eJournals ZNT – Zeitschrift für Neues Testament 19/37

ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
2016
1937 Dronsch Strecker Vogel

Antijudaismus im Neuen Testament –

2016
Rainer Kampling
4 ZNT 37 (19. Jg. 2016) Neues Testament aktuell […] entsprang hier das Licht; sondern, wie Johannes sagt, aus einem mit hartem Dunkel umschlossenen hellen Lichte. Ein so sonderbarer Schritt mußte geschehen, damit das Licht hervorbräche; eben aus dem harten Judenthum entsprang der reinste Anti-Judaismus, Religion der Völker.« Nun spiegelt sich in dieser Aussage fraglos der Nationen- und Volksbegriff Herders wider. 15 Aus dem Judentum entsteht dessen Negierung, das Christentum mit seinem behaupteten universalen Charakter. Damit wird der Begriff zu einer Kurzformel des Verhältnisses zwischen Judentum und Christentum. Mit ihm können, wie die weitere Entwicklung in der neutestamentlichen Exegese des 19. Jahrhunderts zeigt, 16 die Haltung der christlichen Akteure, ihre Aktionen und die Tendenz ihrer Schriften benannt werden, und zwar mit einer positiven Konnotation. Durch die Schriften von Ferdinand Christian Baur (1792-1860) wurde die Kategorie Antijudaismus endgültig etabliert und das Gemeinte wissenschaftlich diskutiert. Bei Baur wurde das Wort Antijudaismus bzw. antijüdisch zu einem heuristischen Mittel der Neuschreibung frühchristlicher Geschichte. Da er es auch bei der Unterscheidung von Paulinen und Deuteropaulinen einsetzte, waren die folgenden heftigen Kontroversen vorgezeichnet. Es lässt sich feststellen, dass auch die, die dieses Kriterium zur Beurteilung der Echtheit neutestamentlicher Schriften ablehnten, durchaus bereit waren, die Konzeption eines Antijudaismus zu übernehmen und sie auf fast alle Schriften des Neuen Testaments anzuwenden. Nun könnte man vielleicht vermuten, der aufkommende rassistische Antisemitismus des 19. Jahrhunderts hätte Exegeten veranlasst, mit der Zuschreibung des Antijudaismus an das Neue Testament zurückhaltender umzugehen. Es gab aber sehr wohl exegetische Positionen, die das Neue Testament in Einklang mit der neuen politischen Bewegung bringen konnten. In dieser Sicht hatten die neutestamentlichen Autoren mit dem ihnen eigenen Antijudaismus eine antizipierende Funktion. 1Thess 2,15 f. wird zu einem Basistext für die Konstruktion einer Geschichte des Antisemitismus stilisiert, nicht nur von Exegeten, aber auch von Exegeten. Unschwer kann man bei diesen Autoren den Willen feststellen, die Bibel an gesellschaftlichen Prozessen teilhaben zu lassen, um sie als aktuell und zeitgemäß erscheinen zu lassen. Der hohe Wissenschaftsanspruch der Exegese des 19. Jahrhunderts sorgte dafür, dass solche Aussagen als Ergebnisse objektiven Arbeitens angesehen, angenommen und verbreitet wurden. Es gab selbstredend auch im 19. Jahrhundert solche Exegeten, die sich dem Mainstream widersetzten. Als Sammelbegriff ist im Bibliothekssystem und in Bibliographien des 18. Jahrhunderts die Bezeichnung Anti-Iudaica nachweisbar. 9 Darunter wurden Schriften zusammengefasst, deren Inhalt auf Widerlegung, Ablehnung und Polemik gegen Judentum und jüdischen Glauben zielte. Ganz offensichtlich wird damit ein Wissen um die Besonderheit dieser literarisch-theologischen Gattung und die ihr zugrundeliegenden gemeinsamen Aspekte angezeigt. Von diesem Gebrauch ist dann wohl auch die Begriffsbildung des Wortes Antijudaismus herzuleiten, mit dem diese gegen das Judentum gerichtete Tendenz und Gesinnung benannt wird. Der Begriff begegnet vermutlich 10 erstmals 1794 bei Johann Friedrich Kleuker, (1749-1827), 11 und zwar in Ausführungen zum Jakobus-Brief: »Dem Briefe selbst wird dadurch aber nichts von seinem innern Werthe benommen; vielmehr lernt man daraus, daß es neben den zwölf Aposteln einen Jacobus als Diener Christi gegeben hat, der seinen eigenen Charakter trug,-- den Charakter der Innigkeit und Strenge, der Weisheit und Milde,-- der das Mittel hielt zwischen dem Anti-Judaismus eines Paulus und der peinlichen Anhänglichkeit am Aeußern des Judenthums […].« 12 Dass Kleuker ohne jede Erklärung von einem »Anti-Judaismus eines Paulus« sprechen kann, wird man wohl so lesen dürfen, dass er bei seinen Lesern ein Wissen um das Gemeinte voraussetzen konnte. Tatsächlich war die Vorstellung von Paulus als Antijudaist im 18. Jahrhundert bereits etabliert. 13 Wenige Jahre später findet sich der Begriff bei dem mit Kleuker bekannten Johann Gottfried von Herder in seinem 1798 veröffentlichen Werk Von Religion, Lehrmeinungen und Gebräuchen; 14 es heißt in § 26: »Offner Gang der Vorsehung! Nicht aus dem tiefsten Dunkel Prof. Dr. Rainer Kampling, geb. 1953, ist seit 1992 Professor für Biblische Theologie/ NT an der Freien Universität Berlin. