eJournals ZNT – Zeitschrift für Neues Testament 19/37

ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
2016
1937 Dronsch Strecker Vogel

Juden und Christen

2016
James D. G. Dunn
ZNT 37 (19. Jg. 2016) 49 James D. G. Dunn Juden und Christen onen erkennen, die ein Verständnis des Christentums als einer Ausarbeitung und Erweiterung des überlieferten jüdischen Glaubens nahelegen und ein ausgewogeneres Urteil über den jüdischen Charakter des christlichen 2. Jh. zulassen, als es dem Barnabasbrief und dem Diognetbrief recht war. Das dritte Kapitel gibt Einblick in einen weiteren bemerkenswerten Aspekt des Themas: »Das erwählte Volk und seine Schriften: Eine neue hermeneutische Perspektive«. Es bedarf kaum eines Hinweises, dass die frühesten Christen die Schriften im Lichte dessen lasen, was ihnen als neue Offenbarung in und durch Christus galt. Spannend wird es dagegen bei der Frage, wie sich diese Lektüren zu den jüdischen Lektüren der gleichen Texte verhalten. Zutreffend beobachtet Nicklas, dass »Ignatius eine ›christliche Lebensweise‹ entwirft, in der die Tora als Regelwerk der Lebensgestaltung mehr und mehr in Vergessenheit gerät und nur noch als Bestandteil der Schriften von Interesse ist, die prophetisch auf das ›Christus-Ereignis‹ vorausweisen« (129). Die Bedeutung von Justins Diolog mit Tryphon kann in diesem Zusammenhang kaum überschätzt werden. Man kann mit Grund bestreiten, dass diese Schrift »einen Dialog zwischen zwei realen Völkern aus Fleisch und Blut widerspiegelt« (137). Sie bleibt aber ein eindrucksvolles Zeugnis dessen, was man mit Fug und Recht zu den jüdisch-christlichen Beziehungen des 2. Jh. rechnen darf. Wichtig ist nicht zuletzt, dass Justin nicht den Versuch unternimmt, den Dialog mit einer Notiz über seinen Erfolg, geschweige denn über eine Bekehrung Tryphos abzuschließen. Das Gespräch zwischen Juden und Christen war unabgeschlossen, und es ging weiter. In der zweiten Hälfte des Kapitels werden Vernachlässigung und Missbrauch der Schriften Israels in den Versuchen Markions und anderer, ihre eigene Bewegung möglichst gründlich von den jüdischen Wurzeln des Christentums abzuschneiden, anschaulich dargestellt (142-156). Zwar bewegen wir uns hier an der Peripherie der Leitfrage nach dem jüdischen Charakter des Christentums, doch wird damit die Bedeutung des Themas auf eigene Weise anschaulich. Ein kurzer Schlussabschnitt zur Frage »Pseudepigraphische Schriften-- ›jüdisch‹ oder ›christlich‹? «, v. a. zu 5Esra und zur Ascensio Jesajae (157-162), folgt etwas umständlich und ohne eigenes Resümee. Aus dem Umstand, dass solche Schriften als »jüdisch und christlich« eingestuft werden können, wären weitere Schlüsse zu ziehen. Quellen ist ein deutliches Bewusstsein der Trennung von »den Juden« unübersehbar, so etwa im Kerygma Petrou (bzw. Petri, so Nicklas) (78-82), und in den Sybillinischen Orakeln (83- 84). Auch bei Aristides ist deutlich, dass Christen von Juden zu unterscheiden sind, ebenso im Diognetbrief, der eine allzu große Ähnlichkeit des jüdischen Gottesdienstes mit der Idolatrie falscher Götter behauptet (85-96)! Der dann folgende Abschnitt des zweiten Kapitels befasst sich mit Markion und der Sethianischen »Gnosis« (96-107). Das leuchtet ein, wenn es um Antworten des 2. Jh. auf den Glauben geht, den Christen ihren jüdischen Ursprüngen verdankten. Es wird allerdings nicht recht klar, was diese Diskussion für das jüdischchristliche Verhältnis austrägt. Auch hätten