eJournals ZNT – Zeitschrift für Neues Testament 19/37

ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
2016
1937 Dronsch Strecker Vogel

Daniel Boyarin Die jüdischen Evangelien. Die Geschichte des jüdischen Christus (Judentum – Christentum – Islam. Interreligiöse Studien Bd. 12). Würzburg: Ergon 2015 172 Seiten, gebunden ISBN 978-3-95650-098-5 Preis: 25,00 Euro

2016
Manuel Vogel
68 ZNT 37 (19. Jg. 2016) Buchreport tentum im Sinne der Wittgenstein’schen Familienähnlichkeiten auflösen in ein Feld unterschiedlicher jüdisch möglicher Glaubensweisen, die sich auf mehreren Ebenen, deren eine (aber eben nicht einzige) der Jesusglaube war, ähnelten oder unterschieden (38 f.). Im ersten Kapitel »Vom Gottessohn zum Menschensohn« (43-80) setzt Boyarin bei zwei christologischen Titeln an, die landläufig als »christlicher« Kernbestand einer »hohen Christologie« angesehen werden. Er unternimmt es, die in den Titeln »Sohn Gottes« und »Menschensohn« verdichteten Debatten über die göttliche und menschliche Natur des Erlösers in eine biblisch-jüdische Gedankenbewegung einzuzeichnen, die weder erst in christlicher Zeit anhebt, noch auch mit dem Aufkommen der Jesusbewegung endet, dergestalt, dass eine jüdische Traditionsbildung durch ihre »christliche Aneignung« jüdisch fortan nicht mehr tragbar gewesen wäre. Zunächst führt Boyarin aus, dass mit der Rede vom »Sohn Gottes« und vom »Menschensohn« in paradoxer Verschränkung zwei gegenläufige Bewegungen greifbar werden (43-48): Mit 2Sam 7,14; Ps 2,2.6 und Ps 110 bezeichnet »Sohn Gottes« einen irdischen, menschlichen König, der bei seiner Inthronisation als irdischer König Israels von Gott als »Sohn« adoptiert und einer besonderen Nähe zu Gott gewürdigt wird, der aber dennoch ein Mensch bleibt. Dagegen referiert »Menschensohn« mit Daniel 7 auf die Theophanie eines menschenähnlichen göttlichen Wesens, das neben dem »Alten der Tage«, d. h. Gott, als göttliches Wesen im Himmel inthronisiert wird. Hier werden zwei divergierende Heilserwartungen erkennbar-- ein Mensch, der zu Gott erhoben wird, und ein Gott, der in menschlicher Gestalt auf Erden erscheint--, die sich in unterschiedlichen Varianten gegenseitig beeinflussten und miteinander verbanden. Auch dort, wo diese Heilserwartungen mit Jesus verbunden wurden, war nichts daran in einer Weise »christlich«, die nicht auch jüdisch denkbar und längst gedacht war. Hinzu kommt ein Zweites: Im Fortgang von Daniel 7 lässt sich ein Meinungsstreit um die Deutung des »Menschenähnlichen« (Dan 7,13 f.) ablesen: Die kollektive menschliche Deutung auf die »Heiligen des Höchsten« (Dan 7,22) wehrt dem Gedanken eines zweiten göttlichen Wesens neben Gott (48-54). Wir stoßen hier auf »eine innerjüdische Kontroverse lange vor Jesus« (54), die sich weder erstmals an Jesus entzündet hat, noch auch, als sie sich an Jesus neu entzündete, »Juden« und »Christen« voneinander schied, sondern Juden, die in der Frage, ob man den Erlöser als gottähnliches Wesen erwarten soll, unterschiedlich urteilten. Die Option eines zweiten Gottes ist sogar, wie ein Blick weit zurück in die kanaanäischisraelitische Religionsgeschichte lehrt, weitaus älter als seine Bestreitung (54- 59), und sie dauert auch als jüdische Denkmöglichkeit im christlichen Zeitalter unvermindert an, etwa in der Figur des Metatron oder des »kleinen Jahu« (60). Was Jesus betrifft, so lässt sich keinesfalls eine »Christologie von unten« einseitig jüdischer Tradition zuschreiben, noch ist die »hohe Christologie«, die dem trinitarischen und christologischen Dogma Pate stand, einseitig auf den Einfluss griechischen Denkens zurückzuführen. Vielmehr war das Konzept eines göttlichen Erlösers in der Art des danielischen Menschensohnes im antiken Judentum ebenso präsent wie das