eJournals ZNT – Zeitschrift für Neues Testament 19/37

ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
2016
1937 Dronsch Strecker Vogel

Was ist Rabbinisches Judentum?

2016
Dagmar Börner-Klein
24 ZNT 37 (19. Jg. 2016) Zum Thema den frühen Christen und mit der sonstigen umgebenden Kultur zu finden. 7 Tatsache ist jedoch, dass jede einzelne rabbinische Schrift ohne diese Bezüge als eigenständige Textkomposition lesbar ist, die sich mit spezifisch rabbinischen Fragestellungen auseinandersetzt und mit rabbinischen Methoden konzipiert wurde. Jede Einzelschrift, d. h. jeder einzelne Traktat und jeder einzelne Midrasch, weist eine eigene Textkomposition auf, arbeitet mit eigenen sprachlichen Mustern und fokussiert bestimmte Themen. 8 Zur Beantwortung der themagebenden Frage »Was ist rabbinisches Judentum? « stehen uns zwei Wege offen: Wir können diese Frage literaturgeschichtlich angehen und die rabbinischen Schriften in der Reihenfolge ihrer Entstehung daraufhin untersuchen, welche Themen immer wiederkehren und das besondere Interesse der Rabbinen auf sich zogen. Wir würden diesen Weg mit den Traktaten der Mischna beginnen, dann zum Vergleich die Traktate der Tosefta heranziehen und in einem dritten Schritt die halachischen Midraschim, die hebräisch verfassten Kommentare zu Exodus, Leviticus, Numeri und Deuteronomium zu Rate ziehen. In einem weiteren Schritt würden wir den hebräisch-aramäisch verfassten Kommentar zur Genesis (Genesis Rabba) und die Kommentierung des palästinischen Talmud zur Mischna befragen, die aufgrund sprachlicher Indizien in das 5. Jh. unserer Zeitrechnung datiert werden. In einem weiteren Arbeitsgang würden wir das Kommentarwerk des babylonischen Talmud sichten. Das bis dahin zusammengetragene Material könnten wir sodann durch die übrigen Midraschim sowie durch die Kommentarliteratur des Mittelalters zu den rabbinischen Schriften ergänzen. Diese literaturgeschichtliche Betrachtungsweise, die die rabbinischen Schriften chronologisch nach ihrer Entstehungszeit ordnet, eröffnet einen Blick auf die Entstehungs- und Entwicklungsgeschichte rabbinischen Denkens. Ich wähle aber einen weniger aufwendigen Weg, der ebenso geeignet ist, uns einen lebendigen Eindruck dessen zu verschaffen, was rabbinisches Judentum ist. Ich greife exemplarisch zwei Schriften heraus, die ich auf ihre Hauptaussagen hin untersuche, und zwar anhand einiger ausgewählter Beispieltexte, damit Leserinnen und Leser, die mit dieser Literatur sonst gar nicht in Berührung kommen, aus den Texten selbst einen eigenen Eindruck gewinnen können. Zuerst stelle ich eine Schrift vor, die sich nicht nur-- wie die Traktate der Mischna es tun-- einem spezifischen Thema des rabbinischen Religionsgesetzes widmet, sondern sowohl Religion als auch Ethik des rabbinischen Judentums in den Blick nimmt. Es handelt sich um das »Seder Elijahu Rabba« (SER) geschildert, in denen sie sich bewähren. In erster Linie aber sind sie Repräsentanten ihrer Lehren. Auch die überlieferten Dialoge sind kaum Protokolle tatsächlicher Lehrgespräche von Angesicht zu Angesicht. Die zahlreichen Parallelüberlieferungen mit ihren größeren und kleineren Abweichungen lassen eher auf unterschiedliche literarische Traditionsprozesse schließen. In einem frühen Stadium waren die Rabbinen daran interessiert, das Zusammenleben der unterschiedlichen Gruppen in Israel zu organisieren. Wir wissen von Josephus und aus den Schriften des Neuen Testaments, dass es Pharisäer, Sadduzäer und Schriftgelehrte gab, die unterschiedliche politische und theologische Ansichten vertraten. Aus den Qumranschriften wissen wir außerdem, dass es noch andere Gruppierungen in Israel gab, die in den rabbinischen Schriften gar nicht erwähnt werden. Nur ganz am Rande erwähnen sie Gruppen Andersdenkender wie etwa die Boethusier, die wohl den Sadduzäern zuzurechnen sind. 5 Ansonsten gehen sie nur sehr allgemein auf die Frage ein, wie man sich vom Götzendienst fernhält, und wie man sich davor hüten kann, auf den falschen Weg zu geraten. Dazu gehört aus rabbinischer Sicht auch, sich nicht mit nichtbiblischen Schriften zu beschäftigen, vor allem, wenn sie in Griechisch geschrieben sind. 6 2. Die rabbinische Literatur Die Forschung hat in den letzten Jahren einige Anstrengungen unternommen, zwischen den Zeilen der rabbinischen Schriften Spuren der Auseinandersetzung mit Dagmar Börner-Klein, 1990 promoviert in Judaistik an der Universität Wien, 1996 habilitiert in Judaistik an der Universität zu Köln, ist Professorin für Jüdische Studien mit dem Schwerpunkt rabbinische Literatur an der Heinrich-Heine-Universität, Düsseldorf. Ihr derzeitiger Forschungsschwerpunkt ist der Jalkut Schimoni, ein Bibelkommentar zur gesamten hebräischen Bibel, zusammengestellt aus Lehren aus Talmud und Midrasch. Prof. Dr. Dagmar Börner- Klein ZNT 37 (19. Jg. 2016) 25 Dagmar Börner-Klein Was ist Rabbinisches Judentum? auch »Tanna debe-Elijahu« genannt. Dieses Werk aus dem 8. Jh. unserer Zeitrechnung wird bereits der Autorenliteratur zugordnet, wenngleich der Verfasser anonym bleibt. Das Buch war weit verbreitet und in regem Gebrauch und weist daher eine lebhafte Texttradition auf, auf die wir hier nicht einzugehen brauchen. 2.1 Das rabbinische Judentum nach Seder Elijahu Rabba (SER) In der Einleitung zu ihrer englischen Übersetzung des Werkes geben William G. (Gershon Zev) Braude und Israel J. Kapstein 9 die folgende zusammenfassende Einleitung zu SER: 10 Der Leser wird schnell […] die grundlegenden Lehren des Judentums erkennen: Gott ist einzig, der Schöpfer und Erhalter der Welt, dessen Wort, die Tora, solange als Leitlinie für Israel dienen soll, bis der Messias erscheinen wird, um die immerwährende Gottesherrschaft in der kommenden Welt beginnen zu lassen. Im Einklang mit diesem Summarium-- interessant ist übrigens das skizzierte Verhältnis von Tora und Messias-- präsentiere ich im Folgenden einige Abschnitte, die die Eigenart des rabbinischen Judentums deutlich herausstellen. Dabei spielt die Erwählung Israels vor den anderen Völkern der Welt durch Gott, die durch das Annehmen der Gebote der Tora besiegelt wird, eine entscheidende Rolle. 