eJournals ZNT – Zeitschrift für Neues Testament 18/35

ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
2015
1835 Dronsch Strecker Vogel

Symbol und Wirklichkeit

2015
Udo Schnelle
Zeitschrift für Neues Testament_35 typoscript [AK] - 18.05.2015 - Seite 61 - 2. Korrektur ZNT 35 (18. Jg. 2015) 61 Ein unvermeidliches Problem der Interpretation antiker Texte besteht darin, gegenwärtige und vergangene Lebens- und Denkwelten in Verbindung zu setzen, ohne dass eine der beiden Zeitebenen ein normierendes interpretatives Übergewicht erhält. Beide Ebenen sind immer da und legen sich im Idealfall gegenseitig aus; real dominiert aber immer die gegenwärtige Welt, denn sie ist als einzige für den Interpreten/ die Interpretin wirklich zugänglich und erlebbar; aus ihr entlehnt er seine Weltsicht und seine Begriffe, um die Vergangenheit für die Gegenwart verstehbar zu machen. Deshalb ist es nur natürlich, dass ein und derselbe Text der Vergangenheit gegenwärtig völlig unterschiedlich ausgelegt wird, weil die Interpreten ihre verschiedenen Welten unvermeidlich mit- und einbringen müssen. Joh 6 ist inzwischen seit über hundert Jahren ein solcher Text, wo Weltsichten, Begriffsanalysen, Wertungen, exegetische Operationen, ganze Dogmatiken aufeinanderprallen, jeweils eine Logik den Sieg davontragen will und jeder dem anderen vorwirft, das Verstehen zu verfehlen. Deshalb ist es sinnvoll und notwendig, bereits zu Beginn der Überlegungen die eigenen Grundlagen für das Verstehen dieses Textes zu benennen. Das johanneische Denken ist aus meiner Sicht ein gleitendes Denken, das immer mehrere Dimensionen umfasst; die narrative Oberfläche und der theologische Tiefensinn können unterschieden, dürfen aber nicht getrennt werden. In reflektierter und zugleich meditativer Weise umkreist der Evangelist das Urgeheimnis der Menschwerdung Gottes in Jesus Christus und entwirft eine neue bildhafte Zeichensprache des Glaubens, in deren Zentrum einfache und zugleich eingängige Symbole und Metaphern stehen, die unmittelbar auf die Hörer/ Leser wirken, indem sie gleichermaßen ein Verstehen auf emotionaler und intellektueller Ebene ermöglichen. Symbole sind über sich selbst hinausweisende, neue Sinnwelten eröffnende Zeichen, 1 die eine andere Wirklichkeit in unsere Wirklichkeit hineintragen. Sie bilden diese neue Wirklichkeit nicht nur ab, sondern vergegenwärtigen sie so, dass sie wirksam werden kann. Zugleich müssen sie die Fähigkeit besitzen, sich in der Wirklichkeit der Hörer/ Leser zu verankern, um ihre Kraft zu entfalten. Sie repräsentieren sowohl die göttliche als auch die menschliche Welt und partizipieren zugleich an ihnen. 2 Symbole müssen so ausgewählt werden, dass sie einerseits für die Hörer/ Leser rezipierbar sind, andererseits das zu Symbolisierende sachgemäß wiedergeben. Johannes nimmt kulturübergreifende religiöse Urphänomene wie Gott und Welt, Oben und Unten, Licht und Finsternis, Tod und Leben, Wahrheit und Lüge, Geburt und Neugeburt, Wasser, Brot, Hunger und Durst, Essen und Trinken auf, um sie in Jesus Christus in positiver Weise zu erfüllen. Vor allem durch die literarischen Kunstmittel der Repetition, Variation und Amplifikation, durch Zitate, Zahlensymbolik und mehrschichtige Ausdrucksweise, Bildworte und Bildreden, Wortspiele und Ironie, durch Leitworte und Schlüsselbegriffe eröffnet Johannes den