eJournals ZNT – Zeitschrift für Neues Testament 21/41

ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
2018
2141 Dronsch Strecker Vogel

Mehr als ein Verräter

2018
Martin Meiser
8 Martin Meiser und Kunst� 3 Die Verknüpfung seines Handelns mit dem Geschick Jesu sichert den Bekanntheitsgrad dieser Figur, die Lückenhaftigkeit der neutestamentlichen Texte gibt der Phantasie den Weg zur Ergänzung und Entfaltung frei� Der Name „Judas“ erinnert aber auch an Irritationen hinsichtlich des Gottes- und des Christusbildes� „Brauchte Gott den Verräter? “ 4 Brauchte er den Kreuzestod Jesu, um die Menschen zu erlösen? 5 Warum hat Gott nicht zugunsten von Jesus und von Judas eingegriffen? Wenn Gott die Tat vorher gewusst hat, warum hat er sie nicht verhindert? Hat Jesus seinen Jünger absichtlich ins Verderben geraten lassen? Mit Hilfe dieser Fragen kann moderne Literatur auch Kirchenwie Christentumskritik formulieren 6 , zumeist unter positiver Bewertung der Gestalt des Judas� Mit Hilfe einer positiv gedeuteten Judasfigur portraitieren jüdische Autoren ihr Jesusbild 7 und setzen sich kritisch mit dem Christentum auseinander� Aber auch innerchristliche Selbstkritik kann aus dem Motiv seiner Reue (Mt 27,3) gefolgert werden� 8 Neuere exegetische und theologische Literatur macht sich das altkirchlich häufige Verdammungsurteil über Judas zu Recht nicht zu eigen, weil es einen unberechtigten Eingriff des Menschen in eine Sphäre darstellt, die ihm verschlossen bleiben muss� An Mt 7,1 ist ebenfalls zu erinnern� Die neutestamentliche Zeichnung der Judasfigur setzte, wie vieles andere im Neuen Testament, aber auch eine antijüdische Wirkungsgeschichte aus sich heraus. Ab dem 4. Jh. steht Judas für die Juden; nicht selten wird seine Reue (Mt 27,3) positiv von ihrer angeblich fehlenden Einsicht abgesetzt� In mittelalterlicher Malerei wird Judas nicht nur mit hässlichen, sondern mit typisch jüdischen Gesichtszügen gezeichnet, vor allem mit der krummen Hakennase; das gelbe Gewand wird im 15� Jh� zur Darstellung des „typisch Jüdischen“� Die nationalsozialistische Propaganda knüpft unmittelbar an diese Portraitierung 3 G� Schiller, Ikonographie der christlichen Kunst, Bd� 2: Die Passion Christi, Gütersloh 1968; H. Jursch, Das Bild des Judas Ischarioth im Wandel der Zeiten, in: Akten des VII� internationalen Kongresses für Christliche Archäologie, Trier 1965, SAC 27, Rom 1969, 565-573; B. Monstadt, Judas beim Abendmahl: Figurenkonstellation und Bedeutung in Darstellungen von Giotto bis Andrea del Sarto, Beiträge zur Kunstwissenschaft 57, München 1995; I. Westerhoff-Sebald, Der moralisierte Judas. Mittelalterliche Legende, Typologie, Allegorie im Bild. Diss phil. Zürich 1996; A.-M. Reichel, Die Kleider der Passion. Für eine Ikonographie des Kostüms, Diss� phil� Berlin 1998� 4 So die Titelformulierung des Buches von W� Fenske, Brauchte Gott den Verräter? Die Gestalt des Judas in Theologie, Unterricht und Gottesdienst, Dienst am Wort 85, Göttingen 1999� Vgl� auch H� Levin Goldschmidt / M� Limbeck (Hrsg�), Heilvoller Verrat? Judas im Neuen Testament� Mit einem Geleitwort von Anton Vögtle, Stuttgart 1976� 5 Vgl� T� Moser, Gottesvergiftung, st 533, Frankfurt (Main) 1976, 20 f� 6 W� Jens, Der Fall Judas, Stuttgart 1975� 7 A� Oz, Judas� Aus dem Hebräischen von Mirjam Pressler, Frankfurt (Main) 3 2015� 8 K� Marti, abendland, in: ders�: abendland� Gedichte (1980), Hamburg / Zürich 1993, 18� Mehr als ein Verräter 9 des Judas an� 9 Heute verantwortlich von Judas zu reden setzt den Einbezug auch dieser Dimension des Themas voraus� Im Gegensatz zu diesen Thematisierungen, die auf existentiell belastendes verweisen, ist die wissenschaftliche Auseinandersetzung um die Judasgestalt 10 eher ruhig; auch die früheren Zweifel an der Historizität der Gestalt 11 sind heute kaum mehr von Bedeutung� Das ist kein Effekt einer Selbstverschließung von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern vor den genannten existentiellen Fragen, sondern der Eigenart der Texte geschuldet, die historisch nicht viel hergeben, exegetisch nur wenig Dissens hervorrufen� 9 M� Kübler, Das abendländische Judasbild und seine antisemitische Instrumentalisierung im Nationalsozialismus (Schriften der Hans Ehrenberg-Gesellschaft 15), Frankfurt (Main) 2007, passim� 10 W� Vogler, Judas Iskarioth� Untersuchungen zu Tradition und Redaktion von Texten des Neuen Testaments und außerkanonischer Schriften, ThA 42, Berlin 1983; K. Lüthi, Art. Judas I� Das Judasbild vom Neuen Testament bis zur Gegenwart, in: TRE 17, 1986, 296-304; H�-J� Klauck, Judas - ein Jünger des Herrn, QD 111, Freiburg 1987; G. Schwarz, Jesus und Judas� Aramaistische Untersuchungen zur Jesus-Judas-Überlieferung der Evangelien und der Apostelgeschichte, BWANT 123, Stuttgart u. a. 1988; R. E. Brown, The Death of the Messiah� From Gethsemane to the Grave� A Commentary on the Passion Narratives in the Four Gospels, The Anchor Bible Reference Library, Vol� II, New York u. a. 1994, 1394-1418 (Exkurs Judas); C. Böttrich, Judas Iskarioth zwischen Historie und Legende, in: Gedenket an das Wort, FS W. Vogler, Leipzig 1999, 34-55; W. Fenske, Brauchte Gott den Verräter? Die Gestalt des Judas in Theologie, Unterricht und Gottesdienst, Dienst am Wort 85, Göttingen 1999; U. Luz, Das Evangelium nach Matthäus, 4. Teilband, Mt 26-28 (EKK I / 4), Düsseldorf / Zürich / Neukirchen 2002 (Exkurs Judas, auch reichhaltig zur Wirkungsgeschichte: S. 245-263); M. Meiser, Judas Iskariot. Einer von uns, BG 10, Leipzig 2004; H� E� Lona, Judas Iskariot - Legende und Wahrheit, Freiburg 2007� 11 G� Schläger, Die Ungeschichtlichkeit des Verräters Judas, ZNW 15 (1914), 50-59; M. Plath, Warum hat die urchristliche Gemeinde auf die Überlieferung der Judaserzählungen Wert gelegt? , ZNW 17 (1916), 178-188 (185); H. Levin Goldschmidt, Das Judasbild im Neuen Testament aus jüdischer Sicht, in: ders./ Limbeck, Verrat? , 9-36, 26. Für heute vgl. H. Maccoby, Judas Iscariot and the Myth of Jewish Evil, New York u. a. 1992, 150-153. Prof. Dr. Martin Meiser, geb� 1957 in Bamberg, Assistent