solche Texte mehr Aufmerksamkeit verdient, die jene substanziellen Überschneidungen zwischen dem aufkommenden Christentum und dem umgebenden Judentum dokumentieren, derer sich das rabbinische Judentum schließlich entledigt hat. Tobias konzentriert sich auf die Testamente der zwölf Patriarchen (107-112). Ebenso gut hätten weitere Schriften thematisiert werden können, die ihrerseits den sich öffnenden Graben zwischen Juden und Christen überbrückten, etwa die Apostolischen Konstitutionen, die im 7. und 8. Buch möglicherweise auf hellenistischen Synagogengebeten fußen, und ebenso die Oden Salomos. Diese Schriften lassen eine Vertrautheit und eine Interaktion mit jüdischen Traditi- James D. G. Dunn, geb. 1939, ist Emeritus Lightfoot Professor of Divinity an der Theologischen Fakultät der University of Durham. Dunn wird besonders mit der »New Perspective on Paul« in Verbindung gebracht, als deren führender Vertreter er gilt. Wichtige Veröffentlichungen sind: »The Partings of the Ways between Christianity and Judaism and their Significance for the Character of Christianity«, London 2 2006; »The New Perspective on Paul«, Grand Rapids 2008. Prof. Dr. James D.G. Dunn »Es bedarf kaum eines Hinweises, dass die frühesten Christen die Schriften im Lichte dessen lasen, was ihnen als neue Offenbarung in und durch Christus galt.« 50 ZNT 37 (19. Jg. 2016) Kontroverse Unter der Überschrift »Fragen der Halacha« wendet sich das vierte Kapitel »christlichen« Lektüren der Schriften Israels zu. Der Beginn bei Matthäus und seiner Vorstellung Jesu als Lehrer einer besonderen »Jesus- Halacha« (166) ist nachvollziehbar; ein Stirnrunzeln erzeugt die Charakterisierung der Rede Jesu gegen Pharisäer und Schriftgelehrte als »infam«, ein wenig auch die Bemerkung zur berühmt-berüchtigten Rede des Paulus von den »Werken des Gesetzes«: »Sind ›Werke in Übereinstimmung mit dem Gesetz‹ gemeint, oder geht es um boundary marker zwischen Juden und nichtjüdischen Gruppen? « (168f ). Ist das denn tatsächlich eine Entweder-oder-Frage? Die anschließende Bemerkung, dass »Paulus in seinen erhaltenen Schriften nirgends das Gesetz per se als obsolet erklärt« (170), ist im Fortgang der Diskussion willkommen. Da aber die »Werke des Gesetzes« eindeutig eine Schlüsselkategorie in Paulus’ Darlegung seines Verständnisses und seiner eigenen Position im Blick auf das Verhältnis zwischen jüdischen und nichtjüdischen Christusgläubigen darstellt, wäre eine weitere Klärung der paulinischen Auffassung in ihrem spezifischen Problemkontext am Platze gewesen. Zwar richten die Vorlesungen ihr Augenmerk auf Quellen des zweiten Jahrhunderts, aber da Paulus zu Beginn von Kapitel 4 in die Diskussion gebracht wurde, wäre ein eingehenderes Gespräch hilfreich gewesen. Die Ausführungen zum Hirt des Hermas (173-177) sind insofern interessant, als in den dort greifbaren Situationen des sozialen Konflikts nirgends die Beziehungen zu Juden oder zwischen jüdischen und nichtjüdischen Christen eine Rolle zu spielen scheinen. Daraus kann man gewiss nicht schließen, dass diese Beziehungen spannungsfrei waren, oder dass Kirche und Synagoge in Harmonie miteinander lebten, gar mit doppelten Zugehörigkeiten. Aber dass von einem Auseinandergehen der Wege oder einer römischen Konkurrenz zwischen Kirche und Synagoge in gegenseitiger schroffer Zurückweisung nichts zu sehen ist, ist in einer Untersuchung über die Beziehungen zwischen Juden und Christen im 2. Jh. ein bemerkenswerter