eJournals ZNT – Zeitschrift für Neues Testament 19/37

ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
2016
1937 Dronsch Strecker Vogel

Das antike Judentum als Hintergrund des frühen Christentums

2016
Steve Mason
12 ZNT 37 (19. Jg. 2016) Zum Thema »Warum konnte Ioudaismos nicht ›Judentum‹ bedeuten? « historisch korrekt von Judentümern sprechen sollte, eine Terminologie, die es zuließ, eine bestimmte Spielart des »Christentums« auch als ein Judentum gelten zu lassen. 5 Anhaltend sind wir damit befasst, das Judentum zu untersuchen und theoretisch zu durchdringen. Aber was ist eigentlich mit besagtem Lieferwagen selbst? Haben wir vor lauter Konzentration auf den Kontext das Rahmenkonzept ungeprüft nach draußen geschmuggelt? Wenn wir verstehen wollen, was vor zwei Jahrtausenden passiert ist, und wie es die Menschen damals aufgefasst haben, müssen wir zunächst einige philologische Fakten in Rechnung stellen. Erstens: Die Antike kannte, auch wenn die geläufige Forschungssprache dies nicht erkennen lässt, kein griechisches, lateinisches oder hebräisches Wort für Judentum. Sie sprachen nicht über Judentum, weil sie es gar nicht konnten, denn weder gab es hierfür einen Terminus, noch eine Klasse von »-ismen«, denen man Judentum hätte zuordnen können. Das ist eine verzwickte Sache, weil man den griechischen Terminus Ioudaismos nahe genug an »Judentum« wähnte, um unseren Sprachgebrauch zu rechtfertigen. Aber dieses Wort kann, meine ich, nicht »Judentum« bedeuten. In der außerchristlichen Literatur begegnet es nur im spezifischen Zusammenhang des 2. Makkabäerbuches (2,21; 8,1; 14,38 [2x]) und im davon abhängigen 4. Makkabäerbuch (4,26). Es ist im (von uns so genannten) Judentum, das wir in anderen apokryphen Texten, in den umfangreichen Schriften des Philo und des Josephus, aber auch (trotz seines Titels) in der großartigen dreibändigen Quellensammlung Greek and Latin Authors on Jews and Judaism von Menachem Stern vorfinden, nicht gebräuchlich. Ioudaismos gibt es dort nicht, obwohl es doch, würde es »Judentum« bedeuten, der nächstliegende Terminus wäre. Auch gibt es kein semitisches Gegenstück in den Schriften vom Toten Meer oder in der rabbinischen Literatur. Warum konnte Ioudaismos nicht »Judentum« bedeuten? Der durch den wissenschaftlichen Sprachgebrauch vermittelte gegenteilige Eindruck rührt von der Ähnlichkeit des griechischen -ismos mit dem englischen -ism bzw. dem deutschen -ismus her. Griechische Nomina auf -ismos decken sich jedoch nicht mit unseren Termini für Überzeugungssysteme wie etwa Marxismus, Katholizismus, Protestantismus oder Theismus. Diese Klasse griechischer Nomina hat dagegen eine Entsprechung in Termini wie Exorzismus, Ostrakismus, englisch auch gar die Innenverkleidungen der Türen zu demontieren. Sie kommen dem Kerl erst dann auf die Schliche, als ihnen schließlich dämmert, dass er weiße Firmen-Lieferwagen gestohlen hat. Es gibt hier eine Parallele zur Erforschung des antiken Judentums: Wir ahnen, dass etwas nicht stimmt und untersuchen den Inhalt des Laderaumes immer gründlicher: Sollen wir unser Material Früh-, Spät- oder Mittel- (oder zwischentestamentliches oder nachbiblisches) Judentum nennen? War es eine legalistische, eine tolerierte legale Religion (wie erklären wir dann die Vertreibungen aus Rom und die Unruhen in Alexandria? ), eine missionarische oder eine Proselyten- Religion? Wie hellenistisch oder hellenismusresistent war das Judentum? Wie haben antike Zeitgenossen »Juden und Judentum« wahrgenommen? Was müssen wir uns unter »Diaspora-Judentum« vorstellen, und wie lässt es sich mit dem Judentum in Eretz-Israel vergleichen? Wer wurde als Jude anerkannt, und wie sahen antike Konversions- Rituale aus? War bei Männern immer die Beschneidung erforderlich, wie es die rabbinischen Vorschriften wollen? In welchem Verhältnis standen Jesus und Paulus zum Judentum? Wie vielfältig war das Judentum? In der Zeit, als ich meine Doktorarbeit abschloss, bestanden viele Forscher darauf, dass man Prof. Dr. Steve Mason, geb. 1957, ist seit 2015 Professor für Ancient Mediterranean Religions and Cultures der Faculty of Theology and Religious Studies der Universität Groningen. Mason gilt als ein Experte auf dem Gebiet der Josephus-Forschung. Er ist Hauptherausgeber der Reihe: »Flavius Josephus: Translation and Commentary« (Leiden [u. a.]: Brill, 2000-). Daneben ist er Autor des Werkes: »Josephus and the New Testament« (Peabody 22003), welches auch in deutscher Übersetzung vorliegt: »Flavius Josephus und das Neue Testament« (Tübingen [u. a.] 2000). Prof. Dr. Steve Mason »Die Antike kannte, auch wenn die geläufige Forschungssprache dies nicht erkennen lässt, kein griechisches, lateinisches oder hebräisches Wort für Judentum.« ZNT 37 (19. Jg. 2016) 13 Steve Mason Das antike Judentum als Hintergrund des frühen Christentums baptism (Taufe) oder plagiarism (Nachahmung). Dies sind nicht Überzeugungssysteme, sondern Handlungen. Exorzismus ist der Akt des Exorzierens, Ostrakismus der Akt der Ächtung bzw. Verbannung. Von besonderer Bedeutung für Ioudaismos ist die klassische griechische Verwendung von Nomina auf -ismos für bestimmte kulturelle Bewegungen. Als während der Perserkriege griechische Bevölkerungsgruppen der Parteinahme für die Perser beschuldigt wurden, nannte man dies Mēdismos. Schlug sich während des Peloponnesischen Krieges jemand auf die Seite der Spartaner oder Athens, hieß das Lakōnismos oder Attikismos. 6 Diese Art der Ausrichtung an den Interessen anderer Ethnien war bei allen momentanen Sachzwängen keinesfalls ein rühmliches oder auch nur übliches politisches Verhalten. Deshalb sind diese Wörter selten, und man findet sie gehäuft in Zeiten politischer Krisen. Beachtet man die Wortform und die genannten Parallelen, müsste Ioudaismos für griechische Ohren so etwas wie »Judaisieren« bedeutet haben: Loyalität und Parteinahme für judäische Interessen in einer Zeit der Krise. Genau das ist es auch, was wir in den wenigen außerchristlichen Belegen finden, hauptsächlich im 2. Makkabäerbuch. Wie gesagt verwendet Josephus das Wort nicht, obwohl er dreißig Bücher über die judäische Geschichte und Kultur geschrieben hat. Zweimal verwendet er das eng verwandte ioudaizō. In Bellum 2,454 fleht Metilius, Kommandeur der Jerusalemer römischen Garnison, um sein Leben, während seine Kameraden massakriert werden, und er verspricht »zu judaisieren« bis hin zur Übernahme der Beschneidung. Das heißt: Er verspricht unter dem Zwang der Situation, sich gänzlich mit den Gesetzen der Judäer zu identifizieren. Kurz nach diesem Passus (2,463) geht es um die Reaktion syrischer Städte auf judäische Attacken. Josephus behauptet, dass die meisten dieser Städte die bei ihnen lebenden judäischen Minderheiten getötet und die zweifelhaften Elemente der übrigen Bevölkerung unter verstärkte Bobachtung genommen haben, d.h, die Nichtjudäer unter ihnen, die gleichwohl »judaisierten«. Hierbei kann es sich um ein Sympathisieren mit der judäischen Sache aus dem Moment heraus handeln, wahrscheinlicher aber um eine bereits länger zurückliegende Übernahme judäischer Bräuche, die in der Krise Zweifel an ihrer Loyalität aufkommen ließ (2,569). 