eJournals ZNT – Zeitschrift für Neues Testament 18/36

ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
2015
1836 Dronsch Strecker Vogel

»Das Wort G*ttes ist lebendig und wirksam«

2015
Elaine M. Wainwright
Zeitschrift für Neues Testament_36 typoscript [AK] - 13.11.2015 - Seite 64 - 4. Korrektur 64 ZNT 36 (18. Jg. 2015) »Geschichten bestimmen das Leben. Sie vereinen uns und trennen uns voneinander. Wir bewohnen die großen Geschichten unserer Kultur. Wir leben durch Geschichten. Wir sind geprägt von den Geschichten unserer Tradition und Geschichte.« 2 Die Evangelienerzählungen der christlichen Bibel sind Geschichten. Entstanden an unterschiedlichen Orten der römischen Welt des 1. Jh. n. Chr., wurden sie von Anfang an als Geschichten entwickelt. Sie reisten mit verschiedenen Teilen der christlichen Weltgemeinschaft zu Stätten weitab von ihrem ursprünglichen Entstehungsort. Und über Jahrtausende hinweg wurden sie in den unterschiedlichsten Ländern, Kulturräumen und Lebenssituationen ausgelegt. Sie formten die Vorstellungen derjenigen, die sie als literarischen Text lasen, ebenso derjenigen, die sie als Dokument des Glaubens in Anspruch nahmen. Sie weckten bei den Lesenden die höchsten Erwartungen, während sie gleichzeitig dafür hergenommen wurden, Völker zu unterdrücken und deren Kultur zu zerstören. Die Geschichten der Evangelien begegnen uns heute mit all dieser Kraft und Ambivalenz. Das Evangelium nach Matthäus erzählt uns eine dieser Geschichten. Es war eben dieses Matthäusevangelium, das mich als junge Frau, die der gerade aus dem Zweiten Vatikanischen Konzil hervorgegangenen katholischen Kirche angehörte, in seinen Bann zog. Das große Thema des Konzils war Aggiornamento oder Erneuerung: Ein Aufruf zur Reformierung von Lebensweisen, die zwar dem Evangelium entsprachen, für die Welt des 20. Jahrhunderts aber nicht mehr von Bedeutung waren. Zu derselben Zeit wurden weltweit Schreie gegen Ungerechtigkeit laut. Sie ertönten aus den Straßen von Paris, den barrios Zentral- und Südamerikas und aus den großen Metropolen der Welt, wo Hunderte und Tausende einen Protestlauf gegen Ungerechtigkeit antraten und diesen bis heute weiterverfolgen. Diesen innerhalb und außerhalb der katholischen Kirche wirkenden Geist samt einer neuen Vision, die nicht nur die Kirche, sondern auch die Gesellschaft im Ganzen betraf, brachten die Worte aus Mt 13,52 treffend zum Ausdruck: Jeder Schriftgelehrte, der »unterrichtet« ist in der basileia/ »kin-dom« 3 der Himmel, ist wie ein Mensch, der einen Haushalt führt und dabei Neues und Altes »hervorholt«. 4 Dies war der Grund, weshalb ich mich zu Beginn meines bibelwissenschaftlichen Studiums dem Matthäusevangelium zuwandte. Auf dem Hintergrund von fünfzig Jahren, in denen die katholische Weltgemeinschaft aus dem Geist des Zweiten Vatikanischen Konzils lebt und angesichts einer Welt, die sich seit Jahrzehnten in unterschiedlichen Wellenbewegungen gegen Ungerechtigkeit zur Wehr setzt, möchte ich zeigen, wie das Wort der Bibel, das Wort eines Evangeliums, neu gehört werden kann und neu gehört werden muss. Auf meinem Weg als Matthäusforscherin, auf dem ich seit über dreißig Jahren unterwegs bin, ist mir klar geworden, dass dieses Wort tatsächlich »lebendig und wirksam« ist (Hebr 4,12). Exegetinnen und Exegeten können das im Bibeltext angelegte Potential freisetzen, oder aber sie nehmen den Text so streng in Gewahrsam, dass sein Neues auf unsere heutige Sicht der Dinge gar nicht einwirken kann. Ich möchte nun zeigen, wie der aufmerksame Blick in die Welt und das engagierte Ankämpfen gegen die sie beherrschenden, ineinander verwobenen Systeme der Ungerechtigkeit zur Ausbildung neuer Deutungsperspektiven und biblischer Hermeneutiken führen kann, und zwar im Dialog mit den Veränderungen auf dem Feld der exegetischen Methoden, die bereits die letzten Jahrzehnte der Forschungsgeschichte geprägt und das Aufkommen neuer und auf Befreiung zielender Modelle der Textauslegung befördert haben. Im Folgenden will ich einige dieser methodologischen und hermeneutischen Umbrüche nachzeichnen, unter deren Einfluss meine eigene wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Matthäusevangelium seit drei oder mehr Jahrzehnten steht. 5 Dabei konzentriere ich mich auf Mt 9,18-26. 1. Ein etabliertes methodologisches Paradigma wird brüchig-- die frühen 1980er Jahre Als ich im Jahr 1983 mein bibelwissenschaftliches Postgraduiertenstudium begann, stieß ich auf ein für die Evangelienforschung bahnbrechendes Werk, dessen Veröffentlichung nur ein Jahr zurücklag, nämlich Mark as Story: An Introduction to the Narrative of a Gospel von David Rhods und Donald Michie. 6 Es repräsentierte einen bedeutenden Wandel unter dem in der Litera- Elaine M. Wainwright »Das Wort G*ttes ist lebendig und wirksam« Eine neue Lektüre von Mt 9,18-26 1 Hermeneutik und Vermittlung Zeitschrift für Neues Testament_36 typoscript [AK] - 13.11.2015 - Seite 65 - 4. Korrektur ZNT 36 (18. Jg. 2015) 65 Elaine M. Wainwright »Das Wort G*ttes ist lebendig und wirksam« geschichte einer am Blutfluss leidenden Frau in den Erzählverlauf einer Geschichte, die von der Auferweckung eines jungen Mädchens handelt; zum anderen die augenfälligen sprachlichen und rhetorischen Strukturparallelen und -unterschiede zwischen diesen beiden zu einem Text verwobenen Einheiten. Ich schließe mit der Feststellung: »In beiden Erzählungen betritt das Weibliche als verunreinigte, außerhalb der Grenzen ritueller Reinheit stehende Entität die Szenerie. Außerdem verstößt die am Blutfluss leidende Frau gegen die geltenden gender-Konventionen. In keiner der Erzählungen hat Wiederherstellung der Gesundheit jedoch die Wiedereingliederung in die patriarchale Familienstruktur (als Quelle der Heilung) zur Folge. Folglich haben Frauen wie Männer unmittelbar Anteil an den Wohltaten der βασιλεία als der rettenden, lebenspendenden Kraft Jesu.« 10 Diese Feststellung basiert nicht nur auf einer sorgfältigen narrativen Analyse, sondern auch auf einer Wahrnehmung von gender und gendering des Textes. Wir wenden unsere Aufmerksamkeit in diesem Sinne nun einer feministischen Hermeneutik zu, die fast zeitgleich mit diesen methodologischen Veränderungen in der Bibelwissenschaft aufkam. Zuvor erscheint es jedoch angebracht, kurz auf einen weiteren, etwa zeitgleichen methodologischen Fortschritt einzugehen, nämlich auf das Aufkommen der sozialgeschichtlichen Interpretation. Dieser Ansatz weist viele Gemeinsamkeiten mit der historisch-kritischen Methode auf. Der Fokus liegt auf der Bedeutung eines Textes in seinem sozialgeschichtlichen oder soziokulturellen Kontext. Die Innovation dieses Ansatzes bestand darin, dass man in einen umsichtigen Dialog mit moderner sozialwissenschaftlicher Theoriebildung eintrat und die dort angewandten Modelle für neue Lektüren biblischer Texte fruchtbar machte. 11 Einige Vertreter und Vertreterinnen feministischer Exegese haben sich kritisch mit diesem und mit anderen Ansätzen befasst. Kritisiert wurde insbesondere, dass die sozialwissenschaftlich informierten Lektüren gleichwohl den patriarchalen und androzentrischen Konstruktionen des 1. Jh. n. Chr. verhaftet blieben. Eine dieser Kritikerinnen ist Elisabeth Schüssler Fiorenza: »Greift feministische Exegese auf soziologische oder anthropologische Rekonstruktionsmodelle zurück, so muss sie darauf bestehen, dass diese Modelle auf ihre kyriozentrischen theoretischen Implikationen und kyriarchischen Verengungen hin überprüft werden.