Befund. Die Rückkehr zum Barnabasbrief und seiner Zwei- Wege-Lehre (177-182) ist sachgemäß, vergisst man doch gar zu leicht, dass im 2. Jh. die jüdischen Synagogen weitaus besser in den Gesellschaften des römischen Reiches etabliert waren als die sich noch entwickelnden christlichen Gruppen. Vor diesem Hintergrund kann man zu der Auffassung gelangen, dass der christliche Versuch, sich durch den Rekurs auf die Schriften Israels zu legitimieren, zugleich eine exklusive Aneignung dieser Schriften darstellt und in der Folge die Aneignung von Israels Status als Bundesvolk. Ich meine gleichwohl, dass der Barnabasbrief mehr mit den vielen prophetischen Rügen von Israels religiöser Praxis in der Vergangenheit zu tun hat, und dass der Verfasser die Entwicklung des Heidenchristentums als Erfüllung des Geschicks Israels gesehen und nicht einfach Israel jeden weiteren Platz in Gottes Zuneigung und Absichten bestritten hat. Die Didache erhält verdientermaßen Aufmerksamkeit, wenn Nicklas sich auch hauptsächlich mit der Zwei- Wege-Lehre befasst (182-190). Ihr jüdischer Charakter liegt von Anfang an klar zutage. Sie bezieht sich, wie Tobias feststellt (186), wesentlich auf den Dekalog und mengt jüdische und spezifisch christliche Lehrinhalte vehement zusammen. Tatsächlich ist die Didache derart charakteristisch jüdisch, dass man fragen kann, ob »jüdisch« und »christlich« in den Gemeinden der Didache überhaupt kategorial unterschieden wurde. Stellt man in Rechnung, dass die Didache möglicherweise mehr als jede andere Schrift dieser Zeit den Titel »Judenchristentum« bzw. »christliches Judentum« verdient, wäre hier mit Gewinn noch mehr zu sagen gewesen. Tobias notiert abschließend, dass, wenn die Didache »in oder bei Antiochien verfasst wurde, der ›Diözese‹ des Ignatius, […] abermals deutlich wird, welch unterschiedliche Formen von ›Christentum‹ in unmittelbarer Nähe zueinander koexistieren konnten« (190), eine Erwägung, die weiterer Überlegungen lohnte. Das vierte Kapitel nähert sich unter der Überschrift »Reinheitsfragen« mit einer knappen Untersuchung des Protevangeliums des Jakobus (191-195) seinem Ende, freilich ohne die Forschungsdiskussion hier nennenswert voranzubringen. Zum Schluss folgt ein kleines Allerlei aus »judenchristlichen« Texten: eine kurze Untersuchung zum D-Text von Lk 6,5, der darauf hindeutet, dass Sabbatobservanz in bestimmten Kontexten noch immer ein Thema war (198-200), dazu Hegesipps Portrait von Jakobus, dem Gerechten (200-205), dessen Bedeutung angesichts der Tatsache, dass Jakobus im Laufe des 2. Jh. aus dem Blick gerät, stärker hätte gewürdigt werden können; schließlich je ein Abschnitt zu den Ebioniten und zu den Elchasaiten (205-214), die je für sich die Frage aufwerfen, »ob oder ob nicht »[D]ass von einem Auseinandergehen der Wege oder einer römischen Konkurrenz zwischen Kirche und Synagoge in gegenseitiger schroffer Zurückweisung nichts zu sehen ist, ist in einer Untersuchung über die Beziehungen zwischen Juden und Christen im 2.Jh. ein bemerkenswerter Befund.