7 Josephus hätte in diesen Passagen auch das Wort Ioudaismos verwenden können und wäre, wie ich meine, ebenso verstanden worden. Seine Wortwahl war entweder zufällig, oder er wollte das Gewicht des Nomens Ioudaismos vermeiden, das auf sein römisches Publikum möglicherweise abschreckend gewirkt hätte. Ganz sicher war das Wort für Philo und Josephus zur Darstellung judäischer Gesetze, Bräuche und Kultur ungeeignet: Das war nicht Ioudaismos. Wir verstehen nun, warum die wenigen Belege für Ioudaismos in der außerchristlichen Literatur auf das 2. und 4. Makkabäerbuch beschränkt sind: In beiden Texten geht es um kulturelle Konflikte und Loyalitäten in Krisensituationen. Das 2. Makkabäerbuch verwendet zu Beginn der Haupthandlung zwei weitere Wörter, die auf -ismos enden, in beiden Fällen die ersten Belege überhaupt. Jerusalem war, so lesen wir, konfrontiert mit »einer Blüte der Hellenisierung und dem Abfall zu fremden Gebräuchen« (akmē tis Hellēnismou kai prosbasis allophylismou, 4,13). 8 In dieser Krise war Ioudaismos die angemessene Antwort. Während unter normalen Umständen Judäer nicht »judaisieren« mussten, wurde es notwendig wegen des Abfalls zu fremden Gebräuchen. Ioudaismos meint hier entschiedene Taten der Loyalität zum judäischen Gesetz und Brauchtum. Der erste Beleg (2,21) formuliert klar diese Bedeutung: »Um des Judaisierens willen« vollbrachte eine kleine Gruppe Männer unglaubliche Heldentaten, die die Barbaren wie Vieh davonjagten, um das Land wieder zu »judaisieren« (vgl. 8,1). Belege von Ioudaismos (und dem lateinischen Iudaismus) in christlichen Texten sind viel zahlreicher, weil das Wort bald eine neue Bedeutung erhält. Paulus verwendet es nur in einem sehr spezifischen Zusammenhang, nicht aber andernorts, etwa im Römerbrief, zur Bezeichnung dessen, was wir Judentum nennen. In Gal 1,13 f. geht es prägnant um seine früheren Versuche, die Jesusbewegung zu zerstören, die »Versammlung Gottes«, wie er sagt. Er ruft dies als Beweis für seine gesteigerte Aktivität im Ioudaismos auf, und für seinen leidenschaftlichen Einsatz für die althergebrachten Gebräuche. Dem 2. Makkabäerbuch nicht unähnlich sieht Paulus einen Mangel an Loyalität und die Notwendigkeit, die Abtrünnigen zu (re-)judaisieren. Eine andere maßgebliche Figur für die Herausbildung christlicher Identität war Ignatius von Antiochien (ca. 100 n. Chr.). Für ihn war Christianismos das passende Wort, um Schritt für Schritt zu lernen, ein Schüler Christi zu sein (Magn 10,1). Auch er könnte das 2. Makkabäerbuch im Blick gehabt haben, denn er invertiert kunstvoll dessen Rhetorik. Das Problem des Ignatius war, dass nichtjüdische Christusverehrer judaisierten, d. h. für ihn war der Ioudaismos die Bedrohung, und nicht etwa, wie im 2. Makkabäerbuch, die Rettung. Loyalität Christus gegenüber forderte deshalb energischen Christianismos: Christusverehrer zu ihrer (von Ignatius jedenfalls so verstandenen) ureigenen Loyalität zurückzurufen. Ignatius prangert das Judaisieren an: »Wenn 14 ZNT 37 (19. Jg. 2016) Zum Thema euch jemand das Judaisieren (Ioudaismos) darlegt, hört nicht auf ihn! Es ist besser, Christianisieren (Christianismos) von einem Beschnittenen zu hören, als Judaisieren (Ioudaismos) von einem Unbeschnittenen«. 9 Wiederum geht es nicht um Überzeugungssysteme, sondern um die Bewegung von einer Loyalität zu einer anderen. Das Christianisieren durch Judäer ist in Ordnung, das Judaisieren durch Christen ist es nicht. Ignatius hat den Grund gelegt für den genannten christlichen Bedeutungswandel des Wortes, und zwar mit seiner ironischen Wortbildung Christianismos. Christliche Autoren benötigten ein Wort für das ganze Unternehmen, das darin bestand, ein Christ zu sein, und das wir so leichthin »Christentum« nennen, denn die vorherrschenden sozialen Kategorien (dazu gleich) enthielten kein solches Wort: Es gab keinen Gattungsbegriff für Glaubenssysteme, unter den das Christentum als eine Art zu fassen gewesen wäre. Deshalb hat man sich die von Ignatius ins Spiel gebrachte Wortschöpfung zu eigen gemacht, sie aber auch im weiteren Verlauf ihrer Verwendung verändert. Dies ist zumal am lateinischen Christianismus zu beobachten, denn das Latinische kennt ursprünglich keine Nomina auf -ismus oder zugehörige Verben auf -izō. Doch nun diente Christianismus zur Bezeichnung des ganzen christlichen Glaubenssystems einschließlich seiner Praktiken. In der Folge veränderte sich auch die Bedeutung von Ioudaismos und Hellēnismos. Sie verloren ihren ursprünglichen Wortsinn. Sie wurden zu begrifflichen Gegenstücken des Systems Christentum und bezeichneten nun das Glaubenssystem der Juden und das der gesamten griechischrömischen Welt. Mit anderen Worten: Nach Jahrhunderten der Heimatlosigkeit schrieben die Christen das sozio-politische Lexikon um. Sie erfanden ein Judentum und ein Griechentum um den Preis der Reduktion komplexer lebendiger Gesellschaften auf Glaubenssysteme, die dann für den abwertenden Vergleich mit dem einzigartigen, offenbarten Christentum herhalten mussten. Judaismus schrumpfte nun zu einer Chiffre für »Werke des Gesetzes, Beachtung des Sabbats und der Beschneidung«. So ist es bei Viktorinus (4. Jh.), dessen Sprachgebrauch (Comm. Gal. 1,1,20) uns bei Epiphanius (gest. 403) voll entwickelt vorliegt. Er nennt Juden-tum neben Samaritaner-tum, Griechen-tum, Barbaren-tum und Skythen-tum als die »Mütter« zahlreicher Irrlehren (Anc. 12,7-9). Doch schon Tertullian hat mehr als ein Jahrhundert früher Christianismus und Judentum in dieser Weise einander gegenübergestellt. Christliche Autoren konnten Ioudaismos und Iudaismus jeder dutzendweise verwenden, 10 in augenfälligem Kontrast zur geringen Zahl an vorchristlichen Belegen, denn das Wort hatte nun nicht mehr die spezielle Bedeutung des aktiven Eintretens für judäische Lebensweise in Krisensituationen. Es bezeichnete nun ein Bündel trockener, abstrakter Glaubensdinge, dessen sich christliche Polemik bedienen konnte. 2. Antike sozio-politische Kategorien Paradoxerweise verhält es sich nun so, dass wir bei allem Streben, das Judentum auf historisch immer angemessenere (und weniger christliche) Weise zu verstehen, noch immer mit der elementarsten christlichen Konstruktion arbeiten: Judentum. Diese christlich-theologische Bequemlichkeit ist, vermittelt durch die Rede von den Offenbarungsreligionen (Judentum, Christentum, »Mohammedanertum«) in der Aufklärung, unser akademisches Fundament geblieben. Aber in der gelebten Realität vor zweitausend Jahren wusste niemand etwas von Judentum. Was man sah, war ein Volk (ethnos), die Judäer, mit dem man (nach ihrem Auszug aus Ägypten) ein Ursprungsland verband, bestimmte Gesetze, einen Gesetzgeber, ein System der Regierung, allseits bekannte Bräuche, ein erbliches Priestertum an der Spitze des Volkes, eine berühmte königliche Familie, eine weltbekannte Mutter-Polis und Kolonien, eine bildlose Gottheit, ein Kalender mit heiligen Tagen, und besondere Arten des Gottesdienstes. Judäische Kultur war formal vergleichbar mit anderen Kulturen der mediterranen Welt. Die Lesenden werden nun einwenden, dass wir eine Menge Begriffe aus reiner Bequemlichkeit verwenden (die von mir soeben benannte »Kultur« inbegriffen), welche die Menschen in der Antike nicht kannten. Warum dann nicht auch Judentum? 11 Wir sprechen von Platonismus, Stoizismus, Epikureismus, ebenfalls Begriffe ohne antikes Pendant. Dies ist eine wichtige Frage, und hier ist meine Antwort: Erstens können auch unsere philosophischen »-ismen« ziemlich irreführend sein. Wenn wir beispielsweise annehmen, dass Seneca oder Epiketet Stoizismus lehrten, kann es gut sein, dass wir unse- »[I]n der gelebten Realität vor zweitausend Jahren wusste niemand etwas von Judentum. Was man sah, war ein Volk (ethnos), die Judäer.« »Judäische Kultur war formal vergleichbar mit anderen Kulturen der mediterranen Welt.