eJournals ZNT – Zeitschrift für Neues Testament 19/38

ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
2016
1938 Dronsch Strecker Vogel

Der 2. Korintherbrief als Drama von Streit und Versöhnung

2016
Lars Aejmelaeus
Zeitschrift für Neues Testament_38 typoscript [AK] - 20.03.2017 - Seite 49 - 3. Korrektur ZNT 38 (19. Jg. 2016) 49 Reimund Bieringer und ich sind uns einig darüber-- an sich heute eine Selbstverständlichkeit--, dass bei der Interpretation der Briefe des Neuen Testaments (wie aller anderen antiken Texte) ihre konkrete Entstehungsgeschichte ernstgenommen werden muss. Auch der Text des 2. Korintherbriefes ist nicht ein zeitloser Offenbarungstext aus göttlicher höherer Sphäre, sondern er wurde in einer konkreten Situation von einem individuellen Verfasser mit einer spezifischen Absicht geschrieben. Nur auf diese Weise kann der 2Kor eine für die christliche Theologie bedeutungsvolle und maßgebliche Schrift sein, und nur so sollte man ihn auch interpretieren. Das gilt sowohl für den Text als Ganzheit wie auch für die einzelnen Abschnitte. Das angemessene Verständnis der Situation hinter dem Text ist dabei der Schlüssel für die richtige Interpretation. Es gibt hinsichtlich des Verständnisses der Briefsituation mehrere Ebenen und in vielen Punkten besteht zwischen Reimund Bieringer und mir ein breiter Konsens. Die meisten Exegeten sind sich auch einig darüber, dass Paulus als Verfasser des 2Kor anzusehen ist. Nur bei der Echtheit der Verse 6,14-7,1 haben viele Forscher begründete Zweifel, aber das stellt diesen Konsens nicht grundsätzlich in Frage. Der Text muss also, der paulinischen Verfasserschaft des 2Kor Rechnung tragend, im Licht der anderen echten Paulusbriefe interpretiert werden, was für das Verständnis des Inhalts von erheblicher Bedeutung ist: Für Wortgebrauch, Begriffe und Gedanken des 2Kor sowie für den Stil und die Rhetorik des Briefes ist der Vergleich mit den anderen echten Paulus-Briefen erhellend und klärend. Die Exegeten sind sich auch einig über die Adresse des Textes und sie haben ein ziemlich einheitliches Bild von der Stadt Korinth und der dort lebenden Gemeinde, weil bereits der 1. Korintherbrief hierzu sehr informativ ist. Auch hinsichtlich des Zeitraums der apostolischen Tätigkeit des Paulus, während dessen der Text entstanden ist, besteht weitgehend Einigkeit. Dies bildet für die Textauslegung eine hinreichend große gemeinsame Basis. Das heißt auch, dass man in vielen Einzelheiten, in denen Paulus mehr allgemein und ohne konkreten Situationsbezug schreibt, den Text auch dann in gleicher Weise auslegen kann, wenn hinsichtlich der Einleitungsfragen Differenzen bestehen. Es gibt aber auch Stellen im Text, wo die einleitungswissenschaftlichen Entscheidungen bei der Auslegung zu beträchtlichen Unterschieden führen, obwohl mit Blick auf andere entscheidende Eckpunkte Einigkeit besteht. Auf diese Problematik werde ich im Folgenden zu sprechen kommen. Reimund Bieringer meldet sich als Vertreter der Einheitlichkeitshypothese zu Wort, ich dagegen vertrete eine Kompilationshypothese. Bieringer hat in früheren Publikationen die Gründe für seine Sicht dargelegt, 1 und ebenso habe auch ich meine einleitungswissenschaftlichen Entscheidungen anderswo zu begründen versucht. 2 Hier geht es nun nicht darum, die geleistete exegetische Arbeit zu rekapitulieren, sondern vielmehr darum, die jeweiligen Konsequenzen zu bedenken. In meiner exegetischen Arbeit kam ich, so wie bereits viele andere Exegeten vor mir, zu dem Endergebnis, dass die Kapitel 10- 13 ursprünglich unmöglich zu demselben Brief wie die Kapitel 1-9 gehört haben können. Auch das Textstück 6,14-7,1 kann nicht an seinem ursprünglichen Platz stehen. 