eJournals ZNT – Zeitschrift für Neues Testament 18/36

ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
2015
1836 Dronsch Strecker Vogel

Keine »Antithesen«, sondern Auslegung der Tora

2015
Klaus Wengst
Zeitschrift für Neues Testament_36 typoscript [AK] - 13.11.2015 - Seite 12 - 4. Korrektur 12 ZNT 36 (18. Jg. 2015) 1. »Antithesen«? Die Bezeichnung der in gleicher Weise aufgebauten sechs Einheiten in Mt 5,21-48 als »Antithesen«-- wahrscheinlich in der Zeit um 1900 aufgekommen-- wurde sehr schnell zu einer nicht hinterfragten Selbstverständlichkeit. Das wirkt bis in die Gegenwart nach, wie etwa der Gebrauch dieses Begriffs nicht nur in dem großen Matthäus-Kommentar von Ulrich Luz zeigt. 1 In der Kirchengeschichte ist der Gebrauch des Begriffs »Antithesen« viel älter. Markion bezeichnet so sein Hauptwerk. In ihm arbeitet er einen Gegensatz zwischen dem gerechten Gott, dem jüdischen Schöpfergott, und dem erst von Jesus offenbarten guten Gott heraus. Im Schema seiner »Antithesen« findet sich auch eine Aufnahme aus Mt 5,38-42: »Im Gesetz heißt es: ›Auge um Auge und Zahn um Zahn‹. Weil der Herr aber gut ist, sagt er im Evangelium: ›Wenn dich jemand auf die Backe schlägt, halte ihm auch die andere hin! ‹ Wie heißt es nun im Gesetz? ›Mantel um Mantel.‹ Der gute Herr aber sagt: ›Wenn jemand deinen Mantel wegnimmt, gib ihm auch das Hemd noch dazu! ‹« 2 Dieser sehr frühe Gebrauch des Begriffs »Antithesen« sollte gegen seine Anwendung auf Mt 5,21-48 misstrauisch machen. Das antithetische Verständnis hat seine einzige Stütze-- und die ist eine nur vermeintliche-- in dem mit »Ich aber sage euch« übersetzten egō de legō hymin. Dieses Sätzchen wird als eine emphatische Entgegensetzung verstanden. Wie an ihm für das antithetische Verständnis alles hängt, sei an zwei Beispielen gezeigt. Käsemann hatte in seinem die »neue Frage nach dem historischen Jesus« einleitenden Beitrag die »Antithesen« der Bergpredigt so charakterisiert: »Sie überbieten formal den Wortlaut der Thora so, wie es ein den Schriftsinn interpretierender Rabbi auch tun könnte. Entscheidend ist jedoch, daß mit dem egō de legō eine Autorität beansprucht wird, welche neben und gegen diejenige des Mose tritt.« 3 Wenn inhaltlich nichts anderes gesagt wird als das, was Rabbinen in Auslegung der Schrift auch sagen können, und das so verstehen, dass sie damit Mose auslegen, wie kann dann die sachlich identische Aussage, im Anschluss an ein Schriftzitat gemacht, als gegen Mose, gegen die Schrift gerichtet verstanden werden? Dafür vermag Käsemann sich nur formal auf das von vornherein antithetisch verstandene egō de legō zu berufen, ohne den behaupteten Gegensatz am Inhalt der Aussage explizieren zu können. Mehr als vier Jahrzehnte später heißt es bei Ulrich Luz, Jesus stelle »den Willen Gottes der Torah selbst gegenüber, die den Alten am Sinai von Gott gesagt wurde: Egō de legō hymin.« 4 Er bezeichnet diesen Satz pointiert als »die Antithesenformel« und behauptet: »Die Bibel wird durch die Antithesen nicht ausgelegt, sondern weitergeführt und überboten.« Das emphatisch verstandene »Ich aber sage euch« stehe bei Jesus »in einer Antithese gegenüber der Bibel« und so sei »die Antithesenformel […] etwas innerhalb des Judentums Besonderes« (331). Reichlich änigmatisch fährt er fort: »Er will damit nicht die Gebote der Bibel abschaffen, wohl aber ihre formale Autorität, welche bloß darin liegt, daß sie biblisch (errethē! ) und traditional ist. Damit verwandeln sich die biblischen Gebote in lebendige Torah und werden im Kommen des Gottesreichs zum unbedingt gültigen, unbedingt verpflichtenden Willen Gottes« (332). Wie anders kann und soll denn das überlieferte Bibelwort nicht bloß formale Autorität sein, sondern lebendiges Gotteswort werden als dadurch, dass es ausgelegt wird? An einer Stelle der rabbinischen Tradition heißt es, dass die Schule Schammajs und die Schule Hillels drei Jahre miteinander stritten, nach welcher sich die Halacha richten solle. Das habe eine Himmelsstimme entschieden, die aber zunächst feststellte: »Diese und jene sind Worte des lebendigen Gottes« (bEr 13b). Zu Mt 5,22 gesteht Luz zu, dass inhaltlich diese »erste Antithese keineswegs originell« sei, fährt dann aber fort: »Jesus formuliert nur schärfer und zupackender als die (! ) jüdische Paränese, indem er seine Mahnung in die Gestalt eines Rechtssatzes kleidet« (340). Übersehen ist dabei, dass auch die-- von Luz zitierte-- Aussage des Rabbi Elieser: »Wer seinen Mitmenschen hasst, siehe, der gehört zu denen, die Blut vergießen« (DER 11), die »Gestalt eines Rechtssatzes« hat. Mit Hilfe der »Antithesenformel« wird dann als Jesu »Besonderes« behauptet, Klaus Wengst Keine »Antithesen«, sondern Auslegung der Tora Zu Mt 5,17-48 Zum Thema »Wie anders kann und soll denn das überlieferte Bibelwort nicht bloß formale Autorität sein, sondern lebendiges Gotteswort werden als dadurch, dass es ausgelegt wird? « Zeitschrift für Neues Testament_36 typoscript [AK] - 13.11.2015 - Seite 13 - 4. Korrektur ZNT 36 (18. Jg. 2015) 13 Klaus Wengst Keine »Antithesen«, sondern Auslegung der Tora gebrauchten to rēthen als Einleitung von Schriftzitaten. Konradt will das abschwächen, indem er in dem fünfmal gebrauchten akousate »eine Relativierung« erblickt: In ihm stecke »ein Verweis auf den (synagogalen) Prozess der Vermittlung der Toragebote: Euch hat man das so gesagt; ihr habt das in der Synagoge bei der sabbatlichen Toraauslegung so vernommen, dass zu den Alten gesagt wurde«. 