« 12 turwissenschaft weitreichenden Einfluss des new literary criticism. Der Fokus dieser Arbeit lag nicht mehr auf der Ermittlung der Bedeutung eines Textes anhand einer umfassenden Analyse seines antiken Kontexts, so der wichtigste Grundsatz der historisch-kritischen Methode, die den bibelwissenschaftlichen Diskurs für über zweihundert Jahre beherrschte. Die Aufmerksamkeit galt nun vielmehr dem Text selbst und der Art und Weise, wie die Vielzahl seiner literarischen Charakteristika (plot, Charaktere, die dem Text eigene Rhetorik usw.) seine Bedeutung generieren. Jack Kingsbury (1986) 7 und Mark Allan Powell (1990) 8 brachten diese neue Methodik schließlich für die Matthäusforschung zur Anwendung. Die Auswirkungen dieses methodologischen Perspektivwechsels auf die exegetische Arbeit an Mt 9,8-26 werden klar erkennbar, wenn man die in historisch-kritischer Perspektive erfolgende Diskussion dieses Textes im dreibändigen Matthäuskommentar von Davies und Allison (gleichsam als Quintessenz der historisch-kritischen Matthäusforschung) mit meiner eigenen narrativen Analyse zu demselben Text in Toward a Feminist Critical Reading of the Gospel according to Matthew vergleicht. Während Davies und Allison sehr sorgfältig die Sprache des Textes analysieren, 9 erfolgt dies stets aus einer redaktionskritischen Perspektive. Die zentrale Frage lautet: Wo weicht Matthäus von Markus ab, was ist matthäisch? Ein Verfahren, welches wiederum der Erstellung des spezifisch matthäischen Bedeutungsprofils dient. Mein eigener narrativer Zugang akzentuiert dagegen die Art und Weise, wie der Text aus sich selbst heraus seine Bedeutung erzeugt. Besondere Beachtung erfährt dabei zum einen die Einschaltung der Heilungs- Elaine Mary Wainwright war Richard Maclaurin Goodfellow Professor für Theologie an der University of Auckland. Seit 2014 ist sie emeritiert. Zu ihren wichtigsten Veröffentlichungen zählen: »Women Healing/ Healing Women: the Genderisation of Healing in Early Christianity« (Equinox 2006), »Shall We Look for Another: A Feminist Re-reading of the Matthean Jesus« (Orbis 1998), Dies. / R. Myles / C. Olivares, »The Gospel according to Matthew: The Basileia of the Heavens is Near at Hand« (Sheffield Phoenix 2014). Prof. Dr. Elaine M. Wainwright Zeitschrift für Neues Testament_36 typoscript [AK] - 13.11.2015 - Seite 66 - 4. Korrektur 66 ZNT 36 (18. Jg. 2015) Hermeneutik und Vermittlung 2. Einstieg: Hermeneutik und hermeneutische Perspektivwechsel wahrnehmen Gegen Ende der 1970er und zu Beginn der 1980er Jahre erschienen zwei bedeutende bibelwissenschaftliche Veröffentlichungen, die einer feministischen Bibelauslegung den Weg bereiteten: 1978 erschien God and the Rhetoric of Sexuality von Phyllis Trible, 13 und 1983 In Memory of Her von Elisabeth Schüssler Fiorenza. 14 Beide Arbeiten beeinflussten meine eigene Suche nach einem Deutungsparadigma entscheidend, wie auch die Suche vieler anderer feministischer Bibelwissenschaftlerinnen meiner Generation. Denn beide schafften Rahmenbedingungen, die gender zu einer kritischen Schlüsselkategorie machten und einen simplen »Tu Frau dazu und fertig«-Ansatz unmöglich machten. Es handelte sich dabei in der Tat um Untersuchungen feministischer Bibelhermeneutik. Insbesondere die exegetische Arbeit von Elisabeth Schüssler Fiorenza und ihr Aufruf, sich nicht nur mit biblischen Texten, die von Frauen handeln, kritisch auseinanderzusetzen, sondern mit »allen biblischen Texten, ihren historischen und theologischen Interpretationen« 15 , hatte entscheidende Auswirkungen auf meine eigene Arbeit. 16 Der anfängliche hermeneutische bzw. interpretative Rahmen, den Schüssler Fiorenza hierfür bereitstellte, umfasste vier Stadien: (1) »Verdacht«, (2) »Verkündigung«, (3) »Erinnerung« und (4) »kreative Aktualisierung«. Die beiden Schlüsselkategorien »Verdacht« und »Erinnerung« haben sich für die feministische Bibelexegese bislang am fruchtbarsten erwiesen. Der »Verdacht« verhilft den feministischen Interpretinnen zu einer kritischen relecture des Textes, seines Kontextes und seiner Auslegungstradition. Der hermeneutische Schritt der »Erinnerung« schafft innerhalb des Interpretationsprozesses Raum für semantische Neuschöpfungen, die die Bedeutungsgrenzen der im Text bislang vorherrschenden kyriarchischen und androzentrischen Begrifflichkeiten und Strukturen aufbrechen. Im weiteren Verlauf des Auslegungsprozesses kann es zur »kreativen Aktualisierung«, zum Neuvorstellen oder zum Neuerzählen des weiblichen Charakters im biblischen Text kommen. Dies kann innerhalb und außerhalb des akademischen Diskurses vonstattengehen. 17 Selbiges gilt für das hermeneutische Stadium der »Verkündigung«: Sie entspringt der Interpretationsarbeit von Wissenschaftlerinnen, kommt aber außeruniversitär zum Einsatz, und zwar insofern, als Texte auf unzählige Arten und Weisen in der weiblichen ekklēsia verkündigt werden. Elisabeth Schüssler Fiorenza sieht diese ekklēsia als »radikal demokratischen Diskurs, als politisches Gebilde und […] als Zentrum und Horizont einer kritischen feministischen Hermeneutik und Rhetorik der Befreiung«. 18 Diese ekklēsia bietet Raum für alle, mit dem Ziel, dass feministische Befreiung alle erreicht. Sie versteht sich nicht als exklusiv organisierte Enklave einiger Weniger. Feministische Bibelexegese strebt die religiöse und kulturelle Transformation im Ganzen der Gesellschaft an. Das zentrale Leitmotiv feministischer Hermeneutik bzw. die Brille, durch welche ich das Matthäusevangelium in den 1980er Jahren las, lautete »Inklusion«. Unter Anwendung des narrative criticism wollte ich zunächst die Inklusion von Frauen in der Erzählung wiederfinden. Unter dem Einfluss einer feministischen Hermeneutik stellte sodann die Redaktionskritik das Instrumentarium für die Frage zur Verfügung, inwiefern Frauen am Entstehungsbzw. Redaktionsprozess des jeweiligen Textes beteiligt waren. Daran anknüpfend schaffte der Dialog mit neuen Erkenntnissen, die feministische Historikerinnen des frühen Christentums offenlegen konnten, und deren Widerhall in der matthäischen Erzählstruktur, die Grundlage, um schließlich die Inklusion von Frauen in der Geschichte, insbesondere der Geschichte der matthäischen Gemeinschaft, zu ermitteln. Dies war meine erste umfassende feministische Lektüre des Matthäusevangeliums. Parallel dazu entstanden in dieser Zeit weitere feministische Untersuchungen zu den übrigen drei Evangelien, ebenso wie zu anderen neutestamentlichen Texten. 19 Ein kurzes Zitat aus dem redaktionskritisch ausgerichteten Schlusskapitel zu Mt 9,18-26 verleiht einen Einblick in die aufkommende feministischer Exegese: »Die einfache und doch eindrucksvolle Geschichte von der Auferweckung der Tochter eines Vorstehers wurde in einer frühen vormatthäischen Quelle mit der Geschichte von der Heilung einer am Blutfluss leidenden Frau verbunden, denn beide Geschichten wirken darin zusammen, dass sie die Aufmerksamkeit auf die Grenzen richten, die Frauen wegen ihres Geschlechtes gesetzt wurden, was wiederum ihren Ausschluss vom religiösen und sozialen Gemeinschaftsleben zur Folge hatte […] Die matthäische Redaktion hat eine Geschichte in der Schlichtheit bewahrt, in der sie innerhalb der matthäischen Gemeinde überliefert worden war. Dies ist vielleicht ein Indiz für den zentralen Stellenwert dieser Art von Geschichte oder Geschichten innerhalb der Gemeinschaft oder innerhalb gewisser Bereiche dieser Gemeinschaft.« 20 »Feministische Bibelexegese strebt die religiöse und kulturelle Transformation im Ganzen der Gesellschaft an.