3 Unter dieser Voraussetzung halte ich es für die überzeugendste und wahrscheinlichste Lösung, dass es sich bei den Kapiteln 10-13 um den »Tränenbrief« handelt, auf den Paulus in 2,3-4 verweist. Ich halte es allerdings nicht für nötig, weitere Schnitte im Text vorzunehmen, obwohl ich gut verstehen kann, warum auch der Abschnitt 2,14-7,4 und die Kapitel 8 und 9 das literarkritische Interesse vieler Exegeten auf sich ziehen. Weitere Briefteilungen außer derjenigen zwischen 1-9 und 10-13 (abgesehen von 6,14-7,1) sind meiner Meinung nach nicht notwendig, weil man die verbleibenden Unstimmigkeiten im Text ohne allzu große Schwierigkeiten erklären kann. Auch Lars Aejmelaeus Der 2. Korintherbrief als Drama von Streit und Versöhnung Ein Plädoyer für die Briefteilung Kontroverse »Weitere Briefteilungen außer derjenigen zwischen 1-9 und 10-13 (abgesehen von 6,14-7,1) sind meiner Meinung nach nicht notwendig, weil man die verbleibenden Unstimmigkeiten im Text ohne allzu große Schwierigkeiten erklären kann.« Zeitschrift für Neues Testament_38 typoscript [AK] - 20.03.2017 - Seite 50 - 3. Korrektur 50 ZNT 38 (19. Jg. 2016) Kontroverse Unsicherheit muss man in jedem Fall leben können. Die meisten Exegeten folgen hier verständlicherweise der Regel, die als Ockhams Rasiermesser bekannt ist: entia non sunt multiplicanda praeter necessitatem (»Entitäten dürfen nicht über das Notwendige hinaus vermehrt werden«). Weil der Philipperbrief keine Veränderung im Verhältnis des Paulus zur Gemeinde in Philippi erkennen lässt, sondern lediglich ein (wenn auch unerwarteter) Wechsel des Themas und der Stimmung zu beobachten ist, gibt es keinen zwingenden Grund, den Text in zwei verschiedene Briefe zu unterteilen. Diese Beobachtungen können hinreichend durch eine Diktatpause und durch das Eintreffen neuer Nachrichten erklärt werden. Diese Erklärungen greifen auch, wenn man das Verhältnis des Textabschnitts 2Kor 2,14-7,4 zum übrigen Text in 2Kor 1-9 betrachtet. Sie greifen aber nicht, wenn man 2Kor 10-13 mit 2Kor 1-9 vergleicht. Hier ist nach meiner Sicht der Dinge ein literarkritischer Schnitt und die Annahme von zwei verschiedenen Briefeinheiten unumgänglich. Dies hat selbstredend Konsequenzen für die Interpretation des Textes, der uns als der kanonische 2Kor vorliegt. Die Interpretation gelangt dann bei einigen wichtigen Passagen zu Auslegungen, die sich von denen der Vertreter der Einheitlichkeitshypothese wesentlich unterscheiden. Inzwischen kann, wie Bieringer zutreffend feststellt, nicht mehr einfach behauptet werden, dass die Grenzlinie zwischen den Vertretern der Einheitlichkeit des 2Kor einerseits und der Uneinheitlichkeit andererseits zugleich auch die Grenzlinie zwischen konservativen und liberalen Exegeten markiert. Jeder, der mit dem Text zu arbeiten beginnt, tut dies zunächst mit der intuitiven Annahme, dass der Text literarisch einheitlich ist, wie er ja auch als einheitlicher Brief im Neuen Testament vorliegt. Erst wenn man auf unüberwindliche Schwierigkeiten im Text stößt, wird man die literarische Einheitlichkeit in Frage stellen. Hier spielen, wie Bieringer feststellt, auch die verschiedenen Forscherpersönlichkeiten eine Rolle. Was für die einen im Text unmöglich zu erklären und nur durch eine Briefteilung zu bewältigen ist, ist für andere Ausleger doch irgendwie erklärbar. Die Tatsache, dass dadurch ein 1700 Jahre lang währender Konsensus der Exegeten endet und die »Kohärenz der Interpretationsgemeinschaft« bricht, ist nur zu akzeptieren. Ähnliches ist auch in anderen Gebieten der Bibelwissenschaft seit der Aufklärung geschehen. Auch die Tatsache, dass die Vertreter der Kompilationstheorie sich in ihren Entscheidungen wäre es viel schwieriger, zu erklären, wie und warum der Textabschnitt 2,14-7,4 und die Kapitel 8 oder 9 in die Mitte des übrigen Textes gelangt sind, als einfach anzunehmen, dass die Kapitel 10-13 als eine kleinere Texteinheit in der Schlussredaktion hinter die