eJournals ZNT – Zeitschrift für Neues Testament 18/35

ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
2015
1835 Dronsch Strecker Vogel

Ritualforschung: Eine Bereicherung für die neutestamentliche Wissenschaft

2015
Richard E. DeMaris
Zeitschrift für Neues Testament_35 typoscript [AK] - 18.05.2015 - Seite 31 - 2. Korrektur ZNT 35 (18. Jg. 2015) 31 Neu ist die Idee der Erforschung frühchristlicher Rituale nicht, auch nicht auf dem Gebiet des Neuen Testaments. Bereits die sogenannte Mythen- und Ritualwissenschaft, wie sie von William Robertson Smith begründet und u. a. von James Frazer und Jane Harrison zur Schultradition der Cambridge Ritualists ausgebaut wurde, erklärte das Ritual zum unerlässlichen Bestandteil eines jeden Mythos. Einige Anhänger dieser Denkrichtung machten die Ritualhandlung sogar zur Grundvoraussetzung für die Entstehung eines Mythos oder einer Erzählung. 1 Das europäische Pendant zu diesem Ansatz war die Religionsgeschichtliche Schule, die in Deutschland Ende des 19. Jahrhunderts aufkam. Führende Vertreter dieser Schule wie etwa Richard Reitzenstein rückten das Ritual in den Fokus wissenschaftlicher Betrachtung, ein Denkansatz, der nicht der konventionellen philologischen und theologischen Betrachtungsweise dieser Zeit entsprach. 2 Im Rahmen dieser Schule entstanden Untersuchungen zum frühchristlichen Ritual. 3 Ebenso wurde die Möglichkeit einer rituellen Funktion frühchristlicher Schriften erwogen. 4 Im 20. Jahrhundert entstanden außerdem Studien, die das Neue Testament im rituellen, liturgischen oder kultischen Kontext des antiken Judentums oder frühen Christentums positionierten. Im Unterschied zum historisch-vergleichenden Ansatz der Religionsgeschichtlichen Schule 5 stand nun die literarische Analyse eines neutestamentlichen Textes, dessen Inhalt, Form oder Struktur im Mittelpunkt. Die These, dass es sich beim 1. Petrusbrief ursprünglich um eine Taufrede handelte, geht auf Wilhelm Bornemann zurück. Sie wurde von Herbert Preisker weiterentwickelt und später von Frank Leslie Cross übernommen, der den Taufkontext als Passahfeier spezifizierte. 6 Auf ähnliche Weise wurde die Passionsgeschichte untersucht und, im Falle des Markusevangeliums, das gesamte Evangelium. Karl Ludwig Schmidt sah im literarischen Charakter der Passionsgeschichte einen Nachweis für ihren liturgischen Gebrauch. 7 Bei Étienne Trocmé kam es später zur Anbindung der Passionsgeschichte an umfangreiche Erzählungen, die während jüdischer Feste verlesen wurden, woraus er schlussfolgerte, dass die frühesten Christen die Passionsgeschichte im Rahmen ihrer Passahfeier gelesen hatten. 8 Dies führte bald darauf zu der Annahme, dass das Evangelium in seinem Gesamtaufriss einem liturgischen setting entstammte bzw. eine liturgische Funktion erfüllte. 9 Benoît Standaert, gefolgt von Augustine Stock, vertrat nicht nur die Auffassung, das Markusevangelium sei während des Passahabends (Osternacht) verlesen worden, sondern nahm auch an, dass es als Taufliturgie diente, sofern Ostern für die junge Kirche einen beliebten Zeitpunkt für Taufen darstellte. 10 Weder die religionsgeschichtlichen noch die späteren literarischen Bemühungen einer Anbindung neutestamentlicher Schriften an ein rituelles setting stießen innerhalb des konventionellen Forschungsdiskurses auf nennenswerte Resonanz. Man könnte sogar sagen, dass die Forschung des 20. Jahrhunderts sich generell einem solchen Zugang verweigerte. Dies ist überaus erstaunlich angesichts derzeitiger Forschungsinteressen zu Bildung, Zusammensetzung, Identität und institutioneller Entwicklung christlicher Gruppierungen-- sämtlich Themen, die ritualtheoretische Fragen berühren. Sodann sind sozialgeschichtliche und sozialwissenschaftliche Untersuchungen seit etwa vierzig Jahren en vogue, doch nur sehr wenige widmen sich dem Thema Ritual. 11 In den letzten Jahren wirkte sich diese Nichtbeachtung von Ritualen in anderer Weise aus. Seit den 1990er Jahren etablierte sich die Ritualforschung als eine eigenständige Disziplin. Literatur und Theorien zum Thema sind reichlich vorhanden. Dennoch machen Forscher des frühen Christentums kaum oder gar keinen Gebrauch von Ritualwissenschaft. Dies ist selbst dann der Fall, wenn das Ritual als zu behandelnder Gegenstand in den Fokus tritt. Everett Fergusons maßgebende Untersuchung zur Taufe gibt hierfür ein anschauliches Beispiel ab. 12 Das umfangreiche Werk erhebt zwar den Anspruch, seinen Gegenstand umfassend abzudecken, bietet jedoch keine Abhandlung zur Taufe als Ritual. Nur wenig besser steht es um das voluminöse, über drei Bände und vierundfünfzig Beiträge sich erstreckende Sammelwerk Waschungen, Initiation und Taufe: Spätantike, Frühes Judentum und Frühes Christentum. Nur drei Beiträge bedienen sich eines ritualwissenschaftlichen Ansatzes. 13 Sind somit auch enzyklopädische Studien zur christlichen Taufe in der Antike in jüngster Zeit auf beiden Seiten des Atlantiks erschienen, so hat das Thema Taufe als Ritual gleichwohl nur geringe oder gar keine Beachtung gefunden. Die weitgehende wissenschaftliche Nichtbeachtung antiker christlicher Rituale kann jedoch ebenso Richard E. DeMaris Ritualforschung: Eine Bereicherung für die neutestamentliche Wissenschaft Zum Thema Zeitschrift für Neues Testament_35 typoscript [AK] - 18.05.2015 - Seite 32 - 2. Korrektur 32 ZNT 35 (18. Jg. 2015) Zum Thema konkret aufgezeigt werden. Eine langjährige, im Kern soziologische Debatte befasst sich mit der Eigenart der sogenannten johanneischen Gemeinschaft. Als seit den 1970er Jahren sozialgeschichtliche Fragestellungen im Bereich der Bibelwissenschaft aufkamen, befassten sich historische und theologische Studien zum Johannesevangelium zunehmend mit der Erscheinungsform dessen, was schließlich unter dem Terminus johanneische Gemeinschaft subsummiert wurde. Beispielsweise entwarf John Louis Martyn eine Geschichte dieser Gemeinschaft als einer Synagogen-Gruppe des späten 1. Jh. n. Chr., die das Trauma des Ausschlusses und die darauffolgende Geburt als neue und separate soziale Einheit durchlebt. 