2.1.1 Die Bedeutung der Tora für Israel Die Bedeutung der Tora für Israel wird insbesondere in einem Abschnitt aus dem vierten Kapitel 11 deutlich. Dort wird der Gelehrte in Israel beschrieben, wie er darum bemüht ist, die Tora, das Wort Gottes zu studieren und auszulegen. Mit seiner Gelehrsamkeit bringt er Ruhm und Ehre über Jerusalem, in dem einst der Tempel stand, auf dem Gottes Gegenwart ruhte. Er ehrt mit seinem Studium aber auch das Lehrhaus, das ihn in die Traditionskette von Gelehrten einreiht, die, seit Mose die Tora am Sinai vermittelt wurde, die Lehren der Tora von Generation zu Generation weiterreichen. So bezieht SER die Worte aus Jes 63,11 vom Ruhen des Geistes Gottes auf den Gelehrten: Auf ihm, der die Tora studiert, ruht der Geist. Studiert er die Tora, gibt Gott seinen Geist »in ihn«. Diese Formulierung lautet im Hebräischen wörtlich »in seine Mitte« (b e qirbo). Auch im Hebräischen gäbe es hierfür einfachere Formulierungen, eine Textbeobachtung, die das gelehrte Interesse der Rabbinen auf sich zieht: Birgt die aufwändigere Formulierung einen tieferen Sinn? Das Wort b e qirbo wird jedenfalls einer eigenen Auslegung unterzogen: Durch das Vertauschen der beiden letzten Buchstaben liest er aus dem Wort heraus, dass Gott »bald« (b e qaroḇ) für Israel Erlösung erwirkt, wenn die Gelehrten sich voll und ganz mit dem Studium der Tora beschäftigen. Der Abschnitt in SER lautet: [Und ebenso] jeder einzelne Weise aus Israel, in dem wahrhaftig die Worte der Tora sind, der seufzt um Willen der Ehre des Heiligen, gepriesen sei er, und um Willen der Ehre Israels, all seine Tage. Und der begehrt und ersehnt und Ausschau hält nach der [Wiederherstellung der] Ehre Jerusalems und nach der Ehre des Lehrhauses und auf Erlösung, die du bald ( b e qaroḇ ) hervorbringst, und auf die Versammlung der in der Zerstreuung Lebenden. Der Geist des Heiligen ist in seinen Worten. [Denn es heißt: ] Der den Geist seines Heiligen in ihn ( b e qirbo ) gab. (Jes 63,11) Von hier sagten sie: Jeder Schüler eines Weisen, der sich beständig den ganzen Tag lang mit der Tora beschäftigt, um die Ehre des Himmels zu mehren, bedarf keines Schwertes, noch einer Lanze, noch eines Speeres, denn der Heilige, gepriesen sei er, bewacht ihn selbst. Und seine Dienstengel stehen um ihn herum, sie alle mit Schwertern in der Hand. [Und sie bewachen] ihn, denn es heißt: Gottes Erhebung ist in ihrer Kehle und zweischneidiges Schwert in ihren Händen. (Ps 149,6) Ganz nebenbei wirft dieser Text ein kleines Licht darauf, dass es in der Welt der Rabbinen beileibe nicht nur die Tora gab, sondern etwa auch Engel, die die Rabbinen beim Torastudium beschützen. Schon das Judentum des zweiten Tempels kannte eine ausgeprägte Engellehre. 2.1.2 Gottes Erwählung von Israel SER 6 (7) hebt hervor, dass Gott zu Israel ein besonderes Verhältnis pflegt. Um dies zu verdeutlichen, benutzt der anonyme Autor die Midraschform, d. h. er legt einen Vers der hebräischen Bibel aus, in diesem Fall Hld 1,4 »Zieh mich hinter dir her, wir wollen laufen«: 12 Hld 1,4 Zieh mich hinter dir her, wir wollen laufen. Dies ist die Gemeinde Israels, die gezogen wird und hinter ihrem Herrn herläuft, denn es heißt: Aus der Ferne ist mir JHWH erschienen und mit ewiger Liebe habe ich dich geliebt, daher habe ich dich gnadenvoll gezogen. (Jer 31,3) Es heißt nicht »mit viel Liebe« sondern »[mit] ewiger Liebe«. 26 ZNT 37 (19. Jg. 2016) Zum Thema Vielleicht sagst du, die Liebe, mit der der Heilige, gepriesen sei er, liebt, ist eine von drei Jahren oder eine Liebe von zehn Jahren oder eine Liebe von hundert Jahren. Sie ist nichts anderes als eine Liebe auf alle Ewigkeiten, denn es heißt: Mit ewiger Liebe habe ich dich geliebt. (Jer 31,3) Dass dieses Lieben aber mit einer verantwortlichen Lebenspraxis einhergeht, verdeutlicht SER in Kapitel 7: 13 Daher lieben dich Welten (olamot). 14 (Hld 1,2) Liest ein Mensch [Bibel] und lernt nicht [Mischna], steht er noch außerhalb [der rabbinischen Tradition]. Lernt er, liest aber nicht, steht er noch außerhalb. Liest er und lernt er, dient aber nicht den Weisen, gleicht er jemandem, dem die Worte der Tora [aus dem Gedächtnis] entschwinden ( nä´älmu ), denn es heißt: Nachdem ich zurückgekehrt bin, habe ich bereut. (Jer 31,19) Liest aber ein Mensch Tora, Propheten und Schriftwerke und lernt Mischna, Midrasch, Halachot und Aggadot 15 und dient den Weisen, selbst, wenn er um deinetwillen stirbt, selbst, wenn er um deinetwillen getötet wird, so ist er in Freude für ewig (l e olam). Daher ist gesagt: Daher lieben dich Verewigte (olamot). (Hld 1,2) Ich habe in dem zitierten Textstück bei einigen Wörtern das entsprechende hebräische Wort hinzugesetzt. Es handelt sich um wichtige Bezugswörter, die im Hebräischen ähnlich klingen und durch diese Klangähnlichkeit Querbezüge zwischen entlegenen Bibelstellen schaffen. Das ist wichtig, um zu verstehen, wie Hld 1,2 ausgelegt wird: Der Vers müsste nach der geltenden Vokalisierung übersetzt werden mit: Darum lieben dich Mädchen (alamot). Der Ausleger liest nun nicht »alamot«, sondern »olamot« (»Welten«) und spielt im Folgenden mit der Klangähnlichkeit dieser und anderer Wörter. Da uns nur eine Welt bekannt ist, muss geklärt werden, was der Plural olamot bedeutet. Da es im rabbinischen Hebräischen ein Verb gibt, das ähnlich klingt, wird zunächt erklärt, dass demjenigen die Worte der Tora »entschwinden« (nä´älmu), der zwar lernt, aber nicht den Weisen dient. Dann wird betont, dass, wenn jemand die Tora und die rabbinischen Schriften lernt, die Freude »ewig« ist, was im Hebräischen mit l e olam wieder eine Klangähnlichkeit zu olamot aufweist. Die Bedeutungsvariante, die von l e olam (»ewig«) herzuleiten ist, wird wiederum auf olamot in Hld 1,2 übertragen. »Olamot« sind dann die »Verewigten«, diejenigen, die sich mit dem Studium der rabbinischen Schriften die Ewigkeit erworben haben. An diesem Textbeispiel wird ein zentrales Merkmal rabbinischer Hermeneutik anschaulich: Die biblischen Texte werden dadurch in ihrer Tiefe erschlossen, dass zwischen Bibelstellen unterschiedlicher biblischer Bücher, die auf den ersten Blick überhaupt nichts miteinander zu tun haben, durch Stichwortassoziationen Bezüge hergestellt werden und einander gegenseitig erklären. 2.1.3 Erwählung verpflichtet: Gerechtigkeit, Wohltätigkeit, Beschneidung Aber nicht nur das Studium der rabbinischen Schriften, sondern auch Gerechtigkeit und Wohltätigkeit, die ein Mensch seinen Mitmenschen erweist, ist im rabbinischen Judentum von zentraler Bedeutung. In Kapitel (10) 11 16 wird in SER die Geschichte von zwei Priesterfamilien erzählt, die ratsuchend vor Rabban Jochanan ben Sakkai treten und zu ihm sagen: »Meister, unsere Söhne sterben alle im Alter von achtzehn, fünfzehn und zwölf Jahren.« Woraufhin Jochanan ben Sakkai zu ihnen sagte: »Ein solcher vorzeitiger Tod kann nur bedeuten, dass ihr Nachkommen von Eli seid, über den in 1. Sam 2,33 die Verwünschung ausgesprochen wurde, dass alle Nachkommen seines Hauses in jungen Jahren sterben sollen.« Die Frage, was dagegen zu tun sei, beantwortet ben Sakkai dann folgendermaßen: »Wenn ein Sohn die Pubertät erreicht, soll sein Wert in Gütern und Geld abgewogen und alles für wohltätige Zwecke gestiftet werden, da es in Prov 10,2 heiße: »Wohltätigkeit errettet vom Tode«. Die Familien verfuhren nach diesem Rat und konnten sich so vor dem Tode retten. Kapitel (13) 14 enthält einen Katalog dessen, was Gott von den Menschen erwartet. Maßgeblich ist hierbei Ps 15,2-5: 1) Untadelig zu wandeln und 2) Recht zu üben und 3) mit Herzen die Wahrheit zu sprechen,-4) niemanden zu verleumden, 5) seinem Nächsten nichts Böses zuzufügen und 6) gegen Verwandte keine Schmähungen zu erheben. 