eJournals ZNT – Zeitschrift für Neues Testament 19/37

ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
2016
1937 Dronsch Strecker Vogel

Editiorial

2016
Stefan Alkier
Eckart Reinmuth
Manuel  Vogel
2 ZNT 37 (19. Jg. 2016) Editorial Der von Manuel Vogel verfasste ausführliche Buchreport stellt das im vergangenen Jahr auf Deutsch erschienene Buch »Die jüdischen Evangelien« von Daniel Boyarin vor. Als jüdischer Talmud-Gelehrter eröffnet Boyarin »Perspektiven des Jüdischen« auf die synoptischen Evangelien, die geeignet sind, einige etablierte Denkschemata christlicher Exegese neu auf die Tagesordnung zu setzen und in ihrer Selbstverständlichkeit zu hinterfragen. Boyarin plädiert u. a. für ein Verständnis von »hoher Christologie« nicht als »christliche Innovation«, sondern als ureigene Denkmöglichkeit biblisch-jüdischer Tradition. In eigener Sache begrüßen wir Frau Prof. Dr. Angela Standhartinger im erweiterten Kreis der Herausgeberinnen und Herausgeber der ZNT. Wir heißen sie an dieser Stelle herzlich willkommen und freuen uns auf die Zusammenarbeit. Ihnen, liebe Leserin und lieber Leser, wünschen wir eine ertragreiche Lektüre. Stefan Alkier Eckart Reinmuth Manuel Vogel ZNT 37 (19. Jg. 2016) 3 1. Ein Wort zuvor 1 Der Begriff Antijudaismus, dessen Funktion in der Historiographie als einigermaßen geklärt gelten kann, 2 hat im Jahr 2013 eine bemerkenswerte Aufwertung erfahren, und zwar durch David Nirenbergs Buch Anti- Judaism. The Western Tradition. 3 Nach Nirenberg ist der Antijudaismus keine periphere Erscheinung der Vergangenheit, sondern gehört konstitutiv zum westlichen Denken als Deutungsgröße negativer Erscheinungsformen hinzu. Das Konstrukt des Juden als des Anderen ist mithin ein epistemischer Grundpfeiler der westlichen Ideengeschichte. Dabei geht es nach Nirenberg nicht um »reale« Juden, sondern um die Idee vom »Juden«, die in je verschiedenen historischen Kontexten funktionalisiert werden konnte. Dieses Buch von David Nirenberg hat im englischsprachigen Raum große Beachtung gefunden, auch außerhalb wissenschaftlicher Diskurse. Das liegt zweifelsohne auch daran, dass hier in einem weit ausgreifenden Narrativ Vernetzungen und Verknüpfungen hergestellt werden, die Bekanntes, oft Disparates zusammenfügen und durch das behauptete konstituierende Gemeinsame den Antijudaismus als Zusammenhängendes und Kontinuierliches erweisen. Freilich immunisiert sich David Nirenberg weitgehend gegen historische Nachfragen und Überprüfbarkeiten. Unschwer ist zu erahnen, welche Texte als Basis für diese Kategorie vom Juden als Anderen herangezogen werden. Auch wenn Nirenberg pagane, hellenistische Texte erwähnt, so ist es doch das Neue Testament, das er als für die gesamte westliche Kultur und den ihr innewohnenden Antijudaismus grundlegend ansieht. Bis zur frühen Neuzeit bestehe der Antijudaismus weithin in Variationen der neutestamentlichen Vorgaben, die freilich nach dem Transfer des Antijudaismus in nichtreligiöse Kontexte weiterhin den Subtext bildeten. Es zeigt sich, dass das Thema Antijudaismus im Neuen Testament je neu aktuell wird. Die vorliegenden Reflexionen haben insofern einen Anknüpfungspunkt an David Nirenberg, als es darum zu tun ist, einen Versuch des Verstehens zu unternehmen, worin das bleibend Aufstörende dieses Themas begründet ist. Diese Überlegungen zum Antijudaismus haben ihren Ort in der theologischen Arbeit. Damit unterscheiden sie sich signifikant von denen in anderen wissenschaftlichen Disziplinen. 4 Zweifelsohne wird auch hier danach zu fragen sein, was die antijüdischen Polemiken und Aktionen für die bedeuteten, die deren Opfer waren. Doch ist im Rahmen der Theologie ebenso danach zu fragen, wie sehr der Antijudaismus nach innen schädlich war, insofern er als Entstellung der biblischen Botschaft gelten muss. An einem Beispiel aus der Geschichte der Exegese sei das illustriert: Origenes beschreibt in seinem Matthäuskommentar das Verhältnis von Christus, Synagoge und Kirche folgendermaßen: 5 Die Synagoge ist die erste Gattin Christi. Er kündigt ihr die Treue und scheidet sich von ihr, weil er Mängel an ihr findet. Während die Synagoge sich den Teufel zum Mann nimmt, erwählt Christus die Kirche aus den Heiden. Der Preis, den Origenes für diese Interpretation zahlen muss, ist hoch. Denn trotz seiner Erklärungen bleibt es bei der Aussage: Christus ist untreu geworden. Der Antijudaismus hat die Vorstellung eines wankelmütigen untreuen Gottes als Voraussetzung. Nach dem Antijudaismus in der Theologie, der Kirche und der Geschichte der christlichen Kirchen zu fragen bedeutet zugleich, danach zu fragen, was er dem Wort Gottes und denen, die es hörten, angetan hat. 2. Ein Blick in die Geschichte Die Annahme, dass das Neue Testament eine antijüdische Schrift ist, war für Generationen von Schriftauslegern fraglos. Seit Beginn der christlichen Spätantike wurde es unter dieser Voraussetzung interpretiert. Es war mithin eine gängige Lesart. Auch wenn es in der Spätantike, im Mittelalter und in der frühen Neuzeit Anfragen an dieses Konzept gab, die wohl immer noch nicht ausreichend erforscht sind, 6 so kann diese Aussage in ihrer Grundsätzlichkeit bestehen bleiben. Nicht nur der Galaterbrief, wie Tertullian meinte, 7 war contra Iudaeos geschrieben, sondern alle Texte des Neuen Testaments konnten gleichsam als Adversus-Iudaeos-Literatur gelesen werden. Diese Lesart hat die Jahrhunderte überdauert, und das Modell der Selbstfindung durch Abgrenzung fand auch Eingang in die neuzeitliche Exegese. 8 Rainer Kampling Antijudaismus im Neuen Testament - Zur Erkundung der Relevanz einer theologischen Kategorie Neues Testament aktuell