eines davidischen Messias, der als Mensch besonderer Gottesnähe gewürdigt war, und beide Konzepte konnten sich vielfältig miteinander verbinden. Boyarin führt dies an Mk 2,23-28 vor, wo Jesus sich einerseits auf David beruft und sich damit implizit in die Nachfolge Davids stellt, und sich andererseits in der dritten Person als Menschensohn bezeichnet (64-80). Boyarin sieht hierin nicht nur »einen klaren Beleg für die Identifikation des davidischen Messias mit dem Menschensohn« (78), sondern vermag auch den Gedankenfortschritt von Mk 2,27 zu 2,28 auf dem Hintergrund von Dan 7 zu erklären: Nach Dan 7,14 wird dem Menschensohn universale Macht übertragen, und Mk 2,27 zufolge ist der Sabbat für den (die) Menschen (überhaupt) da, hat also eine universale Geltung. Der Gedankengang in Mk 2,27f, der in der Exegese notorisch als sperrig empfunden und literarkritisch traktiert wird, stellt sich dann dar wie folgt: Die Aussage 2,27, dass der Sabbat »für den Menschen« da ist, negiert nicht nur ihre Umkehrung (dass der Mensch für den Sabbat da sei), sondern sie impliziert auch eine Ausdehnung des Geltungsbereiches des Sabbats von Israel auf »den (= alle) Menschen«. Eine solche (pars pro toto am Sabbat vorgeführte) Ausdehnung der Tora auf die Menschheit setzt zwingend eine (über Israel als Herrschaftsbereich des davidischen Messias hinaus gehende) Vollmacht voraus, und das ist keine andere als die dem danielischen Menschensohn zugesprochene universale Herrschaft, eben diejenige, die in Mk 2,28 anhand des Sabbatbeispiels angesprochen wird. Worauf es wiederum ankommt: Die universale Herrschaft des Menschensohnes, die auch seine Verfügungsgewalt über den Sabbat einschließt, bedeutet »eine radikale eschatologische Wende, aber keine, die durch einen Schritt heraus aus der weiten Gemeinschaft der Israeliten oder sogar Juden begründet wird« (79). Das zweite Kapitel »Der Menschensohn in 1. Henoch und 4. Esra: Andere jüdische Messiasse im 1. Jahrhundert« (81-103) sondiert das weitere Umfeld jüdischer Analogien zur Einzeichnung Jesu in die schon bestehenden Erwartungen eines Menschensohn-Messias. Als ersten Text nennt Boyarin den Tragiker Ezechiel (spätestens Anfang 1. Jh. v. Chr.). Hier wird Mose von Gott selbst auf dem Gipfel des Sinaiberges inthronisiert, ja, er darf sogar auf Gottes Thron Platz nehmen (81 f.). Dies lässt sich kaum anders verstehen, als »dass Mose in diesem Text Gott geworden ist. Kein unmöglicher Gedanke damals für einen Juden. Wenn in der einen Version einer jüdischen religiösen Vorstellung Mose Gott sein konnte, warum dann nicht Jesus in einer anderen Version? « (82). Christologie, meint Boyarin, war schon vor Christus da: »Jesus erfüllte für seine Anhänger die Idee des Christus; der Christus wurde nicht erfunden, um Jesu Leben und Tod auszudeuten. Versionen dieser Erzählung, die Geschichte des Menschensohns (die Geschichte, die später Christologie genannt wird), waren unter den Juden vor der Ankunft Jesu weit verbreitet; Jesus schlüpfte in eine Rolle, die vor seiner Geburt bestand, und ZNT 37 (19. Jg. 2016) 69 dies erklärt, warum so viele Juden bereit waren, ihn als den Christus, als den Messias, den Menschensohn anzuerkennen. Diese Art, die Dinge zu betrachten, ist einer Gelehrtentradition völlig entgegengesetzt, die annimmt, dass Jesus zuerst kam und die Christologie nach diesem Ereignis geschaffen wurde, um seine erstaunliche Karriere zu erklären. Die Stellenbeschreibung-- ›Gesucht wird: Ein Christus, der göttlich ist, der Menschensohn genannt wird, der Herr und Retter der Juden und der Welt ist‹-- war schon da, und Jesus war der Passende (oder, anderen Juden zufolge, nicht). Die Stellenbeschreibung war kein ausgeklügeltes Unterfangen, keine gleichsam auf Jesus maßgeschneiderte