6 Dass die dritte Einheit nur mit errethē eingeführt wird, erklärt sich keineswegs »durch die direkte Fortsetzung der vorangehenden Antithese«. Gemeint ist mit dieser Auskunft, dass es um einen inhaltlich benachbarten Bereich geht. Aber das ist nach Konradt auch bei der vierten und fünften Einheit der Fall, wo sich eine solche »Verkürzung« nicht findet. Zum anderen ist gegenüber dieser »Relativierung« auf die biblisch gewichtige Korrespondenz des Hörens auf das von Gott Gesagte zu verweisen. Die »Relativierung« ist nichts als ein Einfall, um die Behauptung stützen zu können, in dem auf diese Weise Eingeführten lägen die abzulehnenden Thesen »der Schriftgelehrten und Pharisäer« vor. Da in 5,27 lediglich ein Dekaloggebot zitiert wird, muss hier die abgelehnte These hineininterpretiert werden. Mit Recht weist Konradt jedoch darauf hin, dass sich bei den Zitaten im Verhältnis zum biblischen Wortlaut »ein gemischter Befund« zeigt. Aber das mindert nicht das Gewicht des Zitierten. Das wird bei der Besprechung der ersten Einheit diskutiert werden. Besonders problematisch ist, dass Konradt »den Schriftgelehrten und Pharisäern« ein Toraverständnis unterstellt, »das die Gebote entweder nur buchstäblich auffasst oder ihre Bedeutung bzw. ihren Geltungsbereich durch Interpretation einschränkt« (78). Er fügt zwar an, »dass die Thesen keine historisch ohne Weiteres verwertbaren Quellen für das tatsächliche Gesetzesverständnis der Pharisäer sind« (79), aber das wird nicht ausgeführt. Für die behaupteten Thesen werden keine Quellenbelege beigebracht, dass es so etwas im Judentum gegeben hätte. Die Charakterisierung der Thesen dient nur dazu, um Jesu Gegenthesen davon abzuheben und positiv zu profilieren, die-- was in Variation öfters wiederholt wird- - »den vollen Sinn der Gebote und ihre eigentliche, tiefere Intention« erschlössen (79). Wo das inhaltlich konkretisiert wird, lassen sich sofort jüdische, vor allem rabbinische Parallelen anführen. Davon finden sich auch viele-- wenig rabbinische-- bei Konradt. Aber sie kommen bei ihm sachlich nicht zum Zuge und irritieren ihn nicht in seiner antithetischen Auslegung. Gegenüber Luz hält er zu Recht fest, dass es »für Matthäus nicht um Überbietung der Gebote geht«, dass es »um Auslegung des Gebots (geht), nicht um dessen Verschärfung oder Überbietung« (80.83). dass er »die Paränese […] der geltenden Rechtsordnung antithetisch gegenüberstellt« und er eine »Abwertung des Rechts« vornehme. Zu wirklicher Klarheit, was das alles heißen soll, kommt es nicht. Ich sehe, dass Jesus im Matthäusevangelium sich am Diskurs über Recht und Gerechtigkeit beteiligt, aber ich sehe nicht, wo er »das Recht« abwertete oder sich gegen »die Rechtsordnung« stellte. An den besprochenen Stellen von Käsemann und Luz hat sich gezeigt, dass die als emphatischer Gegensatz verstandene Einleitung der Aussagen Jesu: egō de legō den Angelpunkt bildet für ein Verständnis der sechs Einheiten von Mt 5,21-48 als Antithesen. Dabei muss es dann jeweils eine These geben, die von der Gegenthese Jesu abgelehnt wird. »Die Hauptfrage« oder »wichtigste Interpretationsfrage« sei daher, wogegen Jesus sich wende. Nach Luz steht »das Wort Jesu der Bibel selbst gegenüber«; nach Konradt hält Jesus sein Verständnis der Gebote den Auslegungen der Tora durch jüdische Autoritäten entgegen. 5 Die bereits angeführte gewundene Ausdrucksweise von Luz in dieser Frage weist schon auf die Schwäche seiner Antwort hin. Da Jesus im Matthäusevangelium sich immer wieder positiv auf die Schrift bezieht, der Evangelist die Jesusgeschichte geradezu mit der Schrift schreibt, ist diese Antwort extrem unwahrscheinlich. Sie ist im matthäischen Kontext auch von daher schlechterdings ausgeschlossen, dass der Evangelist unmittelbar vorher in der als Leseanweisung zu verstehenden Einleitung zu 5,21-48 die unbedingte Geltung der Tora bis ins Kleinste betont (5,17-20). Aber auch der anderen Antwort stehen Beobachtungen am Text entschieden entgegen. Die Einleitungen der sechs Einheiten charakterisieren das dann Ausgeführte als autoritative Zitate aus der Tora. Mit »den Alten« ist die Sinaigeneration gemeint (hebräisch: ha-rischoním). errethē ist eine Variante zu dem öfters von Matthäus Geb. 1942, Studium der Evangelischen Theologie in Bethel, Tübingen, Heidelberg und Bonn, Promotion 1967, Habilitation 1970 in Bonn. Von 1981-2007 Professor für Neues Testament an der Evangelisch- Theologischen Fakultät der Ruhr-Universität Bochum. Prof. Dr. Klaus Wengst Zeitschrift für Neues Testament_36 typoscript [AK] - 13.11.2015 - Seite 14 - 4. Korrektur 14 ZNT 36 (18. Jg. 2015) Zum Thema Aber er selbst bleibt im alten Schema der Überbietung des Judentums. Wenn also beide Antworten auf die gestellte Alternative, ob Jesus in Mt 5,21-48 sich gegen die Schrift selbst oder gegen (andere) jüdische Auslegungen wende, untauglich sind, steht diese Alternative selbst in Frage; sie ist falsch gestellt. In Frage steht damit das Verständnis dieser sechs Einheiten als Antithesen. Dessen Ansatz- und Angelpunkt, die Wendung egō de legō, kann anders als antithetisch verstanden werden. Man muss noch schärfer sagen: Im Zusammenhang der sechs Einheiten und im Kontext des Matthäusevangeliums erweist sich die philologisch mögliche Übersetzung mit »Ich aber sage« als eine unmögliche. Die beiden scheinbar für sie sprechenden sprachlichen Phänomene-- das mit »aber« übersetzte Wort und das ausdrücklich gesetzte Personalpronomen »ich«, obwohl es schon in der griechischen Verbform enthalten ist-- erklären sich vom hebräischen Sprachhintergrund her. Das hier gebrauchte Wort de ist schon im originär Griechischen nicht durchgehend adversativ verstanden, sondern auch anknüpfend, 7 im neutestamentlichen Griechisch sogar oft. Im Zusammenhang von Mt 5,21-48 findet sich ein eindeutig nicht adversatives de am Beginn von V. 31, wo das Zitat-- und mit ihm eine neue Einheit-- mit errethē de eingeleitet wird. Wenn das die Elberfelder Bibel mit: »Es ist aber gesagt« wiedergibt, ist das schlicht sinnwidrig. Als weiteres Beispiel für ein weiterführendes de sei auf sein durchgehendes Vorkommen im Stammbaum in Mt 1,2-16 hingewiesen. Auch hier übersetzt die Elberfelder durchgehend mit »aber«, auch hier sinnwidrig. 8 Auf der anderen Seite ergibt sich vom Kontext her, dass an etwa 25 Stellen ein kai im Matthäusevangelium adversativ verstanden ist, sodass es im Deutschen mit »aber« wiedergegeben werden sollte. Ich nenne hier nur die beiden Belege in 11,17 und zwei Stellen, an denen in unmittelbarer Nachbarschaft in derselben Funktion einmal ein de und das andere Mal ein kai steht. In 13,22- 23 heißt es von dem auf das Steinige Gesäten nach der Feststellung, dass er das Wort hörte und mit Freuden annahm: ouk echei de ridsan ktl. Anschließend wird von dem unter die Disteln Gesäten nach der Feststellung, dass er das Wort gehört hat, gesagt: kai hē merimna ktl. In 23,3-4 heißt es von den »Pharisäern und Schriftgelehrten« nach der Aufforderung, sich an das zu halten, was sie sagen, sich aber nicht an ihrem Tun zu orientieren: legousin gar kai ou poiousin, und nach der Aussage, sie würden den Leuten schwere Lasten aufladen: autoi de ktl. Dass kai und de im Matthäusevangelium miteinander in derselben Funktion wechseln können, erklärt sich vom hebräischen Sprachhintergrund