« Zeitschrift für Neues Testament_36 typoscript [AK] - 13.11.2015 - Seite 67 - 4. Korrektur ZNT 36 (18. Jg. 2015) 67 Elaine M. Wainwright »Das Wort G*ttes ist lebendig und wirksam« In den folgenden Jahrzehnten erfuhr die feministische Exegese eine weitere Fortentwicklung und Verfeinerung, insbesondere durch den Dialog mit der feministischen kritischen Theorie. Exemplarisch verweise ich auf die feministische Philosophin Rosi Braidotti (1994) 21 und ihre Analyse der Kategorie »Differenz«, um den matthäischen Jesus in feministischer Perspektive zu lesen. 22 Diese Kategorie ermöglicht, Stimmen aus unterschiedlichen Interpretationsgemeinschaften zur Geltung zu bringen, die im weiteren Gemeinde-Kontext, in dem das Evangelium entstanden war, von Jesus erzählten: 23 gefährdetes Kind, Befreier, Sophia, Grenzgänger, sämtliche identity marker, die oft im Schatten der expliziten Hoheitstitel Kyrios, Menschensohn und Sohn G*ttes standen, denen bis heute die Mehrheit an Exegetinnen und Exegeten ihre Aufmerksamkeit widmet. Eine derartige Lektüre stellt eine hermeneutische Herausforderung für die historisch-kritische Methode dar, die sich der Wahrnehmung der im Text und seiner Gemeinschaften oder Hauswesen hörbaren vielfältigen Stimmen stets verschlossen hat und auch gegenwärtig noch immer verschließt. Im Rahmen dieser Untersuchung sollen sie sich jedoch erneut Gehör verschaffen. An dieser Stelle ist eine vorwiegend methodologische Bemerkung in diese hermeneutischen Überlegungen einzuflechten, damit deutlich wird, dass beides, Methode und Hermeneutik, bei der Textauslegung in besonderer Weise zusammen hängt: Von Anfang an fehlte innerhalb der Bibelwissenschaften eine spezifisch feministische Methodik. Zur Verfügung stand den feministischen Exegetinnen vielmehr ein breites Methodenspektrum, das von der altbewährten historischkritischen Methode bis hin zu neueren und neuesten Methoden reichte. Diese wie jene wurden, wie ich noch zeigen werde, durch ihre Anwendung im Kontext einer feministischen Hermeneutik vielfach modifiziert. Für den Augenblick möchte ich lediglich darauf hinweisen, dass ich die Methodik, die ich bei meiner feministischen Lektüre des matthäischen Jesus zur Anwendung brachte, als sozio-rhetorisch bezeichnete. Die Arbeit von Vernon Robbins kannte ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht, doch griff ich seinen sozio-rhetorischen Ansatz für spätere Projekte auf modifizierte Weise auf. Bei jener Lektüre lag der Schwerpunkt auf der Poetik, Rhetorik und Politik des Textes und ich nannte den Zugang engendered reading. Diese Terminologie gibt bereits zu erkennen, wie eng Hermeneutik und Methodik miteinander verflochten sind. Was die hermeneutische Seite betrifft, so wurde schnell klar: Als Frauen aus mannigfaltigen Interpretationsräumen biblische Texte feministisch und kritisch auszulegen begannen, war gender nur eine unter vielen feministischen Analysekategorien, die sich für die Auslegung biblischer Texte als tragfähig erwiesen, um das Ziel einer befreienden Lektüre zu erreichen. Hautfarbe, Abstammung, Erfahrungen mit Kolonialisierung, Religionszugehörigkeit, Sexualität und viele andere Analysekategorien bildeten sich neben gender heraus, was zu einer erheblichen Vielstimmigkeit innerhalb feministischer Bibelinterpretation führte. Mit Blick auf die Matthäusforschung möchte ich die Aufmerksamkeit in diesem Zusammenhang auf die Arbeit zweier Wissenschaftlerinnen lenken. Zunächst auf Amy-Jill Levine, deren Verdienst darin bestand, feministische Forscherinnen des frühen Christentums zur Wahrnehmung der mehr oder weniger subtilen antijüdischen Facetten christlicher Bibelauslegung zu führen. 24 Einen zweiten kritischen Impuls verdankt die westliche feministische Matthäusforschung Musa Dube, die für ihre Evangelienlektüre ein feministisches und ein postkoloniales Paradigma kombiniert. Ihr Ziel ist eine befreiende Lektüre zugunsten derjenigen, die das Evangelium heute im kolonialen/ postkolonialen Kontext lesen. 25 Die Weichen für die weitere Herausbildung einer kritischen Bibelhermeneutik und Methodik sind damit gestellt. 3. Methodik und Hermeneutik: Ein komplexes Wechselverhältnis Fragen der Gerechtigkeit wie Klasse, Abstammung, gender, Kolonialisierung, Sexualität und dergleichen mehr kursieren in unseren Gesellschaften und halten sie in Atem. Die Themen scheinen sich regelrecht zu vervielfältigen. Wie bereits erwähnt bleibt die Bibelwissenschaft davon nicht unberührt. Ökologische Fragen gewinnen in jüngster Zeit erschreckend an Brisanz und fordern die internationale Gemeinschaft heraus. 26 Was für andere Gerechtigkeitsbewegungen galt, gilt auch hier: Bibelexegetinnen und -exegeten verhalten sich solchen Fragen und Herausforderungen gegenüber nicht indifferent. Die folgenden Ausführungen bieten eine knappe Einführung »Als Frauen aus mannigfaltigen Interpretationsräumen biblische Texte feministisch und kritisch auszulegen begannen, war gender nur eine unter vielen feministischen Analysekategorien, die sich für die Auslegung biblischer Texte als tragfähig erwiesen, um das Ziel einer befreienden Lektüre zu erreichen.« Zeitschrift für Neues Testament_36 typoscript [AK] - 13.11.2015 - Seite 68 - 4. Korrektur 68 ZNT 36 (18. Jg. 2015) Hermeneutik und Vermittlung in ökologische Hermeneutik, eine Positionierung meines eigenen Ansatzes innerhalb dieses Rahmens, die Skizze einer geeigneten Methode für ökologische Bibellektüre und abschließend eine Interpretation von Mt 9,18-26 auf der Grundlage dieser Methode. Ich kann hier nicht en détail auf die Entstehung der beiden führenden Paradigmen innerhalb der ökologischen Bibelexegese und ihre Entwicklung in den letzten fünfzehn Jahren eingehen: den öko-kritischen Zugang, paradigmatisch vertreten durch die Arbeit von Norman Habel 27 und den sogenannten öko-theologischen Zugang, der üblicherweise mit den Arbeiten von David Horrell und seiner Forschergruppe an der Exeter University in Bezug gebracht wird. 28 Diese Forschungsansätze wurden bereits zur Genüge beschrieben. Vielmehr will ich zeigen, inwiefern meine eigene ökologische Hermeneutik und Lesart nahezu organisch aus einer feministischen (Gerechtigkeits-) Hermeneutik erwachsen ist, die sich über Jahrzehnte meiner bibelwissenschaftlichen und für Gerechtigkeit eintretenden Arbeit entwickelt hat. Die Erkenntnis, dass Frauen in biblischen Erzählungen oft nicht zur Sprache kommen oder vom Erzählverlauf ausgeschlossen werden, entsprechend ihrem Status in der damaligen Gesellschaft, war der Impetus für die Ausbildung einer feministischen Bibelhermeneutik-- in all ihren Schattierungen, wie sie durch die vielfältigen Mechanismen der Unterdrückung herausgefordert wurden. In Analogie dazu ließ die zunehmende Einsicht in das Schicksal des Planeten Erde mitsamt all seinen ander-menschlichen Bestandteilen ein ökologisches Bewusstsein aufkommen, das einige Bibelwissenschaftler und -wissenschaftlerinnen zur Ausbildung einer ökologischen Bibelhermeneutik führte. Für viele feministische Wissenschaftlerinnen, Val Plumwood (1993) wäre hier zu nennen, 29 gehören ein feministisches und ökologisches Bewusstsein essentiell zusammen, da beide auf ein für die westliche Welt und die meisten anderen Kulturen unseres Planeten charakteristisches dualistisches Denken reagieren. Es handelt sich um ein Denken in binären Gegensätzen wie männlich/ weiblich, Verstand/ Körper; Mensch/ Tier und dergleichen mehr. 30 Viele dieser Gegensätze prägen auch die Texte der Bibel und haben Einfluss auf die Wahrnehmung ihrer Interpreten. Hermeneutisch erfordert ökologische Sensibilisierung einen grundlegenden Wandel des Bewusstseins. Der Wechsel der Perspektive allein, weg vom androzentrischen Bezugssystem, das das patriarchale Bewusstsein geprägt hat, und das der Feminismus zu demontieren oder zu ersetzen bestrebt war, reicht nicht aus. Es bedarf eines weiteren Paradigmenwechsels, der die Wendung von einer anthropozentrischen Weltsicht, die für uns Menschen so charakteristisch ist, hin zu einer Weltsicht beschreibt, die anerkennt, dass unser Leben inmitten von anderem Leben (biotischem und abiotischem) sich ereignet, mit dem wir den Planet Erde teilen. Lorraine Code nennt diese Perspektive ökologisches Denken und sieht darin ein neues soziales Vorstellungsvermögen, ein neues Paradigma, mit meinen Worten: eine neue Hermeneutik, die in Analogie zur oben erläuterten feministischen und postkolonialen Hermeneutik sowohl Verdacht als auch Umgestaltung bzw. Protest erfordert. 