« ZNT 37 (19. Jg. 2016) 15 Steve Mason Das antike Judentum als Hintergrund des frühen Christentums re Zeit mit Überlegungen vertun, wie genau sie dieser Abstraktion entsprechen, anstatt zu verstehen, was sie tatsächlich geschrieben haben. Zweitens ist das »Juden-« in »Judentum« nicht dasselbe wie »Platon-« in »Platonismus« oder »Pythagoreer« in »Pythagoreismus«. Diese Leute haben ein Gedankensystem gelehrt, deshalb ist es kein weiter Sprung, im Blick auf das, was Platon selbst lehrte, von »Platonismus« oder dergleichen zu sprechen. Offensichtlich war dagegen Judäa kein Denker oder System-Erfinder. Drittens verwende ich die Abbreviaturen Kultur oder Zivilisation nicht, ohne vorher und nachher klarzustellen, dass es sich um umbrella-terms handelt, die die antiken Begriffe unter sich fassen und sie nicht etwa übergehen. Es handelt sich um Gattungsbegriffe, die ich in derselben Weise auf römische, spartanische oder ägyptische Kulturen anwende und damit wiederum ihre besonderen Gesetze und Bräuche meine, ihre althergebrachten Traditionen, Marksteine in ihrer Geschichte, Strukturen ihrer Eliten, ihre sozio-politischen Institutionen, ihre Götter und Formen der Gottesverehrung, und so weiter. Juden-tum stünde hier allein, denn niemand spricht in derselben Weise (wenn überhaupt) von Römer-tum, Spartaner-tum oder Ägypter-tum. Da »Kultur« umfassend und offen ist, können wir nicht-- es sei denn, wir sind antike Christen-- komplexe Gesellschaften auf »-ismen« reduzieren. Warum sollte man die namhafte Kultur Judäas hier ausnehmen und sie dergestalt reduzieren, austrocknen und einfrieren? Das Gemeinte wird noch klarer, wenn wir unsere Aufmerksamkeit von dem, was es nicht gab (Judentum) auf das richten, was es gab, also darauf, wie antike Menschen ihre eigene sozio-politische Welt kategorisierten. Dann mag es uns gelingen, die antiken Verhältnisse mit den Augen antiker Menschen zu sehen. Wir sollten uns an dieser Stelle klarmachen, dass der Diskurs nicht einfach die Ebene der bloßen Fakten um eine Beobachterebene ergänzt. Wir sind, um zu denken, allesamt auf Sprache angewiesen. Wenn antike Menschen ihre Welt in etwa so verstanden haben, wie ich es nun zu beschreiben versuche, dann haben sie diese Welt physisch und sozial auch so konstruiert. Griechische Elite-Diskurse im östlichen Mittelmeerraum sind durch zwei Basiskategorien gekennzeichnet, die uns auf jeder Seite ihrer Texte in die Augen springen: ethnos und polis. Bevor wir jede Kategorie für sich betrachten, will ich meine Behauptung mit einigen statistischen Daten unterlegen: Herodot bietet 611 Belege. Der Reisebericht des PsSkylax (4. Jh. n. Chr.) enthält in nur 144 Paragraphen 369 Belege. 12 Diodorus Siculus, näher am 1. Jh., verwendet beide Wörter bzw. Wortgruppen 13 3368mal, Strabo 1913mal, Philo von Alexandria 911mal, Josephus 2416mal, Plutarch 3774mal, Dion von Prusa 878mal und Pausanias 851mal. Die bloßen Zahlen sagen natürlich nicht viel, zeigen aber doch, dass diese Kategorien im Unterschied zu den -ismos-Nomina gängiger Sprachgebrauch waren und mit der Erwartung verwendet wurden, verstanden zu werden. Hiervon vermittelt PsSkylax in seinem knappen Abriss zur antiken Levante einen anschaulichen Eindruck (Periplous 104- 106): 14 »Hinter Kilikien kommt ein ethnos, die Syrer. In Syrien leben entlang des Meeres die Phönizier, ein ethnos. […] Eine polis der Tyrer ist Sarapta, eine andere polis ist Tyrus. Sie verfügt über einen Hafen innerhalb der Stadtmauern. Diese ist die königliche Insel der Tyrer. […] Und Akko, eine polis. […] Arad, die polis der Sidonier. […] Joppe, eine polis […]. Askalon ist eine polis der Tyrer, und zwar eine königliche. Dort ist die Grenze Koile-Syriens. […] Nach Syrien [ostwärts] kommen die Araber, ein ethnos, berittene Nomaden, die über Weideflächen für jedwede Art von Vieh verfügen, Schafe, Rinder, Kamele […].« Deutlich wird: jeder gehört zu einem ethnos, nicht aber notwendigerweise auch zu einer polis. Wir wenden uns nun diesen und weiteren antiken Kategorien der Reihe nach zu: 2.1 Ethnos und verwandte Termini In der Antike stand umstandslos fest, dass jeder zu einem ethnos gehört, weil der Begriff so elastisch war. Er bezeichnete einfach die (angenommene) verwandtschaftliche Gruppe, in die man hineingeboren und in der man aufgewachsen war. Es gab hierfür keine Normalgröße oder -form. Perser, Ägypter und Inder waren je ein ethnos, ebenso Makedonen oder Asiaten. Die griechischen ethnē umfassten Ionier, Dorer, Achäer, Ätolier, Böotier und andere. Sowohl Syrer als auch Untergruppen wie etwa die Phönizier oder die Bewohner von Gaza oder Azot wurden als ethnē bezeichnet. 15 Da ethnē für gewöhnlich durch Separation von älteren ethnē entstanden, 16 wie etwa die Judäer als Abkömmlinge der Ägypter galten, wurde der distinkte Charakter eines ethnos durch seine jeweilige besondere Umwelt geprägt: von Lufttemperatur und -qualität, von Boden und Wasser, und von der jeweiligen Entfernung zu den idealen Lebensbedingungen auf dem Boden Griechenlands. Bergregionen schufen ein mutiges und zähes ethnos; Ebenen, Moore und Wüsten begünstigten andere Eigenschaften. Die von der Natur (physis) abhängige Prädisposition wurde modifiziert durch charakterbildende Erfahrungen, etwa durch weitere Wanderungen, Gründerfiguren, Gesetz- 16 ZNT 37 (19. Jg. 2016) Zum Thema »Gebildete Griechen waren fasziniert von einer Welt, die von unterschiedlichen Völkern mit unterschiedlichen körperlichen Merkmalen, Mythen, Gesetzen und Gepflogenheiten (nomoi) bewohnt war, und sie haben sich viele Gedanken darüber gemacht, wie die Welt so geworden ist, wie man sie vorfand.« geber, Kriege (in Siegen und Niederlagen), Beziehungen zu Nachbarn, durch den Umfang und die Eigenschaften des kontrollierten Landes, durch Gottheiten und Formen der Gottesverehrung, durch Entwicklungen des politischen Systems. Besonders wichtig war, wenn das ethnos eine polis gründete und damit zu einem zivilisierten Volk wurde (s. u.). Gebildete Griechen waren fasziniert von einer Welt, die von unterschiedlichen Völkern mit unterschiedlichen körperlichen Merkmalen, Mythen, Gesetzen und Gepflogenheiten (nomoi) bewohnt war, und sie haben sich viele Gedanken darüber gemacht, wie die Welt so geworden ist, wie man sie vorfand. Autoren wie Strabon, Plinius oder Solinus erzählten unterhaltsame Geschichten über bizarre Gebräuche und gruselige Körperformen bestimmter ethnē. Herodes’ produktiver Helfer Nikolaus von Damaskus hat solch eine Sammlung kompiliert. Darin erfährt man etwa vom staunenswerten illyrischen Stamm der Dardaner, dass man dort nur bei der Geburt, bei der Hochzeit und auf dem Totenbett gewaschen wurde. Das skythische ethnos ernährte sich ausschließlich von Milchprodukten, trank Pferdemilch, aß Käse und hatte Frauen und Kinder gemeinsam. Wie man bei Pausanias (2. Jh.) sehen kann, bestaunten die Griechen auch die Diversität im griechischen Kernland, wo man in poleis lebte. 