eJournals ZNT – Zeitschrift für Neues Testament 18/36

ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
2015
1836 Dronsch Strecker Vogel

Robert J. Myles The Homeless Jesus in the Gospel of Matthew (The Social World of Biblical Antiquity, Second Series 10) Sheffield: Sheffield Phoenix Press, 2014 236 Seiten, gebunden ISBN 978-1-909697-38-6 Preis: 70,00 €

2015
Kristina Dronsch
Zeitschrift für Neues Testament_36 typoscript [AK] - 13.11.2015 - Seite 76 - 4. Korrektur 76 ZNT 36 (18. Jg. 2015) Buchreport Robert J. Myles The Homeless Jesus in the Gospel of Matthew (The Social World of Biblical Antiquity, Second Series 10) Sheffield: Sheffield Phoenix Press, 2014 236 Seiten, gebunden ISBN 978-1-909697-38-6 Preis: 70,00 € »Nicht zumutbar«-- in eine Decke eingehüllt liegt ein Obdachloser schlafend auf einer Parkbank, den Sitzbänken New Yorks nachgebildet. Einzig die beiden Füße sind klar erkennbar. Füße, die unter einer viel zu kurzen Decke herausragen. Füße, an denen nicht der Staub eines freien Vagabundenlebens klebt, sondern der Dreck eines entbehrungsreichen Lebens. Erst die Wundmale an den Füßen geben dem Betrachter den Hinweis, dass Jesus der Obdachlose ist. Die Reaktionen, die der Künstler auf seine lebensgroße Bronzeskulptur zu hören bekommt, sind eindeutig: »Nicht zumutbar«. Ob der Staub, den dieses Kunstwerk aufgewirbelt hat, in die Augen von Robert J. Myles geflogen ist und ihn zur wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Thema Obdachlosigkeit Jesu in seiner Dissertationsschrift »The Homeless Jesus in der Gospel of Matthew« angeregt hat, bleibt im Raum der Vermutungen. Aber zumindest haben beide, US-amerikanischer Künstler und australischer Neutestamentler, das Thema Obdachlosigkeit in den Fokus des jeweiligen Werkes gestellt. So wie der Künstler provozieren und zum Nachdenken anregen will, provoziert auch Myles in seiner Dissertationsschrift mit der These, dass Jesu Obdachlosigkeit nicht im Sinne einer selbstgewählten Lebensweise eines Wandercharismatikers zu verstehen ist. Vielmehr entlarvt Myles diese Sichtweise als eine romantisierende Interpretation von Jesu Heimatlosigkeit wie sie in den Evangelien narrativ entfaltet wird. In seinem ersten und umfänglichsten Kapitel unter der Überschrift »Homelessness and Ideology« zeigt Myles, warum diese idealisierende Interpretation von Jesu Nichtsesshaftigkeit einzig und allein als eine neoliberale Spielart des Verständnisses von Obdachlosigkeit zu gelten hat. Hierzu bedient sich Myles des »realm of ideological biblical criticism«. Diese ideologische Bibelkritik ist weniger als ein methodischer Zugang zu verstehen, sondern sei vielmehr »a form of criticism that seeks to uncover and promote rhetorical agendas within the variables of biblical interpretation: the author, the text, and the reader« (16). Dabei speist sich die ideologische Bibelkritik von Myles im Wesentlichen aus den postmarxistischen und lacanschen Gedankengängen des slowenischen Avantgardephilosophen Slavoj Žižek. Da gegenwärtig im Gegensatz zum angelsächsischen Gebiet im deutschsprachigen Raum eine aktuelle Auseinandersetzung mit (post-)marxistischen Theorieansätzen beinahe vollständig im Rahmen der Bibelwissenschaften fehlt, sind diese Ausführungen mit Gewinn zu lesen. Was vielleicht am klarsten nach der Lektüre des ersten Theoriekapitels der Dissertation von Myles wird, ist die Destruktion des Neutralen. Der konsequente postmarxistische Blick auf biblische Texte im Gefolge von Slavoj Žižek zeigt in aller Deutlichkeit, dass es keine Neutralität und Unparteilichkeit bei der Interpretation neutestamentlicher Texte gibt. Ja, die Möglichkeit einer neutralen Position wird