Lesern/ Hörern auf ihrem Weg durch das Evangelium eine inkarnatorisch, pneumatologisch und kreuzestheologisch ausgerichtete Sinnwelt 3 . Dabei findet die metaphorische Christologie in den ›Ich-bin- Worten‹ ihren Höhepunkt und ist so ausgerichtet, dass sie das Geheimnis Jesu Christi ausleuchtet, ohne sich auf eine bestimmte sprachliche Realisierung festzulegen. Damit ermöglicht und lenkt sie jene Denkprozesse, die durch die Lektüre des Evangeliums als Einführung in die Grundfragen des christlichen Glaubens ausgelöst werden sollen. Diese grundlegenden Beobachtungen zeigen sich in Joh 6 in großer Dichte. Zunächst ist die bewusste Komposition klar erkennbar: Der Text ist in seiner vorliegenden Gestalt eine vom 4. Evangelisten szenisch-dramatisch gestaltete, literarische Einheit, die sich aus verschiedenen Einzeltraditionen zusammensetzt, die jeweils um das Stichwort Brot organisiert sind. Die Brot-Metapher eignet sich in besonderer Weise, um die Leser/ Hörer von Udo Schnelle Symbol und Wirklichkeit Zu einer notwendigen Bedingung johanneischen Denkens Kontroverse »Symbole sind über sich selbst hinausweisende, neue Sinnwelten eröffnende Zeichen [...], die eine andere Wirklichkeit in unsere Wirklichkeit hineintragen. Sie bilden diese neue Wirklichkeit nicht nur ab, sondern vergegenwärtigen sie so, dass sie wirksam werden kann.« Zeitschrift für Neues Testament_35 typoscript [AK] - 18.05.2015 - Seite 62 - 2. Korrektur 62 ZNT 35 (18. Jg. 2015) Kontroverse xis eine ganz entscheidende Rolle bei der Ausprägung johanneischer Texte gespielt haben soll. Voraussetzung dafür ist keineswegs ein wie auch immer gearteter Bezug auf die ›Einsetzungsworte‹, die sich ohnehin nicht exakt rekonstruieren lassen und wahrscheinlich von Anfang an in verschiedenen Versionen überliefert wurden. Heilmann weist ferner auf die Unterschiede zwischen den Abendmahlstexten bei Paulus/ den Synoptikern und Joh 6,51-58 hin (vor allem das Fehlen eines ›materiellen‹ Brotbegriffes) und problematisiert speziell die allgemeine, von außen herangetragene Kategorie der ›Eucharistie/ des Herrenmahls/ des Abendmahls‹ im Neuen Testament als unhinterfragte bzw. selbstverständliche Voraussetzung der Interpretation. Er gesteht zwar zu, dass es auch in den johanneischen Gemeinden durchaus Gemeinschaftsmähler gegeben haben könne, meint jedoch, dass bei den eucharistischen Deutungen von außen Modelle an den Text herangetragen würden, die dieser nicht enthalte und die dann natürlich die Exegese präjudizieren 6 . Zusammenfassend stellt er fest: »Sowohl literarkritisch argumentierende ›eucharistische‹ Deutungsansätze als auch synchrone Versuche der ›eucharistischen‹ Deutung von Joh 6,51e-58 haben sich für die Auslegung dieser Verse als wenig tragfähig erwiesen. Die Auslegung von Joh 6,51e-58 innerhalb des Brotdiskurses hat gezeigt, dass das Motiv des Trinkens von Jesu Blut nicht metonymisch für das Trinken von Wein steht und dass die Bezeichnung ›eucharistischer Abschnitt‹ inadäquat ist. Vielmehr lassen sich die Motive vom Trinken des Blutes Jesu und vom Essen/ Kauen seines Fleisches plausibel innerhalb des Joh 6 entfalteten metaphorischen Netzwerkes verstehen, dem die konzeptuelle Metapher Essen/ Trinken ist Annahme von Lehre zugrunde liegt. Sowohl das Brot als auch das Fleisch und Blut stehen für den inkarnierten logos, den die Jünger bzw. Glaubenden in Form seiner Lehre essen und trinken, also annehmen können. Die konzeptuelle Metaphorik ist ebenfalls in den markinischen Prätexten zu finden. Der Verfasser hat sie aufgenommen und im Hinblick auf seine pragmatischen Ziele in kreativer und innovativer Weise in sein eigenes narrativ-theologisches Konzept integriert.