2.2 Polis und verwandte Termini Das gebirgige griechische Kernland (einschließlich der heutigen Westtürkei) brachte zahlreiche isoliert lebende Bevölkerungsgruppen hervor, die natürlicherweise Mauern errichteten, um auf einer Fläche von einem oder zwei Quadratkilometern ihre elementaren Institutionen zu umfrieden, also Märkte, Geschäfte, Versammlungs-, Rats- und Gerichtsgebäude, gymnasia, Tempel, einige Wohnhäuser. Dies war das eigentliche Stadtgebiet (astu), auch wenn die weitaus größere chōra, das Hinter- oder Umland mit der Stadtbevölkerung assoziiert sein konnte. Dort war Raum für Gehöfte, Landwirtschaft, Viehhaltung, unter entsprechend günstigen Bedingungen auch Fischerei oder Bergbau, dazu kleinere Dörfer. Während die Größe einer polis durch begrenzte Ressourcen an Baumaterial, Arbeitskraft und durch andere situative Beschränkungen limitiert war, konnte sich das territorium über einen Radius von einigen wenigen bis zu hunderten von Kilometern erstrecken. Von Griechenland aus verbreitete sich nach Alexander die Struktur von in poleis konzentrierten regionalen Bevölkerungen über den gesamten Osten. Hellenistische Monarchen und nach ihnen die Römer gründeten zahllose neue poleis als nützliche Instrumente ihrer Herrschaftsausübung. In Syrien verschmolzen die ptolemäischen und seleukidischen Neugründungen die griechische Kultur und ihre typischen Institutionen (Tempel, gymnasia, Versammlungs- und Ratsgebäude, Märkte) mit den seit alters bestehenden semitischen Siedlungen. Um die Zeit des 1. Jh. v. Chr. gab es im südlichen Teil Syriens zahlreiche stolze poleis: entlang der Küste von Gaza bis Sidon und Berytus, im Landesinneren die Zehn Städte, darunter Skythopolis, Gadara und Gerasa, die sich entlang des Jordan aufspreizten, dazu die Neugründungen oder namhaften Erweiterungen des Herodes, darunter auch Jerusalem. Eine Mutter-polis (mētropolis) war eine solche, die Kolonien hervorgebracht hatte, die wiederum im Zuge der Übertragung ihrer Gesetze und städtischen Strukturen ihren eigenen polis-Charakter herausbildeten. Die Judäer gesellten sich spät den Kolonisierern bei, und sie gründeten keine neuen poleis als solche, abgesehen von der Judaisierung regionaler Städte während der hasmonäischen Eroberungen. Doch Philo und Josephus verwenden die Terminologie von Mutter-polis und Kolonie, letzeres besser bekannt unter dem nicht so klangvollen Namen der »jüdischen Diaspora« (»Zerstreuung«). 17 »Mutter-polis« konnte auch die Hauptstadt innerhalb einer römischen Provinz bezeichnen. Man kann die Bedeutung des polis-Lebens im östlichen Mittelmeerraum kaum überschätzen. Die polis war die primäre Resource von Identität (man merkt das an Namen wie Nikolaus von Damaskus, Demetrius von Gadara oder auch Paulus von Tarsus), Loyalität und Zugehörigkeit. Im klassischen griechischen Denken sicherte die polis die Freiheit ihrer Bürger. Es war der einzige Platz, wo man wirklich hingehörte, wo die eigenen Gesetze und Bräuche das Gesetz waren. Was wir überdies leicht vergessen: Die antike Welt hatte keine einheitliche Zeitrechnung in Jahre, Monate, Wochen, Tage, besonders Feiertage. Jede polis hatte ihren eigenen Kalender, der vom Jahr der Gründung an zählte, mit einem passend gewählten Jahresbeginn, üblicherweise im Frühjahr oder im Herbst, mit eigenen Monatsna- ZNT 37 (19. Jg. 2016) 17 Steve Mason Das antike Judentum als Hintergrund des frühen Christentums men und -einteilungen (keineswegs selbstverständlich in Siebentage-Wochen), eigenen Göttern und heiligen Tagen. 18 Außerhalb der eigenen Heimat-polis, wenn man anderswo zu Besuch war oder sich dort niederließ, hatte man keinen garantierten Schutz. Poleis wachten sorgfältig über ihr Bürgerrecht, das grundsätzlich nur Kindern von Bürgern offenstand. Nur die Bürger der Stadt hatten vollen Anteil an allen Rechten und Zugang zu den bürgerlichen, kulturellen und bildungsmäßigen Einrichtungen. Fremde, auch wenn sie lange Zeit in der Stadt lebten, blieben Außenstehende. Sie wurden toleriert, solange ihr Aufenthalt für die Stadt von Nutzen war, etwa durch ihre Handelsbeziehungen oder besondere Fertigkeiten, aber als Nicht-Bürger blieben sie auch dann angreifbar durch Verachtung und möglicherweise auch durch härtere Behandlung von Seiten der Bürgerschaft. Die römische Herrschaft brachte einige entscheidende Veränderungen des polis-Lebens mit sich. Erstens führten die Römer, je mehr sie ihre Macht ausdehnten, eine exzellente Innovation ein: Anstatt ihr Bürgerrecht eifersüchtig zu bewachen, so wie es andere taten, boten sie es ausgewählten Eliten in den eroberten poleis an, als einen Anreiz, ihre eigenen Ambitionen mit denen Roms zu vermählen. Zweitens hatten die römischen Provinzgouverneure das letzte Wort bei den Belangen der poleis in ihrem Machtbereich. Das bedeutete nicht, dass das polis-Leben bedeutungslos wurde. In mancherlei Hinsicht wurde es beflügelt, etwa, wenn neue poleis gegründet wurden oder ältere florierten, zumal seit dem späten 1. Jh. Der Wettstreit unter den poleis war heftiger denn je, nun auch um die imperiale Gunst, um den Status der Hauptstadt, und um das Privileg, den Kaiser und Rom mit Tempelkult und Opferdarbringung zu ehren. Mit Hilfe der poleis verwalteten die Statthalter ihre Provinzen, die sie nicht als eine Masse an Territorium ansahen, sondern als Ensemble städtischer Zentren mit unterschiedlichen Eigenschaften. Ein großer Teil der Arbeit, die ein Statthalter zu leisten hatte, bestand darin, diese Zentren regelmäßig zu besuchen und die Beziehungen zu ihren Eliten zu pflegen. So weit als möglich würde er die inneren Angelegenheiten in deren Verantwortung belassen, etwa ihre Gesetze, Kalenderfragen, Brauchtum und Besonderheiten in der Lebensweise. Aber die Oberschicht der römischen Bürger oberhalb der Stadtbürger und das wachsame Auge des Statthalter sorgten miteinander für ein gemäßigtes Auftreten der poleis, besonders in Beziehung auf andere poleis und im Blick auf Minderheiten. Sie durften nicht andere poleis angreifen oder Fremde vertreiben oder sie so schlecht behandeln, dass es zu Aufständen kam. 2.3 Frömmigkeit und Opferkult Wir bewegen uns entlang eines Spektrums von Identitäts- Ressourcen, die durch die Umstände vorgegeben waren hin zu solchen, die in gewisser Hinsicht mit einer Wahl verbunden waren. Während jeder zu einem ethnos gehörte und Verbindungen außerhalb desselben nicht gern gesehen waren, hinderte das Hineingeborensein in eine Stadt niemanden daran, sich anderswo niederzulassen. Dies war kein Stigma, solange die Loyalitäten klar waren. Eine noch größere Wahlfreiheit war mit der dritten Identitäts-Ressource verbunden, ohne einen notwendigen Ortswechsel. Jedes ethnos und jede polis hatte eigene traditionelle Götter (Athene in Athen, Jupiter in Rom, Artemis in Ephesus), deren gewissenhafte Verehrung selbstverständlich niemals vernachlässigt werden durfte. Aber jeder erkannte an, dass benachbarte poleis andere Gottheiten verehrten, und es gab schwerlich Gründe, dies in Frage zu stellen. Die meisten poleis konnten unter bestimmten Umständen sogar Tempel auswärtiger Götter akzeptieren. Viele Götter hatten überall eine exotische Anziehungskraft (etwa Mithras, Isis, Dionysos), sodass es verhältnismäßig einfach war, sie an verschiedenen Orten zu verehren, wenn die lokalen Entscheidungsträger zustimmten. Jenseits der Pflicht, die Hauptgottheit(en) der polis zu verehren, deren Gottesdienst mit dem politischen und sozialen Leben eng verwoben war, war man frei, mit anderen in Beziehung zu treten, solange dies nicht zu einem Konflikt führte. Der Aspekt des antiken Lebens, der für uns wahrscheinlich am schwersten zu begreifen ist, ist die Wirklichkeit eines blutigen, übelriechenden Opfergottesdienstes. Wir tendieren unwillkürlich dazu, den antiken Gottesdienst hygienisch zu machen, wenn wir über dessen Götter und Tempel reden. Wir haben auch keine Vergleichsgrößen für die ernste Angelegenheit von Verunreinigung und Reinigung oder für das Überschreiten der Grenze zwischen heiligen und profanen Räumen. Jede polis hatte aber solche klar markierten Bereiche. Heilige Räume enthielten den Kultort der Gottheit, ein in höchstem Maße heiliger Ort, sowie Altäre in unterschiedlicher Form und Größe, einige von imposanten Ausmaßen (wie etwa der Pergamon- Altar, der jetzt in Berlin steht). Das Areal um die Altäre »Der Aspekt des antiken Lebens, der für uns wahrscheinlich am schwersten zu begreifen ist, ist die Wirklichkeit eines blutigen, übelriechenden Opfergottesdienstes.