überhaupt bestritten. Myles überführt die gegenwärtige Exegese einer ideologischen Blauäugigkeit, die unter dem Verdikt der Objektivität das Thema Obdachlosigkeit Jesu behandelt. Stattdessen zeigt seine Studie auf, wie sich in den vergangenen 40 Jahren eine neoliberale Sichtweise bis in die Interpretation biblischer Texte hinein ausgewirkt hat. Denn nach Myles blendet der romantisierende Blick der westlichen Bibelwissenschaften auf einen von Jesus frei gewählten Lebensstil als umherziehender Wandercharismatiker völlig die realen gesellschaftlichen Gegebenheiten aus. Demgegenüber sei vielmehr die Obdachlosigkeit Jesu ganz im Gefolge von Žižek als ein Symptom zu verstehen, das als ein Produkt der strukturellen Defizite innerhalb des sozio-politischen Gefüges von Palästina im 1 Jh. n. Chr. anzusehen ist. Damit wird Jesu Obdachlosigkeit zu einem ausgezeichneten Element, das-- so zeigen es die weiteren exegetischen Ausführungen von Myles-- für eine doppelte Falschheit des Ganzen einsteht. Nämlich für die Falschheit einer neoliberal geprägten westlichen Exegese sowie für die Falschheit der vorfindlichen soziopolitischen Strukturen im antiken Palästina zur Zeit Jesu. Was in den kommenden fünf Kapiteln folgt, ist eine detaillierte Untersuchung der relevanten Textstellen zu Jesu Obdachlosigkeit im Matthäusevangelium. Dabei wird der Text des Matthäusevangeliums in der in Kapitel 1 dargelegten ideologie-kritischen und anti-neoliberalen Lesart reinterpretiert. Das geografische Gliederungsprinzip des Evangeliums wird von Myles zu einer Topografie der Obdachlosigkeit umgeschrieben. Unter der Überschrift »Displacement« wird Mt 2,13-23 untersucht (52- 81). Myles exegetische Ausführungen zielen auf ein Verständnis der Geschichte von der Flucht nach Ägypten, die eine erzwungene Verdrängung in den Mittelpunkt stellt, so dass in der Konsequenz Mt 2,13-23 »frames homelessness as an objective reality, inseparable from external political and social pressures« (81). Unter der Überschrift »Reaction« wird Jesu erstes öffentliches Auftreten und Zeitschrift für Neues Testament_36 typoscript [AK] - 13.11.2015 - Seite 77 - 4. Korrektur ZNT 36 (18. Jg. 2015) 77 seine Rede von der basileia Gottes als eine Gegenerzählung interpretiert, die die vorhandene, real existierende Gesellschaftsordnung umkehrt (82-111). Das 4. Kapitel »Destitution« widmet sich im Wesentlichen Mt 8,20. Myles Exegese weist Jesus als denjenigen aus, der in der bestehenden gesellschaftlichen Ordnung keinen Platz hat. Jesus wird in der Lesart von Myles zu einem »Teil«, das keinen Anteil an den vorhandenen sozio-ökonomischen Strukturen hat (112-134). Im nächsten Kapitel-- »Rejection«-- zeigt der Autor auf, wie dieses Ausschlussverfahren sich auch auf den Weg Jesu ausweitet und letztendlich in Verrat und Verwerfung mündet (135- 162). Das letzte exegetische Kapitel mit der Überschrift »Extermination« zeigt einen matthäischen Jesus, dessen Tod am Kreuz der erwartbare Höhepunkt einer Exklusions- und Isolationsgeschichte ist, deren Strukturmerkmal die Obdachlosigkeit Jesu ist: »…the extermination of an expendable excess to the normal functioning of the economic order fails to account for its own complicity in producing those who fall outside of the system« (190). Mit frischem und parteiischem Blick auf ein Thema, das mit Aktualität in unser gegenwärtiges Zeitgeschehen drängend hineinragt, werden durch Myles Arbeit neue Einsichten in das Matthäusevangelium ermöglicht. In aller Deutlichkeit zeigt der Autor dabei auf, dass es keine ideologiefreie Interpretation biblischer Texte gibt. Wer das nicht anerkennen mag, wird sich mit der Lektüre des Buches »The Homeless Jesus in the Gospel of Matthew« schwer tun und auch Myles Werk-- wie das des eingangs erwähnten Künstlers- - für nicht zumutbar halten. Dennoch trifft auch für Myles Arbeit an mehreren Stellen die Feststellung von Terry Eagleton zu: »[…] Ideologie (ist) wie Mundgeruch immer das, was die anderen haben.