in Erlangen (1991-2001) und Mainz (2001-2005), Lehrstuhlvertreter in Münster (2005-2007), seit 2007 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Biblische Theologie an der Universität des Saarlandes, Saarbrücken� Mitarbeit an Septuaginta Deutsch (Samuelbücher) und am Novum Testamentum Patristicum (Galaterbrief); Erarbeitung von Kommentaren zum Galaterbrief und zum Markusevangelium� 10 Martin Meiser 1. Was lässt sich historisch erschließen? Als Quellen stehen uns nur die neutestamentlichen Texte zur Verfügung, die allerdings kritisch befragt werden müssen� Das sog� Judasevangelium 12 ist eine Schrift des 2� Jh�s und ist aufschlussreich für das Denken einiger Gruppen in dieser Zeit, trägt aber zur historischen Erschließung der Person des Judas nichts bei� 1.1. Name und Beiname des Judas Der Name Judas weist zurück auf Juda, den vierten der von Lea geborenen Söhne Jakobs (Gen 29,35), und ist - ähnlich wie der Name Saul - in frühjüdischer Zeit durchaus beliebt (vgl. 1Makk 3,1; Josephus, Bell II 118; Mk 6,3), obwohl von Juda nicht nur Gutes zu berichten ist (Gen 37, 25-26; Gen 38). Mit dazu beigetragen haben mag der sog� Jakobssegen über Juda Gen 49,10 f�: „Es wird das Zepter von Juda nicht weichen noch der Stab des Herrschers von seinen Füßen, bis dass der Held komme, und ihm werden die Völker anhangen�“ Dieser Text wurde in Qumran (4Q252 Frgm� 1 Kol� V) messianisch gedeutet� Über Herkunft und Deutung des Beinamens „Iskariot“ ist nach wie vor keine Klarheit zu gewinnen� 13 Noch am ehesten Einigkeit ist darüber zu erzielen, dass von den verschiedenen Formen (Iskariot Mk 3,19; Iskariotes; Skariot Mk 3,19 D) die Namensform Iskariot aufgrund ihrer semitischen Prägung am ehesten als ursprünglich anzusehen ist. Mk 14,43 kennt den Beinamen nicht; insofern ist die vorösterliche Herkunft nicht zweifelsfrei zu sichern� Die Deutung als „Mann der Lüge“ wäre aus seiner Tat heraus expliziert; der Beiname wäre damit erst nachösterlich entstanden� Allerdings bestehen philologische Bedenken: Es gibt zwar das Substantiv „der Falsche“, der „Lügner“ ( ’isch qari’ ) doch nicht das Substantiv s e kariot („Auslieferung“) oder q e riot („Lüge“); somit bliebe wiederum die Endung - ot ungeklärt� Ferner wäre angesichts der Aramäisch-Kenntnisse des Markus zu fragen, warum er den Beinamen nicht übersetzt� Die Deutung „Zelot“ kann den Anlaut in dem Beinamen nicht erklären� Auch hätte sich von dieser Deutung keine Spur in den diversen polemischen Debatten um Jesus und Judas erhalten� Die geographische Deutung „Mann aus Kirjoth“ hat als Bedenken gegen sich, dass der betreffende Ort im Alten Testament ( Jos 15,25), danach aber nicht mehr erwähnt wird, es somit unsicher ist, ob der Ort in der Zeit Jesu noch existiert hat� Der in Jer 48,24 genannten Ort „Karioth“ in Moab 12 Vgl� dazu den Beitrag von S� Gathercole in diesem Heft� 13 So auch Lona, Judas, 57; W. Klassen, Judas, Betrayer or Friend of Jesus? , Minneapolis (1996) 2 2005, 34; M. Wolter, Das Lukasevangelium (HNT 5), Tübingen 2008, 244, der dann doch, m� E� zu Recht, zur Deutung auf den Herkunftsort tendiert� Mehr als ein Verräter 11 wird immerhin von Eusebius von Caesarea erwähnt� 14 Die aus dem aramäischen herrührende Deutung „Mann aus Jerusalem (von aram� qit’a = Stadt) 15 hat gegen sich, dass Markus sie trotz seiner Aramäisch-Kenntnisse nicht verstanden hätte� Im Hinblick auf den (manchmal überpointiert wahrgenommenen) Gegensatz zwischen Galiläa und Judäa im Markusevangelium muss betont werden: Speziell als Judäer kommt Judas in den Blick� 1.2. Judas im Zwölferkreis Judas gilt von Anfang an als Mitglied des Zwölferkreises, den Jesus zur Sammlung des endzeitlich erneuerten Gottesvolkes Israel als Multiplikatoren seines Wirkens berufen hat. In den Auflistungen der Jünger Jesu (Mk 3,17-19; Mt 10,2-4; Lk 6,14-16; Apg 1,13 f.) wird Judas immer an letzter Stelle genannt und, anders als andere Jünger, stets durch den Hinweis auf seine Tat näher charakterisiert� Dass er innerhalb des Jüngerkreises die Funktion des Kassenverwalters innegehabt haben soll ( Joh 12,6), ist angesichts von Lk 10,4 („Tragt keine Tasche …“) kaum historisch zu sichern; Joh 12,6 ist aus dem Bemühen heraus formuliert, ihn von Anfang an als moralisch verdorben darzustellen; Mt 26,15 („Was wollt ihr mir geben …“) wies dazu die Richtung� 1.3. Die Tat des Judas Über die Tat des Judas ist letzte Gewissheit nicht zu gewinnen� Das griechische Verbum, mit dem sie immer bezeichnet wird ( paradidōmi ), heißt erst einmal nicht „verraten“, sondern „ausliefern“ (z� B� an ein Gericht, an die nächsthöhere Instanz)� Dieses Verbum wird im Übrigen auch von der Hingabe Jesu durch Gott (Röm 4,25; 8,32) wie von der Selbsthingabe Jesu (Gal 2,20; Eph 5,2.25) verwendet, aber auch (Mk 13,9) von der „Auslieferung“ von Christinnen und Christen an jüdische und römische Behörden (ähnlich auch Apg 8,3; 12,4; 21,11), zumeist aufgrund der Initiative aus dem privaten Umfeld� Das Handeln des Judas hat möglicherweise der Tempelpolizei und ihrem Verhaftungskommando den geräuschlosen Zugriff auf Jesus erleichtert� Der Kommandotrupp war so klein, dass die Jünger fliehen konnten und Petrus sogar sich in die Nähe des hohepriesterlichen Dienstsitzes wagte� Aber warum hat Judas das getan? Sein Verhalten lässt eine Distanzierung erkennen, aber in welche Richtung? Diskutiert wurden bisher u� a� folgende Möglichkeiten: 14 Eusebius von Caesarea, Onomasticon, GCS 11 / 1, 120� Theodoret von Kyros, in Ier�, PG 81, 721 B kommt bei der Behandlung von Jer 48,18-25 auf die Frage, ob Judas aus diesem Ort stammt, nicht zu sprechen� 15 So Schwarz, Jesus und Judas, 8-12. 