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählt die Theologie und Geschichte der Jüdisch-Christlichen Beziehungen. Er ist Mitglied des Direktoriums des Zentrums Jüdische Studien Berlin-Brandenburg. Prof. Dr. Rainer Kampling ZNT 37 (19. Jg. 2016) 5 Rainer Kampling Antijudaismus im Neuen Testament Hier sei nur der Name Franz Delitzsch genannt. 17 Bemerkenswerterweise waren es oft konservative Wissenschaftler, die in der Vorstellung eines Antijudaismus im Neuen Testament als Deutungskategorie eine historische Entwurzelung der Schriften sahen. Genauerhin waren es zumeist solche, die an der Frühdatierung neutestamentlicher Schiften festhielten. Damit befanden sie sich im 19. Jahrhundert in einer zweifach begründeten Minderheitenposition. Die Exegese des 19. Jahrhunderts hat die traditionelle Vorstellung des Antijudaismus im Neuen Testament nicht nur übernommen, sondern wissenschaftlich fundiert. Da das Thema nicht am Rand der exegetischen Debatten stand, sondern mit deren Zentren verbunden war, war es mit methodischen und hermeneutischen Fragen auf das Engste verschränkt. Es gibt wenig Grund daran zu zweifeln, dass auf die Frage, ob das Neue Testament Antijudaismus enthalte, die meisten Exegeten des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts ohne Zögern mit »Ja« geantwortet hätten. Der behauptete Antijudaismus im Neuen Testament wurde nicht etwa als Problem empfunden, sondern vielmehr als eine historische und theologische Selbstverständlichkeit angesehen. Er war Beleg für die Entwicklung einer vom Judentum losgelösten, selbstständigen Religion. Zu welchen Auswüchsen das während der Zeit des Nationalsozialismus geführt hat, in der bemerkenswert zahlreiche Exegeten sich zu Handlangern der rassistischen Ideologie machten, bedarf hier keiner eigenen Ausführungen. 18 3. Die Infragestellung oder: Beim Wort genommen Dass die Aufarbeitung dieser Verstrickung so lange Zeit in Anspruch nahm, ist angesichts des Beschweigens in beiden deutschen Staaten wenig verwunderlich. Die Wenigen, die sich äußerten, ergingen sich in Entschuldungsmythen. Viele exegetische Arbeiten der 50er und frühen 60er Jahre lassen erkennen, dass ein Umdenken in der exegetischen Wissenschaft nicht eingesetzt hatte. Die Anfrage an das Konzept des Antijudaismus im Neuen Testament kam daher von außen. 19 Sie ist unlöslich mit dem Namen Jules Isaac (1877-1963) 20 verbunden. In seinem Werk Jésus et Israël, noch während des Krieges geschrieben und 1948 publiziert, hatte er einerseits die engen Bindungen Jesu ans Judentum herausgehoben. Andererseits aber hatte er eine Verbindung zwischen dem Antijudaismus des Neuen Testaments und dem genoziden Antisemitismus hergestellt, indem er den einen als die Ursache des anderen betrachtete. Ihm zufolge konnten und mussten das Neue Testament und die Judenvernichtung zusammengedacht werden. Auf diese These reagierten die ersten, meist christlichen Rezensenten mit Verstörung, worauf Jules Isaac sich späterhin mehrfach bezogen hat. 21 Dass die zeitgenössische Rezeption zunächst in einer Abwehrhaltung verharrte, ist zweifelsohne auch dadurch zu erklären, dass seine Analyse als historische Herleitung unter Benennung von Verantwortlichen geschah. Jules Isaac gehörte zu den Ersten, die eine historische und darin rationalisierende Deutung der Shoa versuchten. Jules Isaacs Ansatzpunkte waren die Erfahrung der Shoa und die weitgehende Teilnahmslosigkeit von Christen gegenüber diesem Geschehen. Dieser Befund wurde von ihm dahingehend gedeutet, dass Christen den Positionen des Antisemitismus wenn nicht zustimmten, so doch wenigstens indifferent gegenüber standen. Als verantwortlich für diese Haltung sah er die lange Tradition der Judenfeindschaft im Christentum an, der Doktrin der Verachtung. Deren Wurzeln fand er wiederum im Neuen Testament. Mit ihm wird die Grundlage für das gelegt, was in der Shoa geschah. Für Jules Isaac ergab sich aus seiner Analyse die Notwendigkeit zum jüdisch-christlichen Gespräch, um über die Gefahren aufzuklären. Die Konferenz von Seeligsberg 1947 war der Auftakt zu vielen ähnlichen Initiativen. Unbeschadet dessen, ob man Isaacs These teilt, ist doch festzustellen, dass er mit seiner Analyse des Neuen Testaments als antijüdische Schrift dem Mainstream der damaligen exegetischen Forschung entsprach. Er hat diese Annahme des Antijudaismus des Neuen Testaments vom Text in den Bereich der Rezeption transferiert, indem er ihm eine historische Wirkmächtigkeit zusprach. Wenn eine kanonische Schrift die Verachtung der Juden lehrt, und diese Lehre über die Jahrhunderte fortgeschrieben wird, kann das, so die Konsequenz Jules Isaacs, nicht folgenlos bleiben. Recht betrachtet hat er die Exegeten beim Wort genommen. »Jules Isaac gehörte zu den Ersten, die eine historische und darin rationalisierende Deutung der Shoa versuchten.« »Die Exegese des 19. Jahrhunderts hat die traditionelle Vorstellung des Antijudaismus im Neuen Testament nicht nur übernommen, sondern wissenschaftlich fundiert.