des Evangelisten her. Sie stehen für hebräisches v e , das sowohl eine adversativ als auch weiterführend anknüpfende Leistung erbringen kann. Welche es hat, entscheidet sich vom jeweiligen Kontext her. Der Einfluss des Hebräischen auf den Evangelisten Matthäus erklärt auch das Setzen des Personalpronomens an Stellen, an denen es im Griechischen nicht gesetzt werden muss und wo auch aus dem Kontext in keiner Weise hervorgeht, dass es betont werden soll. Weil das Hebräische das Präsens mit dem Partizip konstruiert, ist das Personalpronomen erforderlich, um die gemeinte Person eindeutig zu machen. So heißt es in Ex 23,20 in Gottesrede: hinéj anochí scholéach. Die Septuaginta setzt ein egō, obwohl die Verbform die Person schon enthält: idou egō apostellō«. Genauso nimmt Matthäus dieses Zitat in 11,10 auf. In derselben Weise lässt er aber auch zweimal Jesus sprechen: 10,16; 23,34. Nichts weist an diesen Stellen darauf hin, dass das Ich Jesu betont werden soll. Mit legō und de verbunden erscheint ein solches egō im Munde Jesu noch in 16,18: kagō de soi legō. Die Übersetzungen, die hier adversativ anschließen und das Ich betonen, wirken im Zusammenhang eher seltsam (z. B. Elberfelder: »Aber auch ich sage dir«). Die Neue Zürcher und die »Bibel in gerechter Sprache« bieten: »Und ich sage dir.« Dabei wird in dieser Wendung nicht das Ich des Sprechers herausgestellt, sondern es folgt in Wiederaufnahme der Einleitung von V. 17 in der Rede des Sprechenden eine erneute Einleitung, um die folgende Aussage zu betonen. Hinzu kommt eine weitere Beobachtung. Die sechsmalige Redeeinleitung egō de legō hymin steht in Entsprechung zu der sechsmaligen Zitateinleitung errethē. Beides ist in der rabbinischen Literatur exegetische Terminologie. Dem errethē entspricht ne’emár, die dort am häufigsten gebrauchte Einleitung von Bibelzitaten. egō de legō steht für va’aní omér, womit eine Auslegung angeführt werden kann. Da sich in der Sekundärliteratur häufig die Behauptung findet, Rabbinen würden mit dieser Wendung ihre Auslegung der Auslegung eines anderen Rabbi entgegensetzen, 9 sei auf einen dieser Texte genauer eingegangen. In SifDev § 31 wird die Anrede in Dtn 6,4 (»Höre, Israel! «) mit der Aufforderung an Mose in Ex 22,5 verbunden (»Rede zu den Kindern Israels! «) und festgestellt, dass nicht gesagt sei: »zu den Kindern Abrahams« oder »Isaaks«. Der Grund dafür »Im Zusammenhang der sechs Einheiten und im Kontext des Matthäusevangeliums erweist sich die philologisch mögliche Übersetzung mit ›Ich aber sage‹ als eine unmögliche.« Zeitschrift für Neues Testament_36 typoscript [AK] - 13.11.2015 - Seite 15 - 4. Korrektur ZNT 36 (18. Jg. 2015) 15 Klaus Wengst Keine »Antithesen«, sondern Auslegung der Tora wird in Jakobs ängstlicher Sorge gesehen, dass nichts »Verworfenes« (p e sólet) aus ihm hervorgehe, wie das bei seinen Vätern der Fall war. Das wird anschließend so ausgeführt: »Aus Abraham ging Ismael hervor, der Götzendienst trieb. Denn es ist gesagt (schene’emár): Da sah Sara den Sohn Hagars, der Ägypterin (Gen 21,9), dass er Götzendienst trieb; eine Auslegung (divréj) Rabbi Akivas.« Bemerkenswert ist hier, dass mit schene’emár zwar ein Schriftzitat eingeführt wird, dass aber dieses Schriftzitat übergangslos mit einer bestimmten Auslegung verbunden ist, deren Autor erst anschließend genannt wird. Der Text fährt fort: »Rabbi Schimon ben Jochaj sagt: ›Vier Auslegungen (d e varím) hat Rabbi Akiva vorgetragen (hajá dorésch) und ich (va’aní) trage sie vor; und meine Auslegungen sind einleuchtender als seine Auslegungen.‹« Hierzu halte ich zunächst fest, dass mit va’aní (»und ich«) kein Gegensatz eingeführt wird. Rabbi Schimon ben Jochaj bringt in den vier Fällen jeweils eine weitere Auslegung, die jedoch keine ausschließenden Alternativen zu denen Rabbi Akivas bilden, die er aber als einleuchtender bewertet. Als erstes Beispiel führt er dann an: »Passt auf! Er sagt (hu omér): ›Da sah Sara den Sohn Hagars, der Ägypterin, dass er Götzendienst trieb.‹ Und ich sage (va’aní omér): Sie waren lediglich Feinde in Bezug auf Felder und Weinberge. Denn als es ans Teilen ging, sagte Ismael zu ihm: ›Ich nehme zwei Teile, weil ich Erstgeborener bin.‹ Ebenso sagte Sara zu Abraham (Gen 21,10): ›Vertreibe diese Sklavin mit ihrem Sohn usw.‹ Und ich halte meine Auslegung für einleuchtender als seine.« 10 Der Bibeltext, jedoch schon mit einer Auslegung verbunden, war zunächst mit einer passiven Form von »sagen« eingeführt worden, in der Gott logisches Subjekt ist. Gott »sagt«; aber was er sagt, wird gleich auslegend weiter gesagt. Als Autor dieses Weitersagens erscheint Rabbi Akiva. Genau dasselbe Zitat mit sachlich derselben und wörtlich nur ganz unbedeutend variierten Weiterführung (avád statt hajá ovéd) hat dann die Einführung: »Er (nämlich Rabbi Akiva) sagt.« Mit demselben Wort »sagen« führt schließlich Rabbi Schimon ben Jochaj seine eigene Auslegung ein: »Und ich sage«, was die Bedeutung hat: Und meine Auslegung lautet so. »Sagen« ist hier also ohne jeden Zweifel ein Auslegungsbegriff und va’aní omér eine bestimmte Form mit diesem Begriff. 11 Die Wendung egō de legō hymin in Mt 5,21-48 lässt sich in Analogie dazu so verstehen, dass weder ein Gegensatz vorliegt noch das Ich betont ist. Zu übersetzen wäre dann: »Ich nun sage euch« 12 , oder freier: »Ich lege das so aus.« 13 2. Die Hochschätzung der Tora und ihrer Auslegung durch Jesus Nachdem Jesus in seiner Lehre auf dem Berg ausgeführt hat, wer glücklich ist und was seine Schülerschaft qualifiziert und bevor er handlungsorientierte Auslegungen der Tora bietet, lässt Matthäus ihn grundsätzlich zur Geltung der Tora Stellung nehmen. Er stellt dabei gleich mit dem ersten Satz unmissverständlich heraus, dass es nicht darum gehen kann, die Tora zu annullieren, sondern sie zu vollbringen: »Meint nicht, dass ich gekommen bin, die Tora und die Prophetenbücher außer Geltung zu setzen. Ich bin nicht gekommen, um sie außer Geltung zu setzen, sondern um sie zu vollbringen« (5,17). Der hier bezeichnete Gegenstand, um den es geht, lautet wörtlich übersetzt: »die Tora und die Propheten«. Das ist zusammenfassende Bezeichnung dessen, was zur Zeit des Matthäus im Judentum als heilige Schrift galt, das, »was geschrieben steht« und »was gesagt worden ist« als grundlegender Bezugspunkt. »Die Propheten« meint daher »die Prophetenbücher« (vgl. 7,12; 22,40). In »der Tora und den Prophetenbüchern« hat Gott seinen Willen kundgetan-- und der soll getan werden. Jesus verneint also hier sehr grundsätzlich, dass er »die Tora und die Prophetenbücher«, also »die Schriften« im Ganzen, außer Kraft setze oder annulliere. Dem katalysai steht als positiver Gegenbegriff plērōsai gegenüber, das in diesem Gegensatz die Bedeutung von »bestätigen«, »aufrichten«, »verwirklichen« gewinnt. Es im Sinne von »erfüllen« zu verstehen, ließ Spekulationen zu, die klare Aussage des Verses doch wieder zu umgehen. 