12 Martin Meiser 1� Judas sah, u� a� aufgrund der Leidensankündigungen Jesu, dass seine eigene Erlösungshoffnung mit der Botschaft Jesu nicht zu vereinbaren war� 16 2� Judas hatte bis kurz vor seinem Übergang zu den Gegnern auf den Erweis der Messianität Jesu gehofft (etwa beim Einzug in Jerusalem? ), doch diese Hoffnung sah er enttäuscht; deshalb ging er zu den Gegnern über, um bei der Beseitigung Jesu zu helfen� 3� Judas bejahte bis zuletzt den Messiasanspruch Jesu und wollte noch in der Situation der Gefangennahme Jesus dazu nötigen, sich als Messias zu offenbaren; in Unkenntnis dieser Motivation hat die Urgemeinde Judas zu dem „Verräter“ gestempelt� 4� Judas konnte nicht gutheißen, dass Jesus nichts gegen die überschwängliche Verehrung seitens seiner Anhänger unternahm� 5� Judas wurde von Jesus damit beauftragt, ein Treffen mit den Jerusalemer Autoritäten zu arrangieren, und hoffte, dass sich Jesus mit ihnen über die Notwendigkeit der Erneuerung des Gottesvolkes und über die Vorgehensweise verständigen könnte� Als sie Jesus stattdessen an Pilatus auslieferten und dieser ihn zum Tode verurteilte, nahm sich Judas aus Verzweiflung und ungebrochener Liebe zu Jesus das Leben� 17 Fast alle der hier vorgestellten Konstruktionen haben zwei grundlegende methodische Schwächen: 1� Zumeist werden ohne kritische Prüfung einzelne Jesusworte, die die Konstruktion tragen sollen, als authentisch erklärt, u� a� die Leidensankündigungen (Mk 8,31-33 parr. etc.). Dagegen muss betont werden: Historisch ist es nicht möglich, eine „innere Entwicklung“ Jesu von erfolgreichen Anfängen in Galiläa hin zu konfliktgeladenen Phasen seines Wirkens zu konstruieren� So lässt sich auch für das Verhältnis zwischen Jesus und Judas keine Entwicklung nachzeichnen� 2� Die Möglichkeiten einer Distanznahme seitens des Judas sind, beachtet man religionsgeschichtlich die (nicht unbegrenzte) Pluralität des Judentums zur Zeit Jesu, durchaus vielfältig� Hat Judas Jesu jüdische Lebenspraxis als unvereinbar mit dem Willen Gottes empfunden? 18 Hatte Judas mit der Zeit ein anderes Verständnis von Erlösung gewonnen (in welche Richtung auch immer! ) 16 So wieder Lona, Judas, 69� 17 Klassen, Judas, 66-70; 202-207. Er hält Joh 13,27 („Was du tust, das tue bald“) für eine Äußerung des historischen Jesus� 18 Eine solche mögliche Begründung darf nicht verwechselt werden mit der historisch überholten und vor allem theologisch fragwürdigen pauschalen Kontrastierung Jesu gegenüber dem Judentum seiner Zeit� Der Konflikt zwischen Judas und Jesus muss als innerjüdisch möglicher Konflikt gedacht werden� Mehr als ein Verräter 13 als Jesus, von daher seinen Selbstanspruch angezweifelt und ihn deshalb den jüdischen Behörden als Verführer ausgeliefert? 19 Man muss sich das historische Szenario dessen vor Augen halten, wie Jesus überhaupt gewaltsam zu Tode kommen konnte� Gerade angesichts der an den jüdischen Hochfesten häufig aufgeheizten antirömischen Stimmung konnte die Hinrichtung eines Mannes sinnvoll sein, dessen Botschaft von der kommenden Gottesherrschaft politischer Nebentöne verdächtig war� Auch eine Tempeluntergangsprophetie (Mk 14,58) mag als destabilisierend empfunden worden sein� Der römische Präfekt, und nur er (vgl� Joh 18,31), hatte das Todesurteil auszusprechen, doch konnten sich, aus Sorge für das Land (! ), auch Mitglieder des Synhedrions dazu verstehen (die Mitwirkung des ganzen Gremiums ist historisch unwahrscheinlich), Jesus mit Antrag auf Anordnung und Vollzug der Todesstrafe dem Präfekten zu überstellen� Immerhin kam bei der Aktion gegen Jesus von Nazareth nur dieser selbst zu Tode, während Josephus mehrfach davon berichtet, dass auch die Anhänger eines von dem Römern gefangen gesetzten Messiasprätendenten zu Hunderten oder zu Tausenden umkamen� 20 In dieses Szenario könnte auch das Handeln des Judas integriert werden� Seine mögliche Mitbeteiligung an der Verhaftung Jesu 21 setzt voraus, dass er zum Zeitpunkt seiner Verhandlungen mit den jüdischen Oberen von diesen nicht (mehr) seinerseits als zelotische Gefahr empfunden wurde� Denkbar ist von daher, dass Judas ähnlich wie die Jerusalemer Führungsschichten in dem Selbstanspruch Jesu 22 bzw� in dem Verhalten seiner Anhänger den Anlass für eine mögliche Eskalation der jüdischen Volksstimmung vermutete� Diese Konstruktion 23 könnte wenigstens die offensichtlich äußerlich gesehen reibungslose Zusammenarbeit zwischen Judas und einigen Mitgliedern des jüdischen Sanhedrin erklären� Freilich bleibt auch diese Konstruktion nur ein Versuch, Judas und seine Tat zu verstehen� Ein gesichertes Wissen ist nicht zu erzielen� 19 So J� Klausner, Jesus von Nazareth, Berlin 2 1934, 71� 20 Ähnliches wird später auch von Jesus ben Ananias berichtet - ihn ließ der Präfekt allerdings als verrückten Einzelgänger laufen ( Josephus, bell� VI, 300-309). 21 Der Gang des Judas zu den Hohenpriestern bleibt historisch völlig im Dunkeln, vermutlich wurde er aus der Anwesenheit des Judas bei den Gegnern Jesu während seiner Verhaftung erschlossen ( J� Gnilka, Das Matthäusevangelium, II� Teil� Kommentar zu Kap. 14,1-28,20 und Einleitungsfragen [HThK I / 2], Freiburg 1988, 392)� 22 Dass Judas den Selbstanspruch Jesu, dass sich in seinem eigenen Wirken die Gottesherrschaft Bahn breche, nicht verstanden oder bewusst missdeutet haben soll, ist m� E� unwahrscheinlich und eine unnötige zusätzliche Hypothese� 23 Die hier vorgelegte Hypothese kommt der unter Nr� 4 genannten Konstruktion am nächsten; sie berührt sich ebenfalls mit populären Auffassungen, die auf diese Weise die eigenen Anfragen an das Christentum formulieren� Meine Aufstellungen sind allerdings unabhängig von diesen Auffassungen entstanden� 14 Martin Meiser 1.4. Das Ende des Judas Über das Lebensende des Judas liegen im Neuen Testament zwei Berichte vor, deren Gemeinsamkeit nur darin besteht, dass der Tod des Judas mit einem bestimmten Grundstück in Verbindung gebracht wird. Mt 27,3-10 erzählt von der Reue des Judas, seinem Suizid am Vorabend des Todes Jesu und dem Kauf des Grundstücks durch die jüdischen Eliten, Apg 1,15-20 von einem tödlichen Sturz auf dem von ihm selbst gekauften Grundstück - der Kauf muss, beachtet man jüdische Vorschriften zu den Festtagen, nach dem Sabbat erfolgt sein� Über den weiteren Lebensweg des Judas nach den Geschehnissen um den Tod Jesu wusste man offenbar bereits sehr früh nichts mehr, aber man machte sich Gedanken� Man kann mit Horacio Lona beide Erzählungen auch als Teil der