« (rez. von Kristina Dronsch) Matthias Konradt Das Evangelium nach Matthäus (Das Neue Testament Deutsch Neues Göttinger Bibelwerk-- Neubearbeitungen - Band 001) Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht Academic 2015 XVI, 507 Seiten, gebunden ISBN 978-3-525-51341-5 Preis: 49,99 € In der Vergangenheit sind eine ganze Reihe hochwertiger Kommentare zum Matthäusevangelium im deutschsprachigen Raum erschienen, die sehr unterschiedliche Schwerpunkte bei der Auslegung setzten. Der monumentale vierbändige Kommentar von Ulrich Luz (1985 ff.) zum Beispiel bezog die Wirkungsgeschichte des Textes konsequent in die Auslegung ein; der zweibändige Kommentar von Hubert Frankemölle (1994 ff ) arbeitete rezeptionsästhetisch; einen Schwerpunkt auf im jüdisch-christlichen Gespräch behandelte Themen setzte der Kommentar von Peter Fiedler (2006), der insbesondere die jüdische Perspektive des Textes herausstrich und Rupert Feneberg sah das Matthäusevangelium als eine Schrift für eine heidenchristliche Gemeinde neben der Synagoge an und stellte seinen Kommentar (2009) unter diese Leitperspektive. Nun ist in der Reihe »Das Neue Testament Deutsch« der Kommentar des Heidelberger Ordinarius Matthias Konradt (im Folgenden K.) erschienen. Der Klappentext verspricht, dass in diesem Kommentar »zusammen mit der kompositorischen Gestaltung und den dichten Bezügen auf das Alte Testament besonders die theologische Linienführung herausgearbeitet« werde. Mit 507 Seiten Umfang legt K. den umfangreichsten Band der bisher erschienenen Neubearbeitungen in der Kommentarreihe NTD vor. Den Vorgaben der Reihe gemäß kommt das Buch ohne griechische Schrift und ohne Anmerkungen aus. Gelegentliche Hinweise auf die Fachliteratur werden mit Kurztiteln eingestreut, ausgewählte Literaturhinweise und ein umfangreiches Stellenregister runden den Band ab. Eine ausführliche Auseinandersetzung mit der Forschungsliteratur hat K. in seiner gewichtigen Monographie zur Ekklesiologie des Matthäusevangeliums »Israel, Kirche und die Völker im Matthäusevangelium (WUNT 215), Tübingen 2007« sowie in einer ganzen Reihe von Aufsätzen zum Matthäusevangelium vorgelegt; hier konzentriert er sich nun ganz auf den biblischen Text. Vor der Kommentierung der einzelnen Perikopen findet sich eine kurze Einleitung in Grundfragen der Matthäusexegese, in denen K. seine Sicht der Dinge bündig zusammenfasst (1- 24). K. sieht im Matthäusevangelium einen in den 80er Jahren des 1. Jh.s vermutlich in Südsyrien entstandenen Text eines christusgläubigen Juden, der für eine mehrheitlich jüdisch geprägte Adressatenschaft schreibt, die sich in einem bedrängenden Konflikt mit ihrer jüdischen Umwelt befindet (17-24). Vor diese Einleitungsfragen stellt K. jedoch einige Überlegungen zu Grundcharakteristika und theologischen Themen des Matthäusevangeliums, wodurch die Schwerpunktsetzung des Kommentars bereits klar erkennbar wird. Das Matthäusevangelium ist, wie K. richtig sieht, ein sorgfältig durchkomponiertes Ganzes mit zahlreichen intertextuellen Bezügen. Textwahrnehmungen, die Matthäus lediglich für einen Tradenten oder Redaktor seiner Quellen halten, scheiden so von Vornherein aus. K. schlägt eine Gliederung in sechs gleichberechtigte Teile (1,2- 4,16/ 4,17-11,1/ 11,2-16,20/ 16,21- 20,34/ 21,1-25,46/ 26,1-28,20) vor, die im Kommentar mit römischen Ziffern gezählt werden. Als besonders bedeutsa-