14 Raymond Brown zeichnete in Kombination einer Kompositionsanalyse zum Johannesevangelium 15 und einer Untersuchung zur johanneischen Briefliteratur vier Phasen einer Geschichte der johanneischen Gemeinschaft nach. 16 Brown stellte sein Vorgehen unter den Begriff der Ekklesiologie, doch sein Ansatz berührte die Frage nach der sozialen Konstellation und dem Profil der Gemeinschaft. Konsequenterweise fühlte er sich dazu verpflichtet, auf die Frage einzugehen, ob die Gemeinschaft als »Sekte« einzustufen sei oder nicht, eine explizit soziologische Fragestellung also. 17 Rekonstruktionen dieser Art waren zu dieser Zeit häufig, stets mit primär theologischer Ausrichtung, jedoch unter soziologischem Aspekt. 18 Browns Arbeit war eine Antwort auf stärker soziologisch und sozialwissenschaftlich motivierte Untersuchungen zum Johannesevangelium, eine Vorgehensweise, die auf Wayne L. Meeks bahnbrechendem Werk zu den speziellen Sprachmustern innerhalb des Evangeliums basierte. 19 Die verwirrende Sprache des Evangelisten deutete Meeks als Indiz für den Sektenstatus der johanneischen Gemeinschaft. So bildete sich in den 1980er und 1990er Jahren eine bedeutende Forschungsrichtung heraus, die sich nicht nur mit der johanneischen Gemeinschaft, sondern mit der Jesusbewegung insgesamt befasste. 20 Leitfrage war: Wie können die vielen Gruppierungen, Gemeinschaften, Versammlungen oder Kirchen, welche die Jesusbewegung konstituierten, präzise charakterisiert werden? Als Splittergruppe? Als Sekte? Als Kultgemeinschaft? Im Falle der johanneischen Gemeinschaft kam es vermehrt zu Vorschlägen bezüglich ihres sozialen Profils und ihres Verhältnisses zur umgebenden Gesellschaft, eine Tendenz, die bis heute andauert. 21 wenig wie jegliche Indifferenz gegenüber der Ritualwissenschaft über die zentrale Bedeutung von Ritualen für alle Formen menschlichen Zusammenlebens, inklusive des Zusammenlebens in der frühen Kirche, hinwegtäuschen. Positiv gesprochen: Ein erhöhtes Maß an Aufmerksamkeit gegenüber Ritualen und die Anwendung ritualwissenschaftlicher Ansätze auf dem Gebiet neutestamentlicher Wissenschaft könnte zur Beantwortung zahlreicher soziologischer Fragen auf dem Feld frühchristlicher Gemeinschaften beitragen. 1. Ein Testfall: Die johanneische Gemeinschaft in ritualwissenschaftlicher Perspektive Der erhebliche Nutzen der Ritualforschung für die neutestamentliche Wissenschaft soll nun aber nicht nur generell behauptet, sondern auch anhand eines Beispiels Prof. Dr. Richard E. DeMaris studierte Philosophie und Religious Studies an der University of Illinois - Urbana, Biblical Studies am Princeton Theological Seminary und New Testament Studies an der Columbia University - Union Theological Seminary (M.Phil., 1986; Ph.D., 1990). Heute ist er Professor für New Testament Studies an der Valparaiso University (USA). Sein Interessengebiet umfasst die Archäologie der Neutestamentlichen Welt sowie die Erforschung frühchristlicher Rituale. Bekannt ist er für sein Werk »The New Testament in Its Ritual World,« London 2008. Daneben zahlreiche Veröffentlichungen, zuletzt: »Backing away from Baptism: Early Christian Ambivalence about Its Ritual,« Journal of Ritual Studies 27 (2013), 11-19; »Sacrifice, an Ancient Mediterranean Ritual,« Biblical Theology Bulletin 43 (2013), 60-73. Prof. Dr. Richard E. DeMaris »Ein erhöhtes Maß an Aufmerksamkeit gegenüber Ritualen und die Anwendung ritualwissenschaftlicher Ansätze auf dem Gebiet neutestamentlicher Wissenschaft könnte zur Beantwortung zahlreicher soziologischer Fragen auf dem Feld frühchristlicher Gemeinschaften beitragen.« Zeitschrift für Neues Testament_35 typoscript [AK] - 18.05.2015 - Seite 33 - 2. Korrektur ZNT 35 (18. Jg. 2015) 33 Richard E. DeMaris Ritualforschung: Eine Bereicherung für die neutestamentliche Wissenschaft Paradigmatische sozialwissenschaftliche Untersuchungen zur johanneischen Gemeinschaft wurden unter Verwendung sozialwissenschaftlicher Deutungsmodelle expliziert und verfeinert. Bruce Malina kombiniert beispielsweise das Kulturmodell einer grid-group der Sozialanthropologin Mary Douglas mit soziolinguistischen Ansätzen, um die Art Gruppe zu beschreiben, die den für das Johannesevangelium charakteristischen Sprachtypus hervorgebracht haben könnte. Grob gesprochen steht die klare und zugleich verwirrende johanneische Sprache, die Malina »Gegen-Sprache« nennt, für eine Gegengruppierung zur sozialen Ordnung, welche eine alternative soziale Realität konstruiert. 22 Parallel wäre hier auf Jerome Neyreys Anwendung des Douglas’schen grid-group-Modells auf die Weltauffassung der Evangelien, insbesondere der dort zum Ausdruck gebrachten Kosmologie und Christologie, zu verweisen. Neyrey kommt zu dem Schluss, dass die johanneische Gemeinschaft ihrer sozialen Umwelt, ebenso wie anderen Gruppierungen innerhalb der Jesusbewegung, als zutiefst entfremdet gegenüberstand. 