7) Ein Verächtlicher soll einem nicht wichtig sein, 8) man solle den Ewigen fürchten. 9) Man schwört zum Schaden [des Schuldigen] 17 und verändert es nicht, 10) man gibt sein Geld nicht auf Zins und 11) nimmt keine Bestechung gegen den Unschuldigen an. Kapitel 18 ergänzt weitere Hinweise zum richtigen Verhalten: 18 Stets soll ein Mann zuvorkommend in seinem Auftreten sein, bescheiden (fromm, »chassid«) beim Hinsetzen (d. h. er soll lieber den Stuhl als den Sessel wählen) und umsichtig in Bezug auf die Gottesfurcht. Er soll den Frieden mit seinen Geschwistern, seinem Vater und seiner Mutter pflegen, ebenso mit seinem Lehrer, der ihm die Bibel gelehrt hat, und mit seinem Lehrer, der ihm die Mischna gelehrt hat. Ja, er soll sogar mit jedem Menschen in der Welt in Frieden leben. Er ZNT 37 (19. Jg. 2016) 27 Dagmar Börner-Klein Was ist Rabbinisches Judentum? sei ein Mann, der die Wahrheit anerkennt und das sagt, was in Wahrheit in seinem Herzen ist, denn »eine milde Antwort, wendet den Zorn ab.« (Prov 15,1) SER betont in Kapitel (24) 22 außerdem, dass der Bund der Beschneidung eingehalten werden muss. 19 In Kapitel (26) 24 wird hervorgehoben, dass es selbstverständlich auch darum geht, die Gebote einzuhalten, 20 und Kapitel (28) 26 stellt heraus, wie wichtig es ist, Gott zu lieben. Das zeigt sich darin, dass man diese Liebe auch nach außen zeigt. Man spricht daher das »Höre Israel« 21 nicht leise, sondern vernehmlich. 22 Außerdem verhält sich ein Tora-Gelehrter so, dass sein Gott und den Menschen wohlgefälliges Verhalten stets sichtbar ist. Diese hier zur Sprache gebrachten ethisch-moralischen Aspekte sind in SER eingebettet in eine Auslegung der Geschichte Gottes mit Israel. Geschichten zu erzählen, um den Leser aufzubauen und ihn zu belehren, ist überhaupt ein weiteres wichtiges Element des rabbinischen Judentums, das ich nun anhand eines Beispiels einer zweiten rabbinischen Schrift vorstellen will. Ich wähle dazu den Traktat Berachot des babylonischen Talmud. 2.2 Der babylonische Talmud, Traktat Berakhot Die folgende Geschichte (Ber 5b) handelt von einem finanziellen Schicksalsschlag und der Frage, ob dieser etwa als ein Fingerzeig Gottes zu verstehen sei: 23 R. Hona wurden vierhundert Fässer Wein sauer. Da besuchte ihn R. Jehuda, Bruder R. Sala des Frommen und die Rabbanan 24 , manche sagen, R. Ada b. Ahaba und die Rabbanan, und sie sprachen zu ihm: Möge der Meister seine Taten prüfen. Er erwiderte ihnen: Bin ich in euren Augen verdächtig [etwas falsch gemacht zu haben und dafür von Gott bestraft zu werden]? Sie entgegneten: Ist denn etwa der Heilige, gepriesen sei er, verdächtig, eine Strafe ohne Recht zu verhängen? Da erwiderte er ihnen: Wenn jemand etwas über mich gehört [hat], so möge er es sagen. Da sprachen sie zu ihm: Dies haben wir gehört, der Meister gäbe seinem Gärtner keine Weinranken [als Geschenk für seine Arbeit im Garten]. Er erwiderte ihnen: Lässt er mir etwa davon etwas übrig, er stiehlt sie mir ja alle. Da sprachen sie zu ihm: Das ist es, was die Leute sagen: Stiehl vom Dieb, und du empfindest den Geschmack. Daraufhin sprach er zu ihnen: Ich nehme [die Verpflichtung] auf mich, sie ihm zu geben. Manche sagen, der Essig wurde wieder Wein, und mache sagen, der Essig wurde so teuer, dass er zum Weinpreis verkauft wurde. Rab Hona hat hier das Problem, dass er seinen Gärtner verdächtigt, ihn zu bestehlen. Das Sprichwort, das geboten wird, um den Sachverhalt auf den Punkt zu bringen, sagt, dass Hona nicht besser ist als der Gärtner, den er verdächtigt, ein Dieb zu sein. Dem Verdacht müsste er nämlich nachgehen und den Gärtner zur Rede stellen, damit der Verdacht aufgelöst wird. Tut Hona das nicht, nutzt er diese Situation aus, um den Gärtner vielleicht zu Unrecht verdächtigen zu können, um ihm keine Weinranken, also kein Trinkgeld für seine Dienste, geben zu müssen. Dafür wird er bestraft, sein Wein wird zu Essig. Erst als er den Gärtner angemessen behandelt, sind seine Geschäfte wieder erfolgreich. Der Epilog dieser kleinen Geschichte, der davon handelt, wie R. Honas Eingeständnis und seine Verhaltensänderung gegenüber dem Gärtner belohnt wurden, ist im Übrigen nicht ohne Humor: Die Wege, den strafhalber erlittenen Wertverlust wieder auszugleichen, sind wunderbar: Die wundersame Rückverwandlung des Essigs in Wein und die wundersame Preissteigerung des Essigs erfüllen beide denselben Zweck. 2.2.1 Gebete und Segen Neben dem narrativen Aspekt der rabbinischen Literatur gibt der Traktat Berachot auch eine reiche Anschauung von Gebets- und Segenstexten, die wesentlich zur rabbinischen Lebensweise und Gottesverehrung dazugehören. Einen Einblick in den von Gebet geprägten Tagesablauf der rabbinischen Gelehrten in talmudischer Zeit-- und davon, wie alles im gelehrten Disput in der Länge und Breite verhandelt wurde-- gibt Ber 11b: Rabbi Jehuda sagte im Namen Samuels: Wer früh aufsteht, um zu lernen, muss, bevor er das »Höre Israel« 25 spricht, den Segensspruch [»mit großer Liebe«] 26 sprechen und, nachdem er das »Höre Israel« gesprochen hat, muss er keinen [Segensspruch] sprechen, denn er ist bereits durch »mit großer Liebe« davon befreit. R. Hona sagte: Zum [Studium der] Bibel muss man einen Segensspruch sprechen, zum [Studium] des Midrasch braucht man keinen zu sprechen. Rabbi Eleasar sagte: Zum [Studium] der Bibel und des Midrasch muss man einen Segensspruch sprechen, zum [Studium] der Mischna braucht man keinen zu sprechen. »Geschichten zu erzählen, um den Leser aufzubauen und ihn zu belehren, ist [...] ein [...] wichtiges Element des rabbinischen Judentums.« 28 ZNT 37 (19. Jg. 2016) Zum Thema Und R. Jochanan sagte: Auch zum Studium der Mischna muss man einen Segensspruch sprechen [aber man braucht keinen zum Studium des Talmud zu sprechen]. Und Rabba sagte: Auch zum [Studium] des Talmud muss [man einen Segensspruch sprechen], denn Rab Chijja bar Aschi sagte: Zeitweise stand ich vor Rab, um Abschnitte aus dem [Buch] Sifra 27 der Schule Rabs zu lernen. Er wusch zuerst seine Hände, sprach einen Segensspruch und lehrte uns [dann] einen Abschnitt. Wie lautet der Segensspruch? Rab Jehuda sagte im Namen von Samuel: Der uns durch seine Gebote geheiligt und uns befohlen hat, uns mit den Worten der Tora zu befassen. R. Jochanan beendete ihn so: Lass angenehm sein, oh Herr, unser Gott, die Worte deiner Tora in unserem Munde, sowie in dem Munde deines Volkes, des Hauses Israel. Mögen wir alle, unsere Nachkommen und die Nachkommen deines Volkes, des Hauses Israel, deinen Namen erkennen und uns mit deiner Tora befassen. Gepriesen seist du, o Herr, der sein Volk Israel die Tora lehrt. Rab Hamnuna sagte: Der uns von allen Völkern erwählt und uns seine Tora gegeben hat. Gepriesen seist du, o Herr, der du die Tora gegeben