« 7 Als ein Hauptargument für diese Sicht wird zunächst eine Interpration von Joh 6,51e als genitivus objectivus angeführt: »und das Brot hingegen, das ich geben werde, ist mein Fleisch zugunsten des Lebens in (der) Welt.« 8 Damit soll sich folgendes Verständnis nahelegen: »Jesu Fleisch ist zugunsten des Lebens in der Welt.« 9 Demgegenüber ist daran festzuhalten, dass die natürliche der unmittelbaren Lebenserfahrung her immer tiefer zu einer wahren Erkenntnis Jesu Christi als Brot des Lebens zu führen. Joh 6,1-25 und 6,60-71 bilden den narrativen Rahmen für die Lebensbrotrede und den eucharistischen Abschnitt Joh 6,(26-29)30-58(59). Geprägt ist der gesamte Text durch die Interaktion zwischen Jesus auf der einen Seite und dem Volk/ den Juden sowie den Jüngern auf der anderen Seite. Wunder und Rede illustrieren gleichermaßen die Lebensmacht Jesu Christi und zielen auf das Einstimmen in das Petrusbekenntnis Joh 6,68 f. Was aber ist das eigentliche Thema von Joh 6 und speziell von Joh 6,51-58? Überwiegend wird dieser zentrale Abschnitt entweder auf der Ebene des Evangelisten oder einer postevangelistischen Redaktion mit der Eucharistie in Verbindung gebracht. Eine dezidiert andere Position vertritt nun J. Heilmann: »Meine These lautet: Im Erzählverlauf von Joh 6 geht es um die Konstitution der inneren Glaubensgemeinschaft um Jesus. In diese Sinnlinie lässt sich das Motiv ›mein Blut trinken‹ einordnen und darin plausibel erklären.« 4 Eine eucharistische Deutung wird nach Heilmann nicht am Text selbst gewonnen, sondern »über einen angenommenen Bezug zu einer außersprachlichen Realität, einem ›Eucharistieritual‹.« 5 Zunächst betont Heilmann, dass die frühchristlichen Mähler im Rahmen der antiken Gemeinschaftsmähler zu verstehen sind. Dies trifft zweifellos zu; zugleich fragt man sich aber, warum nicht auch die bei der Abfassung des 4. Evangeliums schon ca. sechzig Jahre andauernde frühchristliche Mahlpra- Prof. Dr. Udo Schnelle, geb. 1952, studierte Evangelische Theologie in Göttingen, dort auch Promotion und Habilitation. Er war Gemeindepastor in der Hannoverschen Landeskirche, dann von 1986 -1992 Professor für Neues Testament in Erlangen, seit 1992 in Halle. Prof. Dr. Udo Schnelle Zeitschrift für Neues Testament_35 typoscript [AK] - 18.05.2015 - Seite 63 - 2. Korrektur ZNT 35 (18. Jg. 2015) 63 Udo Schnelle Symbol und Wirklichkeit und auch von Joh 6,33 her naheliegende Auflösung der sprachlichen Struktur von 6,51e ein genitivus subjectivus ist: »Das Brot aber, das ich geben werde, ist mein Fleisch für das Leben der Welt.