Wirkungsgeschichte der Judasfigur verstehen, nach dem Motto: „Wer den Herrn ausgeliefert hat, verdient eine grausame Bestrafung�“ 24 2. Erste Deutungen durch die Evangelisten Für die Evangelisten war Judas tendenziell allgegenwärtig in der eigenen kirchlichen Situation� Ihr Judasbild ist selbst bereits Teil der beginnenden Wirkungsgeschichte dieser Gestalt� 2.1. Das Evangelium nach Markus Weithin anerkannt für das Markusevangelium ist, dass die Zusammenordnung von Mk 14,1 f.3-9.10 f. zu einem Triptychon auf die ordnende Hand des Evangelisten geht� Das Verhalten des Judas ist das Gegenteil zu dem Verhalten der liebenden Frau� Durch das Handeln des Judas wird das Passionsgeschehen in Gang gesetzt. Die Todesbeschlüsse gegen Jesus Mk 11,18; 12,12; 14,2 können jetzt verwirklicht werden durch das Handeln eines Jüngers, der eigentlich „mit ihm sein“ (Mk 3,14) sollte� 25 Dass Judas von sich aus um Geld nachgefragt hätte, steht nicht da und darf nicht in die Darstellung des Markusevangeliums eingetragen werden� 26 Die Bemerkung über den günstigen Zeitpunkt nimmt Bezug auf die Überlegungen der Hohepriester (Mk 14,2), „Unruhe im Volk“ zu vermeiden� Markus hat auch in der Szene von der Aufdeckung des Verrates Akzente gesetzt� V� 18 knüpft an Ps 40,10 LXX an: der mein Brot isst, hat sich gegen mich erhoben� Der genannte Psalm, auch in 1 QH XIII 23 f� zitiert, ist einer der Texte, die in der Forschung der Tradition des „leidenden Gerechten“ zugeschrieben werden, der Bedrängnis von seinen Gemeinden erdulden muss� So wie es ihm 24 Lona, Judas, 35� 25 Auf den Gegensatz zwischen Mk 3,14 und 14,10 f� verweist auch L� Hartman, Mark for the Nations� A Commentary, Eugene 2010, 575� 26 So auch M� E� Boring, Mark� A Commentary (NTL), Louisville / London 2006, 385� Mehr als ein Verräter 15 geht, so ergeht es Christus und auch den Seinen: Vermeintlich Gleichgesinnte brechen die Treue� Die Frage der anderen Jünger „doch nicht etwa ich? “ (Mk 14,18) ist nicht die historische Erinnerung an das, was sich damals vor Jesu Tod wirklich zugetragen hat, sondern ist die Frage des Christen, der darüber erschrickt, dass möglicherweise sein eigenes Verhalten fatale Folgen für andere nach sich ziehen kann� 27 Jesu abschließendes Wort Mk 14,21 formuliert das Paradox von göttlicher Souveränität und menschlicher Verantwortlichkeit 28 : Jesu Leiden geschieht dem Willen Gottes gemäß; trotzdem ist das Verhalten des Judas damit nicht gerechtfertigt oder gar einer „höheren Sinndeutung“ eingeordnet� Dem Wort mag auch unmittelbar aktuelle Bedeutung in der in Mk 13,9�12 vorausgesetzten Situation zukommen 29 : Viele Anhängerinnen und Anhänger Jesu haben sich nicht gewehrt, als sie ausgeliefert wurden, sondern das Erdulden der Auslieferung als Beweis für die Standhaftigkeit ihres Glaubens aufgefasst� Das rechtfertigt aber keineswegs, wenn jemand aus der Gemeinde zur mittelbaren oder unmittelbaren Ursache einer solchen Auslieferung wird� Anders als in der griechischen Tragödie wird in Mk 14,21 an Judas nicht die Fraglichkeit des menschlichen Seins als solche aufgedeckt� Vielmehr wird eine Antwort gegeben, die die weitere Nachfrage nach dem Ausgleich zwischen göttlichem und menschlichem Handeln eher abschneidet denn zulässt - Mk 14,21 ist insofern die Geburtsstunde der Problematik der biblischen Judastexte� In der Szene der Gefangennahme mag der Kuss des Judas - historisch ist nichts Sicheres auszumachen, da das Motiv auch durch Spr 27,6b bzw� 2Sam 20,9 f� veranlasst sein kann - die Gemeinde an den „Heiligen Kuss“ (1Thess 5,26 u. ö.) erinnert haben; jedenfalls wird die Gemeinde gewarnt, dass es auch in ihr falsche Freundschaft geben kann� Die Anrede „Rabbi“ (Mk 14,45) zeigt, wenn durch einen Jünger gebraucht, mangelndes Verstehen an (vgl. Mk 9,5; 11,21). Jesus müsste für Judas mehr sein, nämlich der „Christus“ (vgl� Mk 8,29)� 2.2. Das Evangelium nach Matthäus Die Judasfigur im Matthäusevangelium ist auf dem Hintergrund des Bildes Jesu in diesem Evangelium zu betrachten� Der Evangelist Matthäus interpretiert Jesu Passion als Passion des gehorsamen Gottessohnes, der gleichwohl seine Souveränität nicht eingebüßt hat� 30 Das wird schon in der Einleitung Mt 26,1 f� deutlich: Der Evangelist verwandelt eine auktoriale Passage der Markusvorlage 27 Klauck, Judas, 57� 28 Boring, Mark, 390� 29 A� Y� Collins, Mark� A Commentary (Hermeneia), Minneapolis 2007, 652� 30 So auch M� Konradt, Das Evangelium nach Matthäus übersetzt und erklärt (NTD 1), Göttingen 2015, 396� 16 Martin Meiser in eine weitere Leidensankündigung Jesu� Das zeigt sich aber auch in mehreren Zügen der Umarbeitung� In der Verhandlungsszene trägt Matthäus den Vorwurf der Habgier ein (Mt 26,15)� Es geht weniger um ein Charakterportrait als darum, den Lesern den Unterschied zwischen richtigem (Mt 6,24; 19,21) und falschem Verhalten klarzumachen; Dtn 27,25 mag für Matthäus ebenfalls im Hintergrund gestanden haben� In dem Angebot des Judas, Jesus auszuliefern, beginnt die Erfüllung der Voraussage Jesu in Mt 26,2� Für das Verständnis der „30 Silberlinge“ (Mt 26,15) sind weniger damalige Grundstückspreise im Umfeld Jerusalems (über sie haben wir keinerlei Nachrichten) als biblische Zusammenhänge leitend� Sach 11,12LXX nennt den Preis, den die desinteressierten, auf den Bruch zwischen Jerusalem und Samaria zusteuernden Eliten Israels dem guten Hirten zu zahlen bereit sind, als dieser seinen Dienst quittieren will - dabei wusste sich der Hirte im Dienst des Gottes Israels stehend! Zusätzlich kann man auf Ex 21,32 verweisen, wo dieser Betrag „als Schadensersatzleistung für den Besitzer eines - durch ein Rind ums Leben gekommenen - Sklaven“ 31 genannt wird� Die Geringschätzung Jesu durch die Hohenpriester wird somit deutlich� Die meisten Leser werden diesen Betrag als eher gering eingeschätzt haben, gleichgültig, ob man an Denare, Doppeldrachmen oder Schekel der Tempelwährung denkt� 32 In Mt 26,21-25 betont Matthäus gegenüber der Markusvorlage erneut die Souveränität des ins Leiden gehenden Jesus� Die anderen Jünger in Mt 26,22 sind mit ihrer