hast. Rab Hamnuna sagte: Dieser ist der beste unter den Segenssprüchen. Daher sage man sie alle. Dieses Textbeispiel veranschaulicht ein weiteres wichtiges Merkmal der rabbinischen Literatur: Eine normative Lehrentscheidung sucht man hier vergeblich. Vielmehr werden einfach Lehrmeinungen mehrerer Rabbinen nebeneinander gestellt. Man kann diese Eigenheit der rabbinischen Texte durchaus »undogmatisch« nennen: Auch in einer solch wichtigen Frage, zu welchen Gelegenheiten Gott wie gelobt werden soll, geht es offenbar nicht um verbindliche Festlegungen, sondern um eine Sammlung möglicher Auffassungen und Verfahrensweisen. So gesehen hat der rabbinische Diskurs den Charakter eines unabgeschlossenen Lehrgesprächs, das bis heute andauert. Der folgende Abschnitt Ber 16b leitet die Schlusskommentierung zum zweiten Kapitel von Berachot ein (Ber 16b-17a): Wenn R. Eleasar sein Gebet beendete, pflegte er folgendes zu sagen: Möge es dein Wille sein, oh Herr, unser Gott, dass du uns in unserem Schicksal Liebe, Brüderschaft, Frieden und Freundschaft angedeihen lassest, dass du unsere Grenze mit Schülern erweiterst, dass du unser Ende mit Erfolg und Hoffnung gelingen lassest, dass du unseren Anteil in den Garten Eden setzest, dass du uns in deiner Welt mit guten Sitten und mit gutem Trieb ausrüstest, dass wir auferstehen und das Verlangen unseres Herzens finden, deinen Namen zu fürchten, und dass vor dich unser Seelenwunsch zum Guten komme. In der rabbinischen Überlieferung, in der der Text zunächst ohne Satzzeichen fortlaufend geschrieben wurde, werden größere Sinneinheiten häufig durchstrukturiert, indem Dreier-, Neuner- Zehner- oder Zwölferreihen von ähnlichen Beispielen zusammengestellt werden. Diese Beispielketten dienen dazu, den Anfang oder das Ende von Sinneinheiten inhaltlich zu kennzeichnen. Der obige Abschnitt, wie Gebete beendet werden, bildet den ersten Abschnitt in folgender Zehnerreihe: 2 Wenn R. Jochanan sein Gebet beendete, pflegte er folgendes zu sagen: Möge es dein Wille sein, oh Herr, unser Gott, dass du auf unsere Schmach blickest und auf unser Elend schaust, dass du dich mit deiner Barmherzigkeit bekleidest und mit deiner Macht bedeckst, dich in deine Liebe hüllst und mit deiner Gnade umgürtest. So möge doch deine Eigenschaft der Güte und der Sanftmut vor dich treten. 3 Wenn R. Zera sein Gebet beendete, pflegte er folgendes zu sagen: Möge es dein Wille sein, oh Herr, unser Gott, dass wir nicht sündigen und uns nicht vor unseren Vätern schämen und zu Schanden werden. 4 R. Chijja pflegte, nachdem er gebetet hatte, folgendes zu sagen: Möge es dein Wille sein, oh Herr, unser Gott, dass deine Tora unsere Beschäftigung sei, und dass unser Herz nicht betrübt und unsere Augen nicht verdunkelt werden. 5 Rab pflegte nach seinem Gebet folgendes zu sagen: Möge es dein Wille sein, oh Herr, unser Gott, dass du uns ein langes Lebens gibst, ein Leben des Friedens, ein Leben der Güte, ein Leben des Segens, ein Leben des Erwerbs, ein Leben der Körperkraft, ein Leben, in dem Sündenscheu sei, ein Leben ohne Schande und Schmach, ein Leben des Reichtums und der Ehre, ein Leben, in dem die Liebe zur Tora und Gottesfurcht in uns sei, ein Leben, in dem du uns alle unsere Herzenswünsche zum Guten erfüllst. »[D]er rabbinische Diskurs [hat] den Charakter eines unabgeschlossenen Lehrgesprächs, das bis heute andauert.« ZNT 37 (19. Jg. 2016) 29 Dagmar Börner-Klein Was ist Rabbinisches Judentum? 6 Rabbi pflegte nach seinem Gebet folgendes zu sagen: Möge es dein Wille sein, oh Herr, unser Gott und Gott unserer Väter, dass du mich schützest vor Frechlingen und vor Frechheit, vor einem bösen Menschen und einem bösen Ereignis, vor dem bösen Trieb, vor schlechtem Umgang, vor einem bösen Nachbarn, vor dem verderblichen Satan, vor strengem Gericht, und vor einem hartherzigen Prozessgegner, sei er Glaubensgefährte oder sei er kein Glaubensgefährte.-- Obgleich Rabbi von Bedienten umgeben war. 7 R. Safra pflegte nach seinem Gebet folgendes zu sagen: Möge es dein Wille sein, oh Herr, unser Gott, dass du Frieden stiftest in der oberen und in der unteren Familie, und unter den Schülern, die sich mit deiner Tora befassen, sei es, dass sie es um ihrer selbst willen tun, sei es, dass sie es nicht um ihrer selbst willen tun. Alle aber, die sich damit nicht um ihrer selbst willen befassen, mögen, so sei es dein Wille, sich damit um ihrer selbst willen befassen. 8 R. Alexandri pflegte nach seinem Gebet folgendes zu sagen: Möge es dein Wille sein, oh Herr, unser Gott, dass du uns in eine Ecke des Lichts stellst und nicht in eine Ecke der Finsternis, dass unser Herz nicht betrübt und unsere Augen nicht verdunkelt werden. Manche sagen: Dies pflegte R. Hamnuna zu sagen, R. Alexandri aber pflegte, nachdem er gebetet hatte, folgendes zu sagen: Herr des Weltalls, offen und bekannt ist es vor dir, dass es unser Wille ist, deinen Willen zu vollziehen, doch verhindert dies nichts anderes als das Saure im Teig und die Knechtschaft der Regierung. Möge es dein Wille sein, dass du sie vor und hinter uns wirfst, und dass wir zurückkehren, die Gesetze deines Willens mit ganzem Herzen auszuüben. 9 Raba pflegte nach seinem Gebet folgendes zu sagen: Mein Gott, bevor ich gebildet wurde, war ich nichts wert, und auch jetzt, da ich gebildet worden bin, ist es ebenso als wäre ich nicht gebildet worden. Staub bin ich in meinem Leben, umso mehr nach meinem Tode. Siehe, ich bin vor dir wie ein Gefäß voll Scham und Schmach. Möge es dein Wille sein, oh Herr, mein Gott, dass ich nimmer sündige. Was ich aber vor dir gesündigt habe, spüle weg mit deiner großen Barmherzigkeit, jedoch nicht durch Züchtigungen und böse Krankheiten. Dies war auch das Sündenbekenntnis von R. Hamnuna, des jüngeren, am Versöhnungstag. 10 Wenn Mar, der Sohn Rabinas, sein Gebet beendet hatte, pflegte er folgendes zu sagen: Mein Gott, bewahre meine Zunge vor Bösem, meine Lippen vor trügerischem Reden. Denen, die mir fluchen, schweige meine Seele, und wie Staub sei meine Seele gegen jedermann. Öffne mein Herz für deine Lehre, und deinen Geboten jage meine Seele nach. Beschütze mich vor einem bösen Ereignis, vor dem bösen Trieb, vor einer bösen Frau und vor allem Übel, das in die Welt zu kommen sich drängt. Der Rat derer, die wider mich Böses sinnen, vereitle schnell, und ihre Anschläge zerstöre. Mögen zum Wohlgefallen sein die Worte meines Mundes und die Gedanken meines Herzens vor dir, oh Herr, mein Fels und Erlöser. Zu dieser Sammlung von Schlussgebeten nur einige wenige Anmerkungen: In Abschnitt 2 treten Eigenschaften Gottes (Güte und Sanftmut) wie Personen vor Gott hin, und zwar wohl in anwaltlicher Funktion: Beide Eigenschaften Gottes sind »vor« Gott Anwältinnen der Menschen. In Abschnitt 7 geht es einmal mehr um die Engel: Sie sind die »obere Familie«, die in der »unteren Familie«, den Menschen, ihr irdisches Gegenstück hat. Beide