23 So fortschrittlich sich diese Studien in ihrem Gebrauch sozialwissenschaftlicher Modelle auch erweisen: Eine sozialwissenschaftliche Untersuchung zur johanneischen Gemeinschaft unter Berücksichtigung sämtlicher sozialer Charakteristika vermögen sie nicht zu leisten. Große Aufmerksamkeit galt bislang der Sprache und Weltauffassung dieser Gemeinschaft, wenig Beachtung erfuhr dagegen die rituelle Praxis, ein konstitutiver Aspekt jeder Gemeinschaft. Eine Ritualanalyse zum Johannesevangelium ist demnach ein so notwendiger wie konsequenter weiterer Schritt für die sozialwissenschaftliche Erforschung der johanneischen Gemeinschaft. Das Evangelium bietet zwar keinen direkten Einblick in das Gemeinschaftsleben seiner Trägergruppe, wohl aber eine Darstellung der rituellen Praxis des Gründers und der ersten Anhänger. Daraus lassen sich Rückschlüsse auf die Gemeinschaft des späten 1. Jahrhunderts ziehen. 2. Das rituelle Profil des vierten Evangeliums Die Behauptung, das rituelle Leben der johanneischen Gemeinschaft habe bislang in der Forschung wenig Aufmerksamkeit erfahren, erfordert eine gewisse Relativierung. Taufe und Abendmahl-- oder die Abwesenheit beider-- wurden in der Johannesforschung unter der Rubrik »Sakrament« oder »Sakramentalismus« behandelt. 24 Des Weiteren zogen die dem Johannesevangelium eigenen Rituale, beispielsweise die Fußwaschung, das Interesse der Forschung auf sich. Doch haftet einer Einordnung von Taufe, Abendmahl und Fußwaschung in ein sakramentales System ein reduktionistischer Zug an. Gegenwärtige Untersuchungen zur Fußwaschung richten den Fokus stets auf eine »tiefere« Bedeutung, die sie hinter dem Ritual verborgen meinen. So sieht man in der Fußwaschung ein Symbol für das Martyrium 25 , für eschatologische Gastfreundschaft 26 , für Liebe 27 , usw. Dies entspricht der allzu gängigen Betrachtungsweise von Ritualen, wie nicht wenige Ritualwissenschaftler bemerkt haben. 28 Die Rituale der johanneischen Gemeinschaft erfahren lediglich Beachtung in der ihnen unterstellten, referentiellen Funktion, d. h. insofern sie auf etwas verweisen. Dadurch gerät das Ritual als Phänomen in den Hintergrund. Anders als bei den meisten Untersuchungen kommt in der Studie von Jerome Neyrey zur Fußwaschungsszene in Joh 13,6-11 und zur darauffolgenden Rede in 13,12-20 ein ritualtheoretischer Ansatz mit Gewinn zur Anwendung. 29 Doch ist dies nur der erste Schritt einer erforderlichen umfassenden Studie, die die Rituale der johanneischen Gemeinschaft überblicksartig zusammenstellt, die Anordnung ihrer Komponenten analysiert und die Konturen der rituellen Welt nachzeichnet, innerhalb der sich die johanneische Gemeinschaft selbst vorfand. Für das Verstehen von Ritualen ist die Betrachtung des rituellen Kontextes dabei stets von entscheidender Wichtigkeit. 30 Rituale interagieren nämlich mit weiteren Ritualen, mit deren setting. Auch ist der jeweilige Kontext zur Bestimmung ihrer Wirkung ausschlaggebend, zumal diese nicht von vornherein feststeht. 31 Je nach Kontext vermag eben dasselbe Ritual die soziale Ordnung zu festigen oder zu verändern. Ein Festmahl beispielsweise festigt bestehende Sozialbeziehungen zwischen den Gästen, wohingegen ein Begräbnis- oder Hochzeitsmahl ebenso einen Wandel sozialer Verhältnisse markieren und befördern kann. Eine gegenwärtige Tendenz innerhalb der Johannesforschung begünstigt die umfassendere Betrachtung von Ritualen. Zwar besteht wenig Zweifel an der erheblichen literarischen und kompositorischen Komplexität des Evangeliums, doch gibt es seit einiger Zeit eine deutliche Tendenz von einer diachronen hin zu einer synchronen Betrachtungsweise. 32 Das Verdienst älterer Arbeiten zur Quellen- und Redaktionskritik bleibt un- »Je nach Kontext vermag eben dasselbe Ritual die soziale Ordnung zu festigen oder zu verändern.« Zeitschrift für Neues Testament_35 typoscript [AK] - 18.05.2015 - Seite 34 - 2. Korrektur 34 ZNT 35 (18. Jg. 2015) Zum Thema bestritten. Ebenso gewinnen nun aber aktuell Ansätze an Bedeutung, die vom literarischen Ganzen des Evangeliums ausgehen, unter Einbezug von Rhetoriktheorie, reader response criticism oder Rezeptionskritik. Die von der modernen Bibelwissenschaft aufgedeckten Unstimmigkeiten, Brüche, Verschiebungen und Aporien, einst Impulse für Quellen- und Redaktionskritik, können nun als Teil der literarischen Strategie des Evangelisten bzw. des Redaktors verstanden werden. 33 Ebenso erwägenswert ist die Frage, wie wohl die antike Hörerschaft auf den Text reagiert hat. Hätte sie dieselben Unstimmigkeiten wahrgenommen wie der moderne Exeget? Die folgende ritualwissenschaftliche Analyse zum Johannesevangelium will das Evangelium als ein integriertes Ganzes betrachten. 2.1 Taufen, Waschen und Abtrocknen Würde der Taufe im Johannesevangelium eine zentrale Bedeutung zukommen, so wäre dies nicht verwunderlich. Tatsächlich trifft dies auch in gewisser Hinsicht zu. In der Nikodemus-Episode in Joh 3, wo Jesus vom Sehen oder Hineinkommen in das Reich Gottes spricht, gilt die Taufe als Vorbedingung. Oftmals wird zumindest Joh 3,5 als Anspielung darauf verstanden: »Jesus antwortete und sprach zu ihm: Wahrlich, wahrlich, ich sage dir: Es sei denn, daß jemand von neuem geboren werde, so kann er das Reich Gottes nicht sehen.« 34 Die hier zum Ausdruck gebrachte Koppelung von Wasser und Geist erinnert an die paulinische Verknüpfung von Taufe und Geist in 1Kor 12,13 (vgl. 6,11), ebenso an Passagen in der Apostelgeschichte, wo Taufe und Geistverleihung Teil desselben Geschehenszusammenhangs sind (10,44-48; 19,1-6). An anderer Stelle in der Apg spricht Petrus eine Taufempfehlung für potentielle Konvertiten aus, da mit der Taufe die Gabe des Heiligen Geistes einhergeht (2,38). Bezeichnet der Eintritt in das Reich den Beitritt zur Glaubensgemeinschaft, so bildet die Taufe im Johannesevangelium das obligatorische Eingangsritual. Dies wäre eine Erklärung für die Notiz, dass Jesus im Raum Judäa taufte und dass von dieser Aktivität im Anschluss an die Nikodemus-Episode berichtet wird (3,22; 4,1). In 4,1 geht die Gewinnung von Jüngern Hand in Hand mit dem Taufen derselben. Als Beleg für die Bedeutung der Taufe im Johannesevangelium ist dies gleichzeitig die einzige Stelle in den kanonischen Evangelien, wo Jesus selbst taufend tätig wird. Die Darstellung des taufenden Jesus wird allerdings in Joh 4,2 (ein den Erzählverlauf störender und in seinem Inhalt widersprüchlicher Vers) sofort rückgängig gemacht: »-- obwohl Jesus nicht selber taufte, sondern seine Jünger-- .