31 Folgende Stellungnahme Code’s bringt dieses entscheidende Wechselverhältnis zwischen feministischer, postkolonialer und ökologischer Hermeneutik, das auch meinen eigenen Ansatz geprägt hat, zum Ausdruck. Sie schreibt: »Mit diesem Buch möchte ich zeigen, warum ein ökologisch umgestaltetes Wissenschaftsverständnis sich feministischen und anderen postkolonialen Denkerinnen und Denkern für die weitere wissenschaftstheoretische Reflexion anempfiehlt. Es bietet einen konzeptuellen Bezugsrahmen für eine antwortend-verantwortliche Erkenntnistheorie und Subjektivität.« 32 An späterer Stelle stellt Code wichtige Querverbindungen her zwischen den sich verändernden hermeneutischen oder interpretativen Perspektiven einerseits und den daraus gewonnenen Interpretationen und vielfältigen Aktionen andererseits, Verbindungen, die sie bereits an anderer Stelle im selben Aufsatz herstellt: »Es bedarf einer Vielzahl an Untersuchungen zu allen affinen und divergierenden Formen von Unterdrückung, vielfältige Forschungen, die ein und dieselbe Art von Unterdrückung von verschiedenen Standpunkten und aufgrund unterschiedlicher Vorannahmen in den Blick nehmen, Forschungen, die vielfältige Koalitionen und Formen des Aktivismus hervorbringen. Entscheidend ist ein Verständnis der Verbindungslinien, aus denen die ungezählten Formen von »Für viele feministische Wissenschaftlerinnen […] gehören ein feministisches und ökologisches Bewusstsein essentiell zusammen, da beide auf ein für die westliche Welt und die meisten anderen Kulturen unseres Planenten charakteristisches dualistisches Denken reagieren.« »Hermeneutisch erfordert ökologische Sensibilisierung einen grundlegenden Wandel des Bewusstseins.« Zeitschrift für Neues Testament_36 typoscript [AK] - 13.11.2015 - Seite 69 - 4. Korrektur ZNT 36 (18. Jg. 2015) 69 Elaine M. Wainwright »Das Wort G*ttes ist lebendig und wirksam« Unterdrückung innerhalb weißer, patriarchalischer, kapitalistischer Gesellschaften ihre sich gegenseitig verstärkende Kraft beziehen. Dann kann die Entwicklung von Strategien der Befreiung gelingen, die solche Zusammenhänge aufbrechen.« 33 Für mein Unterfangen einer ökologischen Lektüre des Matthäusevangeliums 34 ging es nicht nur darum, eine ökologische Hermeneutik zu konzipieren. Ich benötigte ebenso eine exegetische Methode, die eine derartige Lektüre bestmöglich beförderte. Bei meinen neuesten Projekten, insbesondere bei meiner Untersuchung zur Genderisierung von Heilung im frühen Christentum, 35 kam ich zu dem Schluss, dass eine verfeinerte Form der sozio-rhetorischen Methode, wie sie insbesondere von Vernon Robbins entwickelt worden war, sich für eine solche Lektüre als überaus zweckdienlich erwies. 36 Aus diesem Grund bin ich zu einer Methode zurückgekehrt, die sich für eine ökologische Lesart als tragfähig herausstellte. Was im Endeffekt dabei herauskam, ist eine wesentlich modifizierte Anwendung der von Robbins sukzessive ausgebauten sozio-rhetorischen Methodik, 37 in Verbindung mit einer Weiterentwicklung meines eigenen Ansatzes von 2006. Diese meine Methode nannte ich öko-rhetorisch. Wie auch der sozio-rhetorische Zugang ist meine öko-rhetorische Lektüre textbezogen und einem close reading des Textes verpflichtet. Das Schaubild fußt auf einem älteren von Robbins und wandelt dieses ab. 38 Im Zentrum der Interpretation steht der Text mit seinen sämtlichen Bedeutung erzeugenden Bestandteilen. Eigens hinzuweisen ist darauf, dass der Text von der antikmediterranen Welt bzw. Welt des Autors einerseits und der Welt des Interpreten/ Lesers andererseits in Anlehnung an Robbins durch gestrichelte Linien abgegrenzt ist. Dies trägt dem Umstand Rechnung, dass materielle Daten (reale Gegebenheiten, Sachverhalte) ebenso wie sprachliche Zeichen, die der antik-mediterranen Welt des Autors entstammen, sich außerhalb des Textes befinden, aber im Text encodiert werden und auf die intertextuelle und ökologische Struktur des Textes einwirken. Eine wichtige Änderung habe ich an Robbins’ Ansatz vorgenommen: Ich habe das, was er die »sozio-kulturelle Struktur« des Textes nennt, durch »ökologische Struktur« ersetzt. Dadurch will ich die Aufmerksamkeit auf die ander-menschlichen Charaktere im Text lenken, wie z. B. auf Tiere und Vögel, die materielle Beschaffenheit von Orten, Umgebungen und geografischen Räumen, ebenso auf das soziale Leben, welches, berücksichtigt man alle diese anderen Elemente und ihre Funktion innerhalb des Textes, um vieles komplexer ist, als wenn man allein den Faktor Mensch in den Blick nimmt. Die gestrichelten Linien sollen auch auf die Notwendigkeit einer kritischen Hermeneutik gegenüber den Ergebnissen der Analyse des antik-mediterranen Umfelds hinweisen, und ebenso gegenüber dem Text in seinen sämtlichen Texturen. Unter diesen methodischen und hermeneutischen Voraussetzungen wende ich mich nun unserem Text Mt 9,18-26 zu. 39 Dieses Schaubild ist eine abgeänderte Version des Schaubilds von Robbins. 40 4. Eine öko-rhetorische Lektüre von Mt 9,18-26 In Mt 9,18-26 werden die Lesenden mit zwei Heilungsgeschichten konfrontiert. Die eine (die Heilung einer am Blutfluss leidenden Frau) ist in die andere (die Auferweckung der Tochter eines archōn/ Vorstehers) eingeschaltet. Der Heiler, Jesus, ist männlich, die beiden Empfänger der Heilung sind weiblich. Erzählstrategisch sind beide Geschichten platziert im Wunderzyklus Kap. 8-9, der insgesamt zehn »Heilungsgeschichten« umfasst. Drei dieser Geschichten handeln von Frauen, so-- neben den beiden genannten-- auch Mt 8,14-15 (Die Heilung der Schwiegermutter des Petrus). Eine dieser zehn thematisiert die »Stillung« eines Seesturmes (8,23-27). Was die exegetische Arbeit an Mt 8-9 betrifft, so steht im Fokus der Aufmerksamkeit zumeist die Interaktion von Heiler und Empfänger der Heilung. Kaum Beachtung erfährt dagegen die materielle Verfasstheit der zu heilenden und geheilten Körper, ebenso wenig wie die Körper in ihrem Eingebettetsein in geografische, soziale und kulturelle (Lebens-)Räume. 41 Zu verweisen wäre an dieser Stelle auf die Forschungen von Jennifer Glancy, die einen maßgeblichen »Intertext« für eine ökologische Lektüre geheilter Körper bieten. Einer der Gründe, warum Wissenschaftler bei Zeitschrift für Neues Testament_36 typoscript [AK] - 13.11.2015 - Seite 70 - 4. Korrektur 70 ZNT 36 (18. Jg. 2015) Hermeneutik und Vermittlung ihrer Erforschung frühchristlicher Texte der Materialität kranker und geheilter Körper kaum Beachtung schenken, ist nach Glancy folgender: »Es fehlt uns der Zugang zu antiken Körpern.