größere Texteinheit 1-9 gelangt sind. Der Passus 6,14-7,1 ist ein bleibendes Rätsel: Die Frage, warum er an seinem jetzigen Platz steht, entbehrt einer zufriedenstellenden Antwort. Mit vorurteilslosem Blick betrachtet kann man nur feststellen, dass er ein Fremdkörper im sonstigen Text ist. Wie Reimund Bieringer feststellt, ist der 2Kor heute der einzige Paulusbrief, über dessen literarische Einheitlichkeit oder Uneinheitlichkeit ernsthaft diskutiert wird. Über die Integrität der übrigen echten Paulusbriefe besteht weitgehend Einigkeit. Allenfalls wird noch über die Teilung des Philipperbriefes diskutiert, und zwar wegen des deutlichen Stimmungswechsels am Anfang des 3. Kapitels. 4 Auch über das Problem, ob und inwiefern das letzte Kapitel des Römerbriefes ursprünglich zu dem nach Rom geschickten Brief gehört, wird diskutiert. Dass die Schlussdoxologie Röm 16,25-27 nicht von Paulus stammt, ist hingegen klar. 5 Die Schlussverse des Röm weisen darauf hin, dass wir überhaupt nicht ganz sicher sein können, in welchem Umfang fremde Redaktionsarbeit nach dem Tod des Paulus und vor der Veröffentlichung und stabilen Überlieferung der Paulusbriefe geschehen ist. Mit dieser Prof. Dr. Lars Aejmelaeus (*1945), 1969 Magister der Theologie, 1969-1981 Pastor in verschiedenen Gemeinden der Evangelisch-Lutherischen Kirche Finnlands, 1975-1977 Stipendiat des Weltkirchenrates in Tübingen und Göttingen,1979 Doktor der Theologie an der Universität Helsinki. Seit 1982 Mitglied der Society of New Testament Studies. 1987-2011 Professor der Bibelwissenschaft an der Theologischen Fakultät der Universität Helsinki. Seit 2005 Mitglied der Finnischen Akademie der Wissenschaften. Prof. Dr. Lars Aejmelaeus »Die Trennung der Textblöcke ist […] für mich keine frei verfügbare Hypothese, die ich wählen oder verwerfen könnte, sondern eine schlichte Notwendigkeit.« Zeitschrift für Neues Testament_38 typoscript [AK] - 20.03.2017 - Seite 51 - 3. Korrektur ZNT 38 (19. Jg. 2016) 51 Lars Aejmelaeus Der 2. Korintherbrief als Drama von Streit und Versöhnung nicht einig sind, gehört zur Natur der Sache. Für mich persönlich als Exeget ist es nicht möglich anzunehmen, dass die Kapitel 1-9 und 10-13 einmal zu demselben Brief gehört hätten. Die Trennung der Textblöcke ist darum für mich keine frei verfügbare Hypothese, die ich wählen oder verwerfen könnte, sondern eine schlichte Notwendigkeit. Daraus ergibt sich dann ebenso notwendig, dass ein Redaktor später mit dem Text des 2Kor zu tun hatte. 6 Wenn man den Text des 2Kor als Kombination von mehreren Briefen interpretiert, spielen »der Zwischenbesuch« des Paulus in Korinth und »der Tränenbrief« in der Rekonstruktion der Geschehnisse eine wichtige Rolle. Sie sind aber keine »hypothetischen Annahmen«, weil sie aus dem Text (1,15-16; 2,1.3-4; 7,8; 12,14) zweifelsfrei zu erheben sind. Freilich wird es zu den entscheidenden Fragen der Entstehung des 2Kor wie auch in vielen anderen Fragen in der Bibelwissenschaft niemals einen vollständigen Konsens geben. Die Exegeten sind nämlich Meister der Erklärung. Alles kann erklärt werden und alle Hypothesen können verteidigt werden. Dann ist es auch verständlich, dass für die Vertreter einer bestimmten Auslegung die Art und Weise, wie die Vertreter einer anders gelagerten Auslegung ihre Interpretation verteidigen wollen, oft sehr wenig überzeugend ist. Weil das so ist, ist es gut, in diesem Beitrag nur über die Konsequenzen der gegenseitigen Interpretationen zu diskutieren. Über die Konsequenzen der verschiedenen Auslegungen sollte man doch leichter Einigkeit finden als über die exegetischen Grundentscheidungen. Wenn Paulus beispielsweise in 2Kor 3,1 die Frage stellt »Fangen wir schon wieder an, uns selbst zu empfehlen? «, dann sehe ich hier einen klaren Hinweis auf die Kapitel 10-13 als den »Tränenbrief«. Damit