« ZNT 37 (19. Jg. 2016) 51 James D. G. Dunn Juden und Christen ›Judenchristen‹ nur ein marginales Phänomen unter den Christusanhängern des 2. und 3. Jh. waren« (213). Das anschließende Resümee des Buches (217-223) ruft in Erinnerung, wie leicht die Kategorien »Juden« und »Christen« verwendet werden können, als seien damit homogene Entitäten bezeichnet. Es geht auch leicht vergessen und ist einigen Nachdrucks wert, dass die Stimmen, die am lautesten zu uns herübertönen, den »Siegern« in den Zerwürfnissen gehörten, oder den Leitern, die ihre Gemeinden von dem Gedanken abbringen wollten, dass die »Anderen« Anhänger der eigenen Religion waren, und dass Grenzen einzig und allein deshalb gezogen wurden, weil die Mehrheit gar nicht auf die Idee kam, dass es überhaupt welche gibt. Mit etwas Abstand von diesem Buch, das mich vielfältig bereichert hat, schätze ich nicht zuletzt das Augenmerk auf the Parting of the Ways im Blick auf das, was man sehr vereinfacht »Frühchristentum« und »Frühjudentum« nennen könnte, so wie uns beides in den Texten des 2. Jh. entgegentritt. Sofern damit ein Reflex auf meinen eigenen Beitrag zu diesem Thema intendiert war, sollte ich vielleicht auf meinen eigenen Gebrauch des Plurals im Buchtitel The Partings of the Ways between Christianity and Judaism … 1 hinweisen. Dies ist von einiger Wichtigkeit, da der Singular Parting den Eindruck einer einzigen, großen Trennung zwischen zwei in sich homogenen Größen erwecken könnte. Tobias selbst geht schwerlich von solchen Größen aus, warnt er doch ganz zu Recht davor, »Juden« und »Christen« als »zwei einheitliche und konsistente Gruppen anzusehen, die eine Zeitlang auf demselben Weg gegangen sind und sich in einem bestimmten geschichtlichen Augenblick getrennt haben« (221). Doch scheint er dem, was der Plural Partings (Trennungen) andeutet, nicht genug Beachtung zu schenken, dass es nämlich unterschiedliche Gruppen gab, unterschiedliche Wechselwirkungen, eine nicht geringe Menge an Überschneidungen, dass es mithin viele und unterschiedliche Partings gegeben haben muss. Deshalb ist es wohl nicht verkehrt, nochmals zu betonen, dass diejenigen Stimmen, die besonders lautstark eine Trennung der Wege behauptet oder gefordert haben, für die Christen ihrer Zeit keineswegs repräsentativ waren. Für das 4. Jh. ist zahlreich belegt, dass Christen dafür getadelt wurden, dass sie die Beschneidung praktizierten und jüdische Feste feierten-- eine wichtige Erinnerung daran, dass es unterschiedliche »Wege« gegeben hat, die einander gleichwohl vielfältig kreuzten, und unterschiedliche »Trennungen«. Ich gebe deshalb noch immer dem unabgeschlosseneren und beweglicheren Bild der »Wege« den Vorzug gegenüber Tobias’ tendenziell statischem und endgültigen Bild eines »sehr robusten Strauches mit unterschiedlichen Ästen« (221-224). Wäre ich bei den Vorlesungen, aus denen sein Buch hervorgegangen ist, selbst dabei gewesen, wäre meine erste Frage gewesen: Warum haben die jüdischen Quellen so wenig Raum erhalten, bzw. die jüdische Seite des Themas »Trennung der Wege«? Ich weiß wohl, dass das Buch sich qua Untertitel auf die christliche Perspektive des 2. Jh. beschränkt. Doch sollte man meinen, dass die Rede von einer »Trennung« eine deutlichere Sicht auf beide Seiten erfordert hätte. Die Aufmerksamkeit, die Markion und andere gnostische Quellen erfahren haben, ist insofern gerechtfertigt, als hier der jüdischchristliche Glaube an Gott als Schöpfer abgelehnt wird. Auch sind Fragen, die ein Text wie das Judasevangelium aufwirft (40-43), ein Hinweis darauf, dass die Grenzen nicht klar gezogen werden können. Aber alles in allem standen doch, möchte man meinen, Juden und Christen in diesen Fragen auf derselben Seite. Deshalb wird nicht recht klar, inwiefern der gnostische Beitrag zu den Debatten des 2. Jh. bei den Trennungen zwischen Juden und Christen eine Rolle gespielt