eJournals ZNT – Zeitschrift für Neues Testament 18/36

ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
2015
1836 Dronsch Strecker Vogel

Gerechtigkeit, die zum Leben führt

2015
Roland Deines
Zeitschrift für Neues Testament_36 typoscript [AK] - 13.11.2015 - Seite 46 - 4. Korrektur 46 ZNT 36 (18. Jg. 2015) Gerechtigkeit, griech. dikaiosynē, entscheidet nach dem Matthäusevangelium über den Eingang in das Reich Gottes (5,20). Dabei muss diese Gerechtigkeit »überfließend mehr« sein als die der Pharisäer und Schriftgelehrten. 1 Aus dieser Feststellung, die zwar häufig, aber eben nur ungenau als Forderung nach einer »besseren Gerechtigkeit« umschrieben wird, erhebt sich die Frage: Was ist der besondere Inhalt dieser Gerechtigkeit? Was macht sie »besser« oder »überfließend reicher«? Zwei Grundlinien lassen sich in der Auslegungsgeschichte unterscheiden, die etwas schematisch als »ethisches« oder »christologisches« Verständnis unterschieden werden. Das ethische Verständnis, das mit Nachdruck von meinem geschätzten Kollegen Manuel Vogel und sehr deutlich u. a. im neuen Matthäus- Kommentar von Matthias Konradt vertreten wird, 2 sieht in der »besseren Gerechtigkeit« die Ermöglichung einer umfassenderen und vertieften Befolgung der Tora durch Leben und Lehre Jesu: »Ein in dieser Form unzulängliches Toraverständnis [gemeint ist: der Pharisäer wie in Mt 23,23 dargestellt] führt zu einem defizitären Gerechtigkeitsniveau, so dass der Zugang zum Himmelreich versperrt bleibt. Die von den Jüngern erwartete › bessere Gerechtigkeit ‹ basiert hingegen darauf, dass die großen Gebote adäquat, d. h. gemäß ihrem vollen und tieferen Sinn befolgt werden. Voraussetzung dafür ist das neue Erschlossensein von Gesetz und Propheten durch Leben und Lehre Jesu.« 3 Die »bessere Gerechtigkeit« ist also das bessere Toraverständnis, das Jesus ermöglicht. Er ist der bessere Toralehrer (so Vogel) im Vergleich zu Pharisäern und Schriftgelehrten, der zudem durch sein Leben bezeugt, was er sagt, während den Pharisäern das Gegenteil unterstellt wird (Mt 23,3b). Dieses ethische Verständnis der Jesusgeschichte sieht auf den ersten Blick überzeugend aus und kann sich auf eine Vielzahl von ethischen Ermahnungen stützen, die als Bedingungen für die dauerhafte heilvolle Gemeinschaft mit Gott genannt werden: Liest man etwa die Seligpreisungen als »sämtlich ethisch ausgerichtet«, dann gelten die darin zugesprochenen Verheißungen denen, »deren Handeln durch das Streben nach Gerechtigkeit geprägt ist«. 4 Ziel der Jüngerexistenz sind »gute Werke« (5,16) und das Nichtbefolgen der Toraauslegung Jesu endet in der Hölle (so als Konsequenz der ersten beiden Antithesen in 5,22.25 f.29 f.; 25,45-46a). Ziel der Bergpredigt ist es jedoch, gerade dies zu verhindern. Der Bergprediger will, dass die Zuhörenden durch die enge Pforte ins Leben hineingehen, denn drinnen oder draußen sein entscheidet für Matthäus über Leben oder Verderben: »Geht hinein durch das enge Tor! Denn weit ist das Tor und geräumig der Weg, der in das Verderben (apōleia) führt und viele sind es, die durch es hindurchgehen. Wie eng ist das Tor und beschwerlich der Weg, der ins Leben führt, und wenige sind es, die es finden« (Mt 7,13). Über dem Tor zum Leben steht das Wort »Gerechtigkeit« (5,20, außerdem 5,6 und 5,11: Gerechtigkeit ist das einzige Stichwort, das zweimal im ersten Versteil der Seligpreisungen auftaucht), darin sind sich alle an der Diskussion Beteiligten einig. Uneinigkeit herrscht dagegen, was es braucht, um am Ende zu den Gerechten zu gehören, die ins Leben eingehen (25,46). 1. Das rechte Tun als Weg ins ewige Leben Das Hineingehen ins Himmelreich (5,20; 7,21; 18,3; 19,23 f.) wird von Matthäus vielfältig variiert: Wie eben zitiert als Hineingehen »ins Leben« (7,13 f., so auch 18,8 f.; 19,17) oder gleichbedeutend »ins ewige Leben« (19,16; 25,46); als »hineingehen zur Hochzeit« im Gleichnis von den zehn Jungfrauen (25,10) oder »in die Freude seines Herrn« im Gleichnis von den anvertrauten Talenten (25,21.23). Gemeint ist dabei immer das eschatologische Heil, für das der Grund im gelebten Leben gelegt wird. Dass es um Leben und Tod in letzter Konsequenz geht, machen auch die mit diesen Eingangsverheißungen verbundenen War- Roland Deines Gerechtigkeit, die zum Leben führt Die christologische Bestimmtheit der Glaubenden bei Matthäus Kontroverse »Der Bergprediger will, dass die Zuhörenden durch die enge Pforte ins Leben hineingehen, denn drinnen oder draußen sein entscheidet für Matthäus über Leben oder Verderben.« Zeitschrift für Neues Testament_36 typoscript [AK] - 13.11.2015 - Seite 47 - 4. Korrektur ZNT 36 (18. Jg. 2015) 47 Roland Deines Gerechtigkeit, die zum Leben führt zweifeln, das Ziel dieses Glaubens vor Augen zu stellen: Die verheißene basileia Gottes (5,3-12.20), der zugesagte Lohn (5,12.19b; 6,4. 6. 18, vgl. 16,27), die Bewahrung der »Seele« (10,39; 16,25b) und das ewige Leben (19,29, vgl. 25,46). Diejenigen, die schon zur Gemeinde gehören, werden ermahnt, ihre Zugehörigkeit zu Jesus sichtbar und zeugnishaft für andere (5,16) zu leben und diese Haltung bis zum Ende durchzuhalten. Dass dies keine Selbstverständlichkeit ist, machen Texte wie das Gleichnis vom vierfachen Ackerfeld deutlich: Bei drei der vier Gruppen findet »die Botschaft von der basileia« kurzfristig Aufnahme, aber sie trägt keine Frucht, d. h. das Durchhalten bis zum Tag der Ernte, das ist die Parusie des Gottessohnes (13,30), ist die entscheidende Herausforderung. Das zeigen ferner die drei Wachsamkeitsgleichnisse (Mt 24,45-25,30), die illustrieren, was in 24,40-44 angedeutet ist: Wenn der Menschensohn überraschend wiederkommt (24,37), dann werden die einen angenommen, die anderen zurückgelassen. Die Gleichnisse selbst geben nicht zu erkennen, wie dieses Bereitsein inhaltlich konkret aussieht. Nach der ethischen Deutung verlangen sie »eine dem Willen Gottes entsprechende Lebenspraxis«, um »für die Parusie bereit zu sein« (Konradt, a. a. O., 379). Voraussetzung dafür, »dass man jederzeit mit Zuversicht vor dem Weltenrichter (25,31-46) erscheinen kann« (a. a. O., 380) ist dann eine ethische Gespanntheit, die sich in »liebende[r] Fürsorge für die Mitmenschen« einsetzt (381). Die Darstellung des Endgerichts in 25,31-46 unterstreicht noch einmal dieses ethische Verständnis, insbesondere wenn man darunter das Gericht unterschiedslos über alle Menschen versteht. Das ist regelmäßig bei denjenigen der Fall, die bei Matthäus das Heil an das eigene Verhalten gebunden sehen: Jedem wird nach seinem Handeln vergolten, weil im Gericht »die Lebenspraxis entscheidend ist« (Konradt, a. a. O., 393, mit Verweis auf 16,27). »Überall, wo Menschen bedürftig und in Not sind, sind Nächstenliebe und Barmherzigkeit gefordert« (ebd.)