« 42 Dem würde ich einen weiteren Grund hinzufügen: Aus der Sicht des Anthropozentrismus wird Stofflichem, Materiellem kaum Bedeutung beigemessen. Es ist diese Nicht-Beachtung, die aus Sicht einer ökologischen Hermeneutik zu kritisieren ist. Diese Kritik geht einher mit einer Neukonfigurierung des Textes, die die materielle und sozio-kulturelle Struktur von Mt 9,18-26 in enger Verflechtung mit seiner ökologischen Struktur liest. Seiner inneren Struktur zufolge beginnt der Text mit einer Zeitangabe: »Als er dies mit ihnen redete« 43 (9,18). Eine ökologische Lektüre wird damit zurückverwiesen an den Ort, an dem Jesus »diese Dinge« sagte, an den materiellen Ort, an dem sich Jesus aufhält, als diese spezielle Geschichte beginnt. Ein ähnlicher (topographischer) Rahmen findet sich in 9,10, wo es heißt, dass Jesus in dem Haus zu Tisch sitzt, eine Ortsangabe also, die eindeutig zu bestimmen scheint, um welches Haus es sich dabei handelt, obwohl es für die Lesenden/ Hörenden nicht klar ersichtlich ist, welches Haus damit genau gemeint ist. Eine Möglichkeit ist, dass Jesus immer noch in Kapernaum weilt, wie an früherer Stelle notiert wird (vgl. Mt 4,13). Dort zeichnete der Verweis auf Kapernaum in die ökologische Struktur des Textes die menschliche Gemeinschaft dieses blühenden Ortes ein, der im 1. Jh. n. Chr. am Ufer des Sees Genezareth lag, seine Bauten errichtet aus dem für diese Region typischen Basaltgestein, ebenso wie das komplexe Beziehungsgefüge aus menschlichen und ander-menschlichen Bewohner/ -innen dieses Lebensraumes mit seiner Fischerei- und Landwirtschaft. 44 In dieses Bild fügt sich auch Mt 9,1, wo es heißt, dass Jesus hinüberfuhr und »in seine Stadt« kam. Im Haus versammelt sind Jesus und seine Jünger, aber auch Zöllner und Sünder (9,10). Es ist genau dieses eindeutig identifizierte Haus mit seiner komplexen Sozialstruktur, in das »die Pharisäer« mit der Frage eindringen, warum Jesus mit Zöllner und Sündern isst (9,11). In eben diesem Haus wenden sich die Jünger des Johannes an Jesus mit der Fastenfrage (9,14). Dies ist der komplexe materiale und soziale Raum, der Interkontext, 45 in den ein anderer nun eindringt. Der Neuankömmling, der in diese komplexe Konfiguration eintritt, wird im Text durch idou kenntlich gemacht. 46 Wie erwähnt, handelt es sich dabei um einen archōn, einen Vorsteher, der im Zuge der Entfaltung unserer Geschichte in das bereits vielgestaltig organisierte soziale Gefüge eben dieses Hauses zu eben dieser Zeit eintritt. Das Wörterbuch von Bauer/ Aland gibt archōn mit »Herrscher, Herr, Fürst« bzw. »jemand, der einer Behörde angehört« wieder. 47 In Anknüpfung an Mk 5,22 identifizieren viele Ausleger diesen bei Matthäus genannten archōn als Synagogenvorsteher. Der Akzent scheint aber eher auf der Kennzeichnung der Autorität des archōn zu liegen als auf seiner institutionellen Zugehörigkeit. Es ist eben diese Autorität, die seiner Forderung, vielmehr: seinem gegenüber Jesus geäußerten Befehl, umso mehr Gewicht verleiht: »Komm und lege meiner Tochter die Hände auf, die gerade gestorben ist« (9,18). Gewiss ist Jennifer Glancy zuzustimmen, dass die bibelwissenschaftliche Perspektive keinen unmittelbaren Zugang zu antiken Körpern in ihrem Krank- oder Gesundsein eröffnet. Wir können aber feststellen, dass es der Körper dieser jungen, eben verstorbenen Frau ist, der in den Vordergrund der ökologischen Struktur dieses Textes encodiert ist. Seine materielle Verfasstheit ist schier mit Händen zu greifen. Verstärkt wird dies durch die Forderung des Vorstehers: »Komm und lege ihr die Hände auf sie, komm und berühre sie, so wird sie wieder lebendig.« Dies ruft der öko-rhetorischen Lektüre die außerordentlich feine Linie zwischen Leben und Tod in Erinnerung, die alles irdische Leben durchzieht und ganz leise scheint darin auch »das Göttliche« auf, dasjenige, das später in der Matthäusgeschichte »lebendiger G*tt« genannt wird (16,16). Die Forderung des Vorstehers ergeht sehr konkret an Jesus: Komm und lege ihr die Hände auf. Sie überschreitet »den Grenzbereich der Reinheitsvorschriften« 48 und könnte Jesus unrein machen. Das geäußerte Vertrauen richtet sich darauf, dass der Akt des Händeauflegens seitens des Heilers Jesus seine tote Tochter wieder zum Leben erwecken wird (»…so wird sie leben«). Dies zeugt von Kraft, von heilender Kraft, freigesetzt im materiellen Akt sich berührender Körper. Der Akt des Händeauflegens auf einen siechenden oder geschwächten Körper wird bereits in früheren Heilungsgeschichten als »Berührung« bezeichnet. Jesus streckt die Hand aus und berührt den Aussätzigen, der sogleich von seinem Aussatz rein gemacht wird (8,3); ebenso berührt er die Hand der Schwiegermutter des Petrus, sodass das Fieber sie verlässt (8,15). Es war Jacques Derrida, der die intime Wechselbeziehung aus Berühren und Berührtwerden untersuchte. 49 Beide Pole, so Derrida, gehören untrenn- »Aus der Sicht des Anthropozentrismus wird Stofflichem, Materiellem kaum Bedeutung beigemessen.« Zeitschrift für Neues Testament_36 typoscript [AK] - 13.11.2015 - Seite 71 - 4. Korrektur ZNT 36 (18. Jg. 2015) 71 Elaine M. Wainwright »Das Wort G*ttes ist lebendig und wirksam« bar zusammen: Durch die Innigkeit der Begegnung werden beide, der aktiv Berührende, und derjenige der passiv berührt wird, verändert. Es besteht Grund zu der Annahme, dass eben dieses Ereignis in der Forderung des Vorstehers vorweggenommen wird: Komm und lege ihr die Hände auf, komm und berühre sie, und sie wird wieder lebendig. In öko-rhetorischer Perspektive wird der Akt der Berührung nicht auf das Ereignis der Heilung von Mensch zu Mensch beschränkt. Berühren ist vielmehr ein äußerst bedeutungsträchtiges Medium der Beziehung zwischen menschlichen und ander-menschlichen Bewohnern der Erde-- Tieren, Pflanzen, Erde, Wasser und vielen anderen Elementen. Das heilende Potential der Berührung, für das diese matthäische Geschichte ein Beispiel bietet, kann als eine Art und Weise gedeutet werden, wie Emmanuel - der G*tt »mit uns« aus Mt 1,23- - nicht nur »mit« der menschlichen Gemeinschaft, sondern auch »mit« der ganzen Erde ist, im Sinne einer das ander-Menschliche umfassenden Gemeinschaft. Dies wird in V. 19 weiter veranschaulicht: Hier antwortet Jesus auf die Forderung des Vorstehers »Komm«: Jesus erhebt sich und folgt ihm. Über die bloße Feststellung hinaus sind intratextuelle Echos hörbar: Das Verb »folgen« erklingt aus dem Munde Jesu bei der Berufung seiner Jünger (vgl. Mt 4,19, 8,22; 9,9). Es wird gebraucht, um die Reaktion derjenigen zu beschreiben, die Jesu Einladung folgen (4,20.22; 8,23; 9,9); ebenso wird dadurch die Aktivität der Volksmenge(n) beschrieben, die sich zu Jesus halten, um seine Lehre zu hören und um seine Heilungen zu erleben (4,25; 8,1.10). Mit Blick auf Mt 9,20 ist es Jesus selbst, der »folgt« und damit die Einladung des archōn annimmt: Diese ergeht als ein Aufruf, Leben zu erneuern und am irdischen Prozess des »Werde, Stirb und Werde« mitzuwirken. Jesus, der Emmanuel, ist ein Jünger des »Mit-Seins« G*ttes, das ihn in die vielfältigen Begegnungen mit der Erde in allen ihren biotischen und abiotischen Teilen hineinruft. Die andere Geschichte dringt noch tiefer in dieses Folgen ein. 50 Gerade in ihrer Schlichtheit liegt die Stärke dieser Geschichte von der am Blutfluss leidenden Frau. Wie bereits in der vorangegangenen Geschichte der Vorsteher, so wird nun die Frau mit kai idou eingeführt. Beide Charaktere ziehen die Aufmerksamkeit der Lesenden auf sich. Während jedoch durch die Bezeichnung archōn Autorität und hoher Sozialstatus des Vorstehers kenntlich werden, wird die Frau lediglich über ihren Körper identifiziert: Sie litt seit zwölf Jahren