wird, wie wir sahen, als korrupt verspottet� Es ist bemerkenswert, dass Jesus einen zentralen Platz im Evangelium einnimmt, zugleich aber von einer anderen Figur, genannt „Christus“ deutlich abgesetzt wird� Dieser Titel bezieht sich im Judasevangelium auf einen der von Saklas geschaffenen bösen Götter der Unterwelt� Die Referenzen Jesu als jüdischer Messias sind damit vom Tisch gewischt zugunsten seiner Rolle als gnostischer Offenbarer� Das Judasevangelium und das christliche Kerygma Dieses neue Evangelium nimmt, wie wir sahen, einen unkonventionellen Standpunkt gegenüber den traditionellen christlichen Positionen der ersten beiden Jahrhunderte ein� Dies wird beispielweise deutlich anhand der paulinischen Zusammenfassung des christlichen Kerygmas in 1Kor 15,3 f�, „dass Christus gestorben ist für unsre Sünden nach der Schrift, und dass er begraben worden ist, und dass er auferweckt worden ist am dritten Tage nach der Schrift“� Die entscheidenden Elemente des Evangeliums, die Paulus hier präsentiert, sind im Judasevangelium kaum mehr wiederzuerkennen� Jesus ist, wie wir sahen, vor allem nicht „der Christus“� Außerdem stirbt Jesus nicht wirklich, vielmehr ist sein Körper nur etwas, das nur lose mit ihm verbunden ist� Folglich kann er auch nicht auferweckt werden und für einen Gnostiker wie den Verfasser des Judasevangeliums ist der Gedanke, Jesus könnte erneut mit einem physischen Körper verbunden werden, nachdem sein vorheriger Körper gestorben ist, nicht im mindesten erstrebenswert� Was die heilvollen Ereignisse betrifft, die von Jesus „gemäß den Schriften“ ins Werk gesetzt wurden, so passen auch diese ganz und gar nicht zum Judasevangelium� Wie sich zeigte, macht dieses Evangelium Gebrauch vom Alten Testament, besonders von der Schöpfungserzählung in Genesis 1 f� Aber dieser „Gebrauch“ bedeutet, diese gegen den Strich zu lesen und sie im Wesentlichen neu zu schreiben� Unter den Nag-Hammadi-Texten gibt es eine auch im Berliner Kodex enthaltene Schrift mit dem Titel „Apokryphon (d� h� geheimes Buch) des Johannes“, das dem Judasevangelium theologisch sehr nahe steht� Dieses Apokryphon des Johannes macht ebenfalls ausführlich Gebrauch vom biblischen Buch Genesis, fügt aber bei der Schöpfungserzählung Das Judasevangelium 39 mehrfach die Bemerkung, „Es ist nicht so, wie Mose sagte“, ein� Der Verfasser des Judasevangeliums hätte dem völlig zugestimmt� In den kanonischen Evangelien finden wir die traditionelle christliche Botschaft von Jesu Tod und Auferstehung nach den Schriften klar widergespiegelt� Im Judasevangelium werden dagegen zentrale Elemente dieser Botschaft unterminiert� Hinweise auf das erste christliche Jahrhundert? Es ist in der Forschung zum Judasevangelium aktuell weithin anerkannt, dass die Chancen, diese Schrift könnte auf das 1� Jh� zurückgehen oder uns gar Nennenswertes darüber sagen, äußerst gering sind� Der praktisch flächendeckende Konsens geht dahin, dass das Judasevangelium in die Mitte des 2� Jh�s gehört� Hierfür sprechen aus Sicht der Mehrheit der Forschenden vor allem Motive wie „Äon“, sowie Figuren wie Barbêlô, Autogenes und Adamas, sämtlich wichtige Bestandteile der Gnosis des 2� Jh�s, jedoch unbekannt im 1� Jh� Zu den Indizien, die von der Forschung bereits namhaft gemacht wurden, lässt sich noch das Bild der Kirche ergänzen, wie es im Judasevangelium vorausgesetzt ist� Wir erwähnten bereits die Tempelvision, in der die Jünger ihrer selbst als verkommene Priester ansichtig werden� Hier werden die Autoritäten der entstehenden orthodoxen Kirche als Priester dargestellt, die in einem Tempel an einem Altar Opfer darbringen� Diese Zeichnung des christlichen Gottesdienstes ist vor dem Ende des 1� Jh�s schwer vorstellbar� In einem anfänglichen Stadium finden wir dies im 1� Klemensbrief und der Didache, christlichen Schriften vom Ende des 1� und beginnenden 2� Jh�s Gregor Wurst hat sich dafür ausgesprochen, dass die Trennung des Judas von den übrigen Jüngern und seine anschließende Ersetzung durch einen anderen zeigt, dass unser Verfasser die Darstellung der Apostelgeschichte von der Nachwahl des Matthias kannte, und er dürfte damit recht haben 15 � Noch deutlicher ist möglicherweise die Abhängigkeit des Judasevangeliums vom Matthäusevangelium� Allem Anschein nach hat die matthäische Bearbeitung des Markusstoffs am Ende des Werkes das Judasevangelium beeinflusst: „Einige der Schriftgelehrten lauerten ihm dort auf, um ihn beim Gebet zu verhaften� Sie fürchteten nämlich die Bevölkerung, die ihn durchweg für einen Propheten hielt.