- - wer diese praktiziert, der handelt im Sinne Jesu, egal, ob er sich dessen bewusst ist oder nicht (25,37-40). Diese, und nur diese, sind die »Gerechten«, die zum ewigen Leben eingehen. So wie »der königliche Messias Jesus in seinem irdischen Wirken die barmherzige Zuwendung zu den Menschen ins Zentrum gestellt hat«, so sollen seine Nachfolgerinnen und Nachfolger auch handeln. »Als Richter urteilt er nach dem Kriterium, das er selbst vorgelebt hat« (394). Jesus ist dann Vorbild und der wahre, weil einzige Lehrer (23,10). Jüngersein bedeutet, von Jesus lernen. Manuel Vogel spricht von »Vorbild-Christologie« und für viele nungen und Kontrastbeschreibungen deutlich: Der Weg »ins Verderben« (7,13); der fruchtlose Baum, der ins Feuer geworfen wird (7,19, vgl. 3,10; 13,30.40-42; 15,13; ein Feuerofen außerdem in 13,50); die verweigerte Anerkennung durch Jesus im Gericht (7,23; 10,33; 25,12); das Verlieren der »Seele« im Tod um den Preis eines vermeintlich erfolgreichen Lebens auf der Erde (10,39; 16,26, vgl. 10,28); das Hinausgestoßenwerden in die Finsternis, wo »Heulen und Zähneklappern« ist (8,12; 22,13; 24,51; 25,30) und schließlich das Ende im »ewigen Feuer, das für den Teufel und seine Engel bereitet ist« (25,40)-- Matthäus lässt keinen Zweifel daran, dass es in der Botschaft Jesu entscheidend darum geht, das ewige Leben im Reich Gottes zu verbringen und nicht an jenem Strafort, wo anstelle von Gottes Lob nur Heulen und Zähneklappern zu hören ist. Die textpragmatische Absicht dieser Gerichtstexte ist jedoch nicht, die zukünftige und endgültige Trennung als unveränderliches Schicksal zu predigen, sondern auf die gegenwärtige Haltung der Gemeinde und deren Umfeld einzuwirken, 5 sie zur Umkehr bzw. zur tätigen Wachsamkeit zu ermutigen und beiden Adressatengruppen, den schon an Jesus Glaubenden und denen, die noch Prof. Dr. Roland Deines, Jahrgang 1961, verheiratet, Vater eines 17-jährigen Sohnes, geboren und aufgewachsen in Herrenberg (Württemberg); Studium der evangelischen Theologie in Basel und Tübingen, dazu ein Studienjahr an der Hebräischen Universität in Jerusalem. 1997 Promotion mit einer Arbeit über die Pharisäer bei Martin Hengel in Tübingen, 2004 Habilitation in Tübingen mit einer Arbeit über Matthäus. Nach Zwischenstationen in Tübingen, Jena und Beer-Sheva (Israel) seit 2006 am Department of Theology and Religious Studies der Universität Nottingham (GB) tätig, seit 2009 als Professor in New Testament Studies. Mitglied im Leitungsteam des Corpus Judaeo-Hellenisticum Novi Testamenti. Außer mit Matthäus beschäftigt er sich mit neutestamentlicher Archäologie und Zeitgeschichte, Jakobus und dem Jakobusbrief und ist interessiert an der Frage nach Gottes Handeln in der Geschichte als Herausforderung für die biblische Exegese (siehe sein letztes Buch »Acts of God in History«, Tübingen 2013). Prof. Dr. Roland Deines Zeitschrift für Neues Testament_36 typoscript [AK] - 13.11.2015 - Seite 48 - 4. Korrektur 48 ZNT 36 (18. Jg. 2015) Kontroverse ist genau das der Sinn des Evangeliums. Sich von Jesus inspirieren lassen, der Gerechtigkeit nachzujagen und sich für Frieden in der Welt und für die Bewahrung der Schöpfung einzusetzen. 2. Jesusanity oder Christianity? Warum also nicht hier aufhören? Sollten wir nicht, wie Vogel vorschlägt, die Chance nutzen, die uns das Matthäusevangelium innerhalb des Kanons bietet? Folgt man seiner Anregung, dann hätten wir mit Matthäus eine Stimme im Kanon, die es erlaubt, Jesus nachzufolgen unter Außerachtlassung der möglichen »christologischen und soteriologischen Überformungen«. Hinter diesem Anliegen verbirgt sich der alte Streit um das angeblich einfache Evangelium, das Paulus mit Hilfe von Hellenismus und Philosophie in ein kompliziertes System theologischer Sätze verwandelte, in dem aus dem Prediger aus Nazareth der in die Welt gekommene Welterlöser wurde, der für die Sünden der Menschen sterben musste. Statt wie Jesus die Menschen zu Barmherzigkeit, Nächsten- und Gottesliebe zu inspirieren, steht nun der Glaube an ein kompliziertes System, das als »christologische und soteriologische Überformung[en]« der Botschaft Jesu angesehen wird. Matthäus, so Vogel, vertrete dagegen einen »singulären Akzent« innerhalb des Neuen Testaments (eventuell könnte man ja auch den Jakobusbrief noch dazu setzen), und diesen gelte es zu verteidigen, »im Interesse einer möglichst großen Vielstimmigkeit des neutestamentlichen Christus-Zeugnisses«. Weil, so das Argument, das Matthäusevangelium sich mit einer »christologischen und soteriologischen Unterbestimmtheit« begnüge, darum könnte die Stimme dieses Evangeliums dazu gebraucht werden, »Christusanhänger« zu legitimieren, die zwar mit großer Leidenschaft die Gebote Jesu im Sinne einer Barmherzigkeitsethik zu befolgen bereit sind, sich aber schwer tun mit den christologischen und soteriologischen Bestimmtheiten der paulinischen Theologie und dem daraus erwachsenen christlichen Credo. Im englischen Sprachraum werden diese beiden Varianten von Jesusanhängerschaft als »Jesusanity« und »Christianity« unterschieden. »Jesusanity« bedeutet hier, bei dem Menschen und Lehrer Jesus in die Schule zu gehen, sein Schüler zu werden und seine Lehre in den eigenen Alltag hinein zu übersetzen. Als Beleg für die Möglichkeit einer nonsoteriologischen Jesusschülerschaft wird in der Regel die Redenquelle Q angeführt. Sie gilt in diesen Kreisen nicht primär als eine von mehreren Quellen, die erst zusammen mit diesen (besonders einer Passionserzählung) das ganze Evangelium bildet, sondern wird selbst als Evangelium verstanden. Das ist der entscheidende Punkt bei diesem Argument: Wenn Q ein Evangelium war, das alles enthielt, was zur Nachfolge Jesu nötig war, dann haben wir hier ein »Lost Gospel« (Burton L. Mack), das eine Variante der »Lost Christianities« (Bart D. Ehrman) repräsentiert, für das Jesus ausschließlich als Lehrer entscheidend war-- aber eben nicht als Erlöser, dessen Leben und Wirken in erster Linie von seinem Tod am Kreuz her zu verstehen ist. 6 Das Thomasevangelium gilt als weiterer Vertreter dieser »Lost Christianities«, weil es ebenfalls ohne Passionserzählung bzw. Hinweise darauf auskommt. Die Redenquelle Q, das Thomasevangelium und die Texte anderer »Lost Christianities« repräsentieren die Pluralität des Anfangs (wobei es eine Tendenz gibt, die Spruchevangelien chronologisch als die ältesten Zeugnisse zu werten, so dass sie das eigentliche Urevangelium bilden und damit die eigentliche Absicht Jesu am besten widerspiegeln), die dann vom »orthodox Christianity« (das sind die Antipluralisten, darum immer im Singular: es gibt keine »orthodox Christianities«; das ist die Wurzel allen Übels in der Kirchengeschichte und darüber hinaus) übernommen (Q als Teil von Lukas und Matthäus) bzw. an den Rand (als Häresie) und damit aus kanonischer Reichweite gedrängt wurden. Die »Wiederentdeckung« bzw. theologische »Rehabilitierung« dieser verlorenen Ausdrucksformen der Jesusanhängerschaft gilt als ein Zeichen der Fairness und der historischen Gerechtigkeit (wieviel offener, toleranter und besser ist doch das 21. Jahrhundert im Vergleich zu den Zeiten, als die christliche Orthodoxie alles unter ihrem lähmenden Bannstrahl zwang! ), aber nicht nur das: Es wird der Gegenwart auch als eine Alternative angeboten für diejenigen, die mit der soteriologischen Ausrichtung des traditionellen Christentums samt dem Glauben an Kreuz, Auferstehung und ewiges Leben wenig anfangen können. Bart Ehrmans suggestive Formulierungen sind hierfür typisch: »Many people still today have trouble accepting a literal belief in Jesus’ resurrection or traditional understandings of his death as an atonement, but call themselves Christian because they try to follow Jesus’ teachings. Maybe there were early Christians who agreed with them, and maybe the author of Q was one of them. If so, the view lost out, and the document was buried. In part, it was buried in the later Gospels of Matthew and Luke, which transformed and thereby negated Q’s message by incorporating it into an account of Jesus’ death and resurrection. One more form of Christianity lost to view until recently rediscovered in modern times.