sollen friedlich sein, und das heißt auch: Die Engel sollen Frieden mit den Menschen halten. Hier schimmert der Gedanke durch, dass es auch Rivalität zwischen Menschen und Engeln gibt, ein Gedanke, der schon im vorrabbinischen Judentum belegt ist. 28 In Abschnitt 8 gibt es ein Zuschreibungsproblem, aber auch hier werden unterschiedliche Meinungen nur wiedergegeben, nicht entschieden. Im zweiten R. Alexandri zugeschriebenen Gebet ist das, was das Leben sauer macht, der Alltag. Er hält die Gelehrten vom Studium ebenso ab wie die »Knechtschft der Regierung«, die Tatsache, dass man weltliche Gesetze zu befolgen und Steuerabgaben zu leisten hat. Der Gelehrte möchte daher unter Gottes Regentschaft leben, in der er sich ausschließlich den Gesetzen der Tora widmen kann. Es schließt sich ein Gebet Rab Scheschets an, das er nach jedem Fasten zu sprechen pflegte und ein Gebet Rabbi Jochanans, das er sprach, als er das Studium des Buches Hiob beendet hatte. Darauf folgen diese vier ethischen Lehrsprüche: 1 Ein Lieblingsspruch im Munde der Rabbinen von Jabne war: Ich bin ein Geschöpf und mein Nächster ist ein Geschöpf. Meine Arbeit ist in der Stadt und seine Arbeit ist auf dem Feld. Ich stehe morgens zu meiner Arbeit auf, und er steht morgens zu seiner Arbeit auf. Wie er sich nun nicht anmaßt, meine Arbeit zu tun, maße auch ich mir nicht an, seine Arbeit zu tun. »Beide Eigenschaften Gottes [Güte und Sanftmut] sind ›vor‹ Gott Anwältinnen der Menschen.« 30 ZNT 37 (19. Jg. 2016) Zum Thema Und sage nicht: Ich tue viel und er tut wenig. Einerlei, ob einer viel oder wenig tut, solange er dabei nur sein Herz auf Gott richtet. 2 Ein Lieblingsspruch war im Munde Abbajes: Stets sei der Mensch klug in der Gottesfurcht. Eine sanfte Antwort stillt den Zorn. Man mehre den Frieden mit seinen Brüdern, mit seinen Verwandten und mit jedermann, selbst mit einem Nichtjuden auf der Straße, damit man droben beliebt und hienieden gewogen sei und wohlgelitten unter den Menschen. Man erzählte von Rabbi Jochanan ben Sakkai, dass ihm niemals jemand mit einem Gruß zuvorgekommen sei, nicht einmal ein Nichtjude auf der Straße. 3 Ein Lieblingsspruch war im Munde Rabbas: Der Endzweck der Weisheit ist Umkehr [vom falschen Weg] und gute Werke, dass der Mensch nicht lese und lerne, sich dann aber gegen Vater und Mutter auflehne, gegen seine Lehrer und gegen den, der größer als er ist in Weisheit und Zahl. So heißt es: Der Weisheit Anfang ist die Gottesfurcht, ein gutes Ansehen für alle, die sie ausüben. (Ps 111,10) Es heißt nicht »lernen«, sondern »ausüben«. Nur denen, die sie um ihrer selbst willen ausüben, nicht aber denen, die sie nicht um ihrer selbst willen ausüben. Für jeden aber, der sie nicht um ihrer selbst willen ausübt, wäre es besser, er wäre nicht erschaffen worden. 4 Ein Lieblingsspruch war im Munde Rabs: In der zukünftigen Welt gibt es weder Essen noch Trinken, noch Fortpflanzung und Vermehrung, noch Kauf und Verkauf, noch Neid, Hass und Streit. Vielmehr sitzen die Gerechten mit ihren Kronen auf ihren Häuptern und erfreuen sich an dem Glanze der Göttlichkeit, denn es heißt: Sie schauten Gott und aßen und tranken. (Ex 24,11) Im Blick auf die strenge Auffassung in Abschnitt 3 (Wer die Gottesfurcht »nicht um ihrer selbst willen« ausübt, wäre besser nicht erschaffen worden) ist Ber 16b-17a Abschnitt 7 zu vergleichen. Hier wird immerhin für diejenigen, die die Tora »nicht um ihrer selbst willen« studieren, gebetet, dass sie es doch tun mögen. Als fünfter Abschnitt folgt ein Passus über das Verdienst der Frauen: Größer ist das Versprechen, das der Heilige, gepriesen sei er, den Frauen gegeben hat, als das, das er den Männern gegeben hat, denn es heißt: Stehet auf, sorglose Frauen, höret auf meine Stimme; ihr zuversichtlichen Töchter, horchet auf meine Rede. (Jes 32,9) Rab sagte zu R. Chijja: Wodurch erwerben Frauen Verdienst? Dadurch, dass sie ihre Kinder im Bethaus unterrichten lassen, ihre Männer im Lehrhaus lernen lassen und auf ihre Männer warten, bis sie aus dem Lehrhause heimkehren. Zu Mischna Berachot 3,3 (Frauen, Sklaven und Minderjährige sind vom Lesen des »Höre Israel« und den Gebetsriemen befreit) erklärt der Talmud dann später in Ber 20b, dass Frauen von allen Geboten befreit sind, die von der Ausübung an eine bestimmte Zeit gebunden sind. 29 Den kritischen feministischen Blick auf Texte, in denen Frauen vorkommen-- oder eben nicht vorkommen! -- gibt es selbstredend längst auch im Judentum, entsprechend der feministischen Theologie in der Bibelexegese bzw. im Christentum überhaupt. Die Textprobe, die ich hier biete, ist aus einer emanzipierten Sicht zwiespältig: Einerseits gelten mit Verweis auf Jes 32,9 Frauen als religiös in besonderer Weise ausgezeichnet; andererseits ist von einem »Verdienst« die Rede, das sie sich dadurch erwerben, dass sie ihre Männer darin unterstützen, sich der Lehre widmen zu können. 2.2.2 Ber 27b: Diskussion um das Abendgebet Dass das rabbinische Judentum gewissermaßen aus vielen einzelnen Mosaiksteinen besteht, die zu einem stimmigen Bild erst geformt werden mussten, bezeugt die nachfolgende lange Diskussion zu der Frage, ob für das Abendgebet eine feste Zeit vorgeschrieben sei oder nicht. Nach Ber 27b entwickelte sich über dieser Frage eine Kontroverse, in deren Folge das Oberhaupt des Lehrhauses abgesetzt wurde: Rabbi Jehuda sagte im Namen Samuels: Das Abendgebet ist, wie Rabban Gamliel sagte, Pflicht, und wie Rabbi Jehoschua sagte: Freigestellt. Die Halacha 30 ist wie derjenige, der »es ist Pflicht« sagt. Rab sagt, die Halacha ist wie derjenige, der »es ist freigestellt« sagt. Die Rabbanan lehrten: Einst trat ein Schüler vor Rabbi Jehoschua und fragte ihn: Ist das Abendgebet freigestellt oder Pflicht? Er antwortete: Freigestellt. Hierauf kam er vor Rabban Gamliel und fragte ihn: Ist das Abendgebet freigestellt oder Pflicht? Er erwiderte: Pflicht. [Der Schüler sagte: ] Rabbi Jehoschua sagte mir aber, es ist freigestellt. Dieser sagte: Warte, bis die Gelehrten 31 in das Lehrhaus kommen[, dann werden sie das Problem lösen]. Als die Gelehrten kamen, stellte sich der Fragesteller hin und fragte: Ist das Abendgebet freigestellt oder Pflicht? Rabban Gamliel sagte: Pflicht. ZNT 37 (19. Jg. 2016) 31 Dagmar Börner-Klein Was ist Rabbinisches Judentum? Dann sagte Rabban Gamliel zu den Weisen: Gibt es jemanden, der dies bestreitet? Rabbi Jehoschua sagte zu ihm: Nein. Jener sagte: Man sagte mir ja in deinem Namen, es sei freigestellt! Daraufhin sagte [Gamliel]: Jehoschua, steh auf, damit du verwarnt wirst. Da stand R. Jehoschua auf und sagte: Wäre ich lebendig und er tot, könnte der Lebende dem Toten widersprechen. Nun aber, da ich lebe und er ebenfalls lebt, wie kann der Lebende dem Lebenden widersprechen! ? 