14 Das geschieht erneut bei Konradt. Er gewinnt aus dem plērōsai: »Dies ist mit dem Anspruch verbunden, dass Jesu Gesetzesauslegung den hinter den Geboten stehenden Gotteswillen umfassend aufdeckt.« »Jesu Weisung« sei »Entfaltung des vollen Sinns und der tieferen Intention der Toragebote«. 15 »Inhalt und Intention der Willenskundgabe Gottes in der Tora« würden »erst durch Jesu Lehre in vollgültiger Weise ans Licht gebracht«. »Gottes Wille« werde von ihm »in neuer Weise zur Geltung gebracht; denn Jesus erfüllt Tora und Propheten, indem er den Vollsinn des Gebotenen aufdeckt«. Das sind Wortblasen. Sobald versucht wird, sie inhaltlich zu konkretisieren, findet sich nichts, was nicht anderswo im Judentum in Auslegung der Tora auch gesagt wäre. In V. 19 wird katalyō aus V. 17 noch einmal mit dem Simplex lyō aufgenommen. Dort steht auf der positiven Seite anstelle des plēroō das Tun und Lehren. Damit gibt Matthäus selbst einen Hinweis, wie er das »Erfüllen« versteht, nämlich die Tora handlungsorientiert auszule- Zeitschrift für Neues Testament_36 typoscript [AK] - 13.11.2015 - Seite 16 - 4. Korrektur 16 ZNT 36 (18. Jg. 2015) Zum Thema gen und das Ausgelegte im Lebensvollzug umzusetzen. So entspricht es auch dem hebräischen Sprachhintergrund und der rabbinischen Verwendung. Dort findet sich häufig die Entgegenstellung von l e vatél (»annullieren«) und l e qajém der Tora. Letzteres ist Piel des Verbs qum (»stehen«) und hat die Bedeutungen »aufrichten«, »zustande bringen«, »ins Werk setzen«, »vollbringen«. So heißt es z. B. in mAv 4,9: »Wer die Tora in Armut verwirklicht (ha-m e qajém), wird sie am Ende in Reichtum verwirklichen (l e qamejáh). Wer aber die Tora in Reichtum zunichtemacht (ham e vatél), wird sie am Ende in Armut zunichtemachen (l e vateláh).« Die bei Matthäus oft begegnende Formulierung hina plērōthē to rēthen hat im Übrigen eine genaue Entsprechung in der hebräischen Wendung l e qajém mah schene’emar: »aufrichten/ vollbringen/ verwirklichen, was gesagt ist«, 16 die im rabbinischen Schrifttum über 200mal begegnet. Das von Matthäus gebrauchte positive griechische Verb plērōsai, dessen erste Bedeutung »erfüllen« ist, ruft zunächst die Vorstellung von einem leeren Gefäß hervor, das gefüllt wird. Hat man es gefüllt, ist die Sache erledigt. Aber eine solche Vorstellung kann hier nicht gemeint sein. Das Verb begegnet auch in Zusammenhängen, in denen es sich von dieser Vorstellung gelöst hat. Damit entspricht es dem deutschen Verb »vollbringen«. Jesus betont also in aller nur wünschenswerten Deutlichkeit, er sei nicht dazu da, dass er das in »den Schriften«-- und in erster Linie in der Tora-- Gesagte und Gebotene breche und außer Geltung setze, sondern er sei gerade dazu da, dass er es aufrichte und in seiner Geltung bekräftige, dass er es vollbringe. Das wird kurz danach in einem weiteren Aspekt unterstrichen: »Wer immer also ein einziges dieser kleinsten Gebote ungültig macht und die Leute so lehrt, wird der Kleinste im Himmelreich genannt werden. Wer sie aber tut und lehrt, der wird ein Großer im Himmelreich genannt werden« (5,19). Die Vorstellung von Rangstufen im Himmelreich findet sich bei Matthäus auch an anderen Stellen (20,21; 18,1.4). Die Annullierung auch nur des kleinsten Gebotes wird also sanktioniert, wenn auch relativ milde. Wer so handelt, wird nicht des Himmelreichs verwiesen. Daher ist wohl an Menschen gedacht, die grundsätzlich derselben Gruppe zugehören, also Messiasgläubige, die aber im Blick auf bestimmte Toragebote eine andere Praxis und Lehre haben, als Matthäus sie für richtig hält. Jesus bestätigt also nach Matthäus »die Tora und die Prophetenbücher«, alle »Schriften«. Er tut das im Folgenden so, dass er in ihrer Auslegung Lehre erteilt, die getan werden soll. Dass er hier als vollmächtiger Ausleger der Tora vorgestellt wird, heißt nicht, dass nach matthäischem Verständnis die Tora nur so weit und insofern gelte, als sie von Jesus ausgelegt wird. Dass die Auslegung Jesu für Matthäus und seine Gemeinde außerordentlich große Bedeutung hat und die entscheidende Richtschnur für das Handeln bietet, leidet keinen Zweifel. Aber was von Jesus an ethischen Weisungen überliefert ist und was Matthäus davon gesammelt hat und in seinem Evangelium bietet, deckt ja längst nicht alle Lebensbereiche ab. Es ist viel zu wenig, um damit wirklich leben zu können. Das wäre auch eine vollständige Überforderung eines Einzelnen-- selbst wenn er der Messias ist. Auch die Christologie ist überfordert, wenn aus ihr die gesamte Ethik entwickelt werden sollte. Und so hat Matthäus sein Evangelium nicht geschrieben, um mit ihm das zu ersetzen, was in seiner Zeit zu den »Schriften« gehörte. Und er hat es auch nicht geschrieben, um die mündliche Tora, die schriftgelehrte Auslegung der rabbinischen Weisen, beiseiteschieben zu können. Er versteht Jesu Auslegung nicht als überbietende Alternative der mündlichen Tora. Das wird gleich deutlich werden. Zwischen den beiden eben besprochenen Aussagen wird betont herausgestellt, dass die Tora Bestand hat und vollständig zu tun ist: »Ja, amen, ich sage euch: Bis dass Himmel und Erde vergeht, vergeht kein einziges Jota und kein einziges Strichlein von der Tora, bis dass alles geschieht« (5,18). 17 Kein einziges Jota: Das griechische Jota und das hebräische Jud sind jeweils in ihrem Alphabet der kleinste Buchstabe. Nicht der kleinste Buchstabe in der Tora wird angerührt. Dem entspricht, was Rabbi Schimon ben Jochaj nach jSan 2,6 (Krotoschin 20c) lehrte: »Das Buch Deuteronomium stieg hinauf, warf sich hin vor dem Heiligen, gesegnet er, und sagte vor ihm: ›Herr der Welt, Du hast in Deiner Tora geschrieben: Jedes Testament, das teilweise ungültig ist (bateláh), ist ganz ungültig. Und sieh doch, Salomo will ein Jud aus mir herausreißen! ‹ Der Heilige, gesegnet er, »Jesus betont […] in aller nur wünschenswerten Deutlichkeit, er sei nicht dazu da, dass er das in ›den Schriften‹ - und in erster Linie in der Tora - Gesagte und Gebotene breche und außer Geltung setze, sondern er sei gerade dazu da, dass er es aufrichte und in seiner Geltung bekräftige, dass er es vollbringe.