wird auch klar, dass Paulus im Rückblick nicht sehr zufrieden über die Art und Weise war, wie er im »Tränenbrief« seine Sache fördern wollte. Liest man im Licht dieser Tränenbriefhypothese den Abschnitt 2Kor 7,8-12, leuchtet auch sofort ein, dass sich Paulus rückblickend vom Inhalt seines Kampfbriefes distanzieren will. Der Brief hat die Korinther betrübt und Paulus bereut den Inhalt des Briefes. Er hat die Gemeinde zu hart angegriffen, und die Korinther sind in der Folge gekränkt. Gleichzeitig ist er jedoch auch froh darüber, dass er den Brief abgeschickt hat, weil der Brief in der Konfliktsituation zwischen Paulus und der Gemeinde am Ende doch Gottes guten Zwecken gedient hat: Die Gemeinde bekennt sich wieder zu Paulus als ihrem geistlichen Leiter. Für die Auslegung der Kapitel 10-13 bedeutet dies, dass man nicht alles, was da steht, uneingeschränkt ernst nehmen darf, hat Paulus doch selbst später zugegeben, dass er in seiner Selbstverteidigung und in seinem harschen Angriff gegen die Gemeinde zu weit gegangen ist. Von hier aus sind noch weiter reichende Schlüsse möglich, etwa, dass auch das Bild, das Paulus von seinen Gegnern, den »Überaposteln« zeichnet, nicht ein authentisches Portrait bieten, sondern negativ übertreiben wollte. Im späteren »Versöhnungsbrief« (1-9) wird das, was Paulus von den »Überaposteln« geschrieben hat, freilich nicht korrigiert, denn diese Männer sind schon weitergezogen, sodass es nicht nötig ist, weiter über sie zu sprechen. Zugleich scheint Paulus in den Kapiteln 1-9 immer noch bitter gegen sie zu sein, wie einige Stellen nahelegen. Das Thema, das Paulus schon im »Tränenbrief« behandelte, nämlich sein eigenes Verhältnis zur materiellen Unterstützung durch die Gemeinde, das der Auffassung der Gegner entgegenstand, kommt in 2Kor 2,17 erneut zur Sprache: »Wir sind nicht wie die vielen, die mit dem Wort Gottes Geschäfte machen.« Die Anspielung auf die Gegner ist offenkundig. So ist es auch, wenn Paulus über »gewisse Leute« schreibt, die sich anders als er selbst des Mittels der Empfehlungsbriefe bedienen (2Kor 3,1). Wenn Paulus in 2Kor 4,1-6 von der »Offenheit« seines Evangeliums schreibt und dies mit dem »Verhülltsein« des Evangeliums anderer Verkündiger vergleicht, dann nimmt sich dies nach den Vorgaben der oben vorgelegten Tränenbriefhypothese nicht als Selbstverteidigung aus, sondern als ein nachträglicher Angriff gegen die »Überapostel«. In der veränderten Situation der Kapitel 1-9, in der Paulus die Gemeinde wieder auf seiner Seite hatte, und in der die kürzlich gewonnene Versöhnung nach einem unangenehmen Streit noch zerbrechlich war, wäre es nicht klug gewesen, wenn Paulus sehr direkt und aggressiv diejenigen Personen angegriffen hätte, die erst kürzlich wichtige Autoritäten für die Gemeinde gewesen waren. Es genügte, dass er auf indirekte Weise ihre Falschheit ins Licht brachte. In dieser Konstellation erhalten nach meiner Sicht viele Einzelheiten im Text des 2Kor die ungezwungenste Erklärung. Die hermeneutischen Konsequenzen sind von einigem Gewicht: So kann »Die Exegeten sind […] Meister der Erklärung.« »Es ist hermeneutisch von nicht geringer Bedeutung, dass Paulus selbst eigene Meinungen, Urteile und Entscheidungen nachträglich bedauern und modifizieren konnte.