« 6 ZNT 37 (19. Jg. 2016) Neues Testament aktuell Diese haben aber bis in die 60er Jahre auf diese Anfrage nicht reagiert, auch hierin in einer Tradition verharrend, die darin bestand, jüdische Stimmen zum Neuen Testament einfach zu ignorieren. Allerdings wurde die Infragestellung außerhalb universitärer Wirkungsstätten durchaus zur Kenntnis genommen, obwohl die Monographie von Isaac erst 1968 ins Deutsche und 1971 ins Englische übersetzt wurde. Es waren engagierte Christinnen und Christen, die sich mit dem von Isaac behaupteten Zusammenhang auseinandersetzten, oftmals in kleinen Zirkeln, die aber eine erstaunliche Strahlkraft besaßen. Sie waren es, die dieses Problem in die Kirchen und Universitäten brachten und eine Antwort einforderten. Sie wurden oftmals von dem Schrecken vor der Möglichkeit, dass Isaac recht haben könne, motiviert; diesen horror veritatis findet man auch bei Gregory Baum. In seinem Werk The Jews and the Gospel (1961), in dem er zwischen Text und antijüdischer Rezeption trennt, vertritt er vehement die Meinung, »man könnte nicht daran glauben, daß das Neue Testament die göttliche Offenbarung und die Quelle des menschlichen Heils darstellt, wenn man wirklich überzeugt wäre, daß es Verachtung und Haß gegen das jüdische oder irgendein anderes Volk einflößt«. 22 Wer, wie Gregory Baum, sein Bekenntnis oder besser: seine Furcht dieses Bekenntnis zu verlieren, als methodisch-hermeneutische Voraussetzung zur Beurteilung historischer und literarischer Sachverhalte wählt, kann wohl zu keinem anderen Ergebnis kommen als dem, dass es keinen Antijudaismus im Neuen Testament gibt. Das Buch, das breite Rezeption gefunden hat, ist nicht so sehr eine kritisch-exegetische Auseinandersetzung, als vielmehr der Versuch, nicht in den Abgrund blicken zu müssen, den Jules Isaac aufgewiesen hat. Ob diese verständliche Abwehrhaltung nicht auch noch heutige Diskussionen begleitet, sei wenigstens angefragt. Die Annahme, nach der Shoa habe es eine Änderung in der exegetischen Wissenschaft und ihrer Wahrnehmung des Judentums gegeben, ist zu präzisieren. Die Veränderung ist keine Reaktion auf die Shoa, sondern eine auf die Anfrage, ob das Neue Testament in einem ursächlichen Zusammenhang mit der Shoa steht. 4. Keine Antwort, aber viele Versuche Nachdem sich die neutestamentliche Exegese der Frage nach dem Antijudaismus im Neuen Testament und damit ihrer eigenen Geschichte gestellt hatte, geschah das mit der ihr eigenen Gründlichkeit, Genauigkeit und Intensität. Wann man diesen Zeitpunkt veranschlagen kann, ist umstritten. Es spricht doch einiges dafür, den Türöffner im deutschsprachigen Raum in Erich Grässers Marburger Vorlesung im Januar 1964, Die antijüdische Polemik im Johannesevangelium, zu sehen. 23 Er war dann auch Referent bei der Arnoldshainer Tagung im Frühsommer 1966, bei der jüdische, katholische und evangelische Theologen über die Frage »Antijudaismus im Neuen Testament? « diskutierten. Die Publikation 1967 etabliert das Thema zwar noch nicht, aber macht es »wissenschaftsfähig«. Und wenn in den folgenden Jahrzehnten auch eine solche Fülle von Literatur erschien, dass sie dem, der sie verfolgen will, wirklich zur Legion werden kann, ist doch nicht zu übersehen, dass dort in Arnoldshain bereits viele Lösungsmodelle, aber auch Aporien antizipierend benannt wurden, die bis heute die Debatten begleiten. In ihnen haben sich verschiedene Modelle der Interpretation herausgebildet, die sich mit einiger Vorsicht folgendermaßen kategorisieren lassen: 24 Zunächst sollte man nicht übersehen, dass sich durchaus noch Vertreter einer affirmativen Position finden lassen, die nicht nur bejahen, dass es einen Antijudaismus im Neuen Testament gibt, sondern ihn als wichtigen Bestandteil der neutestamentlichen Theologie betrachten. Die Rezeptionsgeschichte der Texte wird dabei ausgeblendet und ein Zusammenhang mit dem Antisemitismus heftig bestritten. Der neutestamentliche Antijudaismus wird zwar als fundamental für die eigene Glaubensexistenz angenommen, aber als folgenlos für die aktuelle Wahrnehmung und Beurteilung von Juden und Judentum behauptet. 25 Ein weiteres Modell ist das einer historischen Lektüre der Texte. Freilich ist dieses Modell selbst wieder aufgesplittet. Einmal geht es um die Annahme einer innerjüdischen Kontroverse, da die Autoren der neutestamentlichen Schriften selbst Juden waren und sich als Juden verstanden. Mit anderen Juden hätten sie über ihre Erfahrung im Glauben an Jesus als Christus gestritten. Die Streitkultur sei zur Zeit des Zweiten Tempels »Die Annahme, nach der Shoa habe es eine Änderung in der exegetischen Wissenschaft und ihrer Wahrnehmung des Judentums gegeben, ist zu präzisieren.