« »[Matthäus] versteht Jesu Auslegung nicht als überbietende Alternative der mündlichen Tora.« Zeitschrift für Neues Testament_36 typoscript [AK] - 13.11.2015 - Seite 17 - 4. Korrektur ZNT 36 (18. Jg. 2015) 17 Klaus Wengst Keine »Antithesen«, sondern Auslegung der Tora »[K]ann das ›Strichlein‹ im Text des Matthäusevangeliums wirklich die mündliche Tora meinen? « sagte zu ihm: ›Salomo und tausend wie er vergehen, aber von dir vergeht kein Wort.‹« Aber auch »kein einziges Strichlein« von der Tora vergeht. Dieses »Strichlein« lässt sich dann verstehen, wenn es die Zierstriche bezeichnen soll, die in Torarollen seit der Antike bis heute an bestimmten Buchstaben angebracht werden und für das Lesen ohne jede Funktion sind. 18 In einer vielschichtigen rabbinischen Geschichte wird deutlich, dass diese Zierstriche metaphorisch für die mündliche Tora stehen. Nach ihr bringt Gott selbst sie am Sinai in der Tora an. Aus ihnen, heißt es, wird Rabbi Akiva Halachot über Halachot, also die Weisungen für die konkrete Lebensgestaltung, entwickeln (bMen 29b). 19 Dahinter steht die rabbinische Konstruktion, dass die mündliche Tora gleich ursprünglich mit der schriftlichen ist und also auch dieselbe Autorität hat. Aber kann das »Strichlein« im Text des Matthäusevangeliums wirklich die mündliche Tora meinen? Das ist alles andere als abwegig, sondern sehr naheliegend. Später im Evangelium konstatiert Jesus: »Auf dem Lehrstuhl des Mose sitzen die Schriftgelehrten und die Pharisäer.« Für Matthäus sind damit die rabbinischen Weisen seiner Zeit im Blick, die die Tora auslegen. 20 Anschließend lässt er Jesus dessen Hörerschaft auffordern, als die vorher »die Leute und seine Schüler« genannt werden: »Alles nun, was immer sie euch sagen, tut und haltet! « (23,2-3a) Da »die Schüler« im Matthäusevangelium transparent für die Gemeinde sind, heißt das, dass hier die mündliche Tora als verbindlich für die matthäische Gemeinde erklärt wird. Das wird durch die Fortsetzung der Rede Jesu nicht aufgehoben. Was er dort angreift, ist die Diskrepanz zwischen Lehren und Tun, nicht aber das Lehren (23,3b-4). 21 Trotz des klaren Wortlauts dieser Stelle will das die übliche christliche Exegese nicht wahrhaben. Eine Ausnahme bildet Fiedler, der die Ausflüchte gegenüber diesem Text darstellt. 22 Dagegen kann Konradt wieder »V. 3a kaum anders denn als eine ironische Aussage verstehen, deren Funktion darin besteht, als Widerlager für V. 3b zu funktionieren: V. 3a dient dazu, den ›heuchlerischen‹ Widerspruch zwischen Reden und Handeln der Schriftgelehrten und Pharisäer hervortreten zu lassen.« 23 Wo steckt die Ironie? Das »Widerlager« kann doch nur funktionieren, wenn das, was sie sagen, gut ist und also auch getan werden sollte. Käme es bloß auf die formale Feststellung einer Diastase zwischen Reden und Handeln an, wieso wird dann Jesu Hörerschaft ausdrücklich zum Tun dessen aufgefordert, was sie sagen? Der Text ist in keiner Weise dunkel; er lässt an Klarheit nichts vermissen: tun, was sie sagen, aber sich nicht an ihrem Tun orientieren, weil es nicht ihrem Sagen entspreche. Die von Konradt aus dem Evangelium angeführten Stellen, die ein solches Verständnis als unmöglich erweisen sollen, wären sehr genau je in ihrem Kontext und im Zusammenhang mit dieser Aussage und hinsichtlich der Situation des Matthäus zu bedenken. Er befindet sich wegen des für Jesus erhobenen messianischen Anspruchs in einem scharfen Konflikt mit der jüdischen Mehrheit, steht aber nichtsdestotrotz in einem sehr differenzierten innerjüdischen Diskurs. Dass die von Jesus im Matthäusevangelium betonte Geltung der Tora auch die mündliche einschließt, lässt sich für einen Einzelfall konkret zeigen. In der folgenden Wehrede wirft er an einer Stelle »Schriftgelehrten und Parisäern« zunächst vor-- auf der Ebene des Evangeliums: Matthäus im Namen Jesu den rabbinischen Weisen seiner Zeit: »Ihr verzehntet Minze, Dill und Kümmel. Aber das Gewichtigere in der Tora lasst ihr beiseite: das Recht, das Erbarmen und die Verlässlichkeit.« Zumindest Schimon ben Gamliel stimmt mit der Aussage Jesu über das Gewichtigere in der Tora sachlich und zum guten Teil auch terminologisch überein: »Auf drei Dingen steht die Welt: auf dem Recht, auf der Verlässlichkeit und auf dem Frieden« (mAv 1,18). Das Gewichtigere an der Tora macht aber das Verzehnten von Minze, Dill und Kümmel nicht überflüssig. Im Matthäusevangelium heißt es dazu abschließend: »Dies muss man tun und darf jenes nicht lassen« (23,23). Also auch das Verzehnten von Minze, Dill und Kümmel ist verbindlich. Das Verzehnten dieser Gartenkräuter ist jedoch nicht Gebot der schriftlichen, wohl aber der mündlichen Tora. »In Luthers Übersetzung ist von einer Gerechtigkeit die Rede, die ›besser‹ sein soll. Damit wird ein qualitativer Unterschied suggeriert. Der griechische Text enthält jedoch zwei eindeutig quantitative Begriffe: das Verb perisseuō (›über das gewöhnliche Maß hinaus‹ bzw. ›im Überfluss vorhanden sein‹) und den Komparativ pleion (›mehr‹, ›größer‹, ›stärker‹, ›weiter‹). Matthäus dürfte dabei da ran denken, dass in Jesu Schülerschaft nicht geschehen darf, was er in 23,3b den ›Schriftgelehrten und Pharisäern‹ vorwirft, dass nämlich Reden und Tun auseinanderfallen.« Zeitschrift für Neues Testament_36 typoscript [AK] - 13.11.2015 - Seite 18 - 4. Korrektur 18 ZNT 36 (18. Jg. 2015) Zum Thema Was in 5,17-19 betont worden ist, wird durch V. 20 nicht zurückgenommen: »Ich sage nämlich: Wenn eure Gerechtigkeit nicht in größerem Überfluss vorhanden ist als die der Schriftgelehrten und Pharisäer, werdet ihr nicht ins Himmelreich hineinkommen.« In Luthers Übersetzung ist von einer Gerechtigkeit die Rede, die »besser« sein soll. Damit wird ein qualitativer Unterschied suggeriert. Der griechische Text enthält jedoch zwei eindeutig quantitative Begriffe: das Verb perisseuō (»über das gewöhnliche Maß hinaus« bzw. »im Überfluss vorhanden sein«) und den Komparativ pleion (»mehr«, »größer«, »stärker«, »weiter«). Matthäus dürfte dabei daran denken, dass in Jesu Schülerschaft nicht geschehen darf, was er in 23,3b den »Schriftgelehrten und Pharisäern« vorwirft, dass nämlich Reden und Tun auseinanderfallen. 