« Zeitschrift für Neues Testament_38 typoscript [AK] - 20.03.2017 - Seite 52 - 3. Korrektur 52 ZNT 38 (19. Jg. 2016) Kontroverse man nämlich im Kontext von Unterricht und Predigt nicht nur die Sachaussagen, sondern auch die Wucht, mit der Paulus sie vorträgt, besser ins Verhältnis setzen. Es ist hermeneutisch von nicht geringer Bedeutung, dass Paulus selbst eigene Meinungen, Urteile und Entscheidungen nachträglich bedauern und modifizieren konnte. Wenn man dagegen 2Kor als einen ursprünglich einheitlichen Brief betrachtet, bringt man sich um diese Möglichkeit. Es ist dann nicht mehr möglich, den Umstand, dass Paulus selbst später mit dem Inhalt der Kapitel 10-13 nicht mehr ganz zufrieden war, für die Auslegung fruchtbar zu machen. Wie ernst soll man dann überhaupt die Äußerungen der Freude und Erleichterung und andererseits die Äußerungen des Ärgers, der Enttäuschung, der Drohung und der Strafe nehmen? Hier gelangen Vertreter der Einheitlichkeitshypothese und Vertreter der Kompilationshypothese zwangsläufig zu sehr unterschiedlichen Ergebnissen. Dies betrifft besonders die Auslegung des Kapitels 7 und der Kapitel 10-13. Legt man die Annahme der literarischen Einheitlichkeit zugrunde, muss man die Äußerungen der Freude in Kapitel 7 wie auch die negativen Aussagen in den Kapiteln 10-13 in ihrer Stärke und buchstäblichen Bedeutung relativieren. 7 Andernfalls bekommt der Ausleger nämlich Schwierigkeiten, zu erklären, wie Paulus in demselben Brief gleichzeitig so zufrieden und so unzufrieden mit der Gemeinde sein kann. Es ist unter dieser Voraussetzung schlicht nicht möglich, den Text so zu lesen, wie er dasteht. Selbstredend kann hier rhetorische Übertreibung im Spiel sein. Die rhetorische Zuspitzung der Freude des Paulus und seines Zornes in demselben Brief würden aber doch gegen alle vernünftigen Regeln der Rhetorik verstoßen und in ihrer Widersprüchlichkeit keinen Sinn ergeben. Man kommt dann nicht umhin, Äußerungen der Freude ebenso wie Ausbrüche des Zorns zu verwässern. Die Vertreter der Uneinheitlichkeit sind dagegen ohne Probleme dazu in der Lage, die konträren Äußerungen so in ihrem Wortlaut und in ihrer vollen Kraft gelten zu lassen und dementsprechend auszulegen. Trennt man, wie ich es tue, die Kapitel 10-13 von den Kapiteln 1-9, dann darf Paulus in den vier letzten Kapiteln so zornig, bitter, verzweifelt, traurig, höhnisch, närrisch, drohend und protzig bleiben, wie er es hier wirklich ist. Dann dürfen andererseits auch die Kapitel 1-9 ohne diese (im Text tatsächlich auch fehlenden) negativen Stimmungen ausgelegt werden. Dann und nur dann kann man der freudigen und zuversichtlichen Stimmung dieser neun ersten Kapitel freien Raum geben. Wenn Paulus also schreibt: »Ich freue mich, dass ich mich in allem auf euch verlassen kann« (7,16), darf man im Rahmen dieser Hypothese die Äußerung ernst nehmen. Paulus meint dann, was er schreibt. Dies gilt auch, wenn Paulus in einer früheren Phase des Konflikts den Gemeindegliedern wie folgt droht: »Wenn ich wieder komme, werde ich (euch) nicht mehr schonen« (13,2). 8 Gewiss kann man behaupten, dass die skizzierten Unterschiede zwischen den beiden Hypothesen hermeneutisch nicht sonderlich ins Gewicht fallen, sofern ja in diesen Versen keine für den Glauben der Christenheit zentralen Wahrheiten behandelt werden. Die Verse werfen, wenn man sie so oder so auslegt, lediglich näheres Licht auf die Lebensgeschichte und auf die Person des Apostels. Sie scheinen also wichtiger für die akademische Exegese als für die Lehre der Kirche zu sein. Es ist aber nicht gleichgültig, welche Auffassung man von der Person des Paulus hat. Das Gesamtbild, das die Forschung vom Verfasser der Briefe entwickelt, hat auch Auswirkungen darauf, wie man den Inhalt der einzelnen Verse auslegt. Paulus ist von allen Verfassern des Neuen Testaments derjenige, der uns als historische Persönlichkeit am deutlichsten sichtbar wird. Wir können von ihm anhand seiner Briefe und mit Hilfe einer kritischen Lektüre der Apostelgeschichte im Prinzip ein recht anschauliches Bild entwerfen. Darum ist es auch möglich, in seinen Briefen Nuancierungen und Betonungen herauszuarbeiten, die durch seine Lebensgeschichte und seine Persönlichkeit in den Text Eingang gefunden haben. Dass er ein ehemaliger Pharisäer war und die Gemeinde verfolgt hat, verleiht seiner Botschaft ein klares Gepräge. Dass