« ZNT 37 (19. Jg. 2016) 7 Rainer Kampling Antijudaismus im Neuen Testament und hernach heftig und polemisch gewesen. Erst aber in der paganen-christlichen Rezeption seien die Aussagen antijüdisch funktionalisiert worden. Das Bestechende an dieser Deutung ist zweifelsohne, dass sie den Begriff Antijudaismus, angewendet auf die neutestamentlichen Schriften, als sprachlichen Nonsens zu entlarven versucht: Antijudaismus zwischen Juden kann es nicht geben. Aber so anziehend dieser Entwurf ist, so sehr dient er dazu, das Problem zu verlagern. Es sind nun die Heidenchristen, die gegen die Intention des Textes aus nicht erklärbaren Gründen in einen rigorosen Antijudaismus verfallen. In der Konsequenz der Argumentation muss man schlussfolgern, dass die neutestamentlichen Autoren intentional ausschließlich für jüdische Rezipienten schrieben, was weder für alle Evangelien, noch gar für die Briefe anzunehmen ist. Hinzu käme, dass der Transfer von den jüdischen Rezipienten zu den Christen paganer Herkunft ohne jede Einflussnahme verlaufen wäre. Ob man all dies historisch wahrscheinlich machen kann, sei doch angefragt. Allerdings tut sich bei diesem Modell ein theologisch weit bedeutsameres Problem auf: Selbst wenn man meint, die einzelnen Autoren und einzelnen Schriften auf diese Art erklären zu können, so stellt sich dann mit Blick auf die Kanonwerdung die Frage nach dem Antijudaismus mit aller Schärfe. So war die Kanonizität von Hebräerbrief und Apokalypse auch im 4. Jahrhundert noch strittig. Beide wurden zeitgleich fast durchgängig antijüdisch ausgelegt. Man kann mithin nicht ausschließen, dass bei ihrer Aufnahme in den Kanon die antijüdische Interpretation ausschlaggebend war. In letzter Konsequenz heißt das: Der Antijudaismus hätte zwar nicht bei der Abfassung der Schriften Pate gestanden, wohl aber bei der Kanonisierung. Einen Grund für eine Beruhigung kann man darin wohl nicht feststellen. Grundsätzlich zu bedenken ist freilich auch die Frage, ob angesichts der Tragik der jüdischchristlichen Beziehung die Reduzierung auf ein kulturell bedingtes Missverständnis am Anfang wirklich erträglich ist. Zum historischen Erklärungsmodell wird ebenfalls der Versuch gezählt, die Polemik religionssoziologisch aus dem Minoritätsstatus der Getauften herzuleiten. Sie gilt als üblicher Begleitumstand von Ablösungs- und Selbstfindungsprozessen, die mit denen der Selbststigmatisierung einhergehen. Bei der Rekonstruktion dieser Abläufe wird das Modell der kognitiven Dissonanz miteinbezogen. 26 In dieser Herangehensweise wird der Begriff des Antijudaismus im Neuen Testament als heuristisches Instrument vermieden, weil mit dem Terminus selbst die Ergebnisse der Analyse präjudiziert werden können, da somit indirekt ein den Schriften zugrundeliegendes System behauptet wird. Die polemischen Ausfälle werden als Versprachlichung negativer Erfahrungen, seien sie nun real oder imaginiert, gedeutet, die sich verbreiteter religiöser Sprachmuster bedienen. Eine theologische Relevanz solcher Äußerungen wird bestritten, da es sich um situative handelt, die in sich nicht den Anspruch auf Gültigkeit tragen, sondern ihren Ort in ihren je eigenen historischen Prozessen haben. Dieser Ansatz hat zweifelsohne den Vorteil, dass er dazu in der Lage ist, nicht nur die Polemiken gegen jüdische, nichtmessianische Gruppen, sondern auch solche gegen die pagane Umwelt zu erklären. Zweifelsohne wird theologiegeschichtlich das Problem weder geleugnet noch vermindert; denn die Frage, die damit aufgeworfen wird, lautet nun, aus welchen Gründen spätantike christliche Theologen die neutestamentlichen Vorgaben transferierten und in ein System des Antijudaismus integrierten, obwohl die Situation der Bedrohung der der Konsolidierung und Stabilisierung gewichen war. 27 Ein anderer Entwurf, der etwa von Ernst Ludwig Ehrlich 28 vertreten wurde, geht davon aus, dass eine symbolhafte Interpretation der antijüdischen Stellen ihren eigentlichen Aussagegehalt erheben könnte. Dazu gehört die Interpretation solcher Texte als innergemeindliche Polemiken und Kritiken, in denen Juden nur figurieren. So wurden die Ioudaioi des Johannesevangeliums als Symbole der Welt gesehen. Es war Gerd Theißen, 29 der mit allem Recht zur Vorsicht mahnte. Der Jude als Symbol des Anderen, als Symbol des Gegners oder der Welt entspricht aufs Genaueste den Denkmustern des modernen Antisemitismus. Das, was man eigentlich vermeiden will, fällt verschärft auf einen zurück. Läßt man den Radikalentwurf der Streichung vermeintlicher Antijudaismen im Neuen Testament beiseite, bleibt noch das methodische Modell der historischen Rezeptionsforschung zu erwähnen. 30 Bei diesem Modell geht es nicht primär um die biblischen Texte selbst, sondern um deren Interpretation und Funktionalisierung in »Antijudaismus zwischen Juden kann es nicht geben.« »Der Jude als Symbol des Anderen, als Symbol des Gegners oder der Welt entspricht aufs Genaueste den Denkmustern des modernen Antisemitismus.