32 R. Gamliel saß und trug vor, während R. Jehoschua auf seinen Füßen stand, 33 bis das Volk sich anfing zu beschweren und dem Übersetzer Chutzpit zurief: Steh auf! -- Da stand er auf. [Das Volk] sagte: Wie lange noch will er fortfahren, ihn zu quälen! ? Wegen des Neujahres quälte er ihn im Vorjahr, 34 wegen der Erstgeburt beim Ereignis mit R. Zadok quälte er ihn, 35 und jetzt quält er ihn wieder. Wir wollen ihn [als Schuloberhaupt] absetzten! Wen aber setzen wir ein? Es wird dann erzählt, dass man Eleasar ben Asarja auswählte, weil er weise, reich und in zehnter Generation ein Nachkomme von Esra gewesen sei. Unter Eleasar ben Asarjas Vorsitz wird dann das Lehrhaus für alle, die studieren möchten, geöffnet und alle offenen Fragen werden geklärt. Interessanterweise geht aber der Streit zwischen Gamliel und Jehoschua weiter. Ber 28a berichtet, Jehuda, ein amonitischer Proselyt, sei ins Lehrhaus gekommen und habe gefragt, ob er in die Gemeinde Israels aufgenommen werden könnte. Gamliel vertrat die Ansicht, dies sei nicht möglich, Jehoschua vertrat die Ansicht, dies sei möglich. Dann werden folgende Gründe genannt: Rabban Gamliel sagte zu ihm: Heißt es nicht bereits: Amoniter und Moabiter sollen nicht in die Gemeinde JHWHs kommen. (Dtn 23,4) R. Jehoschua sagte zu ihm: Sind denn Amon und Moab noch an ihrem Ort? Vor langem kam doch Sanherib, König von Assyrien, und vermischte alle Völker, denn es heißt: Ich habe die Grenzen der Völker entfernt und ihre Vorräte geraubt, ich ließ die Macht der Bewohner sinken. (Jes 10,13) Und wer ausscheidet, scheidet aus der Mehrheit aus. R. Gamliel sagte zu ihm: Heißt es nicht bereits: Und danach führe ich die Gefangenschaft der Kinder Amon zurück, spricht JHWH. (Jer 49,6) Sie sind also zurückgekehrt. R. Jehoschua sagte: Heißt es nicht bereits: Ich führe die Gefangenschaft meines Volkes Israel zurück. (Am 9,14) Und sie sind noch nicht zurückgekehrt. Hierauf erlaubten sie, ihn in die Gemeinde aufzunehmen. Da sagte Rabban Gamliel: Wenn dem so ist, will ich gehen und R. Jehoschua um Verzeihung bitten. Nachdem also die Gelehrten im Lehrhaus für Jehoschuas und gegen Gamliels Auslegung gestimmt haben, zeigt Gamliel Reue, dass er Jehoschua nicht früher hat zu Wort kommen lassen. Er geht offenbar das erste Mal zu Jehoschua nach Hause und findet dann bei seinem Besuch heraus, dass Jehoschua als Köhler sein Geld verdient. Jehoschua wirft Gamliel vor, dieser wisse nichts über das Leben der Gelehrten in seinem Lehrhaus, schon gar nichts darüber, wie hart diese ihren Lebensunterhalt verdienen müssen. Gamliel bitte daraufhin Jehoschua um Verzeihung, was umgehend den Gelehrten im Lehrhaus zugetragen wird. Akiba fordert nach dem Gehörten die Kollegen auf, die Türen zu verschließen, damit »nicht die Diener Gamliels kommen und die Rabbanan (die gelehrten Rabbinen im Lehrhaus) quälen«. Diese Formulierung lässt darauf schließen, dass Gamliel Druck auf die Gelehrten auszuüben pflegte, um seine Lehrentscheidungen durchzusetzen. Da dies impliziert, dass Gamliel seine Absetzung nicht akzeptiert, muss man sich mit Gamliel einigen. Letztlich bieten die Gelehrten Gamliel an, dass er an drei Sabbaten im Monat den Lehrvortrag hält und Eleasar ben Asarja an dem verbleibenden Sabbat des Monats. 2.2.3 Ber 47b: Die Rabbinen und das einfache Volk Dass die rabbinischen Gelehrten sich von nicht gelehrten Menschen, das heißt von der Mehrzahl der Personen in ihrer Umgebung, abgrenzten, deutet Ber 47b an: Es wird gelehrt, dass man einen Mann aus dem einfachen Volk nicht zum Tischsegen mitzähle? […] Wer ist ein Mann aus dem einfachen Volk? Wer seine profane 36 [Speise] nicht in Reinheit isst, Worte R. Meirs. [Aber] die Weisen sagen: Wer seine Früchte nicht richtig verzehntet. 37 […] Die Rabbanan lehrten: Wer ist ein Mann aus dem einfachen Volk? Wer morgens und abends das »Höre Israel« nicht liest, Worte R. Eliesers. 32 ZNT 37 (19. Jg. 2016) Zum Thema R. Jehoschua sagt: Wer keine Gebetsriemen 38 anlegt. Ben Assai sagt: Wer keine Schaufäden an seinem Gewand hat. R. Natan sagt: Wer keine Mesusa 39 an seiner Türe hat. R. Jonatan ben Josef sagt: Wer Kinder hat und sie nicht zum Studium der Tora erzieht. Andere sagen: Selbst wenn einer die Schrift gelesen und die Mischna gelernt, aber bei den Schriftgelehrten nicht gedient hat, ist er ein Mann aus dem einfachen Volk. R. Hona sagte: Die Halacha ist wie »andere [sagen]«. 40 Zum einfachen Volk gehören nach der strengen Auffassung vor allem die Menschen, die sich das Studium bei den Rabbinen-- aus welchen Gründen auch immer-- nicht leisten können. 41 Das einfache Volk kennt damit die Regeln nicht, die man für Tag und Nacht benötigt, um ein aus der Sicht der Rabbinen gottwohlgefälliges Leben zu leben. Die rabbinischen Gelehrten, die so urteilten, hielten daher ihren Abstand zum einfachen Volk und blieben lieber unter sich. Allerdings: Auch hier liegt eine bloße Sammlung von Lehrmeinungen vor, und darunter gibt es auch liberalere Auffassungen, etwa die, dass man sich bereits mit einer Mesusa an der Tür vom »einfachen Volk« unterscheidet. 2.2.4 Ber 60b: Das Leben der Frommen Im letzten Abschnitt (Ber 60b) wird deutlich, dass der Tagesablauf der Rabbinen minutiös geregelt ist. Das bedeutet einerseits: Wer diese Regeln nicht kennt und befolgt, entspricht nicht den hohen Anforderungen rabbinischer Frömmigkeit. Andererseits wird hier doch auch ein weiterer Grundzug des rabbinischen Judentums sichtbar, der etwas mit der Sehnsucht nach einer völligen Durchdringung des Lebens mit dem Lob Gottes bis in seiner kleinsten Kleinigkeiten zu tun hat: 1 Wer sich ins Bett schlafen legt, rezitiere von »Höre Israel« bis »wenn ihr hören werdet«. 42 Dann spreche er: Gepriesen sei er, der die Bande des Schlafes auf meine Augen und den Schlummer auf meine Lider fallen lässt, und dem Augapfel Licht gewährt. Möge es dein Wille sein, oh Herr, mein Gott, dass du mich zum Frieden hinlegen lassest, und gib mir Anteil an deiner Tora. Gewöhne mich zu gottwohlgefälligen Handlungen und gewöhne mich nicht an Übertretung, lass mich nicht zur Sünde kommen, noch zur Versuchung, noch zur Schmach. Lass den bösen Trieb nicht über mich herrschen, und schütze mich vor bösem Begegnis und vor bösen Krankheiten. Mögen schlechte Träume und böse Gedanken mich nicht beunruhigen, mein Lager sei makellos vor dir, und erleuchte meine Augen, damit ich nicht des Todes entschlafe. Gepriesen seist du, oh Herr, der die ganze Welt mit seiner Herrlichkeit erleuchtet. 2 Wenn man aufwacht, spreche man: Mein Gott, die Seele, die du mir gegeben, ist rein; du hast sie gebildet, du hast sie mir eingehaucht, und du bewahrst sie in mir; du wirst sie einst von mir nehmen, und du wirst sie mir in Zukunft wiedergeben. Solange die Seele in mir ist, danke ich dir, oh Herr, mein Gott und Gott meiner Väter, Gebieter aller Welten und Herr aller Seelen. Gepriesen seist du, oh Herr, der den toten Körpern die Seele wiedergibt. 