er unter einer chronischen Krankheit litt, ist für das Textverständnis ebenfalls nicht ohne Bedeutung. Wir gewinnen auch einen Eindruck davon, wie er die Welt sah und wie er worauf reagierte. Auch dadurch erschließen sich viele Einzelheiten in seinen Briefen, auch wenn man sich hier zwangsläufig in einem hermeneutischen Zirkel bewegt. Er war sicher kein Durchschnittsmensch, sondern, wie viele andere Genies der Weltgeschichte, eine markante Persönlichkeit mit starken Emotionen und schroffen Urteilen. Übertreibungen in die negative wie in die positive Richtung waren ihm ebenso wenig fremd wie Euphorie und tiefe Niedergeschlagenheit, aber auch der Fanatismus für die Sache, die ihm als unveräußerliche Wahrheit galt, am Anfang der Kampf gegen die Christusverehrer, dann der kompromisslose Kampf für das freie Evangelium. Wenn man den 2Kor »Paulus ist von allen Verfassern des Neuen Testaments derjenige, der uns als historische Persönlichkeit am deutlichsten sichtbar wird.« Zeitschrift für Neues Testament_38 typoscript [AK] - 20.03.2017 - Seite 53 - 3. Korrektur ZNT 38 (19. Jg. 2016) 53 Lars Aejmelaeus Der 2. Korintherbrief als Drama von Streit und Versöhnung für einheitlich hält, den Inhalt in der Abfolge des kanonischen 2Kor liest und dennoch die ins Auge fallenden Widersprüche nicht mit komplizierten und wenig glaubwürdigen Erklärungen zu glätten versucht, müssen in die auch so bereits einzigartige Persönlichkeit des Paulus Züge hineingelesen werden, die einen Exegeten und überhaupt alle, die die Briefe des Paulus als autoritative Texte des Christentums betrachten, nicht wenig beunruhigen müssen. Ist der Mann, der einen so widerspruchsvollen Brief schreibt, bei vollem Verstand? Hat er am Ende des Briefes schon vergessen, was er am Anfang geschrieben hat? Würde ein Verfasser mit gesundem Urteilsvermögen alles, was er durch den Text 2Kor 1-9 erreichen wollte, mit der groben Kritik gegen die Gemeinde am Ende des Briefes ruinieren? So ist namentlich im Hinblick auf die Kapitel 8-9 zu fragen. Sie sind ja eine energische Ermunterung zu einer großzügigen Kollekte für die Jerusalemer Gemeinde, in der auch schmeichelnde Töne an die Adresse der Korinther nicht fehlen. Die hermeneutischen Konsequenzen der Einheitlichkeitshypothese für das paulinische Psychogramm sind schlicht unangenehm: In diesem Licht möchte man den Heidenapostel nicht sehen! Reimund Bieringer hat dieses Problem klar gesehen, wenn er einen »Gewinn« der Kompilationshypothesen eben darin sieht, dass mit diesen Hypothesen Paulus »als Autor bzw. Mensch/ Theologe[n]« gerettet wird: »So erscheint Paulus in den meisten Kompilationshypothesen nicht nur als kompetenter Kommunikator, sondern auch als erfolgreicher Konfliktlöser. Die Kompilationshypothesen führen also […] zu einem viel attraktiveren Paulusbild.« Hier hat Bieringer Recht, aber er geht zu weit, wenn er meint, »dass die tiefste Motivation aller Kompilationshypothesen darin besteht, Paulus als Autor […] zu retten.« Es gibt auch viele andere Fakten im Text des 2Kor, die für die Uneinheitlichkeit sprechen, etwa sprachliche Vergleiche zwischen einzelnen Versen in Kapitel 1-9 und 10-13. Ebenso sprechen Notizen zu den Mitarbeitern des Paulus, zu seinen Reiseplänen und zu dem erwähnten Vorbrief klar für eine Kompilationshypothese. Zur Änderung des Verhältnisses des Paulus zu seiner Gemeinde im »Versöhnungsbrief« (verglichen mit dem »Tränenbrief«) kommt außerdem noch umgekehrt die Änderung des Verhältnisses der Gemeinde zu Paulus: In den Kapiteln 1-9 ist sie wieder treu und zufrieden mit ihrem Apostel, in den Kapiteln 10-13 rebelliert sie gegen ihn. 9 Für unser Verständnis des wichtigsten theologischen Denkers, den wir aus der ersten christlichen Generation kennen, ist die Platzierung seiner Briefe in den tatsächlichen geschichtlichen Kontexten von