« 8 ZNT 37 (19. Jg. 2016) Neues Testament aktuell bestimmten historischen Kontexten. Dabei ist die Leitfrage nicht, ob die Texte selbst antijüdisch sind, sondern aus welchen Gründen sie so ausgelegt wurden. Methodische Probleme gibt es freilich auch hierbei genug. Trotz vieler vollmundiger Erklärungen kann die Nachzeichnung aller verschiedenen Konstanten des Rezeptionsprozesses nicht gelingen, zumal bei historischen Autoren der subjektive Faktor kaum zu rekonstruieren ist. Ein neuerer Ansatz, insbesondere in der reception history zu finden, 31 geht davon aus, dass vorhandene Texte einen kulturellen Pool bildeten, an dem alle Akteure partizipieren konnten. Die Prozesse der behaupteten Rezeption entraten weitgehend der Nachprüfbarkeit, wobei aber eben diese Fraglichkeit methodisch gewollt ist. Letztlich wird die Assoziationsfähigkeit und Assoziationsmöglichkeit des gegenwärtigen Rezipienten als die ausgegeben, die auch historisch anzunehmen ist. Damit ist ein weiteres Problem benannt, nämlich das der imaginierten Rezeption. Texte aus dem Neuen Testament werden u. a. als Antijudaismen qualifiziert, weil man ihnen eine antijüdische Rezeptionsgeschichte unterstellt. Dass es sich dabei um einen methodischen Fehlschluss handelt, bedarf keiner weiteren Begründung. Es wurde und wird hier eine Unmittelbarkeit der Wirkung eines Textes behauptet, der als historisches Subjekt des Objekts Rezipient gedacht ist. 32 Im Zuge der Rezeptionsforschung erwies sich oftmals, dass sich die Annahme einer antijudaistischen Rezeptionsgeschichte keineswegs durchgängig belegen ließ. So führt etwa 1Thess 2,15, die sog. Judenpolemik, in den Diskursen durch die Jahrhunderte eine untergeordnete Rolle. Erst mit der neuzeitlichen Exegese setzt die antijudaistische Lesart ein. Die bisherigen Arbeiten auf diesem Feld führen zu einem vielleicht irritierenden Ergebnis: Für die Ausbildung des Antijudaismus als theologisches System in der christlichen Spätantike sind alttestamentliche Texte als Belegtexte qualitativ und quantitativ von größerer Bedeutung als neutestamentliche. Selbst die Aussage, Jesus sei von den Juden gekreuzigt worden, wird von vielen antiken Theologen nicht allein auf der Basis neutestamentlicher Texte getroffen, sondern durch bisweilen hermeneutisch kühne Verschränkungen von Typologie und Allegorese, Altem und Neuem Testament. 33 Gewiss muss sich auch dieser Ansatz kritischen Anfragen aussetzen. Gemäß der Hermeneutik des Verdachts wird ihm unterstellt, auf diese Weise sollten die kanonischen Texte exkulpiert werden. Allerdings ist dieser Vorwurf nahezu absonderlich, da gerade in der Rezeptionsforschung die Isolation des Textes aufgebrochen und er als Bestandteil eines vielschichtigen Prozesses analysiert wird. Völlig verkannt wird dabei das kritische Potential der Rezeptionsforschung, insofern sie als Bestandteil der exegetischen Wissenschaft verstanden wird. Sie ist nicht dazu da, archivarisch tätig zu sein, sondern die je eigene Bedingtheit angesichts des Textes vor Augen zu führen. Damit gibt sie den Texten auch etwas von der ihnen zustehenden Fremdheit zurück, die sie vor der distanzlosen Aneignung schützen kann. Allerdings wird man der EKD-Denkschrift Christen und Juden III aus dem Jahre 2000 zustimmen müssen, wenn sie formuliert: »Es scheint noch kaum ausgelotet, wie grundsätzlich die Anfragen an den christlichen Umgang mit der Schrift sind, die sich aus der Aufdeckung der negativen Seiten ihrer Wirkungsgeschichte ergeben.« 34 Überspitzt könnte man sagen, dass die Rezeptionsgeschichte die Probleme nicht löst, sondern sie noch deutlicher vor Augen stellt. Die Übersicht über die verschiedenen Modelle des Umgangs mit dem Thema »Antijudaismus im neuen Testament« hat vielleicht gezeigt, dass es trotz intensiver Bemühungen immer noch keinen exegetischen Konsens hinsichtlich der Frage des Antijudaismus im Neuen Testament gibt. Dieser Befund ist allemal in dem begründet, was Ingo Broer in seiner Franz-Delitzsch-Vorlesung 1994 die »Pluralität der Exegese« genannt hat, 35 wobei er von der Vielfalt der Exegetinnen und Exegeten nobel schwieg. Man kann und soll die Offenheit dieser Debatte jedoch eher als Zeichen dafür deuten, wie ernst diese Frage genommen wird und wie wenig man dazu neigt, sie abzutun. Nach meiner Meinung ist die Unentschiedenheit ein Zeichen der Stärke der Exegese und derer, die sie betreiben. Denn in dem Themenfeld Antijudaismus werden nicht nur schwerwiegende Fragen an die Texte gestellt, sondern die der Wissenschaft eigene Geschichte, aus der man sich nicht verabschieden kann, wird befragt und durchaus infrage gestellt. Gerade die Infragestellung gründet in dem Wissen, dass das Neue Testament selbst zum Opfer seiner Interpreten werden konnte, die, wenn nicht unmittelbar, aber doch mittelbar daran mittaten, dass seine Botschaft verschattet wurde und dass aus dem Evangelium ein Materiallager des Hasses werden konnte. Die Frage nach »Überspitzt könnte man sagen, dass die Rezeptionsgeschichte die Probleme nicht löst, sondern sie noch deutlicher vor Augen stellt.