hat. Oder ist gemeint, dass ein gewisser gnostisierender Grundzug im mainstream-Christentum ein Faktor für die Trennungsprozesse war? Hier hinterlässt wiederum die Vernachlässigung jüdischer Quellen und ihrer Konzepte eine empfindliche Lücke in der Analyse der einen Seite der Trennungsprozesse. Gewiss stellt es eine Herausforderung dar zu entscheiden, welche rabbinischen Traditionen bis ins 2. Jh. zurück verfolgt werden können. Aber ein Augenmerk auf den jüdischen Aufstand der Jahre 115- 117 n. Chr. (mit dem 5. Esrabuch als möglicherweise relevanter Quelle) wie auch auf den Bar-Kochba-Aufstand (132- 135 n. Chr.) wäre am Platze gewesen, samt den jeweiligen Konsequenzen für das entstehende rabbinische Judentum und für christliche Perspektiven auf die Juden. Nicht minder wichtig ist die Frage, wie schnell sich die Lehrentscheidungen der frühen Rabbinen in Palästina verbreitet haben, wichtig etwa für die Beurteilung von Justins Dialog mit dem Juden Tryphon. Auch die jüdische Haltung gegenüber den Christen, für die sich die Bezeichnung minim (»Häretiker«) einbürgerte, ist schwerlich ohne Belang, wie immer man auch die Ge- »[Es ist] wohl nicht verkehrt, nochmals zu betonen, dass diejenigen Stimmen, die besonders lautstark eine Trennung der Wege behauptet oder gefordert haben, für die Christen ihrer Zeit keineswegs repräsentativ waren.« 52 ZNT 37 (19. Jg. 2016) Kontroverse schichte der birkat ha-minim im Blick auf ihre unmittelbare Bedeutung für jüdische Auffassungen von und Beziehungen zu den Christen einschätzt. Außerdem wissen wir von Juden, die Jesus-Anhänger waren, obwohl sie nicht zum christlichen mainstream gehörten. Tobias’ Beobachtungen zu Justins Unterscheidung zwischen jesusgläubigen Juden, die nicht auf der Toraobservanz der jesusgläubigen Nichtjuden bestanden, und solchen, die sie auf die Tora verpflichten wollten (Dial. 47), wäre hier von Interesse. Seine Ausführungen zu den Ebioniten und Elchasaiten (205- 214) wäre um die Nazoräer zu ergänzen. Auch wären Bezugnahmen auf die mancherlei Konfusionen und Unwägbarkeiten auf dem Feld der judenchristlichen Evangelien (namentlich des Hebräer-, des Nazarener- und des Ebioniten-Evangeliums) ein zusätzlicher Hinweis darauf gewesen, wie schwierig es ist, von den Faktoren hinter den sich trennenden Wegen überhaupt ein klares Bild zu gewinnen. Gab es tatsächlich noch so viele andere Evangelien? War das eine oder andere auf Hebräisch geschrieben, wie Eusebius und Hieronymus offenbar annahmen, und in welchem Verhältnis standen diese Evangelien zum Matthäusevangelium? In einer Vorlesungsreihe über »Juden und Christen« wären solche Fragen von entscheidender Wichtigkeit. Ebenso faszinierend ist die Frage nach der weiteren Geschichte des »Judenchristentums«. Der Umstand, dass »Judenchristentum« zu einer Bezeichnung für all das geworden ist, was der Lücke zwischen Christentum und Judentum zum Opfer gefallen ist, dass »jüdisch« und »häretisch« zu überlappenden Kategorien werden konnten, ist in einer Studie zu den Partings of the Ways eigener Überlegungen wert. An dieser Stelle kann ich mich eines Hieronymus-Zitats nicht erwehren (Ep. 112,13): »Was soll ich von den Ebioniten sagen, welche sich den Anschein geben, Christen zu sein? Noch heute besteht in allen Synagogen des Orients die jüdische Sekte der Minäer, besser bekannt unter dem Namen Nazaräer, welche von den Pharisäern bis zur Stunde verurteilt wird. Sie glauben an Jesus Christus, den Sohn Gottes, geboren aus Maria der Jungfrau. Er ist für sie derselbe, der unter Pontius Pilatus gelitten hat und von den Toten auferstanden ist, an den wir ja auch glauben. Aber da sie zugleich Juden und Christen sein wollen, sind sie weder Juden noch Christen.