3 Wenn man das Krähen des Hahnes hört, spreche man: Gepriesen sei er, der dem Hahn Verstand verliehen hat, zwischen Tag und Nacht zu unterscheiden. 4 Wenn man die Augen öffnet, spreche man: Gepriesen sei er, der die Blinden sehend macht. 5 Wenn man sich aufrichtet und hinsetzt, spreche man: Gepriesen sei er, der die Gefesselten löst. 6 Wenn man sich ankleidet, spreche man: Gepriesen sei er, der die Nackten bekleidet. 7 Wenn man sich hinstellt, spreche man: Gepriesen sei er, der die Gebeugten aufrichtet. 8 Wenn man den Boden betritt, spreche man: Gepriesen sei er, der die Erde auf dem Wasser ausspannt. 9 Wenn man einen Schritt macht, spreche man: Gepriesen sei er, der die Schritte der Menschen richtet. 10 Wenn man die Schuhe anzieht, spreche man: Gepriesen sei er, der mir all meinen Bedarf gewährt. 11 Wenn man sich den Gürtel umlegt, spreche man: Gepriesen sei er, der Israel mit Stärke umgürtet. 12 Wenn man das Tuch um das Haupt windet, spreche man: Gepriesen sei er, der Israel krönt. 13 Wenn man sich in das Schaufädengewand hüllt, spreche man: Gepriesen sei er, der uns durch seine Gebote geheiligt und uns geboten hat, sich in die Schaufäden zu hüllen. 14 [Wenn man die Gebetsriemen] an seinem Haupt anlegt, spreche man: Gepriesen sei er, der uns seine »Zum einfachen Volk gehören nach der strengen Auffassung vor allem die Menschen, die sich das Studium bei den Rabbinen [...] nicht leisten können.« ZNT 37 (19. Jg. 2016) 33 Dagmar Börner-Klein Was ist Rabbinisches Judentum? Gebote geheiligt und uns das Schaufädengebot anbefohlen hat. 15 Wenn man die Hände wäscht, spreche man: Gepriesen sei er, der uns durch seine Gebote geheiligt und uns das Händewaschen befohlen hat. 16 Wenn man das Gesicht wäscht, spreche man: Gepriesen sei er, der Schlaf von meinen Augen und Schlummer von mein Lidern entfernt. Möge es auch dein Wille sein, oh Herr, mein Gott, dass du mich an deine Tora gewöhnst; lass mich an deiner Tora und an deinen Geboten festhalten. Für den modernen Blick, zumal den christlichen, erschließt sich der Sinn und der Scharfsinn rabbinischer Exegesen zwar oft erst durch Kommentierungen in der modernen judaistischen Forschungsliteratur. Mit seinen Lehren hat das rabbinische Judentum aber die Fundamente für das Judentum bis heute gelegt. Es bietet eine Fülle von Auslegungen zur hebräischen Bibel, die alle dazu dienen sollen, das tägliche Leben zu einem gottwohlgefälligen Leben gestalten zu können. In den rabbinischen Lehren findet sich darüber hinaus eine geradezu unbändige Lust, der (hebräischen) Sprache auf den Grund zu kommen, ein wunderbarer Sinn für Witz und Humor und eine beharrliche Weigerung, dogmatisch zu sein. Anmerkungen 1 Siehe S. Krauss, Synagogale Altertümer, Berlin, Wien 1922, Ndr. Hildesheim 1966. Der babylonische Talmud in Berachot 26b führt die Gebete entweder auf die Erzväter oder in wesentlich spätere Zeit zurück: »Es wurde gelehrt: R. Jose ben Chanina sagte: Die Gebete haben die Erzväter angeordnet. R. Jehoschua ben Levi sagte: Man hat die Gebete den täglichen Opfern entsprechend angeordnet.« 2 M. Schlüter, Auf welche Weise wurde die Mischna geschrieben? Das Antwortschreiben des Rab Sherira Gaon. Mit einem Faksimile der Handschrift Berlin Qu. 685 (Or. 160) und des Erstdrucks Konstantinopel 1566, Tübingen 1993. 3 Siehe z. B. C. Hezser, The Social Structure of the Rabbinic Movement in Roman Palestine, Tübingen 1997. 4 Siehe etwa die Erzählung über Chanina ben Dosa in bBerachot 33a, der eine Schlange überwindet und dann sagt: »Seht meine Kinder, nicht die Wasserschlange tötet, sondern die Sünde tötet.« In dieser Stunde sagte man: Wehe dem Menschen, dem eine Wasserschlage begegnet und wehe der Wasserschlange, der R. Chanina ben Dosa begegnet. 5 Siehe G. Stemberger, Pharisäer, Sadduzäer, Essener, Stuttgart 1991, 50-64. 6 Siehe dazu im palästinischen Talmud Pea 15c und D. Krochmalnik, »Du sollst darüber nachsinnen Tag und Nacht«-- Glauben und Lernen in der jüdischen Tradition, in: Glaube und Lernen. Zeitschrift für theologische Urteilsbildung 11 (1996) 1, 73-83. 7 Siehe etwa D. Boyarin, Abgrenzungen. Die Aufspaltung des Judäo-Christentums, Berlin/ Dortmund 2009. 8 Einer der produktivsten rabbinischen Gelehrten der Gegenwart ist Jacob Neusner. Eine Liste seiner außerordentlich zahlreichen Publikationen ist zugänglich unter http: / / en.wikipedia.org/ wiki/ List_of_books_by_Jacob_Neusner (letzter Zugriff 28. 05. 2015). 9 W. G. Braude/ I. J. Kapstein, Tanna debe Eliyyahu. The Lore of the School of Elijah, Philadelphia 1981, xxv. 10 Die Übersetzung aus dem Englischen stammt von mir. 11 M. Friedmann, Seder Eliahu Rabba and Seder Eliahu Zuta (Tanna d´be Eliahu). According to a Ms. edited with Commentaries and Additions, Wien 1902, Jerusalem 1969, 18. 12 Friedmann, SER, 31. 13 Friedmann, SER, 37. 14 Braude/ Kapstein, 88, Anm. 70: »The word alamot (»maidens« or »worlds«) is now construed as a nominal form of the verb ´lm, »to hide, conceal«; and is also construed as ´al mut, »unto death«, meaning that he who understands Torah´s inner meanings so loves Torah that he is willing to die for it.« 15 Die gesetzlichen und erzählenden Passagen der hebräischen Bibel. 16 Friedmann, SER, 53; vgl. GnR 59,1. 17 Nach Ps 15,4 ist gemeint: Man muss sein Wort halten, auch wenn es mit einem Schwur verbunden ist, der einem selbst zum Schaden gereichen kann. 18 Friedmann, SER, 104. 19 Friedmann, SER, 124. 20 Friedmann, SER, 130-135. 21 Dtn 6,4-9, Dtn 11,13-21 und Num 15,37-41. 22 Friedmann, SER, 140.-- Das in Matthäus 6,6 geforderte »Beten im Verborgenen« wäre nach dieser Auffassung geradezu ein Verleugnen der Liebe zu Gott. 23 Ich zitiere Berachot mit leichten Veränderungen nach der Übersetzung von L. Goldschmidt, Der Babylonische Talmud. Nach der ersten zensurfreien Ausgabe unter Berücksichtigung der neueren Ausgaben und handschriftlichen Materials neu übertragen (1929) Königsstein 3 1980, Bd. 1, hier: 16. 24 Die rabbinischen Gelehrten. 25 Die Rezitation von Dtn 6,4-9, Dtn 11,13-21 und Num 15,37-41. Siehe dazu I. Elbogen, Der jüdische Gottesdienst in seiner geschichtlichen Entwicklung, Frankfurt a. M. 3 1931, 16-26. 26 Siehe http: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Ahawa_rabba (aufgerufen am 29. 05. 2015). 27 Die Auslegung des Buches Leviticus. 28 Für das rabbinische Judentum vgl. P. Schäfer, Rivalität zwischen Engeln und Menschen. Untersuchungen zur rabbinischen Engelvorstellung, Berlin 2 2015. 29 Zur Frage der Stellung der Frau im rabbinischen Judentum vgl. S. J. Berman, The Status of Women in Halakhic 34 ZNT 37 (19. Jg. 2016) Zum Thema Judaism, in: Tradition 14: 2 (1973), 5-28; B.J. Brooten, Women Leaders in the Ancient Synagogue. Inscriptional Evidence and Background Issues, Atlanta 1982; G. Ellinson, Woman and the Mitzvot. A Guide to the Rabbinic Sources. Bd. 1: Serving the Creator, Jerusalem 1986; J. Hauptman, A New View of Women and Torah Study in the Talmudic Period, in: Jewish Studies, an Internet Journal 9 (2010), 249-292. 