« 7 Es ist faszinierend, wie in diesem kurzen Ausschnitt die Adjektive zur Leserleitung eingesetzt werden: Wer Zeitschrift für Neues Testament_36 typoscript [AK] - 13.11.2015 - Seite 49 - 4. Korrektur ZNT 36 (18. Jg. 2015) 49 Roland Deines Gerechtigkeit, die zum Leben führt will sich in der Postmoderne noch mit »literal belief« (Buchstabenglaube) und »traditional understanding« identifizieren? Das steht für rückwärtsgewandtes Denken. Dagegen die ehrlichen Zweifler, die versuchten (»try«), Jesu Lehren so gut wie möglich zu folgen und dabei unter die Räder kamen. Auch die Postmoderne scheint ohne Märtyrer nicht auszukommen in deren Nachfolge sie sich selbst gerne als bedrängte Avantgarde präsentiert. Über die historische Wahrscheinlichkeit eines solchen Q-Christentums oder »Jesusanity« soll hier jedoch nicht debattiert werden. 8 3. Jesus als Toralehrer oder als etwas »Größeres«? Für die vorliegende Debatte ist entscheidend, ob Matthäus-- trotz Passionserzählung und einer pointierten Christologie-- für ein solches Christentum der Tat in Anspruch genommen werden kann. Manuel Vogel unternimmt den Versuch, Jesus als Toralehrer so in den Vordergrund zu rücken, dass dahinter die anderen Anliegen des Matthäus zurückstehen müssen. Jesus ist der Lehrer einer auf Barmherzigkeit konzentrierten Mosetora, er ist »Toralehrer« aber nicht »Tempelersatz« (worunter die vermittelnde bzw. soteriologische Dimension zusammengefasst ist). Man kann dies allerdings kaum auf der Basis von Mt 12,5-7 entscheiden und damit an der Frage, ob hier von etwas Größerem (Barmherzigkeit) oder einem Größeren (Jesus) die Rede ist. Darüber lässt sich trefflich streiten, und keine Seite wird sich auf dieser Ebene von den exegetischen Argumenten der anderen überzeugen lassen. 9 Die Argumentation, die sich vor allem auf das Neutrum von »Größeres« stützt und dies auf das neutrische Nomen to eleos vorausverweisen lässt, übersieht m. E., dass Matthäus das ganze Gespräch in Richtung auf eine grundsätzliche Frage stilisiert, wofür er sich durchgängig neutrischer Personalpronomina bedient: Die Pharisäer klagen die Jünger an, »etwas« (ho) zu tun, das nicht erlaubt ist (V. 2) und Jesus verteidigt sie mit Verweis auf etwas (ti), das David tat (V. 3), »was« (ho) ihm eigentlich verboten war (V. 4). Der zweite Vergleich zielt auf den Dienst der Priester im Tempel (to hieron), ein ebenfalls neutrisches Substantiv. Diesen Argumentationsgang zusammenfassend schließt Matthäus mit dem nun ebenfalls neutrischen Größeren, das »hier« ist. Gerade das betonte »Hiersein« spricht m. E. dagegen, dass es primär um die erst danach in V. 7 genannte Barmherzigkeit geht (zumindest wenn sie primär ethisch verstanden wird), weil Barmherzigkeit sozusagen schon immer da war. Das gilt jedoch nicht für die mit Jesus angebrochene neue Wirklichkeit der Herrschaft bzw. umfassenden Zuwendung Gottes. 10 Im weiteren Fortgang des Kapitels läuft ebenfalls alles auf die Person von Jesus hin: Die anschließende Konfliktgeschichte mit den Pharisäern wechselt vom »was« zum »wer« (V. 11) und endet (beide Konfliktgeschichten zusammenfassend) mit dem Tötungsbeschluss gegen Jesus (V. 14). Will man wirklich annehmen, dass Matthäus den Pharisäern unterstellen will, dass sie Jesus ausschließlich wegen seiner Betonung von Gottes Barmherzigkeit und seiner Heilung am Sabbat beseitigen wollten? Auch die schon erwähnte Bedrängnis der Jünger im Matthäusevangelium (s. Anm. 4) geschah nicht wegen ihrer guten Werke (zu der nach der ethischen Interpretation auch das Tun der Barmherzigkeit gehört, s. 5,7), sondern sie werden um Jesu bzw. um seines Namens willen verfolgt. Das lässt sich nur schwer damit erklären, dass Jesus lediglich eine abweichende, menschenfreundlichere und kultdistanziertere (ohne aber die Opfer überhaupt in Frage zu stellen, s. 8,4) Torainterpretation im Vergleich zu den anderen Schriftgelehrten vortrug. Der Konflikt entstand vielmehr daran, dass er beanspruchte, den Willen Gottes nicht nur zu kennen, sondern mit seinem ganzen Wirken-- einschließlich des Todes am Kreuz-- präsent zu machen (Mt 26,54.56). Das hebt auch das Selbstbekenntnis Jesu zu seinem Sohnsein in 11,25-30 hervor, die als einführende Verse für Kap. 12 wichtig sind. Durch diese Linse betrachtet werden die pharisäischen Konfliktszenen zu Auseinandersetzungen mit Jesus als dem Sohn (11,27), der den verborgenen Willen des Vaters kennt, aber nur den von ihm Erwählten offenbart. Im Gegenzug werden die Pharisäer als solche dargestellt, die noch nicht einmal die grundlegenden Dinge verstehen (wie auch in 23,23), weil sie die Schrift nicht wirklich zu lesen vermögen (worauf dreimal in den Versen 3, 5 und 7 verwiesen wird). Exegetische Details sind selten ausschlaggebend für das leitende Gesamtbild. Darum halte ich es für wenig hilfreich, einzelne »ethische« Stellen aus dem Matthäusevangelium herauszupicken und unter Absehung des Kontexts und des Gewichts innerhalb der Gesamtstruktur als Belegstellen etwa für das matthäische Tatchristentum heranzuziehen. Damit bestreite ich in keiner Weise, dass Matthäus von denen, die Jesus nachfolgen wollen, ein tatkräftiges, zeugnis- und zeichenhaftes Leben erwartete, das sich durch hingebungsvolle Nächstenliebe auszeichnet. Er macht auch deutlich, wie eingangs gezeigt, dass ein Hören der Botschaft Jesu ohne das entsprechende Tun im Verderben endet. Was ich jedoch in Frage stelle, ist, dass Matthäus »Exegetische Details sind selten ausschlaggebend für das leitende Gesamtbild.« Zeitschrift für Neues Testament_36 typoscript [AK] - 13.11.2015 - Seite 50 - 4. Korrektur 50 ZNT 36 (18. Jg. 2015) Kontroverse eine Möglichkeit der Jesusnachfolge favorisiert oder zumindest für möglich hält, die sich ausschließlich an dem Toralehrer Jesu orientiert, zumal er Jesus gerade nicht als Toralehrer stilisiert. Es ist ja doch auffallend, dass Jesus mit Ausnahme der sog. Antithesen der Bergpredigt (die ich in meiner Habilitation als »Gerechtigkeitsregeln« [433] verstehe, die exemplarisch in 2 Reihen mit je 3 Beispielen konkretisieren, was in 5,20 mit der überfließend reicheren Gerechtigkeit gemeint ist) an keiner Stelle von sich aus zu Fragen des Gesetzes ausdrücklich Stellung nimmt. Jesus reagiert auf Anfragen der Pharisäer und Schriftgelehrten nach dem, was erlaubt ist, aber er spricht von sich aus das Thema nicht an. Die einzige Stelle, wo Jesus die Pharisäer etwas fragt, konfrontiert er sie mit Psalm 110 (Mt 22,41-45), d. h. Jesus verwendet die Schrift, um sich als der zu präsentieren, den David seinen »Herrn« nennt. Wenn Matthäus Jesus über die Schrift (d. h. Gesetz und Propheten) reden lässt, dann tritt er nicht wie ein Toralehrer unter anderen auf, sondern als einer, der Tora und Propheten in souveräner Weise zu sich selbst ins Verhältnis setzt. Das unterscheidend Kennzeichnende am Lehren Jesu ist, dass er die großen Zusammenhänge der biblischen Geschichte kennt und sich zu diesen in Beziehung setzt: Er selbst ist der Schlüssel zum Verständnis der Schrift, und am Verhältnis zu ihm und seiner Botschaft entscheidet sich das eschatologische Geschick. 