« 2 Das Buch enthält leider keine Bibliographie, auch keine weiterführenden Literaturhinweise. Zugleich ist die Breite der verwendeten und diskutierten Literatur eindrucksvoll. Verweise auf eigene Publikationen lassen erahnen, wie bewandert Tobias auf dem Terrain des 2. Jh. ist. Für jemanden wie mich, der ein intensives und anhaltendes Interesse an diesem Thema hat, war es ein wenig peinlich festzustellen, wie viele wichtige Studien ich für meine eigenen Forschungen außer Acht gelassen habe, und welche ich schlicht nicht kannte (was teilweise damit zusammenhängt, dass ich seit sechs Jahren fern einer führenden theologischen Fachbibliothek lebe). Andererseits fand ich auch einiges Wichtige bei Tobias nicht, etwa das von E.P. Sanders herausgegebene dreibändige Werk Jewish and Christian Self-Definition: The Shaping of Christianity in the Second and Third Centuries, 3 oder William Horburys Jews and Christians in Contact and Controversy, 4 oder auch The Non-Canonical Gospels, herausgegeben von Paul Foster. 5 Als Fazit bleibt, dass dieses kleine Buch einen exzellenten Forschungsbeitrag zum Christentum des 2. Jh. darstellt, zu seinem jüdischen Charakter und zu seinem Umgang mit seinem jüdischen Erbe. Denen, die besser verstehen wollen, warum sich zwischen Christen und Juden »die Wege getrennt haben«, sei das Buch, das sich als Lektüre für Anfänger wie auch für Fortgeschrittene gleichermaßen eignet, wärmstens empfohlen. Anmerkungen 1 Vgl. J. D. G. Dunn, The Partings of the Ways between Christianity and Judaism and their Significance for the Character of Christianity, London 2 2006. 2 Übersetzung: Des heiligen Kirchenvaters Eusebius Hieronymus ausgewählte Briefe. (Des heiligen Kirchenvaters Eusebius Hieronymus ausgewählte Schriften Bd. 2-3; BKV 2. 16 und 18) Kempten; München : J. Kösel : F. Pustet, 1936-1937, 447. 3 Vgl. E. P. Sanders, Jewish and Christian Self-Definition: The Shaping of Christianity in the Second and Third Centuries, Philadelphia 1980-82. 4 Vgl. W. Horbury, Jews and Christians in Contact and Controversy, Edinburgh 1998. 5 Vgl. P. Foster (Hg.), The Non-Canonical Gospels, London 2008. »Der Umstand, dass ›Judenchristentum‹ zu einer Bezeichnung für all das geworden ist, was der Lücke zwischen Christentum und Judentum zum Opfer gefallen ist, dass ›jüdisch‹ und ›häretisch‹ zu überlappenden Kategorien werden konnten, ist in einer Studie zu den Partings of the Ways eigener Überlegungen wert.« ZNT 37 (19. Jg. 2016) 53 Bevor ich zu den Gegensätzen zwischen meinem und Jim Dunn’s Ansatz zu Fragen des Zueinanders von »jüdisch« und »christlich« in der Antike zu sprechen komme, ist es vielleicht sinnvoll zu würdigen, dass es uns beiden, so wie ich Dunn’s Arbeiten verstehe, zunächst einmal im Grunde um das Gleiche geht. Zuallererst gilt es, eine das Verhältnis von Juden und Christen-- ich verwende jetzt bewusst beide Kategorien aus heutiger Sicht-- über Jahrhunderte bestimmende Vorstellung zu überwinden, die bereits (wohl) im frühen 2. Jahrhundert Ignatius von Antiochien folgendermaßen formulierte: »Es ist nicht am Platz, Jesus Christus zu sagen und jüdisch zu leben. Das Christentum ist nämlich nicht zum Glauben an das Judentum gekommen, sondern das