verunsicherten Betrübnis Rollenangebote für die Leser, über sich selbst und ihr eigenes Verhalten nachzudenken� 33 In V� 23 verlegt Matthäus den Vorgang „der mit mir die Hand in die Schüssel taucht“ (nach mehrheitlicher Deutung) von der Gegenwart in die Vergangenheit und lässt ihn zum Erkennungszeichen werden, das Jesu wunderbares Vorherwissen betont - wichtig ist das gegenüber aufkommender Christentumskritik� Für Mt 26,24 gilt ähnlich wie für Mk 14,21, dass die Einbindung des Todes Jesu in den Heilswillen die Verantwortung und Schuld der beteiligten Menschen nicht aufhebt� 34 Die über den Weheruf gegebene Verwandtschaft dieses Textes mit Mt 18,7-9 kann den Gedanken der ewigen Verdammnis nahelegen 35 , muss es aber nicht� 36 Die Frage des Judas, „Bin ich’s, Rabbi“ (Mt 26,25a) 37 , dient nicht einer Charakterzeichnung 31 Konradt, Matthäus, 402� 32 Luz, Matthäus, 70� 33 A� a� O�, 88� 34 Konradt, Matthäus, 404� 35 Luz, Matthäus, 89� 36 Gnilka, Matthäusevangelium, 397� 37 Durch diese Anrede wird Judas von den anderen Jüngern, die Jesus korrekt als „Herr“ ansprechen (als Anrede an Jesus wird „Rabbi“ nur Judas in den Mund gelegt, vgl� Mt 26,49� Mehr als ein Verräter 17 des Judas, sondern dazu, das überlegene Wissen Jesu herauszustellen� 38 Gleichzeitig verschärft die Formulierung den Gegensatz zu den anderen Jüngern, die Jesus mit „Herr“ angeredet hatten� Es sollte allerdings beachtet werden, dass Jesu häufige Warnungen vor dem Endgericht gerade auch den Jüngern in ihrer Gesamtheit gelten, nicht nur denen, die in irgendeiner Weise abtrünnig geworden sind (dem entspricht auch V� 22, s� o�)� Jesu Antwort ist nicht als Distanzierung, sondern als Bestätigung gemeint, durch die jetzt auch den anderen Jüngern klar ist, wer der Verräter sein wird� In der Szene der Gefangennahme trägt Matthäus das Motiv der Warnung vor der Heuchelei ein� Während Markus von einer Reaktion Jesu auf den Kuss des Judas nichts berichtet, ergänzen Matthäus und Lukas in je eigener Weise, mit aller Freiheit der Gestaltung� Die Anrede „Freund“ in Mt 26,50 nimmt nicht die in christlichen Gruppen übliche Anrede „Bruder“ auf; ihr eignet, wie die Parallelen Mt 20,13; 22,12 nahelegen, ein drohend-ironischer Unterton. Die folgende Äußerung Jesu „warum bist du gekommen? “ will nicht anzeigen, dass Jesus von dem, was auf ihn zukommt, nichts weiß (vgl. dagegen Mt 26,22-25 sowie Mt 26,1 f�, s� o�), ist aber auch nicht elliptisch aufzufassen („Wozu du gekommen bist, weiß ich / steht in der Schrift o� ä�“), sondern als rhetorische Frage gemeint� Sie soll die Heuchelei des Judas entlarven: „Bist du wirklich nur gekommen, um mich so mit einem Kuss zu begrüßen“? 39 Die Erzählung vom Ende des Judas Mt 27,3-10 ist nur bedingt an Judas selbst interessiert. Mt 27,3-10 will weniger Judas ent lasten als die jüdischen Eliten be lasten, die dessen Unschuldszeugnis zugunsten Jesu ebensowenig als Anlass zur Selbstbesinnung nehmen wie das der Frau des Pilatus (Mt 27,19 f�)� 40 Anders als Judas sind sie, die das Unglück noch verhindern könnten, nicht zur Einsicht willens� 41 Ihr Vorgehen wirkt umso zynischer, als sie das Unschuldszeugnis des Judas nicht einmal bestreiten� 42 Dass die Reue des Judas von der fehlenden Reue der jüdischen Eliten insgesamt unterschieden werden konnte, hatte, wie auch die Judasgestalt selbst, leider auch eine antijüdische Wirkungsgeschichte: Die Juden wurden in ihrem Verhalten mit Judas gleichgesetzt oder sogar noch Matthäus bezeichnet in Mt 23,8 die Anrede als bei den von ihm abgelehnten Schriftgelehrten üblich; vgl. Luz, Matthäus, 90). 38 Gnilka, Matthäusevangelium, 397� 39 Im Ergebnis ähnlich Konradt, Matthäus, 416: „Jesus durchschaut Judas; sein Kuss dient dem Verrat�“ 40 So auch Gnilka, Matthäusevangelium, 397� 41 Konradt, Matthäus, 427 f� 42 Luz, Matthäus, 235� Das Negativportrait wird für den Leser auch dadurch verstärkt, dass sie wissen, so Mt 27,6, plötzlich wissen, dass das von Judas in den Tempelschatz gelegte Geld „Blutgeld“ ist (Luz, 239)� 18 Martin Meiser schlimmer dargestellt� 43 Der Suizid des Judas ist die Vollstreckung des Strafgerichtes (vgl� Dtn 27,25) und soll den Leser warnen� 2.3. Das Evangelium nach Lukas und die Apostelgeschichte In Lk 6,16, und nur hier, wird Judas als prodotēs (= Verräter) eingeführt; dieser Sprachgebrauch ist bis heute landläufig bestimmend, obwohl das Verbum paradidōmi nicht „verraten“ heißt� Die wesentliche, Judas betreffende Änderung zu Beginn der Passionsgeschichte ist, dass Lukas vom Wirken des Satans spricht (Lk 22,3)� Man kann das Wirken des Satans mit dem Wirken der Dämonen in einem Besessenen vergleichen, sollte aber beachten, dass Judas damit keineswegs von jedem Schuldvorwurf entlastet werden könnte� 44 Lk 22,6 („und er stimmte zu“) wehrt diesem Missverständnis ausdrücklich� Der Satan kann in Judas nur wirken, weil sich Judas seinem Wirken geöffnet hat� Die Vorstellung, dass der Satan in einen bestimmten, identifizierbaren Menschen eingeht, ist zwar seit Lk 22,3 geläufig, aber im antiken Judentum keineswegs weit verbreitet� Die Parallele 4Q398 Frgm� 14 Kol� ii 4 f zeigt aber auch, dass der Mensch der Versuchung keineswegs ohnmächtig gegenübersteht� Auch die Lehre vom Satan ordnet sich im antiken Judentum durchaus in den Hauptstrom der Vorstellung von der Willensfreiheit ein, wie er in Dtn 30,11-16; Sir 15,11-20; 4Esra 7,118-131 gegeben ist. In der Perikope im Abendmahlssaal hat Lukas die Reihenfolge von Verratsansage und Einsetzung der Eucharistie umgekehrt� Mag Lukas auch nur aus erzählökonomischen Gründen umgestellt haben 45 , ergibt sich für den Leser dennoch: Auch Judas empfängt vom Heiligen Mahl� „Während Jesus seinen Leib dahingibt, wird er von einem der Jünger ‚übergeben’, der im Genuß des Segens der Dahingabe steht� So etwas kann nur vom Satan bewirkt sein (Lk 22,3)�“ 46 Der Satan holt sich seine Werkzeuge aus dem innersten Kreis der Gemeinde, und davor schützt nicht einmal die Gegenwart Jesu bei Mahl� Die Teilhabe am Mahl ist keine Heilsgarantie� Umstritten ist mit Blick auf Lk 22,23, ob das sinntragende Verbum syzēteo „streiten“ oder „sich befragen“ heißt� Im letzteren Fall wäre auch im Lukasevangelium das Erschrecken der Jünger über das thematisiert, was auch in der Gemeinde möglich ist� Im ersteren Fall wäre die Szene als Erschrecken des Evangelisten über die Selbstsicherheit der Jünger zu deuten, dass „an 43 Vgl. Luz, Matthäus, 252; Meiser, Judas, 131 f. 44 So auch H� Klein, Das Lukasevangelium übersetzt und erklärt (KEK I / 3), Göttingen 2006, 658); Wolter, Lukasevangelium, 693. 