an Blutungen. Die patriarchale und androzentrische naturhafte Gleichsetzung einer Frau mit ihrem Körper, die sich in dieser Identifikation niederschlägt, ruft die Hermeneutik des Verdachts auf den Plan. Einer so neu konfigurierten öko-rhetorischen Lektüre ist es dann möglich, das Augenmerk auf das körperliche Leiden der Frau zu richten. Es macht sich durch einen anhaltenden Blutfluss bemerkbar. Im Brennpunkt steht nun der Körper, Körperflüssigkeiten und die Art und Weise, wie die materielle Beschaffenheit des Körpers durch Krankheit gestört wird. Eine solche Lektüre kann in den Text alle menschlichen und ander-menschlichen Entitäten einzeichnen, deren Körper chronisch zerrissen sind. In der heutigen Zeit kann diese Zerrissenheit das Ergebnis von Pestiziden sein, die Erde und Wasser verseuchen, von gewaltsamem fracking der Erde zur Öl- und Gasgewinnung, von der Zerstörung von Lebensräumen und vielen anderen Gewaltakten, ausgeübt von einer menschlichen Gemeinschaft, die es versäumt, ihr Wechselverhältnis mit den ander-menschlichen Lebewesen zu pflegen, mit denen wir den Lebensraum Erde teilen. Das Handeln der Frau wird mit dem des archōn kontrastiert. Sie dringt nicht in Jesu Raum ein, noch bedrängt sie ihn fußfällig mit einer außergewöhnlichen Forderung. Vielmehr tritt sie von hinten an ihn heran, streckt die Hand aus und berührt den Stoff, den Saum von Jesu Gewand. Die Begegnung vollzieht sich in einem Aufeinandertreffen der Materien: Menschliches Fleisch trifft auf den gewebten Stoff von Jesu Gewand, samt seiner langen Geschichte von Pflanzenleben innerhalb eines Gabenaustauschs, der Leben inmitten des ander-Menschlichen erst möglich macht. 51 Die Frau spricht nur mit sich selbst, mit ihrem geplagten Körper: Könnte ich nur sein Gewand berühren, so werde ich gesund werden. Sie gebraucht das Verb »berühren«: »Wenn ich ihn nur berühre.« Und sie erkennt, dass eine solche Berührung Kraft besitzt: Ich werde genesen, werde »befreit« von Krankheit, 52 von zwölf Jahren des Leidens, meine Gesundheit, meine Ganzheit wird wieder hergestellt. Die Lesenden erfahren nicht, was genau ihre Berührung bei Jesus bewirkt, sondern nur, dass Jesus sich umdreht, sie ansieht und wiedergibt, was sie zu sich selbst gesagt hat, allerdings in leicht abgewandelter Form: »In öko-rhetorischer Perspektive wird der Akt der Berührung nicht auf das Ereignis der Heilung von Mensch zu Mensch beschränkt. Berühren ist vielmehr ein äußerst bedeutungsträchtiges Medium der Beziehung zwischen menschlichen und ander-menschlichen Bewohnern der Erde.« Zeitschrift für Neues Testament_36 typoscript [AK] - 13.11.2015 - Seite 72 - 4. Korrektur 72 ZNT 36 (18. Jg. 2015) Hermeneutik und Vermittlung Sagte die Frau zu sich selbst, dass ein »Berühren«, die Berührung des Saumes von Jesu äußerem Gewand sie retten werde, so sagt Jesus, es sei ihr »Glaube«, der sie gerettet hat. Die bereits genannte Untersuchung von Elvey zum Motiv der »Berührung« anhand der Parallele Lk 8,43-48 erschließt den Effekt der von der Frau ausgehenden Berührung noch tiefer: »Obwohl die Frau sich offensichtlich fürchtet, ist die Berührung, die von der Frau ausgeht, ein kraftvolles Handeln mit heilender Wirkung. Sie nimmt die riskante Intersubjektivität des Berührens in Kauf, des Berührens eines Anderen. Sie wird nicht nur selbst berührt, indem sie ihn berührt, sondern der lukanische Jesus kommt durch die Berührung der Frau zu sich selbst.« 53 Bei dieser Begegnung wird noch ein anderer Sinn angesprochen, nämlich das »Sehen«. Wollte die Frau auch unsichtbar bleiben, so gerät sie doch in den Blick. Im Text heißt es, dass Jesus sie ansieht. Der öko-rhetorischen Lektüre erschließt sich die Kraft der menschlichen Sinne: Heilendes Berühren und Sehen, das andermenschliches Leben mit den Menschen teilt. Im gegenseitigen Berühren und Sehen ereignet sich Heilung: Von der Stunde an war sie »wiederhergestellt«. Eine derartige Heilung hat eine materielle und soziale Dimension, die sich in der ökologischen Struktur des Textes niederschlägt. Die Lesenden werden mit hineingenommen in den von Jesus ausgehenden Prozess der Heilung, der den rein menschlichen Bereich übersteigt und die ander-menschlichen Glieder gleichermaßen in sich aufnimmt. Dieser Prozess ereignet sich in der Zeit (zu dieser Stunde) und er ereignet sich an Ort und Stelle (Jesus folgt dem Vorsteher den Weg bis zu seinem Haus). Steht allein der Mensch im Fokus der Auslegung, wird das in höchstem Grade Bedeutung schaffende Potential aller im matthäischen Text enkodierten Zeichen eingeschränkt. Die innere Struktur des Textes führt die Lesenden zu der Gruppe zurück, die sich auf dem Weg zum Haus des Vorstehers befindet (V. 19). Sie kommen nun beim Haus des Vorstehers an, das als Ort des Todes beschrieben wird. Flötenspieler und Trauernde versetzen es in Aufruhr (9,23). Der öko-rhetorischen Lektüre entgeht nicht, dass die materielle Beschaffenheit des Hauses zugunsten der Konzentration auf die Sozialität, auf die menschliche Soziokultur, ganz ausgeblendet wird. An eben diesem Ort geschieht nun etwas Außergewöhnliches: Jesus diagnostiziert, was sich im Körper des Mädchens abspielt, und zwar weicht er darin von der Wahrnehmung des Vaters ab: Sie ist nicht gestorben, sondern sie schläft (9,24). An dieser Stelle kommt, was immer es mit der differenten Diagnose Jesu auf sich hat, die Beobachtung von Helen King zum Tragen, dass »Frauen krank sind und Männer ihre Körper (be) schreiben.« 54 Wie V. 25 deutlich macht, verlagert sich der Fokus der Aufmerksamkeit vom (Be)schreiben des Körpers des jungen Mädchens hin zum Engagement zugunsten ihres Körpers in seiner ganzen materiellen Verfasstheit. Wieder ist Berührung wichtig, insofern, als Jesus sie bei der Hand ergreift. Das in V. 25 verwendete Verb kratein kann an manchen Stellen das Ausüben von »Gewalt« oder »Herrschaft« bedeuten. 55 Dies kann als indirekter Hinweis auf eine zerstörerische Kraft verstanden werden, die zuvor Besitz vom Körper des jungen Mädchens ergriffen hat. Der Vater hatte Jesus aufgefordert, »ihr die Hände aufzulegen« (V. 18), damit sie wieder lebendig wird; dies klingt zwar weniger drastisch, doch weist auch das hier verwendete Hauptverb eine offensive Nebenbedeutung auf: »angreifen« oder »zusetzen, nachstellen«. 56 Kampf wirkt sich krankmachend auf die Körper aus, macht sie schwach und gebrochen, mindert Lebensfülle und zerstört Ganzheit. Eine öko-rhetorische Lektüre hat im Blick, dass ein derartiger Kampf und Gebrochenheit (Zerrissenheit) nicht nur die menschlichen Erdenbewohner umfasst. Jesu Begegnung mit dem Mädchen kulminiert darin, dass er sie aufrichtet. In der Sprache medizinischer Anthropologie wird sie samt ihrem Körper anhand einer neuen diagnostischen Beschreibungskategorie kenntlich. Sie wird auf dieselbe Weise benannt wie die Schwiegermutter des Petrus, nachdem sie Jesu Berührung erfahren hat: Beide werden »aufgerichtet«. In Mt 28,6 wird auch der Körper Jesu so beschrieben: Er wird aufgerichtet. Alle erfahren eine Transformation, die sich im Körper vollzieht und den Körper in seiner ganzen materiellen Verfasstheit verwandelt. Berührung hat die Sich-Berührenden transformiert: diejenigen, die aktiv berühren, wie auch diejenigen, die passiv berührt werden. Dasselbe Zusammenspiel von Anruf und Antwort kann auf den Bereich jenseits menschlicher Körper übertragen werden, auf jegliche materielle Begegnungen, dass sie Leben schaffen anstatt Tod zu bringen. »Der öko-rhetorischen Lektüre erschließt sich die Kraft der menschlichen Sinne: Heilendes Berühren und Sehen, das ander-menschliches Leben mit den Menschen teilt.