Stelle! « (82). Sein weiteres Augenmerk richtet Boyarin auf die Bilderreden des äthiopischen Henochbuches, die in das 1. Jh. datiert werden. In äthHen 46 schaut der Seher Henoch den Menschensohn und fragt den Deute-Engel ausdrücklich, um wen es sich handelt, »wer er sei, woher er stamme (und) weshalb er zu dem Haupt der Tage ginge« (äthHen 46,2). Damit formuliert der Seher eine Frage, die im Judentum seiner Zeit gestellt und kontrovers diskutiert wurde. Die Antwort in äthHen 48 lautet: Der Menschensohn ist ein präexistentes Gottwesen, das verborgen ist, jedoch »den Heiligen und Gerechten« offenbart werden soll. Der Engel Henochs widerspricht damit dem Engel Daniels (85), der den Menschensohn ja, wie wir sahen, auf die kollektiv-menschliche Größe der »Heiligen des Höchsten« deutete. Dagegen ist der Menschensohn in äthHen 48 präexistent, er wird auf Erden verehrt, und er wird »Gesalbter/ Messias« genannt. In den Kapiteln 70-71 erfährt die Menschensohn-Erzählung der Bilderreden dann eine erstaunliche Wendung: Hier ist auf einmal Henoch selbst der Menschensohn, und er wird zu Gott erhöht. Damit wird innerhalb der Henoch-Tradition das Theophanie-Motiv des danielischen Menschensohnes mit dem Motiv der Apotheose des davidischen Messias verschmolzen: »Ungeachtet späterer theologischer Verfeinerungen enthalten die Evangelien ebenfalls die Geschichte eines Gottes, der Mensch wird (Theophanie), und eine andere Geschichte eines Menschen, der Gott wird (Apotheose). […] Die Doppelsträngigkeit in der Erzählung vom Menschensohn im Buch Henoch wird uns […] helfen, auch die Doppelsträngigkeit in der Geschichte Jesu in den Evangelien zu verstehen. Sie hilft uns, den Sinn der mannigfaltigen Begebenheiten in der Christusgeschichte zu finden: seine Geburt als Gott, seine Gottwerdung bei seiner Taufe, sein Tod und seine Auferstehung als ein lebendiger Mensch, der wiederum auf Erden lehrt, und danach die Erhöhung zur Rechten Gottes in Ewigkeit. Es ist fast so, als ob zwei Geschichten in eine Handlung zusammengeführt worden wären: die eine Geschichte eines Gottes, der Mensch wurde, auf die Erde herabstieg und dann nach Hause zurückkehrte; und eine zweite Geschichte eines Menschen, der Gott wurde und zur Höhe aufstieg.« (90 f.). Passagen aus dem 4. Esrabuch (98-103) belegen zusätzlich, wie lebhaft im 1. Jh. die Diskussion um Messias und Menschensohn innerhalb des Judentums geführt wurde. Was ist nun das Neue daran, fragt Boyarin, dass diese Diskussion im 1. Jh. auch mit Blick auf Jesus geführt wurde? Seine Antwort: »Alle Vorstellungen über Christus sind altvertraut; das oder der Neue ist Jesus. Es gibt nichts in der Lehre des Christus, was neu ist, außer der Ausrufung dieses Menschen als Menschensohn« (103). Ergänzend wäre darauf hinzuweisen, dass das Motiv des Verborgenseins des Menschensohnes und sein Offenbarwerden unter den Gerechten, das in den von Boyarin zitierten Passagen gelegentlich vorkommt (äthHen 48,6 f.; 69,26), Jesus (und zwar auch und gerade den irdischen) insofern als »Menschensohn« besonders geeignet erscheinen lässt, als er mangels irgendeiner Bekanntheit oder Berühmtheit (vgl. Joh 6,42! ) nur einigen wenigen in seiner wahren Identität bekannt war. Wenn das Verborgensein des Menschensohnes und seine Offenbarung in einem Zirkel von Gerechten zu seinen Eigenschaften gehörte, konnte auch und gerade jemand der Menschensohn sein, dem man das in keiner Weise ansah. Das dritte Kapitel »Jesus lebte koscher« (105-123) bringt insofern einen Themenwechsel, als es nun anhand von Mk 7 nicht mehr um Christologie, sondern um Halacha geht. Gilt für die beiden ersten Kapitel, dass Boyarin in gründlicher Kenntnis der (zumeist christlichen) Forschungsliteratur zum Menschensohn-Problem gewissermaßen immer