45 Wolter, Lukasevangelium, 709� 46 Klein, Lukasevangelium, 668� Mehr als ein Verräter 19 die Stelle des eigenen Betroffenseins die von sich wegweisende Diskussion - und das heißt: die den anderen verdächtigende Anklage - getreten ist“ 47 � In der Szene der Gefangennahme (Lk 22,47-53) hat Lukas gestrafft und wiederum eigene Akzente gesetzt� Schon die Einleitung stellt Judas „in den Mittelpunkt der Erzählung�“ 48 Die bei Lukas formulierte Frage „Judas 49 , mit einem Kuss übergibst du den Menschensohn? “ (V� 48) ist wohl weniger Zeichen seiner Überraschung noch auch der Liebe des Meisters 50 als vielmehr Verweis auf den Missbrauch des Freundschaftszeichens (vgl� 2Sam 20,9) 51 , ist, gerade angesichts der Voranstellung des Wortes philēma (Kuss) 52 , Zeichen dessen, dass Ungeheuerliches geschieht� 53 Ob es tatsächlich zu dem Kuss kommt, ist für Lukas angesichts dessen zweitrangig� In Lk 22,53 dürfte, wie die Parallelisierung der „Macht der Finsternis“ und des Satans in Apg 26,18 zeigt, mit den Worten „dies ist eure Stunde und die Macht der Finsternis“ wiederum auf das vom Satan bestimmte Handeln des Judas Bezug genommen sein� Jesu Leiden ist hinsichtlich seiner äußeren Ursache dem Wirken gottfeindlicher Mächte zuzuschreiben� 54 Jesu Tod gilt als ein vom Satan bzw� von Menschen gesetztes Faktum, das aber Gottes Plan mit der Welt nicht wirklich behindern kann - Jesu Auferweckung als göttliche Tat ist die Korrektur dessen, was Menschen getan haben (Apg 2,23 f.; Apg 3,14 f.; hier wird das Wirken des Satans nicht genannt, weil die Schuld der Jerusalemer am Tod Jesu betont werden soll)� Apg 1,15-26 begründet die Nachwahl des Matthias in den Zwölferkreis mit dem Ausscheiden des Judas; es war wohl erst Lukas, der beide Traditionen miteinander verbunden hat� Die Darstellung des Unfalltodes (Apg 1,18) verweist traditionsgeschichtlich auf Weish 4,19� Judas stirbt den Tod eines Gottesfeindes� 55 Sein Tod kann einerseits der Weiterentwicklung der Gemeinde nichts anhaben, wie dies auch von der Verfolgungstätigkeit des Paulus vor seiner Lebenswende 47 Vogler, Judas, 81� 48 Wolter, Lukasevangelium, 726� 49 Dass Judas hier ohne Beinamen steht, muss nicht unbedingt alte Tradition widerspiegeln (Vogler, Judas, 84), sondern kann sich auch der Glättung durch den Evangelisten verdanken� 50 Zu Recht skeptisch ist Klauck, Judas, 69; vgl. auch M. Limbeck, Das Judasbild im Neuen Testament aus christlicher Sicht, in: Goldschmidt / Limbeck, Verrat? , 37-101, 77, der auf die Differenz des Verhaltens Jesu in dieser Situation zu seiner sonstigen Zuwendung zu Sündern aufmerksam macht� 51 Josef Ernst, Lukas (RNT), Regensburg 6 1993, 465� 52 Wolter, Lukasevangelium, 726� 53 Klein, Lukasevangelium, 686� Das Stichwort „Menschensohn“ verbindet Lk 22,48 mit den Ankündigungen Jesu (Lk 9,44; 18,31-33), so Wolter, Lukasevangelium, 726. 54 G� Baumbach, Das Verständnis des Bösen in den synoptischen Evangelien (ThA 19), Berlin 1963, 190, macht auf die Differenz von Lk 22,53 zu Mk 14,41 aufmerksam� 55 Klauck, Judas, 104� 20 Martin Meiser und des Herodes Agrippa I. gilt (Apg 9,31; 12,20-24). Diese Gewissheit soll den durch Bedrängnisse um des Glaubens willen angefochtenen Leser trösten� Auch die Schriftzitate verweisen darauf, dass selbst ein negatives Geschehen in den Plan Gottes eingeordnet bleibt� Der Tod des Judas ist aber auch Beispiel für das Strafgericht Gottes 56 , und Apg 1,25 („er ging an den Ort, für den er bestimmt war“) enthält bei der vorherrschenden Deutung auf das eschatologische Verderben 57 eine Warnung 58 : Der dem Verräter gebührende Ort ist der Straftod, und so wie Judas wird es jedem ergehen, der in so gravierender Weise an der christlichen Gemeinde schuldig wird; vgl. Apg 5,1-11. 59 2.4. Das Evangelium nach Johannes Im Johannesevangelium wird Judas erstmals im Rahmen einer Äußerung Jesu über Unglauben innerhalb seines Jüngerkreises erwähnt ( Joh 6,64)� Dass Jesus um diesen Unglauben angesichts seines Leidensweges ( Joh 6,62) und um das spätere Handeln des Judas „weiß“, soll nicht seine besondere Wundermacht betonen, sondern das Missverständnis ausschließen, Jesus habe sich in der Auswahl seiner Jünger getäuscht� Entsprechende Vorhaltungen sind später bei dem Christentumskritiker Kelsos belegt� Dass Menschen überhaupt zum Glauben kommen können, gilt im Johannesevangelium einerseits als Werk Gottes ( Joh 6,37. 39. 44; 17,2); andererseits werden immer wieder Aufforderungen zum Glauben an die Menschen gerichtet ( Joh 6,29 u� a�)� Im Lichte dieser Stellen suchen Joh 6,37� 39� 44 das unbegreifliche Rätsel des Abfalls vom Glauben (vgl� Joh 2,19) und auch des in den Unglauben hineinführenden Zweifels von Gemeindegliedern ( Joh 6,65) zu benennen� Das bedeutet aber zugleich: Auch das Rätsel des Unglaubens in den eigenen Reihen diskreditiert nicht den Anspruch Jesu� Joh 6,65 will aber zusätzlich den Leser warnen: Erwählung bewahrt nicht vor Versagen� Der Mensch kann nicht selbst dafür garantieren, dass er am Glauben festhält� Insofern ist Judas zum einen der Prototyp des Ungläubigen, der aus 56 Ch� K� Barrett, A Critical and Exegetical Commentary on the Acts of the Apostles, Vol� I, Preliminary Introduction and Commentary on Acts I-XIV, ICC, Edinburgh 1994, 93� 57 Apg 1,25 kann aber auch auf das von Judas gekaufte Grundstück (Klauck, Judas, 109) oder die Hinwendung zu den Gegnern Jesu bezogen werden (so R� Pesch, Die Apostelgeschichte, Bd. I [Apg 1-12], EKK V / 1, Zürich / Einsiedeln / Köln 1986, 90 f�, für die vorlukanische Tradition)� 58 K� Paffenroth, Judas� Images of a Lost Disciple, Louisville, London 