« 35 Die Distanzierung Jesu gegenüber der Taufe findet sich nicht nur in Joh 4. Das Johannesevangelium unterscheidet sich von den Synoptikern darin, dass Jesu Taufe selbst unerwähnt bleibt. Auffallend ist diese Auslassung angesichts der Tatsache, dass das johanneische Eröffnungskapitel (1,19-34) sonst Elemente enthält, die die Synoptiker ihrem Bericht über Jesu Taufe beifügen: Johannes der Täufer (Mt 3,14; Mk 1,9), 36 der Jordan (Mt 3,13; Mk 1,9; Lk 3,3), der auf Jesus herabsteigende Geist (Mt 3,16; Mk 1,10; Lk 3,22). Das Johannesevangelium bietet, mit anderen Worten, eine Taufszene ohne Taufe. Einer Distanzierung Jesu von der Taufe korrespondiert eine Dezentrierung oder Herabminderung der Taufe, wie sie an späterer Stelle im Evangelium durch das Auftreten eines weiteren Wasserrituals erfolgt (13,1- 20). Als Jesus damit beginnt, seinen Jüngern die Füße zu waschen, befragt ihn Petrus und will ihm das Waschen seiner Füße verweigern. Jesu Antwort ist bemerkenswert: »Wenn ich dich nicht wasche, so hast du kein Teil an mir« (vgl. 13,8). Jerome Neyrey versteht diesen Kommentar als Hinweis darauf, dass die Fußwaschung des Petrus (oder auch die der anderen Jünger) eine rituelle Statustransformation darstellt, durch die Petrus von einer niedrigeren zu einer höheren Stufe der Zugehörigkeit zu Jesus aufrückt. 37 Dies könnte einer durch Jesus initiierten Aufnahme des Petrus in den inneren Kreis von Gläubigen, welche sich um den Lieblingsjünger scharen (vgl. 13,23), gleichkommen. Hätte Neyrey recht, so wäre die Fußwaschung eine Ergänzung der Taufe, denn Jesus bemerkt, dass diejenigen, die vom Bad kommen-- aller Wahrscheinlichkeit nach ein Verweis auf die Taufe-- dennoch der Fußwaschung bedürfen, um gänzlich rein zu sein (13,10). Die Fußwaschung könnte aber ebenso die Ablösung der Taufe darstellen, was allerdings im Evangelium nicht klar zutage tritt. Nach Joh 3,5 heißt es, nur die aus Wasser und Geist Geborenen, d. h. die Getauften, können in das Reich eingehen. In 13,8 wird vermittels derselben Formel, eingeleitet durch »wenn nicht« (ean mē), die Fußwaschung zur Zulassungsbedingung: »Wenn ich dich nicht wasche, so hast du kein Teil an mir.« Doch einige Verse weiter scheint die Fußwaschung einen anderen Zweck zu erfüllen. Sie »Bezeichnet der Eintritt in das Reich den Beitritt zur Glaubensgemeinschaft, so bildet die Taufe im Johannesevangelium das obligatorische Eingangsritual.« Zeitschrift für Neues Testament_35 typoscript [AK] - 18.05.2015 - Seite 35 - 2. Korrektur ZNT 35 (18. Jg. 2015) 35 Richard E. DeMaris Ritualforschung: Eine Bereicherung für die neutestamentliche Wissenschaft gilt nicht als ein einmaliges Ereignis, welches einen Statuswechsel herbeiführt. Jesus legt den Jüngern vielmehr ans Herz, dass sie sich gegenseitig die Füße waschen, indem sie seinem Beispiel folgen (13,14 f.). Treffend deutet Neyrey den wiederholbaren Akt der Fußwaschung als ein statusbekräftigendes oder -erneuerndes (und nicht -transformierendes) Ritual. So verstanden entspräche die Fußwaschung eher einer Ergänzung der Taufe als einer Ablösung derselben. Als entscheidendes Ritual zur Kennzeichnung von Jesuszugehörigkeit und Gruppensolidarität gilt die Fußwaschung jedenfalls als derjenige Wasserritus im Johannesevangelium, der die größte Aufmerksamkeit auf sich zieht. Die vom johanneischen Jesus eingeführte Fußwaschung schließt die Abtrocknung der Füße mit ein. Es ist einer Betrachtung wert, ob das Abtrocknen ebenso wichtig für das Ritual ist wie das Waschen. Hierfür sei auf eine frühere Mahlszene verwiesen, die einige Ähnlichkeit mit der Fußwaschungsszene in Joh 13 aufweist. Joh 12 berichtet von einem Mahl Jesu mit den Geschwistern Maria, Martha und Lazarus, allesamt Jünger, welche Jesus liebte und welche den Status von paradigmatischen Gläubigen aufweisen (11,1-44). 38 Während des Mahlverlaufes salbt Maria die Füße Jesu mit Öl und trocknet sie (vgl. denselben Wortgebrauch in 13,5! ) mit ihren Haaren (12,1-8). Maria tut bereits hier, was Jesus seinen Jüngern in Joh 13 anempfiehlt: der rechte Jünger nimmt die Rolle eines Sklaven an und reinigt-- wäscht und/ oder salbt-- die Füße der Mahlteilnehmer. Es gibt aber noch ein weiteres überraschendes und überraschend übereinstimmendes Detail. In der antiken mediterranen Welt bildeten Baden und sich Feinmachen den Auftakt zum eigentlichen Mahl. 39 Üblich war es, vor dem Mahl ein öffentliches Badehaus aufzusuchen (Xenophon, Symp. 7; Lucian, Asin. 3). Waren die Gäste danach am Ort des Festmahls angekommen, so standen den Eintretenden für gewöhnlich die Sklaven des Gastgebers zur Verfügung, was das Waschen von Händen und Füßen und das Auftragen von Öl mit einschloss (Plato, Symp. 175a; Plutarch, Sept. sap. conv. 3 [=Mor. 148b]; Athenaios, Deipn. 4169a). Salbt Maria folglich die Füße Jesu und wäscht Jesus die Füße seiner Jünger nach Mahlbeginn, so stellt dies eine augenfällige Abweichung von der Mahlordnung dar. Zur Waschung der Hände kann es während des Mahlverlaufs gelegentlich gekommen sein (Athenaios, Deipn. 