großer Bedeutung. Der Apostel Paulus war ein lebendiger Mensch von Fleisch und Blut und hat seine Briefe nicht im geschichtslosen Raum als Sammlung von überzeitlich gültigen Offenbarungen verfasst; vielmehr hat er alle seine Briefe für bestimmte Zwecke und für bestimmte Adressaten in einer besonderen Situation und mit besonderen Problemen geschrieben. Eben auf diese Weise bekommen die Briefe auf eine paradoxale Weise ihren Wert als autoritative Schriften für jede christliche Generation und für jede mögliche Situation, in der Christen leben. Dagegen sind Schriften, die von vornherein in der Absicht verfasst wurden, ein überzeitlich gültiges Wahrheitszeugnis zu formulieren, weniger inspirierend und anschaulich. Ebenso droht ein Text, der von allen Seiten durchdacht und gegen Fehlinterpretationen immunisiert wird, dünn und abstrakt zu werden. Die Widerhaken und Reibungspunkte, die ihn interessant und lebendig machen, kommen dann nicht mehr zur Geltung. Eben weil die Paulusbriefe ungeschönt ihre akute und individuelle Entstehungssituation widerspiegeln und weil Paulus seine Person in ihnen so offen zum Vorschein bringt, sind seine Briefe für die Christenheit neben den Evangelien seit jeher die wichtigsten Quellen der Inspiration gewesen. Eben dies stellt die Interpretation aber auch vor Schwierigkeiten ganz eigener Art. Weil es sich bei diesen Texten um Gelegenheitsschriften handelt, ist bei der Exegese auch in Rechnung zu stellen, dass Paulus nicht überall mit demselben Nachdruck diktiert hat. Ebenso variiert sein Stil. Wir finden in seinen Briefen Ironie, rhetorische Wendungen und Übertreibungen neben Stellen, an denen er mit ganzem Ernst über die zentralen Glaubenswahrheiten unterrichten will. Um dies alles gebührend berücksichtigen und unterscheiden zu können, ist es wichtig, sich vom Zweck der Briefe und von der Situation der Adressaten und des Paulus ein möglichst authentisches Bild zu verschaffen. Das sollte zwar eine Selbstverständlichkeit sein, muss hier aber doch betont werden, weil man sonst die hermeneutische Bedeutung der einleitungswissenschaftlichen Entscheidung für oder wider die literarische Einheitlichkeit des 2Kor leicht bagatellisiert. In vielen Einzelheiten unterscheiden sich die Auslegungen beträchtlich. Die Entscheidung hat auch, »Eben weil die Paulusbriefe ungeschönt ihre akute und individuelle Entstehungssituation widerspiegeln und weil Paulus seine Person in ihnen so offen zum Vorschein bringt, sind seine Briefe für die Christenheit neben den Evangelien seit jeher die wichtigsten Quellen der Inspiration gewesen.« Zeitschrift für Neues Testament_38 typoscript [AK] - 20.03.2017 - Seite 54 - 3. Korrektur 54 ZNT 38 (19. Jg. 2016) Kontroverse wie oben erläutert, Konsequenzen für unser Gesamtbild, das wir von Paulus haben, was wiederum Konsequenzen für die Interpretation seiner Texte nach sich zieht. Als Vertreter einer Kompilationshypothese denke ich, dass ich dadurch die Texte am besten und am folgerichtigsten interpretieren kann. Nicht die Rettung des Apostels war hierbei mein Ansinnen, sondern der schlichte Umstand, dass die meisten und wichtigsten Einzelheiten des Textes auf diese Weise meiner Meinung nach die bestmögliche Erklärung erhalten. Dass damit nicht zuletzt und auf eigene Weise auch der Ruhm des Heidenapostels gerettet wird, muss am Ende nicht eigens betont werden. Anmerkungen 1 Vgl. R. Bieringer/ J. Lambrecht (Hg.), Studies on 2 Corinthians (Bibliotheca Ephemeridum Theologicarum Lovaniensium CXII), Leuven 1994. 2 Vgl. L. Aejmelaeus, Streit und Versöhnung. Das Problem der Zusammensetzung des 2. Korintherbriefes (Schriften der Finnischen Exegetischen Gesellschaft 46), Helsinki 1987; L. Aejmelaeus, Schwachheit als Waffe. Die Argumentation des Paulus im ‚Tränenbrief‘ (2Kor. 10-13) (Schriften der Finnischen Exegetischen Gesellschaft 78), Göttingen 2000. 