« 18 ZNT 37 (19. Jg. 2016) Zum Thema diente der Schlachtung der Tiere, die nach Art und Alter der Gottheit entsprechend sorgfältig ausgewählt und vor der Schlachtung geschmückt wurden. Ein Teil des Fleisches wurde von den Flammen verzehrt, die gebratenen Stücke wurden zwischen den Priestern und der Bevölkerung aufgeteilt. Die Stadtoberen und hohen Abgeordneten durften sich, wie es in Athen, Rom und Jerusalem der Fall war, ausschließlich in heiligen oder geheiligten Räumen versammeln, deren Schwelle nur nach rituellen Waschungen und speziellen Opfern überschritten werden durfte. Die Häuser der Gottheiten durften niemals dem Geschehen von Werden und Vergehen wie etwa Geburt und Tod, Krankheit oder körperlichen Ausscheidungen ausgesetzt werden. Deshalb bedurften sie der kultischen Reinigung derer, die sie betraten. 2.4 Freiwillige Vereine, einschließlich philosophischer Schulen Wenn wir das Spektrum zunehmender Wahlmöglichkeiten weiter abschreiten, gelangen wir schließlich zu den freiwilligen Gruppenbildungen des antiken Vereinswesens (thiasos, collegium). Da sie von den Autoren der Eliten ignoriert wurden, wenn sie nicht Unruhe stifteten, verdanken wir einen großen Teil der Zeugnisse über diese Gruppen den Inschriften, die in den letzten zwei bis drei Jahrzehnten Gegenstand intensiver Forschungen waren. 19 Einige Vereine waren rein lokaler Natur, etwa Händler- oder Handwerkergilden (Bäcker, Leder- oder Metallhandwerker), oder ethnische Minderheiten. Andere waren Ortsgruppen translokaler Vereinigungen, sei es, dass sie Isis, Mithras oder Christus verehrten, oder dass sie Anhänger einer philosophischen Schule waren, etwa der pythagoreischen, der platonischen oder der stoischen. Die Inschriften zeigen bei aller Vielfalt der Befunde, dass diese Gruppen sich durch private Mitgliedschaft konstituierten, die man durch spezielle Initiationsriten erlangen konnte. Ebenso geben sie Auskunft über die Beitragszahlungen für den Unterhalt des Vereins, gruppeninterne Verhaltensregeln und regelmäßige (oft monatliche) Zusammenkünfte für Geschäftliches und Geselligkeit, zur Verehrung der Gottheit, und für die Pflege der Kranken oder die Bestattung der Verstorbenen, was in der Antike in privater Zuständigkeit lag. Diese knappe Skizze soll genügen als ein kurzer Ausflug in die längst vergangenen Elite-Diskurse der Welt des antiken östlichen Mittelmeerraumes. Bevor wir nach deren Bedeutung für das Studium von »Judentum und Christentum« fragen, möchte ich auf eine eklatante Leerstelle dieses Diskurses hinweisen, nämlich das Fehlen jedweder Begrifflichkeit, die unserer Auffassung von »Religion« nahe käme. Ich meine damit nicht, dass die antiken Menschen nicht die Götter beachteten, alles andere als das, auch nicht, dass Religion in unserer Welt einfach zu definieren wäre. Was ich meine, ist dies: Seit dem Aufstieg des Christentums im 4. Jh., besonders aber seit der Aufklärung im 18. Jh., arbeitet das westliche Denken mit einer Kategorie namens »Religion«. Obwohl die Definition für Spezialisten ein notorisches Problem darstellt, ist der Begriff doch klar genug, dass beim Militär oder auch in der Verwaltung der Hospitäler oder Gefängnisse nach der Religionszugehörigkeit gefragt wird. Es handelt sich um eine separat benennbare Kategorie, die wir gewohnheitsmäßig oder aus Überzeugung von Politik, Wirtschaft, sportlichen Ereignissen, Unterhaltung, Militärdienst, medizinischer Versorgung oder öffentlicher Bildung unterscheiden. Eine Person, die sich für nichtreligiös erklärt, kann von einer Partizipation in diesem Segment des sozialen Lebens absehen, zugleich aber ungehindert Teil aller anderen Segmente sein. Obwohl wir vielleicht keine suffiziente Definition von Religion vorlegen können, meinen wir doch mit »Religion« alles, was mit Glauben an das Göttliche, mit Gottesdienst und religiösen Versammlungen, mit Ideen über Seele und Jenseits und den damit verbundenen moralischen Überzeugungen zu tun hat. In der antiken Welt war solch eine Segmentierung nicht möglich. Jeder verehrte die polis-Götter, unabhängig davon, was man persönlich glaubte, einfach in der Rolle des polis-Bürgers. Cicero und Plinius gehörten zum Priesterkollegium der Auguren, ohne persönlich von dieser Art der Wahrsagung etwas zu halten. 20 Kaisern und Militärführern oblag die Pflicht, Opferhandlungen zu leiten. Standards von Verunreinigung und Reinheit im Zusammenhang der Tieropfer waren notwendiger Bestandteil der polis-Lebens. Dasselbe gilt für Unterhaltung (das Athenische Drama war Dionysos gewidmet und wurde mit einem Opfer eingeleitet), Bildung, Sport, Medizin (alle berühmten Ärzte kamen aus Asklepios- Tempeln) und für militärisches Handeln, das ohne Opferrituale nicht denkbar war. Selbst wenn man irgendwie die Aspekte der Reinheit und des Opfers aus dem antiken Leben verdrängen könnte, wäre das im Ergebnis doch nicht das, was wir unter Religion verstehen, weil beides in unserer Lebenswelt so gut wie gar nicht vorkommt. »Seit dem Aufstieg des Christentums im 4. Jh., besonders aber seit der Aufklärung im 18. Jh., arbeitet das westliche Denken mit einer Kategorie namens ›Religion‹.« ZNT 37 (19. Jg. 2016) 19 Steve Mason Das antike Judentum als Hintergrund des frühen Christentums Obwohl Arbeiten zu griechischer und römischer »Religion« sich tendenziell auf Kult und Opfer beziehen, hat doch das, was wir heute als charakteristisch »religiöses« Verhalten bezeichnen, das, was man in Synagogen, Kirchen oder Moscheen tut, wenig bis gar nichts mit bluttriefenden Opferaltären zu tun. Und andererseits: Das Lesen und Interpretieren ehrwürdiger Texte, Gespräche über die Seele, das Göttliche und das Jenseits, moralische Ermahnung verbunden mit Pflichten gegenüber Gott und den Menschen, selbst die Sprache der Umkehr und der Bekehrung, selbst die Wiedergeburt zu einem spirituellen Leben der Disziplin und Kontemplation, das für weltliche Dinge unempfänglich war: All dies waren Themen der philosophischen Schulen, und diese waren ihrerseits sehr verschieden von unseren heutigen philosophischen Fakultäten. 21 Kurzum: Die antiken Menschen hatten keine Vorstellung von dem, was wir im Gefolge des isolierten Religionsbegriffs der Aufklärung und der amerikanischen und französischen Revolution unter »Religion« verstehen. Es gibt in der Antike kein vergleichbares Wort. Die nächstgelegenen Termini im Griechischen (thrēskeia), Lateinischen (religio) und Hebräischen (dat) haben eine wesentlich engere Bedeutung. Dabei steht der Religionsbegriff nur für einen von vielen Bereichen-- etwa das Bankwesen, Ländergrenzen, Landkarten, Gesundheitswesen, Polizei, Gefängnisse, Mittelklasse, Menschenrechte, Schulwesen, Hygiene, Abwasserwirtschaft und sanitäre Einrichtungen--, in denen wir die antike Welt keinesfalls einfach mit der unsrigen gleichsetzen können. 3. Einige Konsequenzen Wenn wir versuchen, uns in den antiken Diskurs hineinzudenken, kann dies erhebliche Auswirkungen auf unsere Vorannahmen und unsere wissenschaftliche Beschreibungssprache haben. Ich benenne abschließend fünf Gebiete, auf denen wir von einer Überprüfung unserer Terminologie profitieren können. 