“ (p. 58; vgl. Mt 21,46). Ein anderer Hinweis liegt mit der der im Judasevangelium verwendeten Phrase „Weg der Gerechtigkeit“ vor, die im Neuen Testament nur in Mt 21,32 vorkommt� Weitere Beispiele wären zu 15 G� Wurst, ‘Irenaeus of Lyon and the Gospel of Judas’, in Kasser, et al� eds, The Gospel of Judas, pp. 121-135 (132-133). Die Parallelen beziehen sich auf Apg 1,21-26 und p. 36 des Kodex� 40 Simon Gathercole ergänzen� 16 Das Judasevangelium ist deshalb später als das Matthäusevangelium zu datieren, was die Sicht stützt, dass es sich um ein Werk des 2� Jh�s handelt� Hinweise auf Jesus? Vorausgesetzt, dass das Judasevangelium nicht im 1�, sondern im 2� Jh� entstanden ist, wird die Annahme schwierig, dass es Traditionen über Jesus enthalten könnte, die von den vier neutestamentlichen Evangelien unabhängig sind� Die Augenzeugen des irdischen Wirkens Jesu sind zur Zeit der Abfassung des Judasevangeliums längst tot� Die Distanz zwischen dieser Schrift und dem historischen Jesus wird dort besonders deutlich, wo sie Jesus vom Judentum abtrennt� Jesus erscheint in keiner Weise als Erfüllung jüdischer Heilserwartungen, noch ist Jesu Jude-Sein irgendwo integraler Bestandteil seiner Persönlichkeit� Tatsächlich zeigt seine Persönlichkeit noch nicht einmal menschliche Züge� Dies ist ein anderes theologisches Thema, an dem deutlich wird, dass sich der Jesus des Judasevangeliums weit von seinen jüdischen Wurzeln entfernt hat� Die uns bereits geläufige Bestimmung des Judas, den Mann zu opfern, der Jesus lediglich „herumträgt“, macht hinreichend deutlich, dass wir es im Judasevangelium mit einer nicht-humanen Christologie zu tun haben: Jesus ist kein wirklicher, jüdischer Mensch, sondern er bleibt ein reiner göttlicher Geist, der von menschlichem Fleisch in keiner Weise affiziert wird, auch dann nicht, als er auf Erden Offenbarung kundtut� Dementsprechend sagt das Judasevangelium auch nichts über die liebende Selbsthingabe Jesu am Kreuz� Tatsächlich ist dies etwas, das mir bei der Abfassung meines eigenen Buches über das Judasevangelium plötzlich klargeworden ist: In der ganzen Schrift geht es nicht an einer einzigen Stelle um Liebe, sei es göttliche oder menschliche� Fazit Das Judasevangelium bietet uns, wie wir sahen, einen faszinierenden Einblick in die turbulente Beziehung zwischen Christentum und Gnostizismus im 2� Jh� n� Chr� und seine Präsentation des gnostischen Schöpfungsmythos wird jene tapferen Seelen, die sich vorgenommen haben, seine Entwicklung zu erforschen, sicherlich vor zusätzliche Herausforderungen stellen� Man sollte freilich äußerst zurückhaltend gegenüber der Behauptung sein, dass es uns „neue Wege zu unserem Verständnis Jesu (…) eröffnen wird“� Wir finden hier wenig, das als historisch zuverlässig gelten kann� Nichts von dem, was im Judasevangelium neu ist, kann vernünftigerweise als historisch fundiert gelten� Schließlich ist es 16 Vgl� hierzu meine Überlegungen in Simon Gathercole, The Gospel of Judas (Oxford: Oxford University Press, 2007), 132-149. Das Judasevangelium 41 schwer vorstellbar, dass Leserinnen und Leser des 21� Jh� seine Vision von einem irgendwie lieblosen, seinem Körper enthobenen Jesus in irgend einer Weise theologisch attraktiv finden könnten� Weiterführende Lektüren H� Krosney, Das verschollene Evangelium: Die abenteuerliche Entdeckung und Entschlüsselung des Evangeliums des Judas Iskarioth, Wiesbaden 2006 (Die offizielle Darstellung des National Geographic Magazins über die Entdeckung und die Geschichte der Handschrift)� R� Kasser / M� Meyer / G� Wurst (Hg�), Das Evangelium nach Judas, Wiesbaden 2006 (Deutsche Übersetzung des Textes und Essays zu Fragen der Textinterpretation)� S� Gathercole, The Gospel of Judas, Oxford 2007 (Englische Übersetzung mit gemeinverständlicher Einleitung und Kommentar)� H�-G� Bethge / J� Brankaer, Codex Tchacos: Texte und Analysen, Berlin 2007 (Koptischer Text mit paralleler deutscher Übersetzung und ausführlichem wissenschaftlichem Kommentar)� Nag Hammadi Deutsch: Studienausgabe� Eingeleitet und übersetzt von Mitgliedern des Berliner Arbeitskreises für Koptisch-Gnostische Schriften, Berlin 2007 (Dem Judasevangelium verwandte Texte in deutscher Übersetzung)� C� Markschies, Die Gnosis, München 2011 (Eine kurze und erschwingliche Einführung zu den maßgeblichen Gestalten aus dem 2� Jh und aus späterer Zeit, die eine Theologie der Erlösung durch gnōsis bzw� Wissen propagiert haben)� B� Aland, Die Gnosis, Stuttgart 2014 (Eine weitere kurze Einführung in die Gnosis)