11 Er ist gekommen, um »Gesetz und Propheten« zu erfüllen und er weiß, dass nichts vom Gesetz vergehen wird, ehe alles geschieht (5,17 f.); zugleich macht er deutlich: Während das Gesetz vergehen wird, werden seine Worte nicht vergehen (24,35)! Welcher Lehrer in Israel hätte so etwas zu sagen gewagt? Aber damit nicht genug: Er weiß um »die Geheimnisse des Himmelreiches« und hat die Vollmacht, sie seinen Jüngern zu offenbaren (13,11); er weiß darüber hinaus, was die Propheten und Gerechten der Vergangenheit erhofften (die nach Matthäus ganz gewiss zu denen zählten, die nach Gerechtigkeit hungerten und dürsteten), aber nicht zu sehen erlangten (13,16 f.). Jesus ist gewürdigt, mit Elija und Moses zu reden als den Vertretern von Prophetie und Gesetz, aber am Ende verweist die Himmelsstimme auf ihn allein: Er ist Gottes geliebter Sohn, »ihn sollt ihr hören! « (17,5). Nach Mt 23,37 sagt Jesus, dass er schon oft Jerusalem unter seine Fittiche versammeln wollte. Vor dem Hintergrund der genannten Stellen lässt sich dies am besten so verstehen, dass Matthäus Jesus als die Stimme Gottes aufscheinen lässt, die hinter dem prophetischen Bußruf steht. Jesus weiß zudem, dass sich in seinem Todesschicksal alles erfüllt, was die Schriften der Propheten sagen (26,56). Wer mit so einem Anspruch auftritt (bzw. von Matthäus dargestellt wird), ist nicht einfach ein weiterer Toralehrer, der ein paar Schüler um sich versammelt. 12 Dass sich die Menschen über seine Lehrer wunderten und ihn in seinem Anspruch und seiner Vollmacht von den übrigen Schriftgelehrten zu unterscheiden wussten (7,28 f.), sollte doch Hinweis genug sein, dass Matthäus auch von seiner Leserschaft erwartete, dass sie Jesus von einem gewöhnlichen Toralehrer unterscheiden können. 4. Die Schwergewichte in der Tora (Mt 23,23) Worum geht es also bei der umfassend reicheren Gerechtigkeit, die Jesus von seinen Nachfolgern erwartet? Worin unterscheidet sich die Erfüllung von Gesetz und Propheten vom Toraverständnis der Pharisäer, das der matthäische Jesus als nicht ausreichend darstellt? Was sind die »Schwergewichte der Tora« (23,23)? Zehntabgaben, Schwurhalacha, oder Reinheitsfragen? Das alles hat für Jesus im Hinblick auf das eschatologische Heil keinerlei Gewicht. Selbst das Halten des Dekalogs einschließlich des Liebesgebots reicht nicht aus. Der reiche Jüngling kann von sich behaupten: »Das alles habe ich gehalten« (19,20), und dennoch fehlt ihm noch etwas, nämlich der kompromisslose Anschluss an Jesus selbst. 13 Was aber ist Nachfolge für diesen Mann? Wird ihm der begehrte Eingang ins ewige Leben gewährt, indem er seinen ganzen Besitz den Armen gibt und er dann fortfährt, die Tora in der Form zu leben, wie sie Jesus lehrt? Das Ja zu dieser Frage impliziert für Vogel (wie auch für Ulrich Luz, Matthias Konradt und andere Matthäus-Exegeten) die andauernde Verpflichtung zur vollständigen Einhaltung aller Toragebote - wenn auch in der von Jesus favorisierten Interpretation. Weil Jesus die Tora gehalten hat, müssen es seine Nachfolger auch tun. Die Frage nach der mt Gerechtigkeit hängt darum eng mit der Frage nach dem Juden Jesus zusammen, wie sie die sogenannte »Third Quest« formuliert, in der Jesu umfassender Toragehorsam einen der beiden Dreh- und Angelpunkte bildet. Zwar beschränkt Vogel die Er- »Wenn Matthäus Jesus über die Schrift (d. h. Gesetz und Propheten) reden lässt, dann tritt er nicht wie ein Toralehrer unter anderen auf, sondern als einer, der Tora und Propheten in souveräner Weise zu sich selbst ins Verhältnis setzt.« Zeitschrift für Neues Testament_36 typoscript [AK] - 13.11.2015 - Seite 51 - 4. Korrektur ZNT 36 (18. Jg. 2015) 51 Roland Deines Gerechtigkeit, die zum Leben führt wartung einer vollumfänglichen Toraobservanz auf die jüdischen Jesusanhänger, doch dabei trägt er eine Unterscheidung ein, die der Text so gerade nicht hergibt, weil die goldene Regel, Mt 7,12, denselben Zuhörern gilt wie Mt 5,19 f. Aber auch mit dieser Einschränkung geht er m.E. weit über den Befund des Matthäus hinaus. Eine solche auf den Toralehrer bezogene Jesusnachfolge lässt sich zudem für das frühe Christentum zu keinem Zeitpunkt wirklich glaubhaft machen. Sie ist eher als forschungsgeschichtliche Pendelbewegung zu sehen, an denen unsere Disziplin ja nicht gerade arm ist. Dabei wird ein Extrem (in diesem Fall: die Feindschaft Jesu gegen das Judentum seiner Zeit) durch ein übertriebenes Betonen des Gegenteils auszugleichen versucht. Das wurde in den letzten Jahrzehnten ausgiebig getan und die Zeit scheint reif, die Extreme hinter sich zu lassen. Gerade wenn man das Matthäusevangelium nach 70 datiert, stellt sich doch die Frage, wie die Tora überhaupt noch eingehalten werden konnte, nachdem der Tempel zerstört war? Opfer sind nicht mehr möglich, die Tempel- und Wallfahrtsfeste können nicht praktiziert werden, schwere Unreinheiten, die ein Opfer verlangen, nicht mehr beseitigt werden. Die rabbinischen Ersatzlösungen für das Fehlen von Opfer und Tempel waren zur Zeit des Matthäus noch nicht vorhanden und selbst wenn- - warum hätten die Jesusanhänger sich darauf einlassen sollen? Auch angesichts der historisch plausiblen Annahme, dass in den ersten Jahrzehnten nach Jesu Kreuzigung jüdische Jesusanhänger selbstverständlich ihre herkömmliche jüdische Lebensweise fortsetzten (allerdings unter verschobenen Hierarchien, die sich über kurz oder lang auch strukturell auswirkten), ist der zentrale Bezugspunkt für sie nun eindeutig Jesus und nicht mehr länger die Tora in ihrer bisherigen Gestalt. Es ist seine die ganze Schrift erfüllende Wirksamkeit und die Verheißung seiner Gegenwart, die den Eingang ins Himmelreich gewährt. Wenn also seine Anhänger die Tora lesen, dann kann sie im Hinblick auf die berühmte Trias (Mt 23,23) aus Gericht (krisis, Konradt, a. a. O., 358 übersetzt mit »Recht«), Barmherzigkeit (eleos) und Glauben (pistis, Konradt »Treue«) nicht mehr länger verstanden werden, als wäre Jesus nicht gekommen und darum sozusagen alles beim Alten geblieben. Entscheidend ist jedoch, dass die Tora Erstaunliches enthält, wenn man sie tatsächlich einmal auf diese drei Leitbegriffe hin anschaut: 1. Gericht: Matthäus gebraucht krisis insgesamt 12mal und dabei ist immer vom Gericht die Rede (5,21 f.; 12,41 f.; ausdrücklich als »Tag des Gerichts« in 10,15; 11,22.24; 12,36; 23,33). Die einzige Stelle, wo mit »Recht« übersetzt werden kann-- aber nicht muss-- ist in den LXX-Zitaten Mt 12,18.20. Aus diesem Grund ist die Abschwächung in 23,23, wie sie Konradt annimmt, unbegründet. Für den matthäischen Jesus ist das Gericht Gottes das eigentlich Gewichtige in der Tora, und das ist durchaus legitim, wenn man das Gewicht der Gerichtsaussagen am Ende des Pentateuch in den Blick nimmt (Dtn 28-32, die Wahl zwischen Segen und Fluch). Aber auch der Anfang der Tora (= Pentateuch) ist vom Gericht bestimmt: Über das erste Menschenpaar (Gen 3,14-19), über den ersten Totschläger (Gen 4,10-15) und über das erste Menschengeschlecht (Gen 6,5-7). 2. Erbarmen: Mit den genannten Gerichtsaussagen in der Tora ist jeweils ein Element der Hoffnung und des göttlichen Erbarmens verbunden, das den zweiten Begriff der matthäischen Trias erklären kann (vgl. Gen 3,15; 4,15; 6,8; 8,21 ff. und am Ende Dtn 33, Moses Segen über die Stämme Israels). Ein solches Verständnis von Barmherzigkeit als vergebender Zuwendung Gottes bestätigt auch die Verwendung von eleos in der griechischen Übersetzung der Tora. Das Wort kommt insgesamt 15-mal vor und mit einer Ausnahme (Gen 40,14) bezeichnet es Gottes gnädige Zuwendung zu einem einzelnen Menschen (Abraham, Gen 19,19; 24,12. 14. 