2001, 22� 59 K� Dorn, Judas, Judas Iskariot, einer der Zwölf� Der Judas der Evangelien unter der Perspektive der Rede von den zwölf Zeugen der Auferstehung in 1 Kor 15,3b-5, in: H. Wagner (Hg�), Judas, Menschliches oder heilsgeschichtliches Drama? , Frankfurt (Main) 1985, 39-89 (59 f.). Mehr als ein Verräter 21 den eigenen Reihen kommt� Zum anderen ist die aktive Feindschaft des Judas 60 für den Evangelisten nur als Ergebnis des Wirkens des Teufels denkbar� Dabei interessiert sich der Evangelist nicht für die Frage, ab wann Judas unter dem Einfluss des Teufels stand; zu Lk 22,3 und Joh 13,27 gleicht er nicht aus. Die Aussage „einer von euch ist ein Teufel“ ( Joh 6,70) ist als Warnung gedacht: Abfall vom Glauben ist eine ernste Bedrohung� Nicht die Jünger, sondern, vermittels des Erzählerkommentars, die Leser wissen, wer gemeint ist� 61 Dass Judas die gemeinsame Kasse des Jüngerkreises verwaltet haben soll ( Joh 12,6), ist kaum historisch wahrscheinlich zu machen� Die Aussage ist wohl aus Mt 26,15 herausgesponnen und soll die Habgier und die Heuchelei des Judas bloßstellen� Vermutlich wirkt sich hier die auch später in der Ketzerpolemik wirksame Vorstellung aus, dass ein Ketzer auch moralisch nicht integer sein darf� Der Evangelist geht nicht auf die naheliegende Frage ein, warum Jesus seinen zwölften Jünger überhaupt mit der Führung dieser Kasse betraut, wenn er doch um das Wirken des Teufels in ihm wusste� Bei Johannes gibt es zu Mk 14,10 parr� keine Parallele� Er kennt einzelne Motive, Judas betreffend, z� B� das Motiv der Habgier (zu Joh 12,6 vgl� Mt 26,15) und des Wirkens des Teufels (zu Joh 6,70 vgl� Lk 22,3)� Vielleicht hat er auch die Tradition von der Verhandlung des Judas mit den Hohenpriestern gekannt, sie aber verschwiegen: Das Passionsgeschehen kommt nicht durch Judas in Gang, sondern, auch in Einzelheiten ( Joh 13,27.30; 18,1-11), durch Jesus, der im Gehorsam gegenüber seinem Vater seine göttliche Sendung vollendet� Joh 13,2 und Joh 13,27 stehen in leichter Spannung zueinander; die Bezeichnungen für den Teufel divergieren ( Joh 13,2 diabolos , Joh 13,27 satanas ), ebenso die Angaben über den Zeitpunkt seines Wirkens; in Joh 13,2 wird vorweggenommen, was in Joh 13,27 erst erzählt wird� Man hat Joh 13,2 der kirchlichen Redaktion zugeordnet 62 ; mittlerweile ist aber umstritten, inwiefern diese kirchliche Redaktion jenseits von Joh 21 überhaupt greifbar ist� Auf der Ebene des Endtextes ist weniger die Frage nach dem Zeitpunkt als die Tatsache des teuflischen Wirkens als solche von Interesse: Jesus nimmt im Gehorsam gegenüber seinem Vater das Leiden auf sich, obwohl alles gegen ihn steht� Er hält das nunmehr beginnende Geschehen nicht auf� 63 60 Das ist noch eine Steigerung gegenüber dem bloßen „Weggehen“ der Jünger; vgl. L. Morris, The Gospel according to John� The English Text with Introduction, Exposition and Notes, NICNT, Grand Rapids 1971 = 4 1977, 390� 61 Darauf macht H� Thyen, Das Johannesevangelium (HNT 6), Tübingen 2 2015, 380 f� aufmerksam� 62 J� Becker, Das Evangelium nach Johannes, ÖTK 4 / 1�2, Gütersloh, Würzburg 3 1991, II 420; ähnlich R� Schnackenburg, Das Johannesevangelium, Bd� III, Kommentar zu Kap. 13-21 (HThK 4 / 3), Freiburg 1975, 18� 63 Vgl� U� Schnelle, Das Evangelium nach Johannes, ThHK 4, Leipzig 1998, 212 f� 22 Martin Meiser Ein zweites Mal wird Judas erwähnt, wenn der Evangelist auf die Heilswirkung der Fußwaschung zu sprechen kommt: Die Jünger bekommen Anteil an der Frucht des Sterbens Jesu, doch nicht alle� Aufgrund des Erzählerkommentars Joh 13,11, der wieder Jesu wunderbares Vorherwissen betont, weiß der Leser, auf wen dieser abschließende Satzteil von Joh 13,10 („doch nicht alle“) zielt� Die Jünger innerhalb der Erzählung wissen es nicht - das soll ähnlich wie in Mk 14,18 dazu führen, „daß jeder von ihnen sich fragen muß: Bin ich es etwa? “ 64 Johannes betont, dass Jesu Hingabe für Judas wirkungslos ist (13,10 f.); Judas hatte sich, anders als Petrus, der reinigenden Liebe Jesu nicht geöffnet 65 � So ist er der Sohn des Verderbens, der verloren ging (vgl� Joh 17,12) 66 � Johannes deutet die Vorstellung an, dass Judas auf ewig dem göttlichen Zorn ausgeliefert sei ( Joh 17,12)� Das ist keine theoretisch gemeinte Aussage über die Prädestination, sondern soll die Leser warnen� Dass Jesus im Voraus um die Tat des Judas weiß ( Joh 13,18), ist ein apologetisches Argument: Das Fehlverhalten des Jüngers widerlegt nicht den Wahrheitsanspruch Jesu� Gegenteilige Vorhaltungen sind ein Motiv der Christentumskritik bei Kelsos, der in der verfehlten Auswahl des Judas durch Jesus dessen Göttlichkeitsanspruch widerlegt sah� 67 Innerhalb von Joh 13,21-30 ist das Motiv der Erschütterung Jesu (es tritt auch in Joh 11,33; 12,27 auf, wenn von der Konfrontation Jesu mit der Macht des Todes bzw� seiner Passion die Rede ist) kein Widerspruch zur Handlungssouveränität Jesu, sondern verweist auf die Schwere des Vergehens seines Jüngers� Dass Jesus „Zeugnis“ ablegt, meint, dass er die Menschen durchschaut (vgl. Joh 2,25; 4,39; 7,7). Die Jünger aber wissen nicht, von wem Jesus redet. Petrus fragt den Lieblingsjünger, der als Symbol für den Anspruch der johanneischen Schule steht, „das Christusgeschehen in all seinen Dimensionen authentisch erkannt, geglaubt und bezeugt zu haben“ 68 � Dass der Lieblingsjünger die Antwort gibt, bezeugt den Anspruch der johanneischen Schule, bei den Gruppen der Jesusanhänger insgesamt (sie sind durch Petrus repräsentiert) reinigend zu wirken� Jesus bezeichnet den Verräter ( Joh 13,26), indem er ihm den Bissen reicht ( Joh 13,27) und ihn zu raschem Handeln auffordert� Jesu ist es, der das Passionsgeschehen in Gang setzt� Nunmehr ergreift der Satan von Judas Besitz� Natürlich ist es nicht der durch Jesus gegebene Bissen, durch den der Satan in Judas fährt, wohl aber ist die Enthüllung durch Jesus „Signalwirkung für den 64 Thyen, Johannesevangelium, 587� 65 R� E� Brown, The Gospel According to John (xiii-xxi), AncB 29 A, Garden City, New York 1970, II, 568� 66 Limbeck, Judasbild, 