24 3. Jesus als Ausleger im innerjüdischen Diskurs Jesu Lehre vollzieht sich wesentlich als Auslegung der Tora. Das zeigt sich sogleich paradigmatisch, nachdem er die unbedingte Geltung der Tora herausgestellt hat. Danach wird in sechs Einheiten jeweils am Anfang etwas von dem zitiert, »was den Alten gesagt worden ist«, also aus der der Sinaigeneration gegebenen Tora, und anschließend ausgelegt (5,21-48). Dass das, was Jesus nach den Zitaten sagt, als Auslegung verstanden werden muss, ergibt sich zwingend aus den gerade besprochenen und als Leseanleitung zu begreifenden vorangehenden Aussagen. Dass Jesus hier nicht im Gegensatz zur Tora redet, dass er sie keineswegs außer Kraft setzt, sondern Auslegungen im innerjüdischen Diskurs bietet, zeigt sich auch an dem, was er inhaltlich sagt. Im Folgenden bespreche ich paradigmatisch nur die erste und fünfte Toraauslegung, bei der ersten auch nur den Beginn mit 5,21-22. 25 Hier fällt zunächst auf, dass schon das Zitat aus den Zehn Geboten: »Du sollst nicht morden! « in freier Weise fortgeführt wird: »Wer mordet, verfällt dem Gericht«. Es wird hier sehr offen formuliert und nicht ein mögliches Bibelzitat angeführt wie: »Wer Menschenblut vergießt, dessen Blut soll durch Menschen vergossen werden« (1. Mose 9,6). Es sollte nicht sogleich unterstellt werden, solche und ähnliche Bibelstellen seien gemeint, sondern die offene und behutsame Formulierung sollte ernst genommen werden. Sie dürfte schon berücksichtigen, dass es in der pharisäischen Tradition eine klare Tendenz gab, Todesurteile zu vermeiden. So heißt es in mMak 1,10: »Ein Sanhedrin, der einen in sieben Jahren tötet, wird terroristisch genannt. Rabbi Elasar ben Asarja sagt: ›Einen in siebzig Jahren.‹ Rabbi Tarfon und Rabbi Akiva sagen: ›Wenn wir im Sanhedrin gewesen wären, wäre niemals ein Mensch getötet worden.‹« Anderer Meinung ist der anschließend angeführte Rabban Schimon ben Gamliel, nach dem ohne die Todesstrafe die Mörder in Israel zunehmen würden. Bei der Interpretation von Bibeltexten, die Todesurteile vorsehen, werden prozessuale Hürden aufgebaut, die ein Todesurteil unmöglich machen (z. B. bSan 71a zu Dtn 21,18-21). In Mt 5,21 ist das Bibelzitat also schon um eine Auslegung erweitert. Das so verstandene Bibelzitat wird selbstverständlich durch die folgende Auslegung nicht in Frage gestellt, sondern es wird durch einen Überschritt in einen anderen Bereich weiter ausgelegt. 26 Die Auslegung Jesu hat ihre Spitze darin, dass sie dem Morden schon im Vorfeld einen Riegel vorschieben will, indem sie in der Rechtssprache aus dem justiziablen Bereich in den nicht-justiziablen übergeht. So heißt es zunächst in V. 22a: »Jeder, der seinem Mitmenschen zürnt, verfällt dem Gericht.« Eine Mt 5,21 f. in Form und Inhalt recht genau entsprechende Aussage, die einem Zeitgenossen des Matthäus zugeschrieben wird, findet sich in DER 11: »Rabbi Elieser sagt (omér): ›Wer seinen Mitmenschen hasst, siehe, der gehört zu denen, die Blut vergießen.‹ Denn es ist gesagt (schene’emár; Dtn 19,11): Und wenn ein Mensch seinen Nächsten hasst und ihm auflauert und sich gegen ihn erhebt.« Rabbi Elieser »sagt«, was in der Schrift »gesagt worden ist«, d. h. er legt sie aus. Hier steht die Auslegung voran und das Schriftwort folgt. In Mt 5,21-48 wird jeweils zuerst angeführt, was »gesagt worden ist«, und das legt Jesus anschließend in seinem »Sagen« aus. Sachlich ähnlich wie bei Rabbi Elieser heißt es an anderer Stelle: »Die Rabbanan lehrten: Jeder, der jemanden hasst, ist wie einer, der ihn mordet« (Kalla Rabbati 8,4). Das wird ebenfalls mit Dtn 19,11 begründet und dann fortgefahren: »Siehe, wenn er die Möglichkeit dazu in der Hand hat, mordet er ihn.« Nach bBM 58b gilt: »Jeder, der seinen Mitmenschen in der Öffentlichkeit beschämt, ist wie jemand, der Blut vergießt.« In der Fortsetzung gehört außer ihm zu den dreien, die in die Hölle hinab-, aber nicht wieder hinaufsteigen, auch, »wer seinen Mitmenschen mit einem schlimmen Beinamen benennt«-- selbst wenn der schon daran gewöhnt ist. Weder Jesus im Matthäusevangelium noch die Rabbinen haben gemeint, das hier in Rechtssätzen Ausgesprochene auch als Recht zu exekutieren. Weder die auf Jesus bezogene Gemeinschaft noch das Volk Israel sind als Gruppen vorstellbar, in denen das hier Sanktionierte nicht auftrat und in denen dann Zeitschrift für Neues Testament_36 typoscript [AK] - 13.11.2015 - Seite 19 - 4. Korrektur ZNT 36 (18. Jg. 2015) 19 Klaus Wengst Keine »Antithesen«, sondern Auslegung der Tora Zürnende und Beschimpfende entsprechend behandelt worden wären. Dass es um einen Überschritt in den nichtjustiziablen Bereich geht, macht die Fortsetzung in V. 22b noch deutlicher. »Wer zu seinem Bruder sagt: ›Raka! ‹, verfällt dem Synhedrion. Wer sagt: ›Dummkopf! ‹, verfällt dem Höllenfeuer.« Es besteht hier eine auffällige Spannung zwischen den Vordersätzen und Nachsätzen. Doch sei zunächst gefragt, wie sich die drei Vordersätze in V. 22 zueinander verhalten. Zunächst ist allgemein das Zürnen genannt; dann werden zwei recht harmlose Schimpfwörter angeführt. Letztere gelten demnach als Konkretionen des Zürnens. Bei raká handelt es sich um ein ins Griechische transkribiertes aramäisches Wort in syrischer Aussprache. Die Grundbedeutung des aramäischen reqá und des hebräischen req ist »leer«. Als Schimpfwort gebraucht, würde dem im Deutschen am ehesten »Hohlkopf« entsprechen. Chrysostomos, der aus Syrien stammt und zum Teil auch dort lebte, sagt in seiner Auslegung zu dieser Stelle: »Dieses Raka drückt keine starke Beschimpfung aus, sondern vielmehr eine gewisse Verachtung und Geringschätzung-- wie denn auch wir zu Sklaven oder niedriger Stehenden bei Anordnungen sagen: ›Du da, geh weg, du da, sag dem und dem! ‹ So sagen auch diejenigen, die Syrisch sprechen, raka statt ›du da‹« (Matthäushomilien 16,7). Im heute in Israel gesprochenen Iwrit wird das aramäische reqá etwa im Sinne von »Nichtsnutz«, »Tunichtgut« gebraucht. Das im dritten Vordersatz von V. 22 stehende griechische Wort hat die Bedeutung »dumm«, »töricht«, »einfältig«. Als Schimpfwort gebraucht, würde dem im Deutschen »Dummkopf«, »Tölpel« entsprechen. Das aber heißt: Die Aussagen in den drei Vordersätzen von V. 22 liegen alle auf derselben Ebene; es gibt zwischen ihnen keine sachlichen Unterschiede. Versuche, durch freie Übersetzung oder durch Interpretation