« ZNT 37 (19. Jg. 2016) 9 Rainer Kampling Antijudaismus im Neuen Testament einem Antijudaismus im Neuen Testament entbirgt mithin eine solche Fülle an Implikationen, dass sie sich einer Antwort entzieht. Es wäre schon viel gewonnen, wenn man sicher sein könnte, die richtige Frage zu stellen. Wenn es ein bibelwissenschaftliches Thema gibt, dessen man nur Herr würde, um den Preis es zu destruieren, dann das des Antijudaismus im Neuen Testament. 5. Ein kurzer Schluss Ohne eine Monokausalität behaupten zu wollen, ist forschungsgeschichtlich nicht zu übersehen, dass im Umfeld der Debatten um einen möglichen Antijudaismus im Neuen Testament innerhalb der Exegese ein neues Problembewusstsein entstand. Dieses bezog sich nicht nur auf das Judentum als je gegenwärtiges, sondern auch auf die Wissensbestände der Exegese. Relativ rasch wurde man inne, dass auch das als Sachwissen Ausgegebene nicht zu geringen Teilen aus einer vorurteilsbehafteten Lektüre gesammelt worden war. Und ohne Kolleginnen und Kollegen anderer Disziplinen zurücksetzen zu wollen, sei doch festgestellt, dass das, was innerhalb der neutestamentlichen Exegese in den letzten Jahrzehnten geleistet wurde, mehr als beeindruckend ist. Hier fand tatsächlich Aufarbeitung statt. Zu dem Mehrwert gehört aber eben auch, dass es einen hohen Grad an Aufmerksamkeit gibt für Thematiken, die bisher ein Schattendasein führten. Die Auseinandersetzungen der 60er Jahre waren offensichtlich auch eine Einübung darin, sich anderen Bereichen zu öffnen. Und dass heutigentags ein jüdisch-christlicher Dialog ohne Beteiligung von Exegetinnen und Exegeten undenkbar ist, mag die beste Bestätigung sein, dass exegetische Arbeit aller Mühe wert ist. Falls man auch wenig lernte aus der Arbeit an der Rezeptionsgeschichte der Schrift, so müsste man schon sehr verhärtet sein, wenn man nicht wenigstens verstünde, dass zur Arbeit der Exegetinnen und Exegeten zwei Dinge hinzugehören: Demut und Geduld. Beides hat man bei dem Thema Antijudaismus bitter nötig. Anmerkungen 1 Der vorliegende Text geht auf die am 1. 12. 2014 gehaltene Franz-Delitzsch-Vorlesung an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster zurück. 2 Vgl. immer noch J. Heil, »Antijudaismus« und »Antisemitismus«-- Begriffe als Bedeutungsträger, in: Jahrbuch für Antisemitismusforschung 6 (1997), 92-114; dass der Begriff auch zu blühendem Unsinn führt, kann man sehen bei D. Kertzer, The Popes Against the Jews. The Vatican’s Role in the Rise of Modern Anti-Semitism, New York 2001, 7: »The […] neat distinction between anti-Judaism and anti-Semitism was not new to the 1998 document. In the wake of the Second World War, scholars and theologians close to the Church began to look for a way to defend the Church from the charge of having helped lay the groundwork for the Holocaust. The anti-Semitism/ anti-Judaism distinction soon became an article of faith that relieved the Church of any responsibility for what happened. Before long, millions of people came to assume its historical reality.« 3 New York 2013; dt.: Anti-Judaismus. Eine andere Geschichte des westlichen Denkens, München 2015. 4 R. Kampling, Theologische Antisemitismusforschung. Anmerkungen zu einer transdisziplinären Fragestellung, in: W. Bergmann/ M. Körte (Hg.), Antisemitismusforschung in den Wissenschaften, Berlin 2004, 67-83. 5 Mt Com 14,19 (GCS 40), 330-332. 6 Es bedürfte einer tiefgreifenden Relecture der Quellen, ob und inwieweit sie eine andere Lesart als die antijüdische erkennen lassen; vorläufig kann man sagen, dass sich insbesondere in heterodoxen Schriften Spuren davon finden lassen. 7 Vgl. Adversus Marcionem 5,2,1: Principalem adversus Iudaismum epistulam nos quoque confitemur quae Galatas docet. 8 Vgl. etwa die umfangreiche Auflistung der Auctores contra Iudaeos bei J.A. Fabricius, Delectus argumentorum et Syllabus Scriptorum qui veritatem religionis Christianae etc., Hamburg 1725, 571-633. 9 Vgl. etwa N. Elert (Hg.), Catalogus bibliothecae Thottianae I,2, Hanau 1789, 382. 10 Während die Geschichte des Wortes Antisemitismus gut erforscht ist, fehlt es noch an einer eingehenden Untersuchung für die Entstehung des Begriffs Antijudaismus. 11 Vgl. zu ihm J. Alwast, Geschichte der Theologischen Fakultät. Von ihrer Gründung an der gottorfisch-herzoglichen Christian-Albrechts-Universität bis zum Ende der gesamtstaatlichen Zeit, Teil 1: 1665-1865, Norderstedt 2008, 180-182; W. Schmidt-Biggemann, Politische Theologie der Gegenaufklärung: Saint-Martin, De Maistre, Kleuker, Baader, Berlin 2004, 81-108. 12 Neue Prüfung und Erklärung der vorzüglichsten Beweise für die Wahrheit und den göttlichen Ursprung des Christenthums, wie der Offenbarung überhaupt etc. III, Riga 1794, 187. 13 Vgl. R. Kampling, Und so kam Paulus unter die Antisemiten. Transformation des Verstehens in der Auslegung von 1Thess 2,14-16 im 19. Jahrhundert, in: W. Eisele/ Chr. Schaefer, H.