84, ähnlich Klauck, Judas, 82� 67 Kelsos, bei Origenes, Cels� 2,11� 68 Schnelle, Johannes, 301� Mehr als ein Verräter 23 Teufel, nun in seinem Werkzeug Judas sofort tätig zu werden“ 69 � Die Jünger hingegen verstehen nicht, dass jetzt die Zeit der Trennung von Jesus beginnt� Die Absprache des Judas ist impliziert in der Notiz, dass Judas „hinausgeht“� Der Vermerk „es war aber Nacht“ ist nicht als historisierende Erinnerung gemeint, sondern trägt in sich wohl einen Rückbezug auf Joh 9,4 „Es kommt die Nacht, da niemand wirken kann�“ Das Wirken des Offenbarers in der Welt geht jetzt zu Ende� Nacht ist es aber im übertragenen Sinn für Judas: Er entfernt sich von dem Licht (vgl� Joh 3,19)� 70 Nunmehr ist Jesus mit den Getreuen unter den Jüngern allein - nur ihnen gelten die Abschiedsreden, die die Situation der Kirche angesichts der leiblichen Abwesenheit Christi thematisieren� Narratologisch gesehen zeigt sich: Zeitlich parallel liegen die Vorbereitung dessen, was man Jesus antun wird, und Jesu Verkündigung dessen, was er für die Seinen tun wird ( Joh 13,31-14,31), ebenso das ‘Kommen’ des Fürsten dieser Welt (äußerlich ist wohl Judas Iskariot gemeint; Joh 14,30 f. will aber auch auf symbolischer Ebene das „Kommen“ der Bedrängnis für die nachösterliche Gemeinde besagen) und die Belehrung über das notwendige „Bleiben“ der Jünger� Die Szene der Gefangennahme Jesu ( Joh 18,1-11) ist wiederum sehr stark durch das Motiv der Handlungssouveränität Jesu betont� Judas führt einen aus römischen Soldaten und Mitgliedern der Tempelpolizei bestehenden Kommandotrupp an die Stelle, wo er Jesus vermutet, aber es ist nicht er, der das folgende Geschehen einleitet, sondern Jesus mit seiner Frage „Wen suchet ihr“� Die Frage soll nicht das Nichtwissen Jesu anzeigen, sondern aufgrund der Antwort die Selbstoffenbarung Jesu ermöglichen, „Ich bin es“ (vgl� dazu Joh 13,19 und Ex 3,14)� Judas ist nunmehr nur noch Statist in der Szene� Auf Jesu Antwort hin fallen seiner Gegner zu Boden� 71 Erst die erneute Initiative Jesu ermöglicht die Fortsetzung des Geschehens� Jesus fordert seine Gegner auf, nur ihn allein festzunehmen� Die Flucht der Jünger (Mk 14,50) wird in V� 8 in eine Anweisung Jesu an den Kommandotrupp umgewandelt, sie unbehelligt abziehen zu lassen� Die Anweisung bringt zugleich die Fürsorge für die Seinen zum Ausdruck (vgl� Joh 10,28)� Für den Evangelisten versteht sich von allein, dass Jesu Wort wirkt; eine Reaktion der Häscher wird nicht berichtet. 72 Über das irdische Lebensende des Judas berichtet der Evangelist nichts� Der Leser weiß, welches ewige Ende den Jünger erwartet ( Joh 17,12)� 69 Becker, Johannes II, 432� 70 Brown, John II, 579; für den Bezug auf Joh 3,19 vgl. auch Becker, Johannes II, 432� 71 Vgl� Ps 27,2: „Meine Bedränger und Feinde, sie müssen straucheln und fallen“� 72 Becker, Johannes II, 544� 24 Martin Meiser 3. Schluss Die voranstehenden Ausführungen verdeutlichen, dass die Wirkungsgeschichte der Judasgestalt schon im Neuen Testament beginnt� Historisch ist nur dreierlei klar: 1. Judas war von Anfang an Mitglied des Zwölferkreises; 2. sein Handeln trug dazu bei, dass Jesus gewaltsam zu Tode kam; 3. danach kehrte er nicht mehr in die Gemeinde zurück� Im Markusevangelium wird das Handeln des Judas aus der Erfahrung des Ausgeliefertwerdens in den eigenen Reihen (Mk 13,9�12) reflektiert, aber nicht weiter motiviert. Matthäus schließt in Mt 26,15 diese erzählerische Lücke; Habgier und Heuchelei (Mt 26,50) sind Züge, vor denen die Leser des Matthäus gewarnt werden sollen� Die Reue des Judas (Mt 27,3) wird als Kontrast zur willentlichen Starrköpfigkeit der jüdischen Eliten erzählt� Nicht innergemeindliche Probleme, sondern das Verhältnis zu den nicht an Jesus glaubenden Juden führen für dieses Judasbild die Feder� Lukas sieht in Judas die widergöttliche Macht am Wirken, auf die von außen betrachtet das Leiden Jesu zurückzuführen ist, das aber im Heilsplan Gottes angelegt verstanden werden muss� Der Judaskuss gilt dem Evangelisten als Symbol schlimmsten Vertrauensbruchs, das Ende des Judas als Tod des Gottesfeindes� Johannes thematisiert an der Judasgestalt schließlich das Problem des Abfalls in den eigenen Reihen (vgl� dazu 1�Joh 2,19)� Die wiederholte Betonung dessen, dass Jesus um den Unglauben des Jüngers weiß ( Joh 6,64�70), ist Warnung an die Leser, aber auch Apologetik nach außen, deren Sinnhaftigkeit angesichts späterer Christentumskritik augenfällig wird: Die Wahl eines Jüngers, dessen Handeln zum Gewalttod Jesu beiträgt, widerlegt Jesu Wahrheitsanspruch keineswegs� Zeitschrift für Neues Testament Heft 41 21. Jahrgang (2018) Zum Thema Das Judasevangelium Simon Gathercole Einleitung Als das Judasevangelium im Jahr 2006 erstmals bekannt wurde, erregte es sofort die Aufmerksamkeit der Fachwelt wie auch einer breiteren Öffentlichkeit� Nachdem ich zunächst nur gerüchteweise davon gehört hatte, machte ich erstmals nähere Bekanntschaft mit einem Evangelium unter dem Namen des Judas, als ich mir am 12� März 2006 eine Zeitung kaufte und mein Blick dabei auf ein Sensationsblatt fiel, das auf seiner Titelseite das Judasevangelium als „größte archäologische Entdeckung aller Zeiten“ ankündigte� 1 Einen Monat später erschien der Originaltext des Judasevangeliums mit englischer Übersetzung� Die Entzifferung des Textes war von einem internationalen Forscherteam besorgt worden, dem der schweizerische Koptologe Rodolphe Kasser, der Augsburger Patristiker Gregor Wurst und der amerikanische Gnosis-Forscher Marvin Meyer angehörten� Die Veröffentlichung dieses Evangeliums löste einen Sturm medialer Aufmerksamkeit aus� Die Journalisten versuchten die Wissenschaftler zu der Aussage zu bewegen, dass dieses Evangelium das traditionelle Bild des Christentums revolutionieren würde� Das National Geographic Magazin widmete sich dem Fund ausführlich und produzierte für seinen TV -Kanal eine Dokumentation, in der Jesus zugunsten eines Anscheins von Authentizität Worte des Judasevangeliums in aramäischer Übersetzung sprach� 1 The Mail vom Sonntag, den 12� März 2006