24.49; Josef, Gen 39,19; Mose, Num 11,15) oder zu denen in Israel, die ihn lieben und seine Gebote halten (Ex 20,6 par. Dtn 5,10; 7,9.12, vgl. auch Neh 1,5; 9,32). Interessant ist, dass in Gen 19,19 und 24,49 eleos im Parallelismus zu Gerechtigkeit (dikaiosynē) steht, d. h. Gottes Gerechtigkeit ist aufs Engste mit seiner Barmherzigkeit verbunden. Entscheidend ist jedoch, dass sich in Ex 34,7; Num 14,19 (und ähnlich in Dtn 13,18) Gottes Barmherzigkeit in seiner Bereitschaft zeigt, Sünden zu vergeben (zum Fehlen seiner Barmherzigkeit, weil er nicht mehr länger bereit ist zu vergeben, s. Jer 16,13). Auch die Erwählung Davids und seines Hauses ist ein Akt von Gottes Barmherzigkeit (2Sam 7,15 par. 1Chr 17,13; 2Chr 1,8; 6,42; Ps 18,51 [LXX 17,51]). In den Psalmen steht ebenfalls durchgängig Gottes Barmherzigkeit im Sinne seiner gnädigen Zuwendung im Vordergrund, desgleichen bei den Propheten (z. B. Jes 54,8; 56,1). Hier ist Erbarmen dann zudem eine von Gottes Volk erwartete Haltung (Jes 56,1; Hos 4,1 u. ö.). Diese über einen ethischen Wettstreit mit den Pharisäern hinausreichende Bedeutung von eleos entspricht auch der sonstigen Verwendung bei Matthäus: Das Wort kommt außer in 23,23 nur noch zweimal vor, jeweils in dem Zitat aus Hos 6,6 (Mt 9,13; 12,7). Das Hoseazitat wird in beiden Fällen zur Zurückweisung pharisäischer Kritik an Jesu Verhalten gebraucht und kann nur bedingt mit Barmherzigkeit im Sinne einer ethischen Haltung zugunsten der Schwachen gleichgesetzt werden. Im ersten Fall geht es um die Tischgemeinschaft mit den Zöllnern und Sündern, d. h. Erbarmen steht gegen die religiöse Ausgrenzung der Sünder; im zweiten Fall, dem Ährenraufen der Jünger Zeitschrift für Neues Testament_36 typoscript [AK] - 13.11.2015 - Seite 52 - 4. Korrektur 52 ZNT 36 (18. Jg. 2015) Kontroverse am Sabbat, steht Erbarmen gegen ein starres Festhalten an einem Gebot ohne Berücksichtigung der Umstände. Die Pharisäer handeln vordergründig richtig, aber sie verkennen Gottes Absicht. In Hos 6,6 steht »Erbarmen« im Parallelismus zu »Gotteserkenntnis«, und dass Jesus die Pharisäer wegschickt, um zu »lernen«, lässt erkennen, dass es ihnen gerade daran fehlt. Darum verurteilen sie auch die Unschuldigen (12,7) bzw. verweigern den Schwachen ärztliche (= Gottes) Hilfe. Das »Erbarmen«, das die Pharisäer vernachlässigen, ist »die Zuwendung zu Gott und die damit verbundene Zuwendung zu den Sündern, denen die Zuwendung Gottes gilt.« 14 Im Kontext des Hoseabuches ist allein Gott derjenige, der sein Volk heilen kann, doch die Führer Israels erkennen dies nicht (Hos 5,13-7,1). Zur Zeit Jesu sind es die Pharisäer, die nicht erkennen, wo der eigentliche Schaden liegt, den Jesus gekommen ist zu heilen. Dabei ist bei Hosea wie bei Jesus Sünde das eigentliche Übel, weil es die Menschen von Gott trennt. Das ist sehr schön an der ersten Heilung Jesu im Beisein der Schriftgelehrten erkennbar (9,2 ff.). Bevor er den Gelähmten heilt, vergibt er ihm seine Sünden. Das ist seine Reaktion auf den Glauben derer, die den Kranken zu Jesus brachten (9,2). Dieser Glaube (vgl. auch 9,22) kann hier verstanden werden als das Zutrauen auf Jesus, durch ihn die Zuwendung Gottes zu erfahren. In einer weiteren Heilungsgeschichte im unmittelbaren Kontext des Hos 6,6-Zitats reden zwei Blinde Jesus als Sohn Davids an und bitten ihn, sich ihrer zu erbarmen (9,27). Das hierfür gebrauchte Verb (eleeō) ist von derselben Wurzel gebildet wie das Wort für Erbarmen (eleos), d. h. ein Rückverweis auf 9,13 scheint intendiert: Jesus bringt als Arzt Gottes Barmherzigkeit zu seinem Volk. Hier fragt Jesus zudem ganz direkt nach dem Glauben der beiden, die von ihm geheilt werden wollen: »Glaubt ihr, dass ich es tun kann? « (9,28). Dadurch unterstreicht der Evangelist noch einmal, dass die Zuwendung Gottes und der Glaube an Jesus als Repräsentant Gottes nicht voneinander zu trennen sind. Das theologische Programm des Matthäusevangeliums ist ja von Anfang an die heilvolle Gegenwart Gottes bei seinem Volk: Jesus ist der verheißene Immanuel, das ist »Gott mit uns« (Mt 1,23). 15 Das ist die Verheißung, die über der Geburt Jesu steht. Und es ist die Zusage am Ende (28,20), wenn er seinen Jüngern verspricht, bei ihnen zu sein bis zur Vollendung der Welt (28,20). Diese verheißene Gegenwart geschieht immer da, wo »zwei oder drei in seinem Namen zusammen sind« (18,20), d. h. in der Gemeinschaft derer, die an ihn glauben (vgl. 18,6). Was aber ist das Kennzeichen derer, die an ihn glauben? Sie leben aus der Vergebung, die sie selbst zuallererst empfangen haben und die sie weitergeben an »ihre Schuldiger« (18,21-35; so auch schon in 6,12.14-15). 3. Glaube: Wie gesehen, gehört also auch der Glaube für Jesus zu den Schwergewichten in der Tora, auch wenn die Wortgruppe selbst im Pentateuch nur selten belegt ist. Die wenigen Stellen mit theologischer Bedeutung haben aber allesamt Gewicht. Schon die erste, über den Glauben, der Abraham zur Gerechtigkeit angerechnet worden ist (Gen 15,6), ist grundlegend. An allen anderen Stellen geht es darum, dass Mose mit dem Unglauben Israels (in Ex 4,1-9 konkret, dass sie nicht glauben, dass Gott Mose erschienen ist und ihn beauftragt hat; Num 14,11; Dtn 1,32; 9,23) und seltener dem Glauben Israels an seine Sendung konfrontiert ist (Ex 4,31; 14,31; 19,9). Mose selbst wird zusammen mit Aaron seines fehlenden Glaubens wegen bestraft (Num 20,12). Am Ende stehen sich Gottes Treue und Israels Unglauben gegenüber (Dtn 32,4.20). Die letzte Stelle spricht von Israel als einem »verkehrten Geschlecht« (nahezu identisch wie Mt 17,17), sie sind »Kinder, in welchen kein Glaube ist«, weshalb sich Gott von ihnen abwendet. Matthäus setzt an diesem Punkt an. Er beschreibt, wie sich Gott seinem Volk wieder zuwendet und in diesem neuen Handeln an und für Israel auf Glauben wartet. Dieser ist bei Matthäus sorgfältig christologisch begründet: Zum einen weckt der irdische Jesus durch seine Heilungswunder Vertrauen auf sich selbst: aus Hilfesuchenden werden Glaubende-- unter den Heiden (8,10.13; 15,28) wie in Israel (9,2. 22. 28 f.). Zwar ist an diesen Stellen noch nicht ausdrücklich vom Glauben an Jesus die Rede (vgl. aber oben die Frage in 9,28), aber es ist eindeutig, dass dieser Glaube sich an seine Gegenwart bindet. Das heißt, wo er ist und handelt, da kann erwartet werden, dass Dinge geschehen, die nur Gott tun kann: Blinde sehen, Lahme gehen, Aussätzige werden geheilt und Sünden werden vergeben. Bei seinen Jüngern vertieft Jesus durch seine Natur- und Schöpfungswunder den Glauben: Aus Kleingläubigen (6,30; 8,26; 14,31, vgl. 17,17) werden solche, die nach seiner wahren Identität fragen (8,27) und ihn schließlich als Gottes Sohn und Messias begreifen (14,33; 16,16). Ab Kapitel 16 geht es darum, den Glauben der Jünger zu vertiefen (17,20; 21,21 f.), so dass sie als Sendboten des Messias Jesus bis zu seiner Wiederkunft allen Verführungen widerstehen können. Wenn Jesus sie davor warnt, nicht an die Pseudomessiasse der endzeitlichen Verführungszeit zu glauben, dann impliziert dies doch zweifellos, dass er sie als solche anspricht, die an ihn als den wahren Messias glauben (24,23.26). Auch die Pharisäer werden im Hinblick auf Johannes gefragt, warum sie ihm-- und damit implizit-- Jesus nicht geglaubt haben (21,25.32). Der Glaube an ihn ist die entscheidende Vollmacht seiner Gemeinde und der Grund ihres ewigen Heils. Darum ist es auch so schlimm, wenn Kinder (bzw. die »Kleinen«), die an ihn glauben, verführt werden (18,6). Auch in der Verspottung