2.60a; 9408b-409a). Petrus könnte sich auf diese Praxis berufen, wenn er Wasser für Hände, Haupt und Füße fordert (Joh 13,9). Doch handelt es sich bei Fußwaschung und Salbung um Rituale vor dem eigentlichen Mahlbeginn. Während des Mahles unterbrechen sie den Mahlvollzug und bewirken die Umkehrung der etablierten Ritualfolge. Von der Regelwidrigkeit der Fußsalbung während des Mahles weiß das Satyricon des Petronius zu berichten: Im Verlauf von Trimalchios’ Gastmahl reiben Sklaven die Füße der Gäste mit parfümiertem Balsam ein, was der Erzähler als Verstoß gegen die Mahlkonvention wertet; eine der vielen Scham und Empörung hervorrufenden Szenen, die dem Text seine Würze verleihen (Petronius, Sat. 7). Als ebenso zugespitzte wie eklatante Abweichung von der Mahlkonvention notiert das Johannesevangelium, wer die Salbung oder Waschung vollzieht. Maria und Jesus, beide im Evangelium Träger eines hohen Status, erfüllen die Funktion von Sklaven. Dieser Rollentausch bildet mithin das zweite Beispiel für Inversion im Rahmen johanneischer Mahlszenarien. 2.2 Essen und Feste feiern Anders als bei den Synoptikern kommt es im Johannesevangelium (abgesehen von Joh 12 und 13) zur Schilderung verhältnismäßig weniger Mahlszenen. Auch fehlt eine Mahlszene unmittelbar vor dem Verrat Jesu, die den Berichten im 1 Korintherbrief und in den synoptischen Evangelien vergleichbar wäre, wo Jesus für Brot und Kelch Dank sagt und beides an die beim Mahl Anwesenden austeilt (1Kor 11,23-26; Mt 26,26-29; Mk 14,22-25; Lk 22,15-20). Diese Leerstelle ist auffällig, weil das vierte Evangelium ja keineswegs eine Kurzversion des letzten Mahles im Kreis der Anhängerschaft Jesu bietet. Im Gegenteil: Die sich über fünf Kapitel (Joh 13-17) erstreckende Erzählung ist sogar erheblich länger gestaltet als bei den Synoptikern. Es hat den Anschein, als habe Johannes das Mahlritual samt Segnung und Austeilen von Brot und Wein durch die Fußwaschung samt dem Abtrocknen ersetzt. Ein die dauerhafte Wiederholung des Rituals autorisierender Sprachgebrauch begleitet beide Riten. Doch »Als entscheidendes Ritual zur Kennzeichnung von Jesuszugehörigkeit und Gruppensolidarität gilt die Fußwaschung [...] als derjenige Wasserritus im Johannesevangelium, der die größte Aufmerksamkeit auf sich zieht.« »In der antiken mediterranen Welt bildeten Baden und sich Feinmachen den Auftakt zum eigentlichen Mahl.« Zeitschrift für Neues Testament_35 typoscript [AK] - 18.05.2015 - Seite 36 - 2. Korrektur 36 ZNT 35 (18. Jg. 2015) Zum Thema anstelle einer Aufforderung zum Gedenken des Mahles -- »Das tut zu meinem Gedächtnis« (1Kor 11,24; Lk 22,19)-- kommentiert der johanneische Jesus die Fußwaschung mit folgenden Worten: »Wenn nun ich, euer Herr und Meister, euch die Füße gewaschen habe, so sollt auch ihr euch untereinander die Füße waschen. Ein Beispiel habe ich euch gegeben, damit ihr tut, wie ich euch getan habe« (Joh 13,14 f.). Außerdem gerät dieses besondere Mahl keineswegs aus dem Blickfeld. Ein Sprachgebrauch, sehr ähnlich demjenigen während des letzten Abendmahls, begegnet gegen Ende der langen Rede, die die Speisung der Fünftausend in Joh 6 beschließt. Mit Jesu Anspruch, das Brot des Lebens zu sein (6,35), das nachhaltiger nährt als das vom Himmel herabgekommene Brot (eine Anspielung auf die Manna-Erzählung der Wüstentradition der hebräischen Bibel [Ex 16; Num 11]), geht Jesu Behauptung einher, das Brot sei sein Fleisch (6,51). Einige Verse weiter spricht er von seinem Blut als wahrem Trank (6,55). Dadurch verwendet der johanneische Jesus offenkundig Abendmahlsterminologie, wie sie sich auch bei den Synoptikern findet: Brot als Symbol für Jesu Leib, Wein für Jesu Blut. Demzufolge hat die Fußwaschung nicht das Abendmahl ersetzt. Allerdings wurde das besondere Mahl in Jesu öffentliche Wirksamkeit verlegt, und es erfuhr eine Neudefinition. Wie bei den Synoptikern fällt es auf den Tag des Passahfestes (6,4); es stehen jedoch Gerstenbrote und Fisch auf der Speisekarte, nicht Brot und Wein. Das Mahl findet öffentlich statt, nicht im privaten Raum, und es bezieht alle Kommenden mit ein, nicht einige wenige Anhänger. Der das Ritual definierende Akt ist nach wie vor vorhanden: »Jesus aber nahm die Brote, dankte und gab sie denen, die sich gelagert hatten; desgleichen auch von den Fischen, soviel sie wollten« (6,11). 40 Trotz ihrer Andersartigkeit gleicht die in Joh 6 geschilderte Speisung somit im entscheidenden Moment der Abendmahlstradition der Synoptiker. Gleichwohl sind die Unterschiede zu beachten. Die jeweilige Sitz- oder Liegeordnung galt bei einem Mahl als Niederschlag und Untermauerung der sozialen Hierarchie. 41 Das vierte Evangelium verrät Kenntnis von dieser Realität, wenn es den Lieblingsjünger an die Seite Jesu legt und der vermutlich entfernter liegende Petrus diesem signalisiert, er solle Jesus fragen, wer seiner Ansicht nach der Verräter sei (13,23-25). Die Rangordnung zwischen Petrus und dem Lieblingsjünger im Kreis der Gläubigen tritt somit klar hervor, ein Motiv, welches später an mehreren Stellen im Erzählverlauf wieder aufgegriffen wird, wo der Lieblingsjünger stets eine Stufe über Petrus steht (z. B. 20,1-10; 21,4-8). Doch das Mahl in Joh 6 unterläuft diese Struktur: Es gibt keine Liste mit geladenen Gästen, nur eine riesige Menschenmenge, geschart um Jesus; es gibt keine Sitzordnung, wie in den Parallelen bei Markus und Lukas, wo sich die Menschen zu hundert und zu fünfzig niederlassen (Mk 6,40; Lk 9,14); ferner teilt Jesus die Speisen persönlich aus, nicht die Jünger an seiner statt (vgl. dagegen Mt 14,19; Mk 6,41; Lk 9,16). So weichen die in der antik-mediterranen Gesellschaft für ein Mahl so bedeutsamen, die sozialen Unterschiede und Ungleichheiten markierenden Eigenschaften dem integrierenden und einigenden Potenzial, das einem Mahl ebenso inhärent ist. 42 Dadurch dass die Einladung ferner offen ergeht und die Leute sich wahllos lagern-- ohne Berücksichtigung statusbedingter Unterschiede-- begünstigt das Mahl die Überschreitung sozialer Grenzen, anstatt sie zu spiegeln und zu festigen. 