wieder die eine Frage durchbuchstabiert, was eigentlich angesichts des allseits bekannten Befundes dagegen spricht, auch und gerade die sogenannte »hohe Christologie« jüdisch sein zu lassen, legt er im dritten Kapitel eine Lektüre von Mk 7 vor, die auch im Detail wesentliche neue Aspekte in die Diskussion einbringt. Das Thema des Buches ist freilich auch mit diesem Kapitel im Kern berührt, weil die Ausführungen Jesu zur Reinheitsfrage in Mk 7 überwiegend als Bruchstelle zwischen (toraobservant-äußerlichem) »Judentum« und (torafrei-ethischem) »Christentum« gelesen werden. Das Beweisziel, dass die Mehrheitsmeinung hier gründlich daneben liegt, ist dementsprechend besonders ambitioniert. Boyarin liest Mk 7 als eine innerjüdische Kontroverse, in der die Position Jesu nicht die Bindung an die Tora aufkündigt, sondern sie gegen pharisäische Innovationen verteidigt. Zur Literarkritik als der in der christlichen Exegese üblichen Methode, sich der Schwierigkeiten des Kapitels zu entledigen, äußert sich Boyarin wie folgt: »Die Dämonen, die die ›Traditionsgeschichte‹ dieses Passus befallen haben, sind Legion; einige Gelehrte betrachten manche Verse als ursprünglich und andere als spätere Ergänzungen, während andere Gelehrte gerade das Gegenteil im Hinblick darauf behaupten, welche Verse ursprünglich und welche später hinzugefügt worden sind. Ich habe vor, diese Dämonen auszutreiben, indem ich sie ignoriere und den Text lese, wie er ist« (111). Zunächst ist zu Mk 7 grundsätzlich anzumerken: Thema des Kapitels ist mitnichten die Frage der Reinheit und Unreinheit von Speisen, auch wenn die berühmte Notiz in V. 19b (wörtlich: »reinigend alle Speisen«) stets so gelesen wurde. Thema ist vielmehr die Frage der 70 ZNT 37 (19. Jg. 2016) Buchreport Übertragbarkeit von Unreinheit durch Berührung. Boyarin macht nun geltend, dass dies zwei völlig unterschiedliche Problemkreise, oder, wie er sagt, »Systeme« sind. Im einen System geht es um die Frage, welche Speisen »erlaubt« und »verboten« sind, im anderen hingegen darum, wie körperliche Unreinheit zu handhaben ist, und welche Rolle dabei Berührung spielt. Die pharisäische Position lautet: Unreinheit (die im Alltag immerzu zwangsläufig entsteht und keinesfalls einen moralischen Makel darstellt) kann durch Berührung auf Speisen übertragen werden, und durch den Verzehr der Speisen auf den Körper. Wichtig hieran ist: Die Frage, welche Speisen erlaubt und welche verboten sind, wird in Mk 7 überhaupt nicht diskutiert und deshalb in V. 19b auch nicht entschieden, und schon gar nicht in dem Sinn, dass man nun auf einmal essen dürfte, was man will. Diese klare Unterscheidung zweier Fragenkreise gilt unbeschadet der Tatsache, dass die biblischen und rabbinischen Quellen die »rein/ unrein«-Terminologie bisweilen auch auf dem Gebiet der erlaubten/ unerlaubten Speisen verwenden (113, Anm. 9). Jesus hält den Pharisäern entgegen, dass Speisen (koschere, versteht sich, von den unkoscheren ist gar nicht die Rede) durch Berührung nicht unrein werden können, dass die so alltägliche wie unvermeidbare Unreinheit, die man sich in mannigfaltigen Lebenssituationen nun einmal zuzieht, nicht durch Berühren auf Speisen übertragbar ist. In diesem Sinn ist V. 19b zu verstehen: Alles, was Juden essen dürfen, darf tatsächlich auch gegessen werden, unbeschadet der Frage, wer es wann berührt hat. Nun geht es unbestritten in Mk 7 auch um Ethik. In 7,6-13 deutet Jesus den Heuchelei-Vorwurf aus Jes 29,13 auf die Pharisäer, und die Jüngerunterweisung 7,20-23 enthält einen Lasterkatalog. Allerdings (und hier beruft sich Boyarin auf einen Aufsatz von Yair Furstenberg 1 ) wird nicht »das (jüdisch) rituell-Äußerliche« zugunsten »des (christlich) Ethischen« überwunden, sondern: Der zunächst