3.1 Judäer und Christen Die wichtigste Folgerung ist, dass Judäer und Christen zwei völlig unterschiedliche Arten von Gruppen darstellten. Sie kategorial gleichzustellen würde bedeuten, die Schweiz mit der Heilsarmee zu vergleichen oder Sommerurlauber mit Italienern. Es wäre schlicht ein Kategorienfehler. Keiner hat damals bezweifelt, dass die Judäer ein altehrwürdiges ethnos mit einem berühmten Gesetzgeber und weithin gerühmten Gesetzen waren, mit besonderen Bräuchen und Essgewohnheiten, mit eigenem Kalender und Kleidungssitten, mit einer weithin bekannten mētropolis und chōra, wo ihre besonderen Regeln respektiert wurden (etwa: keine Statuen oder figürlichen Darstellungen, kein Schweinefleisch, keine Arbeit am siebten Wochentag), mit einem erblichen Priestertum, einem spektakulären Tempel und Opferkult, einer besonderen Auffassung von Gott, einer einflussreichen Königsfamilie, mit regionalen Eroberungen und mit Soldaten, die als Söldner überall im Osten anzutreffen waren, was hie und da zur Bildung großer Auslandsgemeinden führte. Bei Philo und Josephus finden wir Beschreibungen judäischer Vereine, einschließlich philosophischer Schulen (Therapeuten, Pharisäer, Sadduzäer, Essener), wenngleich wir oft darauf bestehen, dass es sich eigentlich um »religiöse« Gruppen handelt. Wenn wir uns die Stellung der Judäer in der Alten Welt klarmachen, wird deutlich, dass Christus-Verehrung eine gänzlich andere Angelegenheit war. Christus-Verehrer in unterschiedlichen poleis bildeten definitionsgemäß freiwillige Vereine. Ob sie toleriert waren oder nicht, hing von den örtlichen Verhältnissen ab. Von Anfang an gestaltete sich, wovon die frühen Paulusbriefe und seine wiederholten Inhaftierungen zeugen, ihr Verhältnis zur polis-Kultur spannungsvoll, was sie angreifbar machte. Wir finden in den Quellen verschiedene Antworten auf dieses Problem. Einige erwarteten, aus diesem bösen Äon bald entrückt zu werden. Andere warben um rechtmäßige Anerkennung oder wenigstens Tolerierung für ihre Vereine. Andere verstanden sich als Schüler Christi als Gründer einer philosophischen Richtung oder als Weisheitslehrer, besonders seit Justin, dem Philosophen und Märtyrer, aber möglicherweise bereits im Umfeld des Lukasevangeliums, in Alexandria oder in den Paulus fern stehenden Zirkeln in Korinth. Viele andere fanden es dagegen völlig folgerichtig, sich den Judäern anzuschließen, dem Volk des Christus, und die judäischen Gesetze zu übernehmen. Die Kritik des Kaisers Julian, der in den Jahren 361-363 kurzzeitig versuchte, die vorchristlichen Verhältnisse wieder herzustellen, bezog sich genau hierauf: Ich bin, meinte er, kein großer Bewunderer der hebräisch-judäischen Kultur, verglichen »Die antiken Menschen hatten keine Vorstellung von dem, was wir im Gefolge des isolierten Religionsbegriffs der Aufklärung und der amerikanischen und französischen Revolution unter ›Religion‹ verstehen.« 20 ZNT 37 (19. Jg. 2016) Zum Thema mit den kulturellen Leistungen der griechischen poleis, aber sie ist jedenfalls alt, etabliert und von einem Gott beschützt-- wie ich durch den Wiederaufbau ihres Tempels erweisen werde. Ihr Christen hättet eurer Herkunfts-polis treu bleiben oder aber, falls ihr denn Teil eines anderen ethnos werden wollt, Judäer/ Hebräer werden sollen. So wie die Dinge aber liegen, habt ihr keinen irgendwie nachvollziehbaren Ort in der Welt! 22 Unsere hartnäckige Angewohnheit, »Judentum und Christentum« zu vergleichen, verfehlt die elementaren Gegebenheiten antiken polis-Lebens. 3.2 Judaisierende Christen Diese Beobachtung führt direkt zu der zweiten. Von den frühesten christlichen Texten an bis mindestens ins 4. Jh. besitzen wir Zeugnisse von nichtjüdischen Christus-Verehrern, die das judäische Gesetz samt Schriften und Brauchtum übernommen haben, manchmal bis dahin, dass männliche Konvertiten sich der Beschneidung unterzogen und für sich und ihre Familie einen Platz im judäischen Gemeinwesen erstrebten. Wir wissen davon hauptsächlich von Polemiken gegen dieses Bestreben, angefangen von den scharfen Angriffen des Galaterbriefes über den Hebräerbrief und die Ignatiusbriefe, den ratlosen Eusebius bis hin zu Johannes Chrysostomus im Antiochien des 4. Jh. 23 Nachdem traditionelle Abwertungen solchen Judaisierens als marginal und häretisch im Verein mit dem Bild eines schwächer werdenden Judentums nach 70 das Plädoyer Marcel Simons für ein kräftiges Judentum herausgefordert hatte, das mit dem Christentum in einem engagierten Wettbewerb um Konvertiten stand, 24 stützen neuere Studien die Annahme, dass die Judäer gar kein Interesse an Konvertiten hatten. Diese Arbeiten wenden sich zunehmend linguistisch-theologischen Erklärungen des Judaisierens zu, die dasselbe hauptsächlich als eine innere Angelegenheit verschiedener christlicher Gruppen verstehen, die mit judäischen Gemeinwesen kaum etwas zu tun hatte. Aus Sicht des vorliegenden Beitrags nehme ich freilich an, dass die Dringlichkeit und Heftigkeit der in den Quellen greifbaren Kritik einen realen Hintergrund hatte: Die Bewohner der ostmediterranen poleis, die den christlichen Glauben annahmen, waren einem bedrängenden und real erfahrenen Dilemma ausgesetzt, das notwendigerweise auch die lokalen judäischen Gemeinwesen betraf. Die Folgen von Versuchen, sich diesen Gemeinwesen anzunähern oder anzuschließen, waren aus genau den Gründen absehbar, die Julian genannt hat: Christen mussten in der Welt der ethnē und der poleis ihren Platz finden. Wenn sie ihr Glaube dazu brachte, mit dem gewohnten Leben der polis zu brechen, etwa in Ephesus, Rom, Antiochien oder Thessalonich, dann bedurfte es einer anderen Gruppe. Der Wechsel in eine andere polis würde die Lage nur verschärfen. Das ethnos Jesu selbst, das eine zahlreiche und respektierte Präsenz in vielen ostmediterranen poleis vorweisen konnte, war ein naheliegender Ort, um Sicherheit, Rechtsstellung und Glaubwürdigkeit zu erlangen-- falls man dort willkommen war, wenn man auf diese oder jene Weise sein Christusbekenntnis beibehielt und den eigenen Glauben in einer Weise praktizierte, dass es keine Probleme gab. 3.3 Wie sollten wir Ioudaioi übersetzen? Es gibt keine für jeden denkbaren Fall richtige oder falsche Übersetzung. Die traditionelle und gängige, Juden, ist nicht per se falsch, und ich verwende sie oft aus Gründen der Zweckmäßigkeit. In einem althistorischen Verwendungszusammenhang ergeben sich freilich folgende Probleme: (a) Juden fügt sich glatt zu Judentum, wie man überall im Sprachgebrauch der Forschung sehen kann. Wenn man in der Antike nichts von einem Judentum wusste, wofür standen dann Juden? Die Antwort scheint mir klar zu sein: Ioudaioi standen für die in Judäa ursprünglich praktizierte Kultur. Sie standen für Judäa und ihr Name bedeutete Judäer. (b) Im Griechischen, Lateinischen und Hebräischen ist die enge Beziehung zwischen Ioudaioi/ Iudaei/ Yehudim und Ioudaia/ Iudaea/ Yehudah unübersehbar. Die linguistische Beziehung ergab sich natürlicherweise innerhalb des ethno-politischen Paradigmas. Das Volk von Syrien/ Syria waren Syroi, von Aigyptos Aigyptioi, von Idoumaia Idoumaioi, von Rōmē Rōmaioi, und so weiter. In anderen Fällen übersetzen wir ja auch so: Syrer, Ägypter, Idumäer, Römer, Gallier, Germanen, Spanier. Wenn unser Interesse darin besteht, den antiken Diskurs zu verstehen, was spricht dann dagegen, Ioudaioi in eben dieser Weise mit Judäer zu übersetzen? (c) Es scheint eine verbreitete Annahme zu geben, dass diese Übersetzung die mit Ioudaioi bezeichnete Größe unhintergehbar auf permanente Bewohner Judäas eingrenzt, und dass es deshalb einer anderen Übersetzung im Falle derjenigen Ioudaioi bedarf, die nicht in Judäa leben. Aber mit allen anderen genannten Begriffspaaren existiert die Möglichkeit einer solchen Alternativ- Übersetzung nicht, und wir haben auch keine Probleme damit, von in Rom lebenden Alexandrinern, Ägyptern, Syrern oder Spaniern zu sprechen. 