am Kreuz geht es um den Glauben an Jesus. In 27,42 begegnet der Wortstamm pistzum letzten Mal bei Matthäus. Es ist die deutlichste Infragestellung des messianischen Anspruches Jesu. Er wird verhöhnt, sein rettendes Wirken wird gelästert, weil er sich selbst nicht zu helfen vermag. Einzig wenn er vom Kreuz stiege, wären seine Lästerer bereit, an ihn zu glauben. Im Kontrast Zeitschrift für Neues Testament_36 typoscript [AK] - 13.11.2015 - Seite 53 - 4. Korrektur ZNT 36 (18. Jg. 2015) 53 Roland Deines Gerechtigkeit, die zum Leben führt dazu steht die Aussage des Centurio unter dem Kreuz: »Dieser war in Wahrheit Gottes Sohn« (27,54). Damit schlägt Matthäus den Bogen zu jenem Hauptmann aus Mt 8,5 ff., dem Jesus als erstem überhaupt Glauben zugesprochen hatte. Dass dieser Glaube am Ende eindeutig als Glaube an Jesus qualifiziert ist, scheint mir eindeutig zu sein. Der von Matthäus in sein Evangelium verflochtene Erzählfaden vom Glauben ist darum christologisch nicht unterbestimmt, sondern eindeutig auf Jesus bezogen. Am Verhältnis zu ihm und seinen Geboten-- aber nicht am Verhältnis zur Tora, die nur in der transformierten (erfüllten) Gestalt der Weisung Jesu weiter Geltung hat -- entscheidet sich das eschatologische Geschick. Was also vernachlässigen die Pharisäer? Sie vernachlässigen das Gericht, das Israel und jedem Einzelnen droht, und das in seiner Schwere nicht überschätzt werden kann. Sie vernachlässigen, dass einzig Gottes Barmherzigkeit (und damit verbunden seine rettende Gerechtigkeit 16 ), wie sie im Kommen des Messias Person geworden ist, sie zu retten vermag aus ihren Sünden. Und darum versäumen sie es, an den Weg der Gerechtigkeit zu glauben, der mit dem Kommen Jesu eröffnet wurde (21,32; vgl. 7,13 f.). Schlimmer noch, sie verschließen auch denen den Weg, die schon im Begriff waren, in Jesus den verheißenen Sohn Davids zu sehen (vgl. 23,13 im Kontext von 12,23 f.). Ich kann darum dem von Manuel Vogel vorgeschlagenen Versuch, alles auf die ethische Karte zu setzen und die soteriologische Christologie des ersten Evangeliums in der Schwebe zu lassen, wenig abgewinnen, so sehr ich das dahinter stehende Anliegen verstehe. Gerade ein Blick in die Kirchengeschichte und auf die christlichen Gemeinschaften, die sich besonders von Matthäus inspirieren ließen (Täuferbewegungen, Mennoniten, Pietisten, Methodisten) lässt erkennen, dass ein starkes ethisches Engagement nicht zu Lasten einer christologisch gegründeten Soteriologie gehen muss. Es lohnt sich also, sich von Matthäus beides sagen zu lassen: Gott ermöglicht durch Jesus eine Überwindung der Sünde und der zerstörenden Mächte und Kräfte, und er ermöglicht im Anschluss und Gehorsam an Jesus ein Leben, das davon geprägt ist, die überfließend reiche eschatologische Gerechtigkeit Wirklichkeit werden zu lassen: In der Zuwendung (eleos) zu den Sündern und Ausgegrenzten und in der tätigen Hilfe der um Jesu willen Bedrängten (wozu die Gegenwart mehr als reichlich bittere Gelegenheit bietet), sowie allen, die er seine geringsten Geschwister nennt (10,42; 25,40). 5. Die Jesus-Gerechtigkeit (Mt 3,15) als Grundlage der Jünger-Gerechtigkeit Diese doppelte Bewegung-- hin zu Jesus und von da zu seinen »geringsten Brüdern«-- lässt sich auch anhand der Gerechtigkeitsterminologie des ersten Evangeliums zeigen. Da ich dies ausführlich dargestellt habe, möchte ich abschließend nur die folgenden Beobachtungen noch einmal herausstellen, die mich dazu geführt haben, die matthäische Gerechtigkeit als »Jesus-Gerechtigkeit« zu charakterisieren. Damit versuche ich auszudrücken, dass sie von Jesus herkommt und zu ihm hinführt und ohne ihn nicht verwirklicht werden kann. Das würde wohl auch mein Jenaer Kollege gelten lassen. Der Unterschied liegt darin, dass er für eine ethische Bestimmtheit bei christologischer und soteriologischer Unbestimmtheit plädiert, während ich meine, dass Matthäus das Gegenteil tut: Die christologische und soteriologische Bestimmtheit ermöglicht es, dass die Jesusnachfolger jene guten Werke tun, die die Menschen den Vater im Himmel preisen lassen. Darum ist es auch wenig hilfreich, mit dem Gerechtigkeitsbegriff in 5,20 zu beginnen: Zum einen, weil auch Matthäus nicht damit anfängt: Dreimal hat er diesen Begriff bis dahin schon gebraucht (3,15; 5,6.10). Zum anderen, weil in 5,20 von der Gerechtigkeit der Jünger die Rede ist (»eure Gerechtigkeit«), die von ihnen nur deshalb erwartet werden kann, weil es zuvor von Jesus heißt, dass er »alle Gerechtigkeit« (3,15) bzw. »Gesetz und Propheten« (5,17) erfüllt und darum denen die Erfüllung ihrer Hoffnung versprechen kann, die nach dieser Gerechtigkeit hungern und dürsten (5,6). Matthäus unterscheidet genau zwischen dem Wirken Jesu, wie es in 3,15; 5,17 f. ausgesagt ist und dem der Jünger, das sozusagen mit 5,19 beginnt. Darum schreibt er in 5,20 und 6,1 deutlich von »eurer Gerechtigkeit«: Die Jünger leben in dem und von dem, das Jesus ermöglicht hat. Matthäus ist der einzige Evangelist, der das Gerechtigkeitsthema mit dem Kommen Jesu verknüpft: Programmatisch geschieht dies in 3,15, dem ersten von »Was also vernachlässigen die Pharisäer? Sie vernachlässigen das Gericht, das Israel und jedem Einzelnen droht, und das in seiner Schwere nicht überschätzt werden kann.« »Die christologische und soteriologische Bestimmtheit ermöglicht es, dass die Jesusnachfolger jene guten Werke tun, die die Menschen den Vater im Himmel preisen lassen.« Zeitschrift für Neues Testament_36 typoscript [AK] - 13.11.2015 - Seite 54 - 4. Korrektur 54 ZNT 36 (18. Jg. 2015) Kontroverse Jesus gesprochenen Satz im Evangelium. Jedes Wort ist hier von Bedeutung, und darin lediglich die Demut Jesu erkennen zu können, der sich dem Täufer unterordnet, greift theologisch doch wohl zu kurz. Das wird u. a. aus der Antwort deutlich, die Jesus dem Täufer auf seine Anfrage aus dem Gefängnis gibt (11,2-6). Die abschließende Wendung, »Selig ist, wer an mir keinen Anstoß nimmt«, zeigt, dass auch der Täufer sich der in Jesus erschienenen Weisheit Gottes zu fügen hat (11,19). Es ist sicher richtig, dass der Fokus von 3,15 nicht auf der Sündlosigkeit von Jesus liegt, aber eben auch nicht auf seiner Demut im Unterschied zu den Pharisäern. Wenn überhaupt würde die Stelle etwas über die Demut des Täufers aussagen: Er beugt sich Jesu Willen. Viel wichtiger aber ist doch, wer hier zur Taufe kommt, was er sagt und was dann geschieht: Der vom Heiligen Geist Gezeugte (1,18) wird von Matthäus kunstvoll in das irdische Geschehen eingefügt, wobei die ersten beiden Kapitel bestimmt sind von Erfüllungszitaten, die belegen, dass mit diesem Kind Gottes Verheißung, bei seinem Volk zu sein und die Sünde wegzunehmen, zur Erfüllung gelangt. Jesus ist der »Sohn«, den Gott gerufen hat (2,15). Der Täufer bereitet »dem Herrn« den Weg, d. h. das Wort Jesajas, das beim Propheten auf Gott weist, dient bei Matthäus bzw. dem Täufer zur Ankündigung Jesu. Erzählerisch ist also vorbereitet, dass in diesem »Sohn Davids« (vgl. 1,1.21) der Messias kommt, den Gott als seinen Sohn (2,15) und Repräsentanten seiner selbst anerkennt. Mit 3,15 bringt Jesus seine Bereitschaft zum Ausdruck, ganz dieser Sendung Gottes zu genügen. So wie Johannes seinen Auftrag angenommen hatte, so auch Jesus. In diesem Gehorsam gegenüber Gottes Heilswillen (denn das besagt »Gerechtigkeit« hier: »Wirksamkeit und Durchsetzung der heilschaffenden Gerechtigkeit Gottes« 17 ) kann man seine Demut sehen, aber dann ist damit nicht nur 11,29, sondern auch 20,28 zu verbinden, wo Jesus dem Herrschaftsstreben seiner Jünger seine Lebenshingabe als ultimativen Dienst »zur Erlösung für viele« gegenüberstellt. 