« »Wie berühren wir, wenn Berührung ein Berühren und Berührtwerden ist? « Zeitschrift für Neues Testament_36 typoscript [AK] - 13.11.2015 - Seite 73 - 4. Korrektur ZNT 36 (18. Jg. 2015) 73 Elaine M. Wainwright »Das Wort G*ttes ist lebendig und wirksam« Diese Geschichte schließt nicht mit der menschlichen oder ander-menschlichen Heilung. Sie schließt mit der Erde selbst (tēn gēn). Die Kunde, das Erzählen von Heilungen, von menschlichen Körpern, die sich auf starke oder schwache Weise berühren oder berührt werden, verbreitet sich. In öko-rhetorischer Lesart lässt sich das Erzählte ausweiten auf die ganze Erde samt all ihren ander-menschlichen Gliedern, worin auch der menschliche Bereich enthalten ist. Es ist ganz so, als würde der Schlussvers für solch eine umfassende Lektüre einstehen. Er öffnet den Lesenden das Verständnis dafür, dass der Bericht über die Heilungen der beiden weiblichen Körper, die Berührung gegeben und von einem Anderen, dem Heiler Jesus, Berührung empfangen haben, in die weitere Umgebung vorgedrungen ist. Man kann die Wendung »in das ganze Land«/ eis holēn tēn gēn ekeinēn auf der Mikroebene des Textes lesen als Verweis auf das Gebiet, in dem die Heilungen stattgefunden und Transformationen sich ereignet haben (Mt 8-9; vgl. auch 4,23; 9,35). Eine Lektüre in öko-rhetorischer Perspektive aber nimmt im Text eine weitere Bedeutungsdimension wahr. Die Heilungsgeschichte des Evangeliums beschränkt sich nicht auf die menschliche Welt, sondern richtet sich an holēn tēn gēn, an die gesamte Erde. Alle Glieder der Erde, ja auch die Erde in ihrer Ganzheit vermag in und durch Begegnung geheilt zu werden, durch ein Berühren, das gleichzeitig ein Berührtwerden ist. Darin ist eine ethische Frage impliziert: Wie berühren wir, wenn Berührung ein Berühren und Berührtwerden ist? 5. Schlussbetrachtung Am Anfang dieses Beitrages stand die Einsicht in die Kraft von Geschichten. Anschließend wurde sukzessive deutlich, dass Geschichten so vielgestaltig sind wie die verwendeten Methoden und hermeneutischen Perspektiven. Mein persönlicher Weg als Matthäusforscherin, der mich durch mancherlei methodologische und hermeneutische Landschaften geführt hat, war und ist nicht minder vielgestaltig. Was mich dabei stets in Bewegung versetzt hat, waren die Schreie nach Gerechtigkeit, die in unserer Welt laut werden, und die Neuaufbrüche in der Interpretation matthäischer Texte, die dafür sorgen, dass ihre Geschichten »lebendig und wirksam« bleiben. Anmerkungen 1 Zur Umschreibung des Göttlichen verwende ich im Folgenden die Bezeichnung G*tt. Auf diese Weise will ich der buchstäblichen Unfassbarkeit des göttlichen Mysteriums Ausdruck verleihen. Insbesondere soll dadurch auch die Bedeutungsgrenze all derjenigen Gottesnamen aufgebrochen werden, die dieses Mysterium in anthropozentrischen Begrifflichkeiten wiedergeben und denen eine maskuline und imperiale Konnotation anhaftet (um nur auf zwei problematische Eigenschaften, die dem Göttlichen üblicherweise zugeschrieben werden, hinzuweisen). Verbunden ist damit die Hoffnung, dass diese Bezeichnung in unsere religiöse Vorstellungsweise eindringt und uns einlädt, das Göttliche in feministischer und ökologischer Perspektive neu zu denken. Mein Dank gilt an dieser Stelle Elisabeth Schüssler Fiorenza (vgl. dies., Jesus, Miriam’s Child, Sophia’s Prophet: Critical Issues in Feminist Christology, New York 1994, 191, Anm. 3), die mich auf diese Praxis aufmerksam gemacht hat. Das biblische Zitat im Titel ist Hebr 4,12 entnommen. 2 M. Mair, Psychology as Storytelling, International Journal of Personal Construct Psychology 1 (1988), 125-137, hier: 127. 3 Ich verwende das griechische basileia oder die Wortschöpfung »kin-dom« anstelle von »Königreich«, um den imperialen und geschlechtsspezifischen Sinngehalt dieser bedeutungsträchtigen und für die Evangelien zentralen Begrifflichkeit zu überwinden. 4 Eine noch radikalere Deutung dieser parabolischen Aussage (13,52) findet sich in einer kürzlich erschienenen ökologischen Auslegung, die das in V. 52 gebrauchte griechische Verb nicht mit »hervorholen«, sondern mit »hinauswerfen« wiedergibt, eine Übersetzung, die der Bedeutung des Verbs im Griechischen sehr nahekommt; vgl. dazu M.D. Nanos, Paul’s Reversal of Jews Calling Gentiles ›Dogs‹ (Philippians 3: 2): 1600 Years of an Ideological Tale Wagging an Exegetical Dog? , Biblical Interpretation 17 (2009), 448-482. 5 Einen guten Überblick über die methodologischen und hermeneutischen Entwicklungen der Matthäusforschung in den letzten drei bis vier Jahrzehnten bieten zwei neuere Veröffentlichungen: M.A. Powell, Methods for Matthew. Methods in Biblical Interpretation, Cambridge 2009; E. Wainwright/ R.J. Myles/ C. Olivares (Hg.), The Gospel according to Matthew: The Basileia of the Heavens is Near at Hand. Phoenix Guides to the New Testament, Sheffield 2014. 6 Vgl. D. Rhoads/ D. Michie (Hg.), Mark as Story: An Introduction to the Narrative of a Gospel, Philadelphia 1982. Eine zweite Auflage dieses Werkes erschien 1999, was für seine Bedeutung für die Evangelienforschung spricht: D. Rhoads/ J. Dewey/ D. Michie (Hg.), Mark as Story: An Introduction to the Narrative of a Gospel, Minneapolis 2 1999. 7 Vgl. J. D. Kingsbury, Matthew as Story, Philadelphia 1986. 8 Vgl. M. A. Powell, What is Narrative Criticism, Minneapolis 1990. 9 Vgl. W. D. Davies/ D.C. Allison (Hg.), The Gospel According to Saint Matthew: A Critical and Exegetical Commentary, ICC, 3 Vols, Vol. 2, Edinburgh 1991, 123-133. Zeitschrift für Neues Testament_36 typoscript [AK] - 13.11.2015 - Seite 74 - 4. Korrektur 74 ZNT 36 (18. Jg. 2015) Hermeneutik und Vermittlung 10 E.M. Wainwright, Towards a Feminist Critical Reading of the Gospel according to Matthew (BZNW 60), Berlin 1991, 92. Der Kollegin und Matthäusforscherin Amy-Jill Levine gilt an dieser Stelle mein Dank: Nicht nur die Gespräche mit ihr waren ertragreich für meine Forschungen, sondern auch ihre kritische Auseinandersetzung mit einer meiner Interpretationen aus einer frühen Auslegungsphase, die diese beiden jüdischen Frauen in ihrem Verhältnis zur Tora behandelt; vgl. A. J. Levine, Discharging Responsibility: Matthean Jesus, Biblical Law, and Hemorrhaging Woman, in: A.J. Levine/ M. Blickenstaff (Hg.), A Feminist Companion to Matthew, Sheffield 2001, 70-87. 11 Zwei Forscher, die diesen Ansatz im Rahmen der Matthäusforschung zur Anwendung gebracht haben, sind Jerome Neyrey (vgl. ders., Honor and Shame in the Gospel of Matthew, Louisville 1998) und Denis Duling (vgl. ders., A Marginal Scribe: Studies of the Gospel of Matthew in Social-Scientific Perspective, Matrix: The Bible in Mediterranean Context, Eugene 2012). Bei ihrer Analyse des sozio-kulturellen Kontextes des Matthäusevangeliums bedient sich allerdings keiner der beiden einer feministischen Kritik. 12 E. Schüssler Fiorenza, Wisdom Ways: Introducing Feminist Biblical Interpretation, Maryknoll 2001, 147. 13 Vgl. Ph. Trible, God and the Rhetoric of Sexuality, Philadelphia 1978. 14 Vgl. E. Schüssler Fiorenza, In Memory of Her: A Feminist Theological Reconstruction of Christian Origins, New York 1983. 15 E. Schüssler Fiorenza, In Memory of Her (Anm. 14), 33. 