43 Innerhalb dieses Kontextes könnte das Mahlhalten möglicherweise als Eingangsritual in den Kreis um die Person Jesu dienen, auch wenn dies nicht den Ausgang der Erzählung in Joh 6 darstellt. Dasselbe johanneische Mahl taucht auf modifizierte Weise gegen Ende des Evangeliums wieder auf. Auch an dieser Stelle begünstigt es eher eine Statustransformation als eine Affirmation desselben. Der auferstandene Jesus bereitet einer Gruppe von Jüngern, welche Petrus und den Lieblingsjünger umfasst, ein Mahl: »Da kommt Jesus und nimmt das Brot und gibt’s ihnen, desgleichen auch die Fische« (Joh 21,12). Vor dem Hintergrund dieses Mahles erfolgt die prüfende Befragung des Petrus durch Jesus. In Zuge dieser Befragung setzt Jesus Petrus zum Hirten, d. h. zum Leiter der Gemeinschaft ein (21,15-19). In Analogie zu Jesus als dem guten Hirten, welcher sein Leben für die Schafe hingibt (10,11), ist es nun Petrus, der sich zukünftig um die Schafe kümmern, sie speisen und Gott durch seinen Tod verherrlichen wird (21,19). 44 Petrus, der Jesus dreimal verleugnet hatte (18,15-18), tritt nun auf als derjenige, der seine Loyalität und sein Bekenntnis zu Jesus auf dessen Fragen hin dreimal bekräftigt. Die Statustransformation des Petrus vom Leugner zum Leiter ereignet sich zur Morgenmahlzeit. Eine weitere Mahlszene, die in diesem Zusammenhang Aufmerksamkeit verdient, findet sich nicht gegen »[I]n Joh 6 [...] weichen die in der antik-mediterranen Gesellschaft für ein Mahl so bedeutsamen, die sozialen Unterschiede und Ungleichheiten markierenden Eigenschaften dem integrierenden und einigenden Potenzial, das einem Mahl ebenso inhärent ist.« Zeitschrift für Neues Testament_35 typoscript [AK] - 18.05.2015 - Seite 37 - 2. Korrektur ZNT 35 (18. Jg. 2015) 37 Richard E. DeMaris Ritualforschung: Eine Bereicherung für die neutestamentliche Wissenschaft Ende, sondern gleich zu Beginn des Johannesevangeliums: die Hochzeit zu Kana in Joh 2. Den Festessen in Joh 6 und 21 vergleichbar markiert hier das Hochzeitsmahl eine Statustransformation: den Statuswechsel von Braut und Bräutigam und die Neuanordnung zweier Familienkonstellationen. Wie beim Festessen in Joh 6 handelt es sich um eine wirkliche Feier. Freigebigkeit wird sichtbar im Übermaß an Gütern. Kommt es in Joh 6 durch Jesus zur Darreichung von so viel Brot und Fisch, dass fünftausend Personen sich mehr als satt essen können und dazu noch zwölf Körbe übrig bleiben (Joh 6,12 f.), so teilt Jesus in Joh 2 um die sechshundertachzig Liter Wein an die Hochzeitsgäste aus (2,6-9). Ein Tafeln im großen Stil! Feste dieser Art, bei denen so unglaublich reichhaltig für das leibliche Wohl gesorgt war, fanden zweifelsohne im Empfängerkreis des vierten Evangeliums auf vielen Ebenen einen Widerhall. Gerstenbrote in solchem Übermaß, dass viele davon gesättigt wurden, ein beträchtlicher Rest aber auch übriggeblieben war, erinnert an die israelitische Elisha-Tradition (Joh 6,9; vgl. 2 Kön 4,42 ff.). Die Notiz, dass die Überreste zwölf Körbe füllten, gilt als deutlicher Hinweis auf die zwölf Stämme des antiken Israel. Das Vermögen, Wasser in Wein umzuwandeln, wurde normalerweise mit dem griechischen Gott Dionysos in Verbindung gebracht. 45 Die Thematik einer überreichen Darreichung von Wein und Speise an alle, wie sie in einer zusammenschauenden Betrachtung von Joh 2 und 6 zum Ausdruck kommt, würde wohl antike Assoziationen an das Handeln des idealen Wohltäters wecken, wie er in Gestalt einer Gottheit oder eines äußerst freigiebigen und großzügigen menschlichen Gönners auftritt. 46 An der Spitze aller potentiellen menschlichen Wohltäter stand im römischen Imperium der Kaiser. Neben den zahlreichen, vom Kaiser bereiteten Wohltaten, wie der Gewährleistung der Getreideversorgung und der Veranstaltung von Spielen, kam es gelegentlich zur Ausrichtung von Festessen für die gesamte Bevölkerung. Cassius Dio erwähnt beispielsweise ein Fest, das Octavian zugunsten der Bürgerschaft der Stadt Rom abhalten ließ (Dio 48,9). Anlässlich seiner Vermählung gab Elagabal Spiele und äußerst kostspielige Festessen für die Gesamtbevölkerung in Auftrag (Dio 80,9). Von Domitian aufgebotene Festveranstaltungen sind bei Sueton im Rahmen einer langen Liste seiner kaiserlichen Wohltaten aufgeführt: »Dreimal spendete er dem Volk ein Geldgeschenk von dreihundert Sesterzen pro Kopf, und anlässlich des «Festes der sieben Hügel» ließ er während der Gladiatorenkämpfe ein üppiges Mal servieren: der Senat und die Ritter erhielten ihren Teil in großen Brotkörben, das Volk in kleinen Körbchen, und er selbst machte mit dem Essen den Anfang.« (Dom. 4) 47 Ein Übermaß an Freigiebigkeit konnte innerhalb antikmediterraner Gesellschaften zur Aufhebung gängiger gesellschaftlicher Ordnungsmuster, insbesondere der Rangordnung, führen, die durch die Teilnahme am Mahl für gewöhnlich forciert wurden. Eine ungleiche Behandlung in der Bewirtung der Gäste, insbesondere was Menge und Qualität der Speisen anbelangt, ebenso wie die Regel, wer wann zu speisen begann, verschwanden im Angesicht des Überflusses. Wie Amy Shuman bemerkt: »Exzessives Feiern […] schafft Raum für ein breites Spektrum an Interpretationen oder für eine alternative Gestaltung des sozialen Raumes.