ganz wörtlich zu verstehende Sachverhalt, dass Ausscheidungen (»was aus dem Menschen herauskommt«) verunreinigen, hat außerdem und zusätzlich eine übertragene Bedeutung. V. 15 beschreibt zunächst einen bloßen organischen Sachverhalt, der von Jesus in V. 18 f., nachdem die Jünger ihn nach der tieferen Bedeutung (V. 17: parabolē) fragen, nochmals als solcher erläutert wird. Erst in V. 20 findet die Übertragung statt, die strikt in genauer Entsprechung zum Bildspender funktioniert, d. h. aber: in genauer Entsprechung zur von der Tora geregelten Praxis. Die Pharisäer bringen beides durcheinander: Den rituellen Vollzug und, wie VV.6-13 vorwegnimmt, das ethische Verhalten. »Die Auslegung, die Jesus gibt, ist dazu da, den tieferen Sinn der Regeln der Tora auszudeuten, nicht dazu, sie zu beseitigen« (119). In aller Kürze sei darauf hingewiesen, dass V. 19b auch noch zur Erläuterung des Bildspenders gezogen werden kann, wie Wolfgang Stegemann gezeigt hat: 2 Die Phrase katharizōn panta ta brōmata (»reinigend alle Speisen«) beschreibt dann die »entgiftende« Wirkung des Verdauungsvorgangs. Dieses Verständnis liegt der Schlachter-Übersetzung zugrunde, die Mk 7,19 wie folgt wiedergibt: »Denn es kommt nicht in sein Herz, sondern in den Bauch und wird auf dem natürlichen Weg, der alle Speisen reinigt, ausgeschieden.« Erst recht in dieser Übersetzungvariante geht es im Mk 7 nicht darum, von der Tora »verbotene« Speisen für »erlaubt« zu erklären und damit die Tora an diesem Punkt außer Kraft zu setzen. Im vierten Kapitel »Der leidende Christus als ein Midrasch zu Daniel« (125-145) nimmt Boyarin den christologischen Faden wieder auf. So wie er bestreitet, dass »hohe Christologie« eine »christliche« Erfindung ex eventu war, bestreitet er auch, dass mit der Rede von einem leidenden Messias eine erst nach Jesu Tod ersonnene apologetische Figur vorliegt. Dabei geht es ihm durchaus nicht um den Nachweis, dass schon der irdische Jesus sich als leidender Messias bezeichnet hat (wie Boyarin sich überhaupt an der für die neutestamentliche Exegese geradezu konstitutiven Unterscheidung zwischen »echten Jesusworten« und »Gemeindebildung« schlechterdings uninteressiert zeigt), sondern dass die Idee eines leidenden Messias älter war als das Leiden des Messias Jesus, und zwar methodisch wie inhaltlich. Methodisch findet Boyarin in den Evangelientexten, die vom Leiden des Messias handeln, Midrasch-Exegesen reinsten Wassers (128; 133; 138), und inhaltlich sieht er den Gedanken eines leidenden Messias durch Dan 7,25 (der auf Israel gedeutete Menschensohn wird dreieinhalb Zeiten in der Gewalt des vierten Tieres sein) in Verbindung mit dem leidenden Gottesknecht aus Jes 53 als jüdische Denkmöglichkeit, wie sie etwa in den markinischen Leidensweissagungen ihren Niederschlag findet, hinreichend plausibilisiert. Keinesfalls liegt hier »die unvermeidliche und absolute Bruchstelle mit der Religion Israels« (139) vor. Dies erhellt auch daraus, dass auch in christlicher Zeit auf jüdischer Seite in dieser Hinsicht kein Denkverbot bestand. Vereinzelte rabbinische Traditionen vom Messias als dem leidenden Gottesknecht zeugen davon (139-145). In einem kurzen Nachwort (147- 149) resümiert Boyarin den Ertrag seines Buches wie folgt: »Wenn die Interpretation, die hier angeboten wird, stichhaltig ist, dann ist das Neue Testament sehr viel tiefer in das jüdische Leben und Denken während des Zweiten Tempels eingebettet, als viele gedacht hätten, selbst-- und dieses betone ich abermals-- in genau den Details, die wir als am charakteristischsten christlich-- im Gegensatz zu jüdisch-- angesehen haben: die Vorstellung einer zweifachen, dualen Gottheit mit einem Vater und einem Sohn, die Vorstellung eines Erlösers, der selbst sowohl Gott als auch Mensch sein wird, und die Vorstellung, dass dieser Erlöser im Zuge des Erlösungsprozesses leiden und sterben würde. Wenigstens einige dieser Ideen, die Vater/ Sohn- Gottheit und der leidende Erlöser, haben ebenfalls tiefe Wurzeln in der hebräischen Bibel und dürften sich unter einigen der ältesten Vorstellungen über Gott und die Welt befinden, die das israelitische Volk jemals vertrat.