-U. Weidemann (Hg.), Aneignung durch Transformation. Beiträge zur Analyse von Überlieferungsprozessen im frühen Christentum (HBS 74), Festschrift für Michael Theobald, Freiburg 2013, 358-374. 14 Vgl. V. Leppin, Für »junge Lehrer der Religion«. Theologische und religionsphilosophische Klarstellungen in Herders Schrift »Von Religion, Lehrmeinungen und Gebräuchen« (1798), in: A. Beutel/ V. Leppin (Hg.), Religion und Aufklärung. Studien zur neuzeitlichen »Umformung 10 ZNT 37 (19. Jg. 2016) Neues Testament aktuell des Christlichen« (Arbeiten zur Kirchen- und Theologiegeschichte 14), Leipzig 2004, 123-130. 15 A. Gerdmar, Roots of theological anti-Semitism. German biblical interpretation and the Jews, from Herder and Semler to Kittel and Bultmann (SJHC 20), Leiden 2009, 51-60. 16 Vgl.-- auch zum Folgenden-- Kampling, Paulus, Anm. 13. 17 Vgl. Gerdmar, Roots, 213-237, Anm. 15. 18 Vgl. etwa S. Heschel, The Aryan Jesus. Christian Theologians and the Bible in Nazi Germany, Princeton 2008. Wie schwer sich deutsche Universitäten mit dieser Geschichte immer noch tun, zeigt ein Blick auf den Professorenkatalog der Universität Leipzig; zu Johannes Leipoldt findet sich kein Hinweis auf seinen Antisemitismus oder seine nationalsozialistische Ideologie (http: / / www. uni-leipzig.de/ unigeschichte/ professorenkatalog/ leipzig/ Leipoldt_94/ ; abgerufen am 2. 12. 2014.). 19 Eine vollständige Aufarbeitung wird hier nicht behauptet, noch wird eine komplette Bibliographie angestrebt; gewiss wäre auch auf den Einfluss von James Parkes (vgl. H. Chertok, He also spoke as a Jew. The life of James Parkes, London 2006; R.A. Everett, Christianity without antisemitism. James Parkes and the Jewish-Christian encounter, Oxford 1993) hinzuweisen, der übrigens gemeinsam mit seiner Frau Dorothy unter dem Titel »Has Anti-Semitism Roots in Christianity? « 1961 eine Übersetzung von Isaac vorlegte. 20 A. Kaspi, Jules Isaac ou la passion de la vérité, Paris 2002; P. Berger Marx, Les relations entre les juifs et les catholiques dans la France de l’après-guerre: 1945-- 1965, Paris 2009. 21 Vgl. etwa J. Isaac, Expériences de ma vie, Paris 1959; L’ Enseignement du Mépris. Vérité historique et mythes théologiques, Paris 1962. 22 G. Baum, Die Juden und das Evangelium, Einsiedeln 1963, 15. 23 NTS 10 (1964), 74-90. 24 Vgl. M. Blum, Art. Neues Testament, in: W. Benz (Hg.), Handbuch des Antisemitismus. Judenfeindschaft in Geschichte und Gegenwart 3, Berlin 2010, 235-244; immer noch beeindruckend scharfsinnig: G. Theißen, Aporien im Umgang mit den Antijudaismen des Neuen Testaments, in: E. Blum u. a. (Hg.), Die Hebräische Bibel und ihre zweifache Nachgeschichte, Neukirchen-Vluyn 1990, 535-553. 25 Trotz seiner gegenteiligen Beteuerungen nenne ich hier R. H. Bell, The Irrevocable Call of God. An Inquiry into Paul’s Theology of Israel (WUNT 184), Tübingen 2005; zu anderen bisweilen verschatteten Antijudaismen vgl. M. Neubrand, Ist das Neue Testament antijüdisch? Nostra Aetate 4 als bleibende Herausforderung für die neutestamentliche Exegese, in: S. Schreiber (Hg.), Antijudaismen in der Exegese? Eine Diskussion 50 Jahre nach »Nostra Aetate«, Freiburg i. Br. 2015, 278-314. 26 Als Pionierarbeit kann gelten: J. G. Gager, The origins of anti-semitism. Attitudes toward Judaism in pagan and Christian antiquity, New York 1985; zur Integration des Ansatzes in der Exegese vgl. N. H. Taylor, Conflicting Bases of Identity in Early Christianity. The Example of Paul, in: A. J. Blasi u. a. (Hg.), Handbook of Early Christianity. Social Science Approaches, Walnut Creek 2002, 577-597. 27 Vgl. R. Kampling, Art. Antijudaismus, in: W. Benz (Hg.), Handbuch des Antisemitismus. Judenfeindschaft in Geschichte und Gegenwart 3, Berlin 2010, 10-13. 28 Vgl. E. L. Ehrlich, Paulus und das Schuldproblem, erläutert an Römer 5 und 8, in: W.P. Eckert (Hg.), Antijudaismus im Neuen Testament? Exegetische und systematische Beiträge (ACJD 2), München 1967, 44-49. 29 Vgl. Theißen, Aporien 535-553, hier: 538. 30 Ohne die Standardwerke von Heinz Schreckenberg zur Adversus-Iudaeos-Literatur wäre die Rezeptionsforschung in diesem Bereich nicht da, wo sie jetzt ist. 31 Als nicht gelungenes Beispiel kann gelten M. Lieb (Hg.), The Oxford Handbook of the Reception History of the Bible, Oxford 2011. 32 Dabei ist man bisweilen unkritischer als zeitgenössische Beobachter, die die Berufung auf biblische Texte als Legitimation judenfeindlicher Aktionen als Heuchelei brandmarkten. 33 Vgl. R. Kampling, Das Kreuz, die Historie und die christliche Judenfeindschaft. Nachdenken über Ursprünge und Zusammenhänge, in: H. Piegeler u. a. (Hg.), Gelebte Religionen. Untersuchungen zur sozialen Gestaltungskraft religiöser Vorstellungen und Praktiken in Geschichte und Gegenwart (FS H. Zinser), Würzburg 2004, 97-105. 34 Http: / / www.ekd.de/ EKD-Texte/ 44 597.html; abgerufen 2. 