25 Warum nicht auch von in Rom lebenden Judäern? Wenn wir diese Sprachregelung ablehnen, gesellen wir uns dem judäerfeindlichen Autor Apion bei, der ZNT 37 (19. Jg. 2016) 21 Steve Mason Das antike Judentum als Hintergrund des frühen Christentums so tat, als verstünde er nicht, was ein »alexandrinischer Judäer« sein soll. Josephus hat das mit Lust als Bluff entlarvt, indem er die elementaren Fakten der Migration erläuterte (Ap 2,38). Wir sind dann auch nicht in der Lage, stadtrömische Klagen über judäische (und ägyptische) fremde Sitten zu verstehen, weil wir nicht verstehen, dass hier ethno-politische Identitäten kollidieren. 26 3.4 Verfolgung Die gängigen Kategorien befördern unsere Sicht behördlicher Schikanen gegen Christen und Juden als gleichermaßen religiöse Verfolgung, als ob beide Gruppen die römische Ordnung in gleicher Weise bedroht hätten. 27 Dagegen veranlasst uns der antike Diskurs, beide Fälle durchaus zu unterscheiden. Auf der judäischen Seite war für diejenigen, die in Judäa lebten, römische Einmischung nie ein Thema-- ihre Gesetze wurden respektiert und sie wurden von Rom begünstigt- -, bis im Jahr 66 Unruhen ausbrachen und das Massaker an einer römischen Garnison eine römische Antwort erforderte. An anderen Orten hatten die Judäer die typischen Probleme ethnischer Minderheiten mit ihrer prekären Rechtssituation. In Cäsarea hat eine namhafte und wohlhabende judäische Minderheit den Versuch unternommen, die Stadt als judäische polis zu reformieren. Als Nero dieses Ansinnen ablehnte und die dortigen Spannungen sich gewaltsam entluden, wurden die Judäer umgebracht oder vertrieben. In Skythopolis und anderen poleis der Dekapolis führten judäische Vergeltungsschläge dazu, dass die Einwohner die judäischen Minderheiten bestraften oder töteten, die dort bisher in Frieden gelebt hatten (Dies ist so vorhersehbar wie beklagenswert. Man denke an die Internierung von Japanern im Westen während des 2. Weltkrieges). Die schwelenden Konflikte in Alexandria erfahren in einem Brief des Kaisers Claudius 41 n. Chr. höchstamtlich eine Klarstellung. Der Herrscher ordnet an, dass die alexandrinischen Bürger ihre große und alteingesessene judäische Minderheit weiterhin zu tolerieren haben und missbilligt ihre Gewaltbereitschaft. Die Judäer werden dazu verpflichtet, weitere judäische Zuwanderung zu unterbinden, keine weiteren Forderungen zu stellen und keine weiteren Versuche zu unternehmen, in Belangen der Stadt mitzuentscheiden-- in einer polis, die nun einmal nicht die Ihre ist. In einer aufschlussreichen Episode schildert Josephus, wie die Bürger Antiochiens versuchen, ihre judäische Minderheit zu vertreiben, der sie nach dem Krieg mit Rom Fehlverhalten vorwerfen. Titus antwortet (Bell 7,108): »Ihre Vaterstadt (patris), wohin man sie, da sie Ioudaioi sind, vertreiben müsste, ist zerstört, und sonst gibt es keinen Ort mehr, der sie aufnehmen würde«. 28 Hierbei handelt es sich keinesfalls um religiöse Verfolgung, sondern um ein Beispiel für die generelle antike Angreifbarkeit von Minderheiten, die außerhalb ihrer Heimat-polis lebten. Christliche Probleme mit den Behörden waren von gänzlich anderer Art. Christen waren keine migrierenden ethnischen Minderheiten, sondern zumeist Bürger einer polis, die, indem sie sich vom gemeinschaftlichen Gottesdienst, von öffentlichen Ämtern und allen Veranstaltungen, bei denen geopfert wurde (also von praktisch allen), zurückzogen, die Gesetze und Bräuche ablehnten, mit denen sie aufgewachsen waren. Konflikte mit den Mitbürgern waren vorprogrammiert. Probleme im alltäglichen Leben und in wirtschaftlichen Dingen mussten früher oder später die Aufmerksamkeit der Statthalter auf sich ziehen. 29 3.5 Konversion Abschließend verweise ich auf ein ähnlich gelagertes Problem im Blick auf unseren Sprachgebrauch der »Konversion« zum Judentum bzw. zum Christentum als parallele Beispiele »religiöser Bekehrung«. Auch hier legt der antike Diskurs nahe, dass es sich um völlig unterschiedliche Phänomene handelt. Auf Seiten der Judäer-- sei es, dass wir Philos Bemerkungen über Moses’ Fürsorge für die Außenstehenden heranziehen, die sich dem ethnos anschließen und dafür ihre althergebrachten Traditionen und familiären Bande hinter sich lassen (Virt 102 f.), sei es, dass wir Josephus’ elaborierte Erzählung vom Königshaus in Adiabene betrachten, das das judäische Gesetz übernimmt (Ant 20,17-96)-- geht es stets um die Übernahme einer fremden Identität, den folgerichtigen Ärger der Landsleute mit allen erwartbaren Risiken, den göttlichen Schutz für diejenigen, die sich diesen Risiken aussetzen, und in letzterem Fall um neue Bande zwischen der Königsfamilie und der judäischen Haupt-polis, wo sie sich einen Palast baut, wohin sie ihre Söhne zur Erziehung schickt, und die sie sich als Begräbnisort ausersieht. Die Gefahren, die mit dem Verlassen des eigenen ethnos und der althergebrachten Bräuche verbunden sind, gleichen denen, die bereits Herodot Jahrhunderte vorher beschrieben hat (4,76-80). Christliche »Konversion« hatte keine solchen ethnonationalen Charakteristika. Es war eine Änderung des Denkens, des Seelenlebens und der Überzeugungen, vielleicht nicht weniger tiefgreifend, aber doch viel ähnlicher dem neuen Leben eines Philosophen, wie es etwa Lukian im Nigrinus beschreibt (1-3). 22 ZNT 37 (19. Jg. 2016) Zum Thema Anmerkungen 1 E. P. Sanders, Paul and Palestinian Judaism: A Comparison of Patterns of Religion, London 1977. 2 A. F. Segal, Rebecca’s Children: Judaism and Christianity in the Roman World, Cambridge 1986. 3 Vgl. u. a. D. Boyarin, Dying for God: Martyrdom and the Making of Christianity and Judaism, Stanford 1999; D.-Boyarin, Border Lines: The Partition of Judaeo-Christianity, Philadelphia 2004; S. Mason, ›Jews, Judaeans, Judaizing, Judaism: Problems of Categorization in Ancient History‹, in: Journal for the Study of Judaism 38 (2007), 457-512; B. Nongbri, Before Religion: A History of a Modern Concept, New Haven 2013. 4 Zu denken ist etwa an Erich S. Gruen, Werner Eck, Fergus Millar, Timothy Barnes und Glen Bowersock, deren reichhaltige Publikationen leicht auffindbar sind. Hinzuweisen ist auch auf die rapide Zunahme interdisziplinärer Studien- und Promotionsprogramme, ebenso auf Forschungsverbünde, die alle Aspekte der Alten Geschichte umfassen, schließlich auf die weithin bekannte Bryn Mawr Classical Review, die seit ihrer Gründung in den 1990er Jahren zunehmend auch Publikationen zum antiken Judentum und Christentum bespricht. 5 E. g. E. S. Frerichs/ W.S. Green/ J. Neusner, Judaisms and their Messiahs at the Turn of the Christian Era, Cambridge 1987; A. F. Segal, The Other Judaisms of Late Antiquity, Atlanta 1987; G. Boccaccini, Middle Judaism: Jewish thought, 300 B. C. E. to 200 C.E., Minneapolis 1991; A.F. Segal, Paul the Convert: The Apostolate and Apostasy of Saul the Pharisee, New Haven 1992. Jeffrey Siker bespricht diese erhebliche Zunahme des Interesses an den jüdisch-christlichen Beziehungen unter http: / / www.ancientjewreview.com/ articles/ 2014/ 12/ 9/ jewishchristian-relations-at-25-retrospect-prospect. 6 Herodot 4,144.165; 7,138-139 205.233; 8,30-134 u. a.; Thucydides 1,95,5; 1,132,1-2; 3,62,1; 3,63.1; Isokrates, Pan 157; Demosthenes, Arist 205. 7 Einige Sätze später verwendet Josephus einen kunstvollen Kontrast: Auch nachdem eine römische Legion mordend und brandschatzend in Judäa eingefallen war, hielten einige führende Judäer an ihrer Loyalität Rom gegenüber fest bzw. vertraten ohne jede Neigung, sich den neuen anti-römischen Truppen anzuschließen, die römischen Interessen (rhōmaizōn). 8 Letzterer Terminus begegnet nach 2Makk 6,24 nicht mehr. 4Makk 8,15 verwendet das verwandte Verb allophyleō, woran deutlich wird, wie der Verfasser das Nomen im 2Makk verstanden hat. Aber auch das Verb verschwindet sogleich wieder aus der griechischen Literatur. 