« Insbesondere die bewusste Minimierung von hyper durch ›zugunsten‹ und die Eintragung des im Text nicht vorhandenen ›in‹ sind zu kritisieren. Zudem ist es wenig sinnvoll, bei einem von einem intransitiven Verb (zēn) abgeleiteten Verbalsubstantiv (zōē) von einem genitivus objectivus zu sprechen. Das zweite, immer wiederkehrende Argument ist der Vorwurf, dass bei einer eucharistischen Interpretation eine außertextliche Ebene eingetragen wird. Die Autonomie des Textes soll so gegen eine (kirchliche) Besitzergreifung verteidigt werden. Aber: Wird ein Text dadurch autonom, dass ein Exeget ihn dazu erklärt? Kann ein Text autonom sein? Natürlich nicht, denn er spricht immer in eine konkrete Situation hinein, hat eine eigene Geschichte sowie eine Strategie und gerät durch seine Lektüre in die Welt des Lesenden/ Hörenden, in die er fortan verwickelt ist. Von Autonomie keine Spur! Texte erscheinen uns auf der Basis moderner konstruierter Textausgaben als stabile Artefakte, sie waren es aber nie, sondern sie sind immer in geschichtliche Zusammenhänge eingebettet, in Vor- und Nacharbeiten, in Überschreibungen und nicht mehr kontrollierbare Verstehensprozesse. Natürlich sind diese Zusammenhänge sehr schwer aufzuhellen, was aber nicht dazu führen darf, sie unberücksichtigt zu lassen oder gar zu leugnen. Bei Joh 6,51-58 kommt hinzu, dass im Text die Verweise auf die Gemeindeebene deutlich hervortreten. Damit ist der dritte Argumentationsbereich angesprochen: Sinn und Ziel der in Joh 6 dominierenden Symbolik/ Metaphorik. Heilmann geht es vor allem darum, die Materialität der Brotmetaphorik zu minimieren. Aus meiner Sicht ist das Gegenteil der Fall: Für einen antiken Menschen ist es gar nicht möglich, diesen Aspekt zu verflüchtigen, welche Symbolik/ Metaphorik auch immer verwendet wird. Zudem betont die Speisungserzählung als Ausgangspunkt des gesamten Kapitels genau diese Dimension. Die Brotvermehrung verweist auf die Sättigung, die Jesus als Brot des Lebens (Joh 6,35) in der Eucharistie (Joh 6,51c-58) gewährt. Hinzu kommen der außergewöhnliche und Verbindungen geradezu provozierende Gebrauch von sarx, haima und trōgein: 1) Durch den Prolog als programmatischem Eröffnungstext und mitgehendem Anfang ist sarx eindeutig konnotiert: Es ist das kreatürliche Sein, in das der logos eingeht und zu dem er wird; zugleich aber göttlicher logos bleibt, weil in der sarx seine doxa aufleuchtet. Speziell diese Doppelstruktur des wirklich Menschlichen und bleibend Göttlichen ist auch die Voraussetzung für das Verständnis von sarx im eucharistischen Abschnitt. Nach Joh 1,14 erscheint sarx erst wieder in Joh 3,6 und 6,5 ff., nämlich jeweils im Zusammenhang mit Taufe und Eucharistie. Dies ist kein Zufall, denn die Sakramente sind genau der lebensgeschichtliche Ort für die Glaubenden, wo sie an den in der Inkarnation offenbar gewordenen göttlichen Lebenskräften teilhaben. 2) Auch der Gebrauch von haima verweist in diese Zusammenhänge. Es erscheint lediglich in Joh 1,13; 6,53-56 und 19,34, wobei die Korrespondenz zwischen 6,51c-58 und 19,34f. offenkundig ist. Die vom Evangelisten Johannes eingeführte Erwähnung von haima kai hydōr in Joh 19,34b und das Zeugnis des Lieblingsjüngers in 19,35 unterstreichen diese Interpretation: Jesu wahrer Tod hat seine wahre Menschwerdung zur Voraussetzung, beides wiederum ist die Ermöglichung der Heilsbedeutung des Todes Jesu, die sich in Taufe und Eucharistie für die Glaubenden realisiert. 