« 48 Das überreiche Angebot an Brot und Fisch in Joh 6 erweckt den Eindruck, dass hier ein Festmahl stattfindet, welches, wie bereits bemerkt, offen ist für alle, und das ohne feste Sitzordnung auskommt. Ebenso impliziert das Überangebot an Wein in Joh 2 eine Abweichung von Ordnung und Brauchtum: Jesus wird zum eigentlichen Gastgeber der Hochzeit, der er als Geladener beiwohnte; der qualitativ hochwertigste Wein wurde nicht zuerst, sondern zuletzt gereicht. Allerdings konnte die offizielle Hierarchie trotz eines Überflusses an Speisen bestehen bleiben, etwa wenn Sueton berichtet, dass ungeachtet der Großzügigkeit Domitians die soziale Ordnung nach wie vor in Geltung stand: Die gesellschaftlich Höhergestellten erhalten mehr Speise als das gemeine Volk; Domitian selbst macht mit dem Essen den Anfang. Wenn auch nur vorrübergehend, so führte ein zeitliches Zusammentreffen von kaiserlicher Freigiebigkeit mit dem römischen Saturnalien-Fest zur Außerkraftsetzung jeglicher Manifestationen des sozialen status quo. Die wohl augenfälligste Abweichung von der sozialen Ordnung betraf das Rollenverhältnis zwischen Freien und Sklaven, was sich insbesondere bei Tisch auswirkte. 49 Während des Festes war es möglich, dass Sklaven in den Kleidern ihrer Herrschaft auftraten (Dio 60,19). Sklaven konnten mit ihren Herren bei Tisch speisen, anstatt bereit zu stehen und ihren Herren und deren Gästen zu dienen (Seneca, Ep. 47,14). Belegt ist auch die Sitte, dass die Söhne des Hausherrn (oder dieser selbst) die Haussklaven bewirteten (Athenaios, Deipn. »Ein Übermaß an Freigiebigkeit konnte innerhalb antik-mediterraner Gesellschaften zur Aufhebung gängiger gesellschaftlicher Ordnungsmuster, insbesondere der Rangordnung, führen, die durch die Teilnahme am Mahl für gewöhnlich forciert wurden.« Zeitschrift für Neues Testament_35 typoscript [AK] - 18.05.2015 - Seite 38 - 2. Korrektur 38 ZNT 35 (18. Jg. 2015) Zum Thema 14,639b). Mit Blick auf die Tischordnung kam es zu einer Umkehrung oder gar Aufhebung aller (Rollen-) Unterschiede und standesrechtlicher Bestimmungen. Trotz komisch-komödialer Verzerrung bezeugt Lukians Werk Saturnalia gleichwohl die Aufhebung der Ungleichheit von Herren und Sklaven in jeder Hinsicht: Bei Tische sitzt jeder, wo er will und in der Bewirtung mit Wein und Speisen soll durchgängige Gleichheit walten (17). Statius’ Beschreibung der Festveranstaltung, die Domitian anlässlich der Saturnalien ausrichtete, wirkt in ihrem Überschwang in diesem Zusammenhang äußerst erhellend: »Siehe, da kommen durch alle Sitzreihen andere Leute, (beinahe) ebenso viele wie die sitzenden, ausgezeichnet durch ihre Erscheinung und schön herausgeputzt. Sie bringen Brotkörbe und weiße Servietten und ziemlich üppige Speisen und sie reichen milden Wein; […] Die Welt, zumal die bessere und strengere, und die Familien in der Toga ernährst du alle zusammen und, obwohl du so viele Völker, du Glücklicher, versorgst, kennt die stolze Annona diesen Tag nicht. […] Von e i n e m Tisch ernährt sich jeder Stand: die Kinder, die Frauen, das Volk, die Ritter, der Senat. Die Freizügigkeit hat Ehrfurcht und Scheu gemindert. […] Schon rühmt sich, wer es auch ist, ein glücklicher Armer, Gast eines Fürsten zu sein. Unter solchem Lärm und unbekanntem Luxus wurde man schnell der leichten Lust des Schauens müde. Da steht das in den Waffen nicht ausgebildete und unerfahrene Geschlecht, wie nimmt es wagemutig männliche Kämpfe auf sich! « (Silv. 1,6,28-54). 50 Die Schilderung des Statius belegt ein Vorhandensein von Speisen und Wein in Hülle und Fülle, in Verbindung mit einer zeitweisen Außerkraftsetzung der offiziellen Ordnung, mit der Folge einer tiefgreifenden sozialen Egalisierung und der Umkehrung sozialer Rollenmuster, hier der Geschlechterrollen. 2.3 Die rituelle (Aus-)Gestaltung des vierten Evangeliums und die Saturnalien Statius sieht das Saturnalien-Fest als Fest der Umstrukturierung ritueller und sozialer Praktiken. Hier bestehen deutliche Entsprechungen zum Johannesevangelium. Der überreichen Festversorgung beim Hochzeitsgastmahl in Joh 2, insbesondere aber auch beim öffentlichen Festmahl in Joh 6 korrespondiert eine Abweichung von den Mahlkonventionen. Gleichbehandlung steht auf der Tagesordnung: Eine riesige Menschenmenge teilt miteinander dieselbe Speise und isst sich daran satt. Menschen lagern beieinander en masse, eine Sitzordnung scheint nicht zu existieren. Des Weiteren begünstigt die offene Einladung die Aufweichung sozialer Statusgrenzen. Im Unterschied zu den in der antik-mediterranen Gesellschaft üblichen Festessen, die exklusiv und hierarchisch organisiert waren, befördern Johannes und die Saturnalien ein Mahlverständnis sozialer Grenzüberschreitung. Claude Grignons Gegenüberstellung einer »segregativen« und »transgressiven« Tischgemeinschaft erfasst diesen Kontrast äußerst treffend. 51 Rituelle und soziale Umkehrung bzw. Verkehrung prägen somit das rituelle Profil des Johannesevangeliums, ähnlich einer Umstülpung jeglicher Ordnung während der Saturnalien. Die Überschreitung sozialer Grenzen im Rahmen johanneischer Mahlszenen zeigt, dass Mahlrituale das Potenzial besitzen, den sozialen Status nicht nur zu untermauern, sondern auch zu transformieren. Deutlich wird dies an Petrus, der bei der Morgenmahlzeit in Joh 21 eine Transformation vom Verräter zum Hirten erfährt. Mit Blick auf Fußwaschung und Salbung kehrt Johannes das konventionelle Mahlprotokoll um, indem er Riten, die vor dem Beginn des eigentlichen Festmahls stattfinden, in den Mahlverlauf hinein verlegt. Die Umkehrung des offiziellen status quo wird dadurch erreicht, dass Jesus und Maria in der Rolle von Sklaven auftreten und dienend tätig werden. Vermittels der beiden Wasserrituale Fußwaschung und Taufe inszeniert Johannes ein Spiel der Verkehrung der offiziellen Welt, das Assoziationen an antike Festzeiten hervorruft. Jesus tauft und dann auch wieder nicht (3,22; 4,1 vs. 4,2). Die Taufe garantiert als grundlegender Ritus die Zugehörigkeit zum Kreis um Jesus (3,5), erfährt aber gleichzeitig an späterer Stelle ihre unbedingt notwendige Ergänzung durch die Fußwaschung (13,8). Doch im nächsten Moment scheint die Fußwaschung eher zu einer Statusuntermauerung denn zu einem Statuswechsel beizutragen (13,12-17). Feste schaffen den Raum und die Zeit für rituelle Neukombinatonen und Neuerfindungen. 