9 Ignatius Phil. 6,1. Ähnlich sagt er es in Magn 10,3: »Es ist widersinnig, Jesus Christus zu sagen und zu judaisieren, denn der Ioudaismos hat an den Christianismos geglaubt, nicht umgekehrt.« 10 Origenes 32x, Eusebius 24x, Epiphanius 43x, Johannes Chrysostomus 36x, Viktorinus ca. 40x, Ambrosiaster 21x, Augustin 27x. 11 So teilweise S. Schwartz, ›How Many Judaisms were There? A Critique of Neusner and Smith on Definition and Mason and Boyarin on Categorization‹, in: Journal of Ancient Judaism 2 (2011), 203-238. 12 Hierzu G. Shipley, Pseudo-Skylax’s Periplous: the Circumnavigation of the Inhabited World. Text, Translation and Commentary, Exeter 2011. 13 Die ganannten Autoren habe ich via tlg.uci.edu durchsucht nach polis, politēs, politeia, mētropolis, ethnos, ethnikos, homoethnēs, alloethnēs. 14 Eigene Übersetzung nach dem im TLG gebotenen griechischen Text. 15 Vgl. etwa Strabo Geog 8,1; 16,2,2; Pausanias 7,16,10; Josephus Ant 1,122-139. 16 Vgl. Herodot 7,91 über die diversen Ursprünge der Zyprioten. 17 Philo Conf 78; Flacc 46; Legat 281-282; Josephus Apion 2,38. 18 A. E. Samuel, Greek and Roman Chronology: Calendars and Years in Classical Antiquity, München 1972. 19 Darunter J. S. Kloppenborg/ S. G. Wilson (Hg.), Voluntary Associations in the Graeco-Roman World, London, 1996; I. N. Arnaoutoglou, Roman Law and collegia in Asia Minor, in: Revue internationale des droits l’antiquité 49 (2002), 27-44; I.N. Arnaoutoglou, Collegia in the Province of Egypt in the First Century CE, in: Ancient Society 35 (2005), 197-216; P. A. Harland, Associations, Synagogues, and Congregations: Claiming a Place in Ancient Mediterranean Society, Minneapolis 2003; J. S. Kloppenborg/ R. Ascough/ P. A. Harland, Greco-Roman Associations: Texts, Translations, and Commentary, Berlin 2011; R. S. Ascough/ P. A. Harland/ J. S. Kloppenborg, Associations in the Greco-Roman World: A Sourcebook, Waco 2012. 20 Cicero Div 2,33; Plinius, Ep 4,8; 10,13. 21 A. D. Nock, Conversion: the Old and the New in Religion from Alexander the Great to Augustine, London 1933. 22 So lässt sich die bei Julian (Contra Galilaeos 42e-43b, 49ac, 96c-e, 100e-106e, 194d-202a, 253a-e, 305d, 314c-e, 319d-20c, 343c-58e) formulierte Position paraphrasieren. 23 Vgl. dazu M. Murray, Playing a Jewish Game: Gentile Christian Judaizing in the First and Second Centuries, CE, Waterloo 2004. 24 M. Simon, Verus Israel: étude sur les relations entre Chrétiens et Juifs dans l’Empire romain, Paris 1948, 135-425; dagegen M. S. Taylor, Anti-Judaism and Early Christian Identity: A Critique of the Scholarly Consensus, Leiden 1995. 25 Vgl. D. Noy, Foreigners at Rome: Citizens and Strangers, London 2000. 26 Tacitus Hist 5; Ann 2,85; Josephus Ant 18,83-84; Sueton Tib 36; Cassius Dio 57,18,5; 60,6,6; 67,14,2; 68,1,2. 27 So etwa R. Macmullen, Enemies of the Roman Order: Treason, Unrest and Alienation in the Empire, Cambridge 1966, 145-162. 28 Übersetzung nach Flavius Josephus, De Bello Judaico-- Der jüdische Krieg, Bd. II,2, Darmstadt 1969, 97 (mit Änderungen). Vgl. weiter Bell 2,266-70; 284-92; 458-80; P. Lond. 1912 = CPJ II.36-60 [Nr. 153]. 29 1Thess 2,2.14; Apg. 19,23-28; Plinius, Ep 10,96. ZNT 37 (19. Jg. 2016) 23 1. Die Anfänge des rabbinischen Judentums Die Anfänge des rabbinischen Judentums gehen zurück in die Zeit nach der Zerstörung des zweiten Tempels im Jahre 70 unserer Zeitrechnung. Zuvor war der Tempel das Kultheiligtum Israels, in dem Priester und Leviten den Opferdienst versahen. Das einfache Volk wirkte durch seine Abgaben an den Tempel, etwa durch Zehntgaben zur Unterstützung der Priester und Leviten, am Opferkult indirekt mit. Daneben gab es vermutlich schon zur Zeit des zweiten Tempels eine private Frömmigkeit und wohl auch schon eine Art des synagogalen Gottesdienstes. 1 1.1 Das Religionsgesetz: Die Mischna-- Leben nach Regeln Die frühesten rabbinischen Texte, nämlich die Traktate des in der Mischna zusammengestellten rabbinischen Religionsgesetzes, geben ein anschauliches Bild, wie sich die Rabbinen ein gottesfürchtiges Leben für alle Israeliten vorstellten: Männer sollen morgens den Tag mit einem Gebet beginnen und den Tag auch mit einem Gebet beschließen. Der Traktat Berachot regelt darüber hinaus minutiös den Tagesablauf. So sollte der Glaube an den Gott Israels das Leben bis in die alltäglichen Kleinigkeiten hinein prägen. Bereits um 200 in unserer Zeitrechnung haben die Rabbinen ein in sechs Ordnungen aufgeteiltes Religionsgesetz erarbeitet, das das gesamte Leben strukturiert. In der ersten Ordnung wird hauptsächlich das Steuerrecht behandelt, das an die früheren Abgaben an den Tempel anknüpft. Die zweite Ordnung enthält die Regeln für die Fest- und Feiertage. Die dritte Ordnung verhandelt das Familienrecht und Fragen, die assoziativ mit dem Familienrecht verbunden sind (etwa: Wie werden Gelübde abgelegt, oder: Wie verhalte ich mich, wenn meine Frau oder meine Tochter ohne mein Wissen ein Gelübde abgelegt hat, mit dem ich nicht einverstanden bin). Die vierte Ordnung ist dem Strafrecht gewidmet, die fünfte Ordnung enthält Reinheitsvorschriften und die sechste Ordnung archiviert die Vorschriften, die für den Tempelkult relevant sind. Zusätzlich zu den Vorschriften in der Mischna, die nur jeweils knapp und zumeist ohne Begründung zusammengestellt worden sind, haben die Rabbinen zusätzlich Kommentare zur hebräischen Bibel, vor allem zu den fünf Büchern der Tora verfasst, um darin die Grundlagen für das Religionsgesetz noch einmal aus der Bibel selbst abzuleiten. In diesen Kommentaren, den Midraschim, wird die hebräische Bibel aus der Sicht der Rabbinen erklärt. Unverständliche Begriffe werden vor dem Hintergrund des rabbinischen Sprachgebrauchs erläutert, die einzelnen Aussagen der Bibel werden so ausgelegt, dass neue Erkenntnisse aus der Bibel deduziert werden können. Dazu benutzte man die Middot, die Auslegungsregeln, auf deren Anwendung die Rabbinen sich einigten. Programmatisch stehen die Middot dem ersten Buch, das in der rabbinischen Tradition studiert wird, voran, der Auslegung des Buches Leviticus, dem Midrasch Sifra. 1.2 Die Rabbinen Das rabbinische Judentum formierte sich in Gestalt zahlreicher einzelner Gelehrter, die die Bibel studierten, auslegten, in Bezug auf religiöse Entscheidungen gefragt wurden und wohl auch Recht sprachen. Sie traten einzeln auf und scharten einen Schülerkreis um sich. Die an den verschiedenen Lehrorten entwickelten Lehren fanden ihren ältesten Niederschlag in der Mischna, die, so die Überlieferung, Rabbi Jehuda ha-Nasi (»Jehuda der Fürst«) maßgeblich geprägt hat. Dabei konnte er freilich, so die Auskunft des Rab Scherira Gaon (Oberhaupt der babylonischen Akademie des 10. Jh.), auf ganze Traktate zurückgreifen, die bereits vorlagen. 2 In der Forschung wurde immer wieder der Versuch unternommen, die soziale Situation der Rabbinen aus der rabbinischen Literatur zu erschließen. 3 Dem sind freilich enge Grenzen gesetzt: Die Texte selbst sind in erster Linie als theologische Schriften konzipiert, die nicht über die historische Lebenswirklichkeit ihrer Protagonisten berichten wollen. Wenn diese Lebenswirklichkeit zur Sprache kommt, geschieht dies im Dienst idealisierter Lehrbeispiele. Rabbinische Gelehrte in der rabbinischen Literatur dienen als leuchtende Vorbilder, 4 oder sie werden in Situationen Dagmar Börner-Klein Was ist Rabbinisches Judentum? Zum Thema »Rabbinische Gelehrte in der rabbinischen Literatur dienen als leuchtende Vorbilder.«