3) Schließlich bestätigt auch das drastische trōgein das für den gesamten Abschnitt charakteristische Ineinander von Symbolik und Realistik, theologischer Reflexion und gemeindlicher Vergewisserung. Es muss im Sinn von ›kauen‹ verstanden werden 10 und zeigt deutlich einen starken inkarnatorischen, aus meiner Sicht antidoketischen Akzent: Nicht das bildhafte ›Essen‹ des Himmelsbrotes oder das geisterfüllte ›Essen‹ des Menschensohnes verleihen das ewige Leben, sondern allein das wahrhaftige Essen des Fleisches und Trinken des Blutes Jesu Christi in der Eucharistie. Damit wehrt trōgein »jedem Versuch einer Verflüchtigung« 11 , denn es betont unüberhörbar die in der Eucharistie gegenwärtige Realität von Inkarnation und Kreuzestod. Offenkundig ist die Korrespondenz zwischen dem eucharistischen Abschnitt und der Fußwaschung (trōgein nur in Joh 6,54.56-58 und in Joh 13,18! ); Johannes bezieht durch trōgein beide Texte aufeinander und verdeutlicht, dass er um den ursprünglichen Ort der Abendmahlsüberlieferung wusste. Fußwaschung und eucharistischer Abschnitt verbindet ein Thema: Jesu heilvolle Hingabe für die Seinen aus Liebe. Wenn ein Text von Brot, Fleisch, Blut, das Dankgebet sprechen, essen und trinken sowie Leben und ewiges Leben spricht, dann werden durch diese starken Begriffe bewusst Assoziationen ausgelöst und Verbindungen zur rituellen Gemeindepraxis hergestellt; die eucharistische »Kann ein Text autonom sein? « Zeitschrift für Neues Testament_35 typoscript [AK] - 18.05.2015 - Seite 64 - 2. Korrektur 64 ZNT 35 (18. Jg. 2015) Kontroverse und damit rituelle Ebene muss gerade nicht von außen in den Text hineingetragen werden, sondern sie ist bereits durch den Evangelisten Johannes fest im Text verankert! Der von Heilmann immer wieder betonte Aspekt der Lehre ist dadurch in keiner Weise ausgeschlossen, sondern gerade in Joh 6 ständig präsent. Aber die Lehre steht nie für sich, sondern ist eingebunden in eine bestimmte historische Situation und die mit ihr verbundenen Lehrstreitigkeiten. Im Anschluss an den eucharistischen Abschnitt (Joh 6,51c-58) kommt es zu einem Schisma unter den Jüngern (Joh 6,60-66) und zum Petrusbekenntnis (Joh 6,66-71). Um was geht es hier? Die Jünger sind seit Joh 2,11 bereits im Vollsinn Glaubende, so dass die allgemeine Kategorie ›Annahme von Lehre bzw. göttlicher Weisheit‹ viel zu unspezifisch ist, um die Besonderheiten der Textabfolge am Ende von Joh 6 zu erfassen. Vielmehr ist der Text gerade hier transparent für die aktuelle johanneische Gemeindesituation, denn im Hintergrund von Joh 6,60-66 steht eine Spaltung innerhalb der johanneischen Schule (vgl. 1Joh 2,19; ferner 1Joh 2,22f.; 4,1-3; 5,6), die sich an der soteriologischen Bedeutung der irdischen Existenz Jesu entzündete und bei der das Verständnis der Eucharistie offensichtlich eine zentrale Rolle spielte. 12 Der Evangelist projiziert eine Problematik seiner Zeit in das Leben Jesu zurück und legitimiert damit seine Position durch Jesus selbst. Petrus und Judas fungieren als Prototypen eines Verhaltens gegenüber Jesus, das der Evangelist in seiner Zeit als Treue bzw. Verrat wiedererkennt. Lehre gibt es bei Johannes immer mit einem doppelten Realitätsbezug: Im Hinblick auf die Realität des heilstiftenden Lebens und Leidens Jesus Christi und im Hinblick auf das Verständnis und die Aneignung dieser Realität in Taufe und Eucharistie. Auch aus religionsgeschichtlicher und vor allem ritualtheoretischer Sicht ist es unhaltbar, dem 4. Evangelisten jegliches Interesse an den Sakramenten abzusprechen. 