16 Denn Gleiches gilt für eine ökologische Lesart des Bibeltextes, die ich später noch ausführlicher entfalten werde: Auch hierfür reicht es nicht aus, sein Augenmerk auf Texte zu richten, deren ökologischer Anknüpfungspunkt offen zutage liegt (z. B. durch die Nennung von Vögeln, Luft und den Lilien auf dem Feld). Die in ökologischer Perspektive Lesenden müssen vielmehr alle Texte ökologisch wahrnehmen, ebenso wie die in feministischer Perspektive Lesenden alle Texte durch die feministische Brille lesen. Letzteres ist das Leitthema der Wisdom Commentary Series, einer feministischen Kommentarreihe, die von Barbara Reid herausgegeben wird und bei Liturgical Press erscheint (vgl. http: / / wisdomcommentary.org). 17 Vgl. z. B. Schüssler Fiorenza, In Memory of Her (Anm. 14), 60-64; vgl. dazu auch meine eigene »kreative Erinnerung« von Martha und Maria in: E. Wainwright, Women Healing/ Healing Women: The Genderization of Healing in Early Christianity, London 2006, 180-182. 18 Vgl. E. Schüssler Fiorenza, Bread Not Stone: The Challenge of Feminist Biblical Interpretation with a New Afterword, Boston 1995, 174. 19 Für einen ausführlicheren Überblick zum breiten Spektrum feministischer Lektüren des Matthäusevangeliums vgl. E. Wainwright/ R.J. Myles/ C. Olivares (Hg.), The Gospel according to Matthew (Anm. 5), 40-52. 20 E.M. Wainwright, Towards a Feminist Critical Reading (Anm. 10), 212 f. 21 Vgl. R. Braidotti, Nomadic Subjects: Embodiment and Sexual Difference in Contemporary Feminist Theory, New York 1994. 22 Vgl. E. M. Wainwright, Shall We Look for Another? A Feminist Rereading of the Matthean Jesus, Maryknoll 1998, 2 f.; 16; 19. 23 Vgl. ebd. 24 Vgl. A. J. Levine, Discharging Responsibility (Anm. 10). 25 Vgl. M. W. Dube, Postcolonial Feminist Interpretation of the Bible, St. Louis 2000; und, als Anwendungsbeispiel, dies., Markus 5,21-43 in vier Lektüren. Narrative Analyse-- postcolonial criticism-- feministische Lektüre-- HIV/ AIDS, ZNT 33 (2014), 12-23. Bei Mk 5,21-43 handelt es sich um die Markusparallele zu Mt 9,18-26, dem Schwerpunkttext dieses Artikels. 26 Vgl. diesbezüglich IPCC, 2014: Climate Change 2014: Synthesis Report. Contribution of Working Groups I, II and III to the Fifth Assessment Report of the Intergovernmental Panel on Climate Change [Core Writing Team, R.K. Pachauri and L.A. Meyer (eds.)]. IPCC, Geneva, Switzerland, 151 S., http: / / www.ipcc.ch/ report/ ar5/ syr/ ; Zugriff am 18. 06. 2015. Dies ist wohl eine der dringlichsten ökologischen Aufgaben, die heute die Aufmerksamkeit der internationalen Gemeinschaft erfordert, wenn auch sicher nicht die einzige. Eine Bemerkung am Rande: Zu exakt derselben Zeit, als ich diesen Artikel verfasste, gab Papst Franziskus seine Enzyklika zu Klimawandel und ökologischen Problemen unter dem Titel »Laudato Si« heraus: http: / / w2.vatican.va/ content/ francesco/ en/ events/ event.dir.html/ content/ vaticanevents/ en/ 2015/ 6/ 18/ laudatosi.html; Zugriff am 20. 06. 2015. 27 Vgl. N. C. Habel, Introducing Ecological Hermeneutics, in: Norman C. Habel/ Peter Trudinger (Hg.), Exploring Ecological Hermeneutics, SBL Symposium Series 46, Atlanta 2008, 1-8. 28 Vgl. D. G. Horrell, Introduction, in: D.G. Horrell/ C. Hunt/ Chr. Southgate/ F. Stavrakopoulou (Hg.), Ecological Hermeneutics: Biblical, Historical and Theological Perspectives, London 2010, 1-12. 29 Vgl. V. Plumwood, Feminism and the Mastery of Nature. Feminism for Today, London 1993. 30 Vgl. Plumwood, Feminism (Anm. 29), 43. 31 Vgl. L. Code, Ecological Thinking: The Politics of Epistemic Location, Studies in Feminist Philosophy, Oxford 2006. 32 Vgl. Code, Ecological Thinking (Anm. 31), 21. Als Beispiel für ein früheres Entwicklungsstadium dieser wechselseitig aufeinander bezogenen Lektüreperspektiven in Anlehnung an eine stärker entfaltete ökologische Hermeneutik vgl. E. M. Wainwright, Women Healing (Anm. 17), 11-23. 33 Code, Ecological Thinking (Anm. 31), 199. 34 Vgl. hierzu-- abgesehen von diesem Artikel-- auch mein in Kürze erscheinendes Werk: E.M. Wainwright, Habitat, Human and Holy: The Earth Bible Commentary on the Gospel of Matthew (Erscheint bei: Sheffield Phoenix Press). 35 Vgl. Wainwright, Women Healing (Anm. 17). Zeitschrift für Neues Testament_36 typoscript [AK] - 13.11.2015 - Seite 75 - 4. Korrektur ZNT 36 (18. Jg. 2015) 75 Elaine M. Wainwright »Das Wort G*ttes ist lebendig und wirksam« 36 Vgl. E. M. Wainwright, Women Healing (Anm. 17), 24- 30. 37 Vgl. E. M. Wainwright, Images, Words, Stories: Exploring Their Transformative Power in Reading Biblical Texts Ecologically, Biblical Interpretation 20 (2012), 280-304, hier: 294-302. 38 Vgl. V. K. Robbins, Exploring the Texture of Texts, Valley Forge 1996, 21. 39 Ausführlicher äußere ich mich zu meiner ökologischen Hermeneutik und Methodologie in: Wainwright, Images, Words, Stories (Anm. 37), 280-304. 40 Vgl. Robbins, Exploring the Texture of Texts (Anm. 38), 21. 41 Neuere sozialwissenschaftliche Untersuchungen zum Thema Heilung im Neuen Testament zeigen, dass der Vollzug der Heilung in ein komplexes Netz aus körperlichen, sozio-kulturellen und symbolischen Elementen eines Gesundheitssystems eingebettet war. Vgl. dazu H. Avalos, Health Care and the Rise of Christianity, Peabody 1999; ebenso J.J. Pilch, Healing in the New Testament: Insights from Medical and Mediterranean Anthropology, Minneapolis 2000. Solche Untersuchungen sind für ökorhetorische Lektüren wichtige Dialogpartner. Der Begriff »Lebensraum« (engl. habitat) in seiner Komplexität und Bedeutungsvielfalt stellt für meine öko-rhetorische Lektüre eine entscheidende Analysekategorie dar. 42 J.A. Glancy, Jesus, the Syrophoenician Woman and Other First Century Bodies, Biblical Interpretation 18 (2010), 342-363, hier: 347. 43 Die Übersetzung des neutestamentlichen Textes ist hier (wie auch im Folgenden) an den Text der Revidierten Lutherbibel (1984) angelehnt. 44 Vgl. D. R. Edwards, Identity and Social Location in Roman Galilean Villages, in: J. Zangenberg/ H.W. Attridge/ D.B. Martin (Hgg.), Religion, Ethnicity, and Identity in Ancient Galilee (WUNT 210), Tübingen 2007, 357-374, hier: 366; 373 f. 45 Ich gebrauche diesen Terminus in Wainwright, Images, Words, Stories (Anm. 37), 301 »… um die komplexe Reziprozität von Autor-Text-Leser in und mit dem Lebensraum als Ort darzustellen, den es in ökologischer Lesart kennenzulernen gilt, wie auch als Ort, der neue Erkenntnisse eröffnet.« 46 Vgl. dazu W. Bauer, Griechisch-deutsches Wörterbuch zu den Schriften des Neuen Testaments, 6. völlig neubearb. Aufl. hg. v. Kurt Aland und Barbara Aland, Berlin 1988, 753 f.: der Ausdruck idou ist üblicherweise mit »Sieh, Sehet« wiederzugeben. Er zielt darauf, »die Aufmerksamkeit d[er] Hörer o[der] Leser zu erregen« oder »um etwas Neues einzuleiten«. 47 Vgl. BAA (Anm. 64), 227 f. 48 Wainwright, Women Healing (Anm. 17), 147; 226 (Anm. 29). 49 Vgl. A. F. Elvey, The Matter of the Text: Material Engagements between Luke and the Five Senses (Bible in the Modern World 37), Sheffield 2011, 78 f., wo Derridas These kurz diskutiert wird. 50 Für eine wesentlich detailliertere Analyse zu diesen ineinander verwobenen Geschichten, wie auch zu ihren augenfälligen Strukturparallelen im Matthäusevangelium, vgl. Wainwright, Towards a Feminist Critical Reading (Anm. 10), 177-215; dies., Women Healing (Anm. 17), 146-153. 51 Zum Begriff »Gabenaustausch« vgl. die Untersuchung von A. Primavesi, Gaia’s Gift, London 2003. 52 Vgl. BAA (Anm. 46), 1591 f. 53 Vgl. Elvey, The Matter of the Text (Anm. 49), 79. 54 H. King, Hippocrates’ Woman: Reading the Female Body in Ancient Greece, Cambridge 1999, 246. 55 Vgl. BAA (Anm. 46), 910 f. 56 Vgl. BAA (Anm. 46), 613 f. Vorschau auf Heft 37 »Perspektiven des Jüdischen« Mit Beiträgen von: Rainer Kampling, Steve Mason, Dagmar Börner-Klein, Manuel Vogel, James D. G. Dunn, Tobias Nicklas und Martin Rothgangel