Judentum zum Christentum, zu dem jede Zunge, die zum Glauben an Gott gekommen ist, gebracht wurde« (Magn. 8,3). Substitutionstheorien, d. h. Aussagen, dass das Judentum im Grunde durch das Christentum ersetzt, überholt oder überflüssig gemacht wurde und deswegen weder theologisch relevant für das Selbstverständnis des Christentums, noch ein echter Partner in der gemeinsamen Suche nach Gott sein kann, sind bis heute nicht überall ad acta gelegt. Vor allem sind es Bilder, die sich unserem Denken einprägen-- und die zu reflektieren deswegen besonders wichtig ist. Mir hat sich aus meiner Jugend bis hin zu meiner Zeit als Lehrer im Gymnasium das in Teilen kirchlicher Verkündigung noch lange präsente Bild eines Baumes eingeprägt, dessen einer Teil in voller Blüte steht, während der andere verdorrt ist. In diesem Bild- - man erahnt es- - repräsentieren die blühenden Teile des Baumes »das« Christentum, die verdorrten »das« Judentum. Auch wenn dieses Bild heute (hoffentlich) im Verschwinden begriffen ist, sind neue Bilder notwendig. Das Bild der »Trennung der Wege«-- vielleicht sogar entlang mehrerer Weggabelungen im Plural als »Partings of the Ways« formuliert-- bedeutet hier einen großen Schritt nach vorn, da es im Blick behält, dass es nach der Weggabelung für beide Seiten weitergeht, dass beide ein Gegenüber bilden, ihnen Wert, Bedeutung und Zukunft zukommt. Dass es im Gegenüber von »Juden« und »Christen« Trennprozesse gegeben hat, die historisch dazu geführt haben, dass »Judentum« und »Christentum« tatsächlich heute zwei verschiedene Religionsgemeinschaften bilden, streite ich nicht ab. Mit Jim Dunn verstehe ich diese Trennprozesse als nicht einfach an einem Punkt der Geschichte festzumachen, sondern als hoch komplex-- und würde sie eventuell zumindest an manchen Orten (z. B. Syrien) sehr spät und sehr offen verlaufend ansetzen. Dunn würde mir sicherlich auch in einem weiteren Punkt beistimmen: Bereits die Rede von »zwei« Religionsgemeinschaften, »Judentum« und »Christentum«, so wie sie schon Ignatius einander gegenüberstellt, entspricht natürlich nicht der Realität: Zu keinem Zeitpunkt der Geschichte-- von den frühesten Wurzeln der Jesusbewegung bis heute- - gab und gibt es einfach nur »ein« Christentum, das »einem« Judentum gegenübersteht. Gerade weil beide Seiten lebendig sind, sind sie vielfältig-- in Gruppen, Bewegungen, Richtungen, Konfessionen etc. differenziert. Deswegen lege ich zunächst großen Wert darauf, diese Vielfalt, die uns in den Quellen begegnet, ernst zu nehmen und nicht sofort Hauptströme und Randgruppen zu trennen, sondern als verschiedene Stimmen einer komplexen Wirklichkeit ernst zu nehmen. Auch hier sehe ich noch keine Differenz zwischen meiner Arbeit und dem Denken Dunns. Trotzdem reicht mir das Bild der »Partings of the Ways«, auch wenn es alte, gefährliche Bilder zu überwinden vermag und sicherlich entscheidende Aspekte der Wirklichkeit beschreibt, noch nicht aus. Die Bilder, die wir verwenden, bestimmen unseren Blick auf die Quellen und damit die Fragen, die wir an sie Tobias Nicklas Juden und Christen? Sollen wir weiter von den Wegen sprechen, die sich trennten? 1 Kontroverse »Zu keinem Zeitpunkt der Geschichte-- von den frühesten Wurzeln der Jesusbewegung bis heute - gab und gibt es einfach nur ›ein‹ Christentum, das ›einem‹ Judentum gegenübersteht.« »Die Bilder, die wir verwenden, bestimmen unseren Blick auf die Quellen und damit die Fragen, die wir an sie stellen.«