13 Das frühe Christentum war in ein sehr komplexes und attraktives religiös-philosophisches Umfeld eingebettet. Dabei wurde das Leben des antiken Menschen in allen Bereichen durch religiöse Vorstellungen und rituelle Vollzüge bestimmt. Sowohl die griechische als auch die römische Religion ist durch rituelle Vollzüge, durch das Handeln nach dem Brauch der Väter bzw. der Stadt geprägt. Durch den rituell korrekten Vollzug der den Göttern geweihten Opfer 14 , durch zeremonielles Schlachten und Essen, durch Reinigungsrituale galt es, Störungen im Verhältnis der Götter zu den Menschen und der Menschen untereinander aufzuheben. 15 Es gibt keinen Hinweis darauf, dass die frühen Christen aus diesen Grundlagen religiöser Weltsicht und religiöser Praxis ausgestiegen sind. Warum sollten sie auch? Im Gegenteil, gerade der in der johanneischen Theologie dominierende Lebensbegriff fordert Orte der Teilhabe, nämlich Taufe und Eucharistie. Der Evangelist Johannes hat in Joh 6 unabhängige, aber thematisch und motivgeschichtlich verwandte Traditionen seiner Schule aufgenommen und zu einer kompositionellen Einheit geformt. Zentrum des Kapitels ist der eucharistische Abschnitt in V. 51c-58, auf den die redaktionelle Arbeit des Evangelisten zuläuft und der in seiner inkarnatorischen und gegen jede Verflüchtigung der Präsenz des Göttlichen und Irdischen in Jesus Christus geprägten Ausrichtung den Anlass für die jetzt vorliegende Gestalt von Joh 6 bildete. Rituale wie die Eucharistie als Verdichtungen von Wirklichkeit können kollektive Identitäten stabilisieren und erhalten. Ihre lebensweltliche Funktion besteht darin, eine Brücke »von einem Wirklichkeitsbereich zum anderen« 16 zu schlagen. Rituale sind wie Symbole und Metaphorik eine zentrale Kategorie religiöser Sinnvermittlung 17 und Johannes bedient sich ihrer (vgl. Joh 3,5; 13,1-20), um den zentralen Gedanken seiner Sinnbildung ein unverkennbares Profil zu geben: Der inkarnierte, gekreuzigte und auferstandene, in der Eucharistie gegenwärtige Jesus Christus ist der wahre Lebensspender. Der Präexistente und Erhöhte ist kein anderer als der wahrhaft Mensch gewordene und am Kreuz gestorbene Jesus von Nazareth. Voraussetzung für diesen Erkenntnis-, Verstehens- und Erfahrungsakt ist, dass es für die Symbolik/ »Sowohl die griechische als auch die römische Religion ist durch rituelle Vollzüge […] geprägt. […] Es gibt keinen Hinweis darauf, dass die frühen Christen aus diesen Grundlagen religiöser Weltsicht und religiöser Praxis ausgestiegen sind.« »Wenn ein Text von Brot, Fleisch, Blut, das Dankgebet sprechen, essen und trinken sowie Leben und ewiges Leben spricht, dann werden durch diese starken Begriffe bewusst Assoziationen ausgelöst und Verbindungen zur rituellen Gemeindepraxis hergestellt; die eucharistische und damit rituelle Ebene muss gerade nicht von außen in den Text hineingetragen werden, sondern sie ist bereits durch den Evangelisten Johannes fest im Text verankert! « Zeitschrift für Neues Testament_35 typoscript [AK] - 18.05.2015 - Seite 65 - 2. Korrektur ZNT 35 (18. Jg. 2015) 65 Udo Schnelle Symbol und Wirklichkeit Metaphorik im Text einen Wirklichkeitsbezug im Leben der Adressaten gibt, hier die Eucharistie. Gerade bei der Eucharistiefeier verdichten sich christologische, soteriologische und ekklesiologische Momente, denn als Ort der heilvollen Gegenwart des Inkarnierten, Gekreuzigten und Verherrlichten lässt das Herrenmahl dem Glaubenden die Gabe des ewigen Lebens zuteil werden. Die