« (147). Wie kann man (abseits von kleinteiliger Kritik, die immer dann eine sichere Nummer ist, wenn sich ein Fachfremder ZNT 37 (19. Jg. 2016) 71 in hochspezialisierten Debatten zu Wort meldet) Boyarins Buch abschließend und zusammenfassend würdigen? Ich sage es so: Innerhalb der christlichen Theologie fällt der Neutestamentlichen Wissenschaft die Aufgabe zu, auf ihrem eigenen Grund und Boden, dem Terrain des Neuen Testaments, einen Dialog mit derjenigen Religion zu führen, der die Christen dieses Buch verdanken. In den neutestamentlichen Schriften ist die terminologische Unterscheidung »jüdisch/ christlich«, »Juden/ Christen«, »Judentum/ Christentum« bekanntlich nirgends belegt, erst recht nicht im Sinne jener Kontradiktion, die zuerst (Ps-) Ignatius der christlichen Theologie ins Stammbuch geschrieben hat. Auf neutestamentlichem Gebiet handelt es sich um einen längst erkannten, aber noch längst nicht beseitigten Anachronismus. Indem Boyarin als orthodoxer Jude und Talmud-Gelehrter exemplarisch eine Lektüre der Evangelien vorführt, die terminologisch und sachlich ohne Grenzziehungen zwischen »Judentum« und »Christentum« auskommt, dürfte er bei künftigen Versuchen, dem genannten Anachronismus beizukommen, überaus hilfreich sein. (rez. von Manuel Vogel) Anmerkungen 1 Y. Furstenberg, Defilement Penetrating the Body. A New Understanding of Contamination in Mark 7.15, NTS 54 (2008), 176-200. 2 W. Stegemann, Hat Jesus die Speisegesetze der Tora aufgehoben? Zur neuesten kontroversen Einschätzung der traditionellen Deutung des sog. »Reinheitslogions« von Mk 7,15, in: P. v.Gemünden u. a. (Hg.), Jesus, Gestalt und Gestaltungen. Rezeptionen des Galiläers in Wissenschaft, Kirche und Gesellschaft. Festschrift für Gerd Theißen zum 70. Geburtstag (NTOA 100), Göttingen 2013, 29-50. Matthias Luserke-Jaqui „Ein Nachtigall die waget“ Luther und die Literatur 2016, 239 Seiten €[D] 32,80 ISBN 978-3-7720-8590-1 Das Buch verfolgt den Wandel des Luther-Bildes in der Literatur. Matthias Luserke-Jaqui schaut mit dem Blick des Literaturwissenschaftlers auf die Entstehung und Tradierung des Luther-Bildes in der Geschichte. Dieses kulturelle Bild von Luther dient als Projektions äche individueller wie gesellschaftlicher Wünsche, es schwankt zwischen Monumentalisierung, Sakralisierung, Trivialisierung und Verkitschung bis hin zur völligen Ablehnung. Die Luther-Bilder der jeweiligen Zeit sammeln diese Tendenzen oder bringen sie recht erst hervor. Dabei wird die Rolle der Literatur untersucht, welchen Ein uss sie vorwegnehmend für die Ausbildung neuer Luther-Bilder nimmt oder inwiefern sie bestehende Luther-Bilder verharrend bewahrt. Der historische Bogen spannt sich von der Wittenbergischen Nachtigall des Hans Sachs, über Texte von Goethe, Hölderlin, Kleist, Werner, Klingemann bis hin zu Jochen Klepper und Thorsten Becker. NEUERSCHEINUNG Narr Francke Attempto Verlag GmbH+Co. KG \ Dischingerweg 5 \ 72070 Tübingen \ Germany Tel. +49 (07071) 9797-0 \ Fax +49 (07071) 97 97-11 \ info@francke.de \ www.francke.de NEU Aus dem Inhalt: Vorwort 1 Einleitung - Martin Luther und die Literatur 2 Zwischen Bekenntnis und Verachtung - Das Luther-Bild in der Frühen Neuzeit 3 „Bruder Martin“ - Das ‚neue‘ Luther-Bild im 18. Jahrhundert 4 Zwischen Hymnik und Trivialisierung - Das Luther-Bild im 19. Jahrhundert 5 Das Luther-Bild in der Moderne