18 Auf diesen Gehorsamsakt Jesu hin ergeht die Himmelsstimme, die seine Sohnschaft noch einmal bestätigt (3,17). Die anschließende Versuchungsgeschichte zeigt, dass es in dem Ringen, das Jesus bevorsteht, um das rechte Gottesverhältnis geht, dem alle berechtigten leiblichen Bedürfnisse, alles Über- Gott-Verfügen-Wollen und alles eigene Machtstreben unterzuordnen ist (4,1-10). Die Engel dienen Jesus am Anfang und sie ständen ihm auch bei der Passion zur Verfügung, was die Freiwilligkeit des Leidens des Sohnes (»meint ihr nicht, ich könnte meinen Vater bitten …«) noch einmal unterstreicht (Mt 26,53). Mit den Engeln, die Jesus dienen, beendet Matthäus seine Vorgeschichte. Darin ist die Christologie gewiss nicht unterbestimmt, und die Verknüpfungsfäden zur sich entfalteten Soteriologie sind deutlich gesetzt. 19 Auch der Beginn von Jesu öffentlicher Wirksamkeit ist als messianisches Erfüllungsgeschehen (4,13-16) eingeführt. Die ersten Jünger werden als »Menschenfischer« und nicht als Schüler eines Toralehrers berufen, d. h. »die für Matthäus konstitutive missionarische Dimension der Jüngerschaft« steht von Anfang an im Vordergrund (Konradt, a. a. O., 61). Dieses Zeugnis der Jünger ist aber kein Toraunterricht, sondern die Anwendung der von Jesus verliehenen Vollmacht (10,1-8), die zunächst den verlorenen Schafen des Hauses Israel gilt, die einen neuen, besseren Hirten brauchen. 6. Rückblick: Drei Vollzugsmeldungen Die durch den Täufer eingeleitete heilsgeschichtliche Wende kam mit Jesus in Erfüllung. Was »alle Propheten und das Gesetz geweissagt haben« (11,13) ist nun Wirklichkeit: Es ist alles geschehen (5,17 f.). Der Gottessohn selbst ist gekommen, um als ein Nachkomme Abrahams und Davids »alle Gerechtigkeit« zu erfüllen (3,15), so dass der »Weg der Gerechtigkeit«, die zum ewigen Leben führt, nun für alle offen steht, die umkehren und an dieses neue Handeln Gottes glauben (21,32). Was sein Messias geboten hat, das gilt »bis an der Welt Ende« (28,20) und im gehorsamen Verhältnis zu ihm entscheidet sich das eschatologische Heil. 1. Wer nach diesen Erfüllungsaussagen Jesus in erster Linie als Toralehrer sieht und zumindest seine jüdischen Nachfolger zur vollen Toraobservanz verpflichtet, der füllt neuen Wein in alte Schläuche, die spätestens seit Marcion zerplatzt sind. Die Kirchen- und Theologiegeschichte bis hin zum allerjüngsten »Berliner Streit« bietet reichlich Anschauungsmaterial für die Schwierigkeiten, ohne eine heilsgeschichtliche Hermeneutik, 20 wie sie die oben genannten Stellen in nuce enthalten (und denen weitere aus anderen neutestamentlichen Schriften zur Seite gestellt werden können), an der bleibenden Gültigkeit des ganzen Alten Testaments als Teil der einen christlichen Bibel festzuhalten. Um im Bildwort vom Wein zu bleiben: Der alte Wein kommt zur Reife in den Schläuchen, in die er gefüllt wurde. Indem der Wein »Matthäus unterscheidet genau zwischen dem Wirken Jesu, wie es in 3,15; 5,17f. ausgesagt ist und dem der Jünger, das sozusagen mit 5,19 beginnt.« Zeitschrift für Neues Testament_36 typoscript [AK] - 13.11.2015 - Seite 55 - 4. Korrektur ZNT 36 (18. Jg. 2015) 55 Roland Deines Gerechtigkeit, die zum Leben führt getrunken wird, erfüllt er seine Bestimmung (ebenso wie die Schläuche). Wenn neuer Wein geerntet ist, kommt er in neue Schläuche, damit er darin seiner Bestimmung entgegenreift. Jesus hat den Kelch des alten Weins ausgetrunken (20,22; 26,39.42) und damit die Schriften erfüllt, so dass »alles geschehen« ist (26,54.56). Damit ist erfüllt, worauf in 5,18 hingewiesen wurde: Nichts ist von der Tora (verstanden hier als umfassender Begriff für Gottes geoffenbarten Heilswillen, d. h. als short cut für Tora und Propheten) »übergangen worden«, 21 sondern alles ist durch den Tod Jesu am Kreuz geschehen, was in ihr geboten (Glaube), verheißen (Barmherzigkeit) und angedroht (Gericht) worden ist. Als der, der den Kelch des alten Weins im Begriff ist auszutrinken und damit seiner Bestimmung zuzuführen, schenkt Jesus den neuen Wein seinen Jüngern ein (26,27-29). 2. Die Debatte um die matthäische Gerechtigkeit lässt sich möglicherweise auf diesen Nenner bringen: Für die ethische Deutung gilt, dass, weil Jesus die ganze Tora gehalten hat (»erfüllen« verstanden als »halten« bzw. »tun«), auch seine Nachfolger die ganze Tora (bzw. die Heidenchristen eine »Tora light«) halten müssen. Daran hängt ihre Zugehörigkeit zum Reich Gottes und der Eingang ins ewige Leben (und man fragt sich, wozu der Kreuzestod dann nötig war). Für die christologische Deutung gilt, dass, gerade weil Jesus Gesetz und Propheten erfüllt hat (»erfüllen« verstanden als die heilsgeschichtliche Wende hin zum Reich Gottes vollbringen), müssen seine Nachfolger dies nicht mehr tun. Ihre Zugehörigkeit zum Reich Gottes und der Eingang ins ewige Leben hängt davon ab, ob sie Jesus als Gottes Messias vor den Menschen bekennen oder nicht (10,32 f.). Zu diesem Bekenntnis gehört das Tun dessen, was er geboten hat (7,21.24; 28,20), damit der Vater im Himmel durch ihre guten Werke-- wozu in erster Linie ihre missionarische Existenz für andere gehört-- gepriesen wird (5,16). 3. So wie Jesus nur in ganz besonderer Weise Lehrer ist, so sind seine Jünger nur in ganz besonderer Weise Schüler. Sie werden über die »Geheimnisse des Himmelreichs« belehrt, aber nicht über die Feinheiten der Tora. Sie werden dazu ausgesandt, zu heilen, die angebrochene Gottesherrschaft zu verkündigen und sich in all dem zu Jesus zu bekennen: Sie werden um seinetwillen verfolgt und haben die Aufgabe, am Bekenntnis zu ihm bis zum Ende festzuhalten. Hätten sie sich selbst nur als Toralehrer verstanden, selbst einer modifizierten Tora, dann wären sie von den anderen jüdischen Gruppen als eine weitere Sekte wahrgenommen worden. Unerklärlich bleibt dann, warum sie verfolgt wurden. Unerklärlich bleibt dann letztlich, warum Jesus hingerichtet wurde. Und unerklärlich bleibt, wie es zur Ausbildung eigener Gemeinden mit eigenständigen Ritualen (Taufe, Abendmahl) und Strukturen kam. Matthäus dagegen erklärt, warum es dazu kam: Weil mit Jesus Gesetz und Propheten erfüllt wurden und damit eine neue Bedeutung bekommen haben. Sie verkündigen von nun an Gottes rettende Gerechtigkeit aller Welt, Israel zuerst, und dann allen Völkern. Anmerkungen 1 Diese etwas umständliche Paraphrasierung von Mt 5,20 ist nötig, weil die übliche Redeweise von der »besseren Gerechtigkeit« aus der zum Verb gehörenden Umstandsangabe pleion (»mehr«) ein auf Gerechtigkeit bezogenes Adjektiv macht. Das »mehr« bezieht sich jedoch auf das Verb perisseuō (»im Überfluss vorhanden sein«), s. R. Deines, Die Gerechtigkeit der Tora im Reich des Messias. Mt 5,13-20 als Schlüsseltext der matthäischen Theologie (WUNT 177), Tübingen, 2004, 413; 422-425. 2 Ein wichtiger früher Vertreter war Georg Strecker, der diese Position auch auf das politische Engagement der Christen angewandt wissen wollte, die sich immer und überall im Geiste Jesu »für Gerechtigkeit« einsetzen sollen. Zu einer kritischen Darstellung dieser Position s. Deines, Gerechtigkeit, 11-18. 3 M. Konradt, Das Evangelium nach Matthäus (NTD 1), Göttingen 2015, 77. 