gleitende und verbindende Grundstruktur des johanneischen Denkens lässt es als unangemessen erscheinen, diese Zusammenhänge durch künstliche Alternativsetzungen negieren zu wollen. Anmerkungen 1 Zur umfänglichen Symboldiskussion vgl. G. Kurz, Metapher, Allegorie, Symbol, Göttingen 4 1997. Symbol und metaphorische Rede/ Metapher sind in der unabgeschlossenen Polyvalenz der Bildersprache nur schwer zu trennen; die Metapher ist zuallererst eine Sprachform, beim Symbol wird etwas Vorhandenes/ Konkretes mit einer neuen Bedeutung aufgeladen. »Bei Metaphern ist unsere Aufmerksamkeit mehr auf Wörter gerichtet, auf semantische Verträglichkeiten und Unverträglichkeiten sprachlicher Elemente. Bei Symbolen ist unsere Aufmerksamkeit auf die dargestellte Empirie gerichtet« (G. Kurz, Metapher, Allegorie, Symbol, 73). Metaphern müssen gesprochen/ gelesen werden und beziehen sich auf die Gegenwart, Symbole hingegen verbinden Vergangenheit und Zukunft und haben Resultatcharakter. Zugleich ist aber zu betonen, dass es sich dabei um künstliche Trennungen handelt, die sich den Anforderungen des akademischen Betriebs verdanken. 2 Vgl. P. Tillich, Systematische Theologie I, Stuttgart 5 1977, 280: »Von Gott als dem Lebendigen müssen wir in symbolischen Begriffen reden. Jedes wahre Symbol partizipiert jedoch an der Wirklichkeit, die es symbolisiert.« 3 Vgl. T. Popp, Grammatik des Geistes, ABG 3, Leipzig 2001, 457-491. 4 J. Heilmann, Wein und Blut. Das Ende der Eucharistie im Johannesevangelium und dessen Konsequenzen, BWANT 204, Stuttgart 2014, 144. 5 Heilmann, Wein und Blut, 144. 6 Vgl. Heilmann, Wein und Blut, 173. 7 Heilmann, Wein und Blut, 238 f. 8 Heilmann, Wein und Blut, 148. 9 Heilmann, Wein und Blut, 150. 10 Vgl. F. Passow, Handwörterbuch der griechischen Sprache II.2, Leipzig 5 1857, 2001: »nagen, knuppern, knuspern, schroten, zerbeissen, essen, fressen, bes. rohe Speisen mit den Zähnen zerreiben od. zermalmen.« 11 W. Bauer, Wörterbuch zum Neuen Testament, Berlin 5 1971, 1641. 12 Vgl. dazuT. Popp, Die Kunst derWiederholung. Repetition, Variation und Amplifikation im vierten Evangelium am Beispiel von Johannes 6,60-71, in: J. Frey/ U. Schnelle (Hgg.), Kontexte des Johannesevangeliums, WUNT 175, Tübingen 2004, 559-592. 13 Im Hintergrund steht hier noch immer R. Bultmann, Theologie des Neuen Testaments, Tübingen 4 1961, 411: »Die Tatsache, daß bei Johannes die ›Heilstatsachen‹ im traditionellen Sinn keine Rolle spielen, und daß das ganze Heilsgeschehen: Menschwerdung, Tod und Auferstehung Jesu, Pfingsten und die Parusie in das eine Geschehen verlegt ist: die Offenbarung der alētheia Gottes im irdischen Wirken des Menschen Jesus und die Überwindung des Anstoßes im Glauben ‒ dieser Tatsache entspricht es, daß auch die Sakramente keine Rolle spielen.« 14 Vgl. Plato, Leges IV 716d: »[…] dass für einen guten Menschen das Opfern und der ständige Verkehr mit den Göttern durch Gebete, Weihgeschenke und alle Formen der Gottesverehrung das schönste und beste und wirksamste Mittel zu einem glücklichen Leben und ihm daher auch ganz besonders angemessen ist.« 15 Vgl. dazu W. Burkert, Griechische Religion der archaischen und klassischen Epoche, Stuttgart 2 2011, 93-107. 16 A. Schütz/ T. Luckmann, Strukturen der Lebenswelt, Konstanz 2003, 653. 17 Vgl. dazu C. Geertz, Dichte Beschreibung, Frankfurt a.-M.1987.