12. 2014. 35 I. Broer, Das Verhältnis von Judentum und Christentum im Matthäus-Evangelium, in: J. C. Vos/ F. Siegert (Hg.), Interesse am Judentum. Die Franz-Delitzsch-Vorlesungen 1989-- 2008 (Münsteraner judaistische Studien 23), Berlin 2008, 194-223, hier: 197. ZNT 37 (19. Jg. 2016) 11 Wie und wann hat sich die Tochterreligion Christentum von der Mutterreligion Judentum getrennt? Warum haben römische Behörden die ältere Religion als legal betrachtet, ihren Ableger aber als illegal, und warum haben sie diesen Ableger verfolgt? Im Blick auf beide Religionssysteme: Wie wurde und wie blieb man ein Teil desselben? Wie sind Anhänger beider Religionen in den Jahrhunderten vor und während des Aufstiegs des Christentums zur Staatsreligion miteinander umgegangen? Wie verhalten sich antike jüdische und christliche Erfahrungen von Konversion zu unseren sozialwissenschaftlichen Modellen von religiöser Bekehrung? Seit dem Aufstieg der Geschichtswissenschaft im 19. Jahrhundert haben solche Fragen die Forschung beschäftigt. Mein Lehrer E.P. Sanders, ein Gelehrter auf dem Gebiet des antiken Judentums und des frühen Christentums, hat im Jahr 1977 seine epochemachende Studie Paul and Palestinian Judaism. A Comparison of Patterns of Religion veröffentlicht. 1 Er hat den Schutt von Generationen fortgeschafft und über Jahrzehnte mit seiner These eines Kontrasts zwischen paulinischer Mystik und jüdischem Bundesnomismus die Debatten befeuert. Es war die »neue Paulusperspektive«, die bis heute die Diskussion über die »Trennung der Wege« bestimmt-- eine Trennung zweier Religionen. Heutzutage betonen viele Forscher, dass Judentum und Christentum nicht Mutter und Tochter waren, sondern Bruderbzw. Schwesterreligionen, die sich ausgehend vom gemeinsamen biblischen Erbe in unterschiedliche Richtungen entwickelten. 2 Auch dann konzeptualisieren wir allerdings Judentum und Christentum als Religionen. Diese ganze Forschung verdankt sich einem ernsthaften Interesse an besserem historischen Verstehen, doch erst an der Wende zum 21. Jahrhundert haben einige Forscher angefangen, die grundlegenden Kategorien infrage zu stellen: Religion, Judentum, Christentum, religöse Identitätsmarker und Konversion. 3 Ein Schrittmacher dieser neuen Weise des Fragens ist die Annäherung zwischen Neutestamentlicher Wissenschaft und Altertumswissenschaft. Besonders in Nordamerika, wo Fakultäten aus pragmatischen Gründen verhältnismäßig leicht umstrukturiert werden können, machen Forscher aus den Feldern des antiken Judentums und des frühen Christentums zunehmend die Erfahrung, dass sie Seite an Seite mit Althistorikern arbeiten, mit ihnen zusammen lehren und gemeinsam Seminare halten. Aber auch dort, wo es nicht zu solchen Kooperationen kommt, befruchten sich Forschungen zum Judäa der Römerzeit oder zum frühen Christentum durch die Spätantike hindurch über die Fachgrenzen hinweg. Einige der bekanntesten Althistoriker, die zunächst durch ihre Arbeiten zur römischen Kaiserzeit bekannt geworden sind, haben sich später in überaus fruchtbarer Weise mit Sachgebieten befasst, die bis dahin der Theologie vorbehalten waren: Judäa in römischer Zeit, die jüdische Diaspora, das Christentum vom 3. bis zum 6. Jahrhundert. 4 Für mich selbst war die Vorsicht beim Überschreiten der Grenze zwischen antiken und modernen Diskursen, wie sie mir bei meinen althistorischen Kollegen begegnete- - imperium ist nicht eine moderne Großmacht, princeps nicht dasselbe wie ein Kaiser neuzeitlichen Zuschnitts, provincia mehr als ein Territorium-- ein wichtiger Anstoß, die Übersetzungssprache zu überdenken, die wir üblicherweise auf das antike Judentum und das frühe Christentum anwenden. In diesem Beitrag möchte ich (1.) zu zeigen versuchen, dass das uns vertraute Wortpaar »Juden und Judentum« und die Gattungsbezeichnung »Religion« nicht in den antiken Diskurs passen. Dann möchte ich (2.) die sehr unterschiedlichen Konturen dieser Diskurse skizzieren und schließlich (3.) einige Konsequenzen zu bedenken geben, die sich aus der »Richtigstellung der Namen« (um mich etwas unscharf eines konfuzianischen Konzepts zu bedienen) im Blick auf ihren Gebrauch ergeben. 1. Judentum-- und Juden als seine Vertreter? Wir kennen wohl alle in irgendeiner Version den folgenden Witz: Die Manager einer Warenhaus-Spedition verdächtigen einen ihrer Angestellten, dass er stiehlt, weil sein luxuriöses Zuhause und seine aufwendigen Urlaube nicht zu seinen Einkommensverhältnissen passen. Tag für Tag, wenn er mit seinem weißen Firmen- Lieferwagen das Tor passiert, um nach Hause zu fahren, wird er vom Wachpersonal nach Diebesgut durchsucht. Da sie immerzu nichts finden, suchen sie immer gewissenhafter, weisen das Personal an, auch unter dem Fahrzeugboden und in den Radkästen zu suchen, ja so- Steve Mason Das antike Judentum als Hintergrund des frühen Christentums Zum Thema