4 Konradt, Matthäus, 69. Ich habe allerdings in meiner Arbeit nachgewiesen, dass die metaphorische Verwendung von »Hungern und Dürsten« (in Mt 5,6 nach Gerechtigkeit) in der biblisch-jüdischen Tradition nicht ein aktives »Sichmühen um« bedeutet (so z. B. U. Luz, Das Evangelium nach Matthäus (EKK I/ 1), Neukirchen-Vluyn 5 2002, 284), sondern ein Sehnen nach etwas, das überhaupt nicht in der menschlichen Verfügungsgewalt steht (Deines, Gerechtigkeit, 137-154). Zudem lässt sich nicht erklären, warum die Jünger um einer so verstandenen, ethisch orientierten Gerechtigkeit willen verfolgt werden (5,10). Das gilt besonders dann, wenn man die Adressaten des Evangeliums in enger Nähe zum Judentum sieht. Warum sollten andere Juden die Jünger dafür verfolgen, dass sie arm sind, Leid tragen, sanftmütig, barmherzig usw. sind? Ihre bedrängte Situation hängt nicht mit ihrer Ethik, sondern mit ihrer Bindung an Jesus zusammen: Die in Mt 5,11 gebrauchte Wendung »wegen mir« (heneken emou) ist genau parallel zu »wegen Gerechtigkeit« (heneken dikaiosynēs) formuliert; wenn aber Jesus »alle Gerechtigkeit« erfüllt (3,15) und als »der Gerechte« in der Passionserzählung identifiziert wird (27,19), dann erscheint es mir naheliegender, eine mit der Person Jesu verbundene Gerechtigkeit als Grundlage der Verfolgung zu sehen. Mt 27,19 ist der letzte Beleg für das Wortfeld »Gerechtigkeit« und er entlässt die Leser des Evangeliums mit dem Verweis auf den Anfang, wo Jesus sein Wirken mit dem Erfüllen aller Gerechtigkeit verbindet. 5 Vorausgesetzt ist, dass die Adressaten des Matthäus in enger Nachbarschaft mit ihrer jüdischen Mitwelt leben und Zeitschrift für Neues Testament_36 typoscript [AK] - 13.11.2015 - Seite 56 - 4. Korrektur 56 ZNT 36 (18. Jg. 2015) Kontroverse diese für den Glauben an Jesus als Israels Messias gewinnen wollen. Zutreffend urteilt Konradt, dass Matthäus die »christusgläubige Gemeinde« als »die wahre Sachwalterin der theologischen Traditionen Israels« verteidigt (Konradt, Matthäus, 2) und sich zugleich darum bemüht, Israel von Jesus zu überzeugen. Zur bleibenden Mission an Israel s. Konradt, a. a. O., 162. 6 Vgl. dazu B.L. Mack, The Lost Gospel. The Book of Q and Christian Origins, San Francisco 1993; B.D. Ehrman, Lost Christianities. The Battles for Scripture and the Faiths We Never Knew, New York 2003. 7 Ehrman, Lost Christianities, 58. 8 Zu meinen eigenen Anfragen s. R. Deines, Galiläa und Jesus. Anfragen zur Funktion der Herkunftsbezeichnung »Galiläa« in der neueren Jesusforschung, in: C. Claussen/ J. Frey (Hg.), Jesus und die Archäologie Galiläas, (BThSt 87), Neukirchen-Vluyn 2008, 271-320 (285-297). Die Schwäche dieser These zeigt sich m. E. am deutlichsten darin, dass ihre Vertreter in der Regel eine Redaktionsgeschichte für Q annehmen müssen, um eine orthodoxiefreie, unchristologische und nonsoteriologische frühe Jesusbewegung zu finden. D. h. ein nur in Umrissen rekonstruierbares Dokument wird weiter unterschieden in eine Grundschicht und zwei redaktionelle Bearbeitungen. Das ist ungefähr so, als ob man die verschiedenen Entwurfsskizzen für des Kaisers neue Kleider in eine chronologische Ordnung bringen wollte. 9 Zu meiner Position s. Deines, Gerechtigkeit, 484-489. 10 Vgl. auch Mt 9,16 f. Zu betont christologischem »hier« in einer vergleichbaren Spruchfolge wie 12,6 siehe 12,41-42; das erste Vorkommen von »hier« bei Matthäus (8,29) ist verbunden mit dem Sohn Gottes-Titel und einer heilsgeschichtlichen Zeitansage. Zum Verständnis von Barmherzigkeit in Hos 6,6 als »im Wissen um das Heilshandeln Gottes gründende völlige, ungeteilte Hingabe an Gott« s. Chr. Landmesser, Jüngerberufung und Zuwendung zu Gott. Ein exegetischer Beitrag zum Konzept der matthäischen Soteriologie im Anschluß an Mt 9,9-13 (WUNT 133) Tübingen 2001, 120. 11 Die einzige vergleichbare jüdische Gestalt ist der Lehrer der Gerechtigkeit, wie er im Habakukpesher beschrieben ist. Er kennt ebenfalls exklusives, von Gott stammendes Wissen über das rechte Verständnis der Propheten (1QpHab VII 4), und wer sich zu ihm hält, wird am Tag des Gerichts leben (VIII 1-3, vgl. auch II 2-10). 12 Vgl. dazu R. Deines, Jesus and Scripture: Scripture and the Self-Understanding of Jesus, in: M.R. Malcolm (Hg.), All That the Prophets Have Declared: The Appropriation of Scripture in the Emergence of Christianity, Milton Keynes, 2015, 39-70; 225-234 (Anmerkungen). 13 Das für den Gebotsgehorsam gebrauchte Verb für »befolgen« (phylassō) kommt bei Matthäus nur an dieser Stelle vor (wohl abhängig von Mk 10,20). Weder Jesus noch seine Jünger werden in dieser Weise als Täter der Tora dargestellt. Was Jesus für sich in Anspruch nimmt, ist das Erfüllen von Tora und Propheten, das etwas anderes meint als die Gebote tun (dafür verwendet Matthäus poieō, vgl. Mt 12,2). Statt jedoch zum Tun der Tora anzuhalten, ist die Aufforderung zum Tun (mit poieō) bei Matthäus regelmäßig als Reaktion auf die Botschaft Jesu-- und des Täufers-- zu finden: Mt 3,8.10; 5,19.47; 6.1-3; 7,12.17- 22.24-26; 12,33.50; 21,36.43; 24,46; 25,40.45. 14 So Landmesser, Jüngerberufung, 128, der das hier favorisierte umfassende Verständnis von Erbarmen als Zuwendung Gottes zu den Sündern ausführlich begründet (ebd. 111-131). 15 Auch bei Hosea geht es zentral um die Gemeinschaft Gottes mit seinem Volk, dargestellt als Ehe zwischen Jahwe und Israel. Bevor diese zerrüttete Ehe wieder gelebt werden kann, braucht Israel das ärztliche Handeln Gottes, das in der Umkehr Israels und der Sündenvergebung Gottes konkret wird (Hos 14,2-3). Für Matthäus ist Jesus nicht nur der Arzt, der sein Volk heilt, sondern auch der Bräutigam, der gekommen ist, um eine neue Heilszeit anbrechen zu lassen (Mt 9,14-17 parr. Mk 2,18-22; Lk 5,33-38). 16 Zum engen Zusammenhang von Gerechtigkeit und Barmherzigkeit, indem Gott rettet, wenn er richtet, s. besonders B. Janowski, Der barmherzige Richter. Zur Einheit von Gerechtigkeit und Barmherzigkeit im Gottesbild des Alten Orients und des Alten Testaments, in: R. Scoralick, Das Drama der Barmherzigkeit Gottes (SBS 183), Stuttgart 2000, 33-91, auch in: ders., Der Gott des Lebens. Beiträge zur Theologie des Alten Testaments 3, Neukirchen-Vluyn 2003, 75-133. 17 P. Stuhlmacher, Biblische Theologie des Neuen Testaments, Bd. 1: Göttingen 1992, 70. Zum Zusammenhang von Messias, Davidssohn und eschatologischer Gerechtigkeit s. Jes 9,1-6; 11,1-9; Jer 23,5-6, u. dazu Deines, Gerechtigkeit, 512-638. 18 Vgl. auch Mt 26,28. Es wird oft übersehen, dass bei Matthäus-- wie auch im übrigen NT-- kein anderes Handeln Jesu, etwa seine Wunder, Heilungen oder sein Lehren, mit einer »für euch/ für viele/ für uns«-Formulierung dargestellt wird. Sein Tod und seine Auferstehung und die damit verbundene Sündenvergebung sind das eigentliche Geschehen »für uns«. 19 Zum Zusammenhang der Versuchungsgeschichte mit der Passionsgeschichte s. Konradt, Matthäus, 55; R. Feldmeier, Macht, Dienst, Demut. Ein neutestamentlicher Beitrag zur Ethik, Tübingen 2012, 1-11. Zur unsicheren Deutung bereits von 3,15 auf die Passion s. Deines, Gerechtigkeit, 129 f. 20 Siehe dazu R. Deines, Das Erkennen von Gottes Handeln in der Geschichte bei Matthäus, in: J. Frey/ S. Krauter/ H. Lichtenberger (Hg.), Heil und Geschichte. Die Geschichtsbezogenheit des Heils und das Problem der Heilsgeschichte in der biblischen Tradition und in der theologischen Deutung (WUNT 248), Tübingen 2009, 403-441. 21 Zu dieser Übersetzung von parerchesthai in 5,18 s. Deines, Gerechtigkeit, 337-340.