30 Die Regel, nach der man sich richtet. 31 Wörtlich: die [mit Wissen] Ausgerüsteten. 32 Jehoschua ist anderer Meinung als Rabban Gamliel. Da Gamliel aber das Oberhaupt des Lehrhauses ist, hat es keinen Zweck, Gamliel zu widersprechen, da dieser grundsätzlich das letzte Wort hat. 33 Jehoschua wird nun-- wie er es erwartet hat-- von Gamliel mit einer Disziplinarstafe belegt. Während alle anderen Schüler zum Studium sitzen, muss er allein Stehen, und das Stehen ist nicht nur ermüdend sondern beschämend. 34 Siehe bRosch haSchana 25a. Es handelt sich also nicht um die erste Auseinandersetzung zwischen Gamliel und Jehoschua, bei der Gamliel Jehoschua seine Macht spüren ließ. 35 Siehe bBechorot 36a. 36 Das tägliche Essen ist gemeint. 37 Vgl. Lev 27,30. 38 Nach Dtn 11,13-23 sollen die Worte der Tora als Zeichen auf Hand und Stirn gebunden werden. 39 Siehe Dtn 6,9 und Dtn 11,20. 40 Die Regel nach der man sich verhält, lautet: »Selbst wenn einer die Schrift gelesen und die Mischna gelernt, aber bei den Schriftgelehrten nicht gedient hat, ist er ein Mann aus dem einfachen Volk«. 41 Siehe A. Büchler, Der galiläische Am-Ha´arets des zweiten Jahrhundert. Beiträge zur innern Geschichte des palästinischen Judentums in den ersten zwei Jahrhunderten, Wien 1906, Ndr. Hildesheim 1968. 42 Dtn 11,13. Helmut Spelsberg Aber Hutten kehrte nicht um Betrachtungen zu Leben und Werk Ulrich von Huttens 2015, 163 Seiten € [D] 29,99 ISBN 978-3-7720-8586-4 Oh Jahrhundert! Oh Wissenschaften! Es ist eine Lust, zu leben. Ulrich von Hutten Neben Erasmus von Rotterdam und Martin Luther repräsentiert Ulrich von Hutten (1488-1523) in besonderer Weise den Zeitgeist des 16. Jahrhunderts. In seiner brilliant geschriebenen Biographie en miniature lässt Helmut Spelsberg diesen „heißen und ungeduldigen Kriegsmann des Geistes“ (Stefan Zweig), der in seinem gefahrvollen und abenteuerlichen Leben sowohl dem Humanismus als auch der Reformation zu dienen versuchte, in seinen Stärken und Schwächen plastisch hervortreten. Ergänzt wird die Biographie durch eine kommentierte Bibliographie der Werke Huttens, die deutlich macht, auf welch unterschiedlichen Feldern der Wissenschaft, der Literatur, der Kunst und der Politik der erste Reichsritter zu Hause war. NEUERSCHEINUNG Narr Francke Attempto Verlag GmbH+Co. KG \ Dischingerweg 5 \ 72070 Tübingen \ Germany Tel. +49 (07071) 9797-0 \ Fax +49 (07071) 97 97-11 \ info@francke.de \ www.francke.de NEU ZNT 37 (19. Jg. 2016) 35 In der Literatur der griechischen und römischen Antike erfährt man eine Menge über »die Juden«. Die einschlägigen Quellentexte sind in dem dreibändigen Werk Greek and Latin Authors on Jews and Judaism von Menachem Stern samt englischen Übersetzungen und Anmerkungen leicht zugänglich. 1 Für die griechischen und lateinischen Autoren war »das Judentum« (ein quellensprachlich im fraglichen Zeitraum praktisch unbekannter Terminus) allerdings keine »Religion« und »die Juden« nicht die Anhänger einer »Judentum« genannten »Religion«. Sie waren vielmehr, wie »die Griechen« oder »die Phönizier« auch, nach antiker Auffassung grob gesagt ein Volk, das in einem bestimmten Land lebte. Was wir heute »Religion« nennen, war einfach ein Teil ihrer Lebensweise und Gottesverehrung, kurz gesagt, ihres Brauchtums, so wie jedes andere Volk auch ein eigenes Brauchtum hatte, das, wie sollte es anders sein, auch eine spezifische Weise der Gottesverehrung einschloss. Wir verwenden im Folgenden für »Volk« überwiegend den dem griechischen ethnos entlehnten Terminus »Ethnie«, und wir reden auch nicht selbst (sondern nur bei Bezugnahmen auf den Sprachgebrauch der Forschung) von »Juden« (für unsere Ohren klingt das eben nach den Anhängern einer »Judentum« genannten »Religion«), sondern von »Judäern« und ihrem Land »Judäa«. Judäer, die nicht in Judäa lebten, sondern in der Diaspora, hörten, so die antike Auffassung, nicht auf, Judäer zu sein. Sie waren sozusagen Auslandsjudäer. In der Quellensammlung von Menachem Stern kann man nun viele unfreundliche bis feindselige Dinge über »die Judäer« lesen. In der modernen Forschung hat man dies auf den Begriff des »antiken Antijudaismus« 2 , der »antiken Judenfeindschaft« 3 oder der »Judäophobie« 4 gebracht. Diese Begriffe bezeichnen sämtlich etwas Richtiges, aber das darin implizierte verengte Blickfeld auf die Judäer lässt doch etwas sehr Einfaches und zugleich entscheidend Wichtiges außer acht, dass nämlich das abschätzige Reden über andere Ethnien (auch) in hellenistisch-römischer Zeit eine unhinterfragte Gewohnheit war, und nicht nur eine Gewohnheit, sondern auch eine Wissenschaft, und diese Wissenschaft nennen wir »Ethnographie«. Der folgende Beitrag versucht zu skizzieren, wie sich die Judäer im ethnographischen Diskurs der hellenistisch-römischen Zeit positioniert haben. Dabei wird sich zeigen: Sie waren nicht nur Objekte der im Titel dieses Aufsatzes genannten schlechten Gewohnheit, sondern-- wie denn anders! -- auch ihre Akteure. 1. Erkundung des Umfelds: Antike Ethnographie Schon in prähistorischer Zeit sind Stämme und Ethnien miteinander in Berührung gekommen, durch Wanderungsbewegungen, durch Handelsbeziehungen, durch Kriege, durch Siegen und Besiegtwerden, durch Herrschen und Beherrschtwerden. In der klassischen Antike haben die Kriege zwischen Griechenland und dem Perserreich die deutlichsten Spuren hinterlassen. Im Zeitalter des Hellenismus machten sich die Diadochenstaaten gegenseitig ihren Einfluss in Griechenland und dem Vorderen Orient streitig, und seit dem zweiten vorchristlichen Jahrhundert meldete mehr und mehr Rom seinen Anspruch auf die Vorherrschaft im gesamten Mittelmeerraum und darüber hinaus an. Intensive Begegnungen und Berührungen von einander bis dato unbekannten und einander zunächst oder aber bleibend fremden Ethnien waren der geschichtliche cantus firmus (auch) dieser Jahrhunderte, unter je unterschiedlichen historischen Vorzeichen. Das vitale Interesse an den fremden Ethnien, mit denen man es teils unter friedlichen, teils unter mehr oder weniger kriegerischen Rahmenbedingungen zu tun bekam, wird gemeinhin unter den Begriff der antiken Ethnographie gefasst. 5 Darunter fallen ethnographische Exkurse in größeren Geschichtswerken ebenso wie ganze Werke, die sich der Erkundung einer einzigen Ethnie widmeten. Wir finden in diesen Texten teilweise ein echtes Interesse an fremdem Brauchtum, etwa an den Tischsitten der Perser, oder Manuel Vogel Von der schlechten Gewohnheit, schlecht über einander zu reden Hellenistisch-römische Selbst- und Fremdwahrnehmungen der Judäer im Kontext antiker Ethnographie Zum Thema »Das vitale Interesse an den fremden Ethnien, mit denen man es teils unter friedlichen, teils unter mehr oder weniger kriegerischen Rahmenbedingungen zu tun bekam, wird gemeinhin unter den Begriff der antiken Ethnographie gefasst.«