eine Steigerung oder auch das Gegenteil in sie hinein zu bringen, widersprechen nicht nur dem klaren Wortlaut des Textes, sondern wirken gezwungen bis komisch. Dagegen bieten die Nachsätze eine außerordentlich starke Steigerung: verfällt dem Gericht, dem Sanhedrin als der obersten jüdischen Instanz, dem Höllenfeuer als dem negativen Ergebnis des Gerichtes Gottes. Ist es schon im ersten gesetzten Fall so, dass hier in der Sprache des Rechts ein Überschritt in den nichtjustiziablen Bereich erfolgt, weil nicht im Ernst daran zu denken ist, dass das Zürnen Gegenstand eines Gerichtsverfahrens sein könnte, so gilt das umso mehr für die beiden anderen Fälle. Der Sanhedrin wird sich nicht damit befassen, wenn jemand einen anderen als »Hohlkopf« bezeichnet. Und man wird es auch Gott nicht unterstellen, dass er jemanden zur Hölle verurteilt, der seinen Mitmenschen einen »Dummkopf« nannte. Es liegt hier hyperbolische Redeweise vor, also bewusste Übertreibung, um den gemeinten Sachverhalt so scharf wie möglich herauszustellen. Die Intention dieser Redeweise besteht darin, sensibel zu machen für alle denkbaren Vorstufen des Mordens. Dem Morden ist schon weit in seinem Vorfeld ein Riegel vorzuschieben. Nicht nur das Morden selbst wird untersagt, sondern auch schon alle emotionalen und verbalen Äußerungen, die Mitmenschen herabsetzen. Für diese Intention ließen sich weitere rabbinische (Sifra, Qedoschin, Perek 4; SifDev § 187) Aussagen und auch die frühchristliche in Did 3,2 anführen. Der Überschritt vom justiziablen Bereich in den nichtjustiziablen in der Sprache des Rechts, wobei Gott als Richter gilt, leistet es, dass alles Handeln in die Verantwortung vor Gott gestellt wird. Bei der fünften Toraauslegung (5,38-42) ist es von entscheidender Wichtigkeit, dass das Schriftzitat »Auge um Auge, Zahn um Zahn« nicht isoliert wahrgenommen wird. Jüdisches Zitieren ist in aller Regel ein Anzitieren, das von den Lesenden und Hörenden die Kenntnis der biblischen Kontexte erwartet. So muss hier vor allem der Zusammenhang von Ex 21,22-27 mitgehört werden. Dort geht es in keiner Weise um die Regulierung von Vergeltung. Vielmehr wird im Falle von Körperverletzungen der Schädiger daraufhin angesprochen, dass er über Richter dem Geschädigten entsprechenden Ersatz zu leisten hat, in der Regel in Form von Geld. Darauf basierend hat die rabbinische Tradition ein ausgefeiltes Invaliditätsrecht entwickelt und dafür als Grundsatz formuliert: »Wer seinen Mitmenschen (körperlich) verletzt, ist in Hinsicht auf fünf Dinge (zur Zahlung) verpflichtet: im Blick auf den Schaden, den Schmerz, die Heilung, den Arbeitsausfall und die Beschämung« (mBQ 8,1). Das wird im Einzelnen weiter entfaltet und im Talmud ausführlich und differenziert diskutiert. Es ist daher verfehlt, wenn der Abschnitt Matthäus 5,38-42 in Bibelübersetzungen und Kommentaren immer wieder unter Überschriften mit dem Stichwort »vergelten« gesetzt wird. Das geschieht auch bei Konradt wieder: »Vom Vergeltungsverzicht«. Da er in dem Schriftzitat die abgelehnte These der »Schriftgelehrten und Pharisäer« erkennen will, sieht er hier an ihnen »kritisiert, dass diese die talio als Grundsatz für das persönliche Verhalten in Konflikten aufnehmen: Ein jeder habe das Recht, auf das erfahrene Unrecht mit ›angemessener‹ Vergeltung zu reagieren: ›Auge um Auge, Zahn um Zahn.‹« 27 Auch hier ist wieder zu fragen: Wo gibt es dafür Belege? Es liegt ein reiner Rückschluss aus der antithetischen Behauptung vor. Zeitschrift für Neues Testament_36 typoscript [AK] - 13.11.2015 - Seite 20 - 4. Korrektur 20 ZNT 36 (18. Jg. 2015) Zum Thema Bei der Auslegung des Schriftwortes durch Jesus ist zunächst zu beachten, dass bei ihm, anders als im biblischen Text, nicht der Schädiger angeredet wird, sondern der Geschädigte: »Ich nun sage euch, sich nicht dem Bösen zu widersetzen. Nein; wer dich auf die rechte Backe schlägt, dem halte auch die andere hin! Und dem, der mit dir sogar um dein Hemd prozessieren will: Lass ihm auch den Mantel! Und wer dir eine Meile Fron abzwingt, mit dem geh zwei! Dem, der dich bittet, gib! Und von dem, der von dir borgen will, wende dich nicht ab! « Die übergreifende Mahnung, »sich nicht dem Bösen zu widersetzen«, wird durch drei Situationsschilderungen mit jeweiliger Handlungsanweisung erläutert. Daraus ergibt sich, dass mit »dem Bösen« Personen gemeint sind. Als böse gilt, wer beleidigend schlägt, wer jemanden in einem Schuldprozess ganz legal bis aufs Hemd auszieht, wer Fronleistungen erzwingt. Weiter ist damit klar, dass Situationen im Blick sind, die die Sphäre des Rechts betreffen. Der Schlag auf die rechte Backe meint den Schlag mit dem Handrücken, der als beleidigend angesehen und höher sanktioniert wird. Die zweite Szene hat ausdrücklich einen Prozess im Blick. Das Erzwingen von Fronleistungen, meistens Transportdiensten, gründet auf Besatzungsrecht. So liegt auch auf der Hand, dass die Geschädigten auf dem Rechtsweg keine Chance haben. Das Recht funktioniert hier für die Stärkeren und Mächtigeren. In solcher Situation empfiehlt der Philosoph Epiktet passive Hinnahme. Er sagt in einem Vergleich: »Deinen ganzen Körper musst du so haben wie ein gesatteltes Eselchen, solange es möglich ist, solange es dir gegeben ist. Wenn aber eine Zwangsverpflichtung kommt und ein Soldat danach greift, lass es! Widersetze dich nicht und murre nicht! Andernfalls bekommst du Schläge und verlierst nichtsdestoweniger auch das Eselchen« (Dissertationen IV 79). Anders als Epiktet rät Jesus bei Matthäus nicht zu passiver Ergebung aus Einsicht in die Notwendigkeit. Das Gegenüber wird von ihm klar als das benannt, was es ist: böse, mag es auch den Schein des Rechts für sich haben. Er gebietet, sich diesem Bösen in seinen verschiedenen Erscheinungsformen nicht zu widersetzen. Durch die drei Szenen macht er aber deutlich, dass er nicht bloße Hinnahme des Unrecht-Rechts meint. Er ermutigt vielmehr zu situationsbezogener Phantasie jenseits des Pochens aufs Recht und jenseits der Gewalt, einer Phantasie, die eine noch mögliche eigene Aktivität findet, die das Unrecht-Recht bloßstellt, eine Aktivität, die absurdes Theater inszeniert, die etwas hintergründig Subversives hat. In der rabbinischen Tradition heißt es: »Nennt dich dein Mitmensch einen Esel, so lege dir einen Sattel auf! « (bBQ 92b) Vor allem aber gibt Jesus noch eine letzte Mahnung, die nicht mehr auf »den Bösen« sieht: »Dem, der dich bittet, gib! Und von dem, der von dir borgen will, wende dich nicht ab! « Jetzt kommen diejenigen in den Blick, die in der Unrechtssituation ebenso und noch mehr leiden als die hier Angesprochenen. Da gilt die ebenso schlichte wie unbedingte Hilfe; da gilt es zu teilen. Die Aussage dieses Verses entspricht zahlreichen einschlägigen Weisungen der jüdischen Bibel und der jüdischen Tradition. Matthäus gibt also seiner Gemeinde in dieser Toraauslegung Jesu für die gekennzeichnete Situation eine doppelte Handlungsanweisung dafür, wie dem verletzten Recht zur Geltung verholfen werden könnte: einerseits phantasievolle, subversive Bloßstellung des Unrechts und andererseits solidarische Hilfe untereinander der unter dem Unrecht Leidenden. Was sich an den beiden besprochenen Stücken aus Mt 5,21-48 gezeigt hat, kann auch an den vier übrigen deutlich gemacht werden: Die für Jesus im Matthäusevangelium wesentliche Rolle des Lehrers nimmt er in Auslegung der Tora wahr. Dabei bewegt er sich ganz und gar im innerjüdischen Diskurs. Anmerkungen 1 U. Luz, Das Evangelium nach Matthäus (Mt 1-7), EKK I/ 1, 5 2002, 324-416. Auch im neusten deutschsprachigen Kommentar wird er unhinterfragt verwandt: M. Konradt, Das Evangelium nach Matthäus, NTD 1, Göttingen 2015, 77-96. Nicht von »Antithesen« spricht P. Fiedler. Er stellt Mt 5,21-48 unter die Überschrift »Beispielhafte Weisungen Jesu zum Handeln«: Das Matthäusevangelium, ThKNT 1, Stuttgart 2006, 129-158. 2 Text nach A. von Harnack, Marcion. Das Evangelium vom fremden Gott, Darmstadt 1960 (= Leipzig 2 1924), 280 f. 3 E. Käsemann, Das Problem des historischen Jesus, in: Ders., Exegetische Versuche und Besinnungen. Erster und zweiter Band, Tübingen 1964 (I 187-214), 206. 4 A. a. O. (Anm. 1), 331. 5 Luz, Das Evangelium nach Matthäus, 328; 330; Konradt, Das Evangelium nach Matthäus, 78. 6 A. a. O. (Anm. 1), 79. 7 Nach H. G. Liddell/ R. Scott, A Greek-English Lexicon, New edition by H. S. Jones, Oxford 9 1940 (reprint 1961), »Anders als Epiktet rät Jesus bei Matthäus nicht zu passiver Ergebung aus Einsicht in die Notwendigkeit. Das Gegenüber wird von ihm klar als das benannt, was es ist: böse, mag es auch den Schein des Rechts für sich haben.« Zeitschrift für Neues Testament_36 typoscript [AK] - 13.11.2015 - Seite 21 - 4. Korrektur ZNT 36 (18. Jg. 2015) 21 Klaus Wengst Keine »Antithesen«, sondern Auslegung der Tora ist de »adversative and copulative« (371). Die Wendung hōde de legō in Platon, Gorgias 509d übersetzt Schleiermacher mit: »Ich meine nämlich so«. Vgl. W. Pape, Griechisch-deutsches Handwörterbuch I, Graz 1954 (Nachdruck der 3. Auflage), 527. 8 Dieselbe geradezu mechanische Wiedergabe von de mit »aber« findet sich im Kommentar von Konradt (Anm. 1). 9 Vgl. z. B. Luz, Das Evangelium nach Matthäus, 328. 10 Siphre ad Deuteronomium, ed. H. S. Horovitz/ L. Finkelstein, Berlin 1939, Nachdruck New York 1969, 49 f. 11 In 4QMMT findet sich mehrfach die Wendung »wir sagen« (anáchnu omrím) als Einleitung einer Halacha in Auslegung von Bibelstellen, die durch inhaltliche Angaben angezeigt, aber auch durch »es steht geschrieben« (katúv) angeführt werden (F.G. Martínez/ E. J. C. Tigchelaar, The Dead Sea Scrolls. Study Edition II, Leiden u. a. 1998, 798/ 800). Auch hier ist »sagen« Auslegungsterminologie. Wenn Luz von einem »emphatischen anáchnu omrím« spricht (ders., Das Evangelium nach Matthäus, 328), trägt er sein antithetisches Verständnis von Mt 5 hier ein, wo das »Wir« aus grammatischer Notwendigkeit stehen muss und also überhaupt nicht »emphatisch« ist und auch nicht in einem Gegensatz formuliert wird. 12 So Fiedler, Das Matthäusevangelium, 129-158. 13 Ähnlich Luise Schottroff in der »Bibel in gerechter Sprache«. 14 Vgl. die Aufstellung und Diskussion bei Fiedler, Das Matthäusevangelium, 123 f. 15 Konradt, Das Evangelium nach Matthäus, 16; die beiden folgenden Zitate auf S. 76. 16 Vgl. schon W. Bacher, Die exegetische Terminologie der jüdischen Traditionsliteratur I, Leipzig 1899, 170. 17 Konradt wird mit V. 18 schnell fertig, indem er unter »Jota oder Häkchen« unterschiedslos die »als weniger gewichtig eingestuften Gebote« versteht (ders., Das Evangelium nach Matthäus, 76). Warum schreibt Matthäus dann diesen Vers? 18 Bei Fiedler, Das Matthäusevangelium, 124 (Anm. 76) ist diese Möglichkeit nur eben angedeutet. 19 Vgl. dazu P. Lenhardt/ P. von der Osten-Sacken, Rabbi Akiva, ANTZ 1, Berlin 1987, 318-329. 20 Vgl. H.-J. Becker, Auf der Kathedra des Mose, ANTZ 4, Berlin 1990, 17-51. 21 Hinter Mt 23,3b-4 steht die rabbinische Praxis von Gebotserschwerung und Gebotserleichterung. Dabei gilt als Ideal, dass ein Lehrer für sich selbst erschwert, für die Allgemeinheit aber erleichtert. Wer sich anders verhält, wird selbstverständlich kritisiert. Vgl. dazu Becker, Auf der Kathedra des Mose, 126-135. Nun scheint Matthäus einen Lehrer beobachtet zu haben, der sich so verhalten hat. Das wird für ihn im Konflikt, in dem er sich mit der jüdischen Mehrheit befindet, zur allgemeinen Perspektive der Wahrnehmung, in der er deren Lehrer pauschal zu Heuchlern erklärt. 22 Fiedler, Das Matthäusevangelium, 345-347. 23 Konradt, Das Evangelium nach Matthäus, 355. 24 Konradt übersetzt zwar mit quantitativer Begrifflichkeit, gebraucht dann aber doch Luthers »bessere Gerechtigkeit«, zunächst mit Anführungszeichen, dann ohne, und versteht sie als Befolgen der Gebote »gemäß ihrem vollen und tieferen Sinn«, der »das neue Erschlossensein von Gesetz und Propheten durch Leben und Lehre Jesu« voraussetze (ders., Das Evangelium nach Matthäus, 74.77). 25 Zum gesamten Abschnitt vgl. meine Auslegung in: Das Regierungsprogramm des Himmelreichs. Eine Auslegung der Bergpredigt in ihrem jüdischen Kontext, Stuttgart 2010, 82-137. 26 Nach Konradt hat die Erweiterung des Dekaloggebots mit dem Rechtssatz die Funktion, »eine restriktive Deutung des Tötungsverbots anzuzeigen, die […] den Schriftgelehrten und Pharisäern zur Last gelegt wird«. Indem das Gebot allein als Rechtssatz gelesen werde, folge »ein bloß buchstäbliches Verständnis«. Es gehe dann »allein um den Straftatbestand des Mordes«, mit der Konsequenz, »dass alles, was unterhalb dieser Schwelle liegt, vom Gebot nicht berührt wird« (Das Evangelium nach Matthäus, 81). Dafür kann kein Quellenbeleg geboten werden, wohl aber für die »Gegenthese Jesu«. 27 Konradt, Das Evangelium nach Matthäus, 94.