3 Zur Problematik des Abschnitts 6,14-7,1 vgl. E. Gräßer, Der zweite Brief an die Korinther: Kapitel 1,1-7,16 (ÖTK 8/ 1), Gütersloh [u. a.] 2002, 255-265. 4 Vgl. hierzu J. Linko, Paul’s Two Letters to the Philippians? Some Critical Observations on the Unity Question of Philippians, in: L. Aejmelaeus/ A. Mustakallio (Hg.), The Nordic Paul. Finnish Approaches to Pauline Theology, European Studies on Christian Origins, hg. von M. Labahn. (LNTS 374), London [u. a.] 2008, 156-171. 5 Zu den Einleitungsfragen des Röm vgl. etwa E. Lohse, Der Brief an die Römer (KEK 4), Göttingen 2003, 49-53. 6 Warum hat der Redaktor das Textmaterial genau so verbunden, wie es uns heute vorliegt? Hier kann man nur raten. Es gibt jedoch eine Anzahl von möglichen Antworten, die sein Vorgehen plausibl erscheinen lassen. Bieringer mag auf der richtigen Spur sein, wenn er schreibt: »Offensichtlich hatte ein späterer Redaktor kein Interesse an der ursprünglichen Briefsituation […]«. Denkbar ist, dass jemand ziemlich mechanisch einfach den kürzeren Text an den längeren angefügt hat. Vgl. dazu noch Aejmelaeus, Streit und Versöhnung, 24. 7 Freilich: Nicht alles, was Paulus in den Kapiteln 1-9 schreibt, strahlt reine Zufriedenheit und Freude aus. Dies betonen die Vertreter der Einheitlichkeitshypothese immer wieder, so etwa Bieringer, Studies on 2 Corinthians, 168: »Ein Vergleich von Schärfe und Tiefe des vorauszusetzenden Konflikts erlaubt es durchaus, in 2,14-7,4 und Kap. 10-13 von derselben Phase des Konflikts auszugehen.« Hier kann man wahrlich sehr anderer Meinung sein, ebenso, wenn Bieringer, Studies on 2 Corinthians, 168-169, auf folgende Weise die Teile des 2Kor miteinander vergleicht: »[Es ist] vorstellbar, dass der Apostel zunächst über die guten Nachrichten begeistert in eher freudig versöhntem Ton schrieb, dass er sich jedoch schon während der Abfassung des Briefes nach und nach der Tatsache bewusst wurde, dass jetzt erst die Lösung des grundlegendsten Aspekts des Problems (bzw. des eigentlichen Problems) anstand.« 8 Bieringer, Studies on 2 Corinthians, 162-163, legt 7,16 auf folgende Weise aus: »Paulus bescheinigt den Korinthern also nicht volle Vertrauenswürdigkeit, sondern gewährt ihnen eher einen Vorschuss seines Vertrauens, etwa aufgrund ihres jüngsten Verhaltens. Solche Zuversicht macht weitere Versöhnungsaufrufe nicht unmöglich, denn sie kann ja bedeuten, dass gerade jetzt solche Aufrufe Gehör finden können.« Die Worte des Paulus »ich kann mich in allem auf euch verlassen« werden hier auf eine für die Vertreter der Einheitlichkeitshypothese typische Weise in ihrer Bedeutung bagatellisiert. Bieringer sieht die Schwäche dieser Auslegung und versucht, dieselbe auf folgende Weise zu retten: »Bei allen diesen Überlegungen sollte auch nicht vergessen werden, dass Paulus aufgrund seines Temperaments sowie in emotional überladenen Situationen durchaus zu stilistischen Übertreibungen neigt, die sich der strengen Logik entziehen, so dass ein offenbarer Widerspruch in Logik, Ton oder Stil nur schwerlich zum Ausgangspunkt literarkritischer Hypothesen gemacht werden kann.« Wenn wir aber ohne Vorurteile den ganzen 2Kor im Wortlaut lesen, so stellt sich die Frage, ob es denn eine sinnvolle Annahme ist, dass jemand bei der Abfassung eines solchen Briefes seine Sinne nicht gänzlich unter Kontrolle gehabt haben soll. 9 Bieringer, Studies on 2 Corinthians, 165-166 versucht, die Bedeutung der »Reue« der Gemeinde in Kapitel 7 zu relativieren und schreibt: »Nichtsdestoweniger ist […] festzuhalten, dass μετάνοια nicht die volle und endgültige Bekehrung und die daraus resultierende vollständige Aussöhnung beinhaltet […]«. Die Reue der Korinther beziehe sich nur auf den Mann, »der Unrecht tat« (7,12). Auch hier kann man durchaus anderer Meinung sein.