52 Auf diesem Hintergrund erschließt sich die Darstellung von Wasserriten des Johannesevangeliums. »Im Unterschied zu den in der antik-mediterranen Gesellschaft üblichen Festessen, die exklusiv und hierarchisch organisiert waren, befördern Johannes und die Saturnalien ein Mahlverständnis sozialer Grenzüberschreitung.« »Vermittels der beiden Wasserrituale Fußwaschung und Taufe inszeniert Johannes ein Spiel der Verkehrung der offiziellen Welt, das Assoziationen an antike Festzeiten hervorruft.« Zeitschrift für Neues Testament_35 typoscript [AK] - 18.05.2015 - Seite 39 - 2. Korrektur ZNT 35 (18. Jg. 2015) 39 Richard E. DeMaris Ritualforschung: Eine Bereicherung für die neutestamentliche Wissenschaft 3. Zur Charakterisierung der johanneischen Gemeinschaft Die bisherigen ritualtheoretischen Beobachtungen legen die Revision des in der Forschung verbreiteten Urteils nahe, dass die johanneische Gemeinschaft als »Sekte« organisiert war. Malina charakterisierte die Gemeinschaft als anti-soziale Gruppierung, welche sich vermittels ihrer Sprache eine Alternativwelt konstruierte. Ausgehend von der dualistischen Kosmologie und der eigentümlichen Christologie des Evangeliums schloss Neyrey auf eine Gemeinschaft, die ihrer sozialen Umwelt stark entfremdet war. Träfe dies zu, dann entspräche die johanneische Gemeinschaft stark dem Profil anderer Gruppierungen von Jesusnachfolgern, die in der Forschung oft als isolierte Sondergruppen betrachtet werden. Sobald sich die Jesusbewegung von den vielen facettenreichen Parteiungen innerhalb der jüdischen Kultur des 1. Jh. n. Chr. entfernt hatte, so John Elliott, wurde sie zur »Sekte«. Klare Anzeichen für diese Entwicklung sind u. a. ein zunehmender Konflikt der Jesusbewegung mit einer ihr feindlich gesonnenen Kultur, ihre Ablehnung der vorherrschenden bzw. etablierten Weltsicht, die Bildung alternativer Gemeinschaften mit egalitären Tendenzen sowie neuer Riten und Institutionen anstelle derjenigen der feindlichen Kultur usw. 53 Auch wenn im Johannesevangelium einiges auf eine so verfasste Gemeinschaft hindeutet, sein rituelles Profil lässt ein anderes Verhältnis zwischen ihr und ihrer Umwelt vermuten. Entgegen der verbreiteten Sicht auf Rituale der Umkehrung und Verkehrung als Ritualisierung von Rebellion oder Konflikt bringen diese nicht unbedingt eine Entfremdung von oder ein Aufbegehren gegenüber der Mehrheitsgesellschaft zum Ausdruck. 54 Vielmehr stellen sie eine Form des legitimen bzw. institutionalisierten Protests dar, der die geltende Ordnung bestätigt, sich aber zugleich von ihrem Geltungsanspruch teilweise abgrenzt und diesen kritisiert. 55 Auf eben diese Weise versteht Hendrik S. Versnel die Saturnalien-Feste in den Ausprägungen des attischen Kronia- und des römischen Saturnalien-Festes. Sie ermöglichen die zeitweise Abkehr von der geltenden Ordnung und dienen als Ventil für aufgestaute Aggressionen, um im Ergebnis einer Erneuerung und Wiederherstellung des status quo zu dienen: »Die etablierte Ordnung wird bestärkt eben durch die Absurdität einer auf den Kopf gestellten Welt.« 56 So betrachtet erscheint die rituelle Umkehrung und Verkehrung, wie sie im Johannesevangelium zum Ausdruck kommt, nicht als eine gegen die Mehrheitskultur gerichtete subversive Praxis. Sie konstruiert auch nicht eine alternative soziale Welt, wie es für eine »Sekte« typisch ist. Die Funktion der johanneischen Rituale wäre dann anders zu bestimmen, und sie würden eine Gemeinschaft widerspiegeln, die ihrer Umwelt deutlich weniger entfremdet gegenüberstand, als dies häufig angenommen wird. Wie eingangs bereits notiert, ist der jeweilige Kontext ein entscheidender Faktor für die Wirkung eines Rituals. Dies gilt sicherlich auch für Rituale der Umkehrung und Verkehrung. 57 In einer durch Stabilität gekennzeichneten Lebenswelt markiert rituelle Umkehrung und Verkehrung Momente des Übergangs im sozialen Leben oder im Jahreskalender dieser Gemeinschaft, so im Falle der Saturnalien, ein Fest, das den Übergang zur Wintersonnenwende anzeigt. War das Fest beendet, nahmen die Sklaven den Dienst an ihren Herren wieder auf. In weniger stabilen Lebenswelten dagegen oder in sozialen Krisenzeiten kann die aufkommende Inversion ein verstärktes Maß an Widerstand gegenüber dem Normalzustand zum Ausdruck bringen und ein größeres Maß an sozialer Experimentierfreude zur Folge haben. 58 Kann die Umkehrung der geltenden Ordnung zur Untermauerung des Normalzustandes beitragen, so kann sie ebenso als Herausforderung desseben in Erscheinung treten: »Jede Form symbolischer Umkehrung steckt den definitorischen Rahmen einer Kultur ab, stellt aber gleichzeitig den Wert und Absolutheitsanspruch ihrer Ordnung infrage.« 59 So ist der im Rahmen des Johannesevangeliums zum Ausdruck gebrachte Übergang offenkundig nicht jahreszeitlich oder kalendarisch fixiert. Vielmehr sieht sich die johanneische Gemeinschaft allem Anschein nach mit einem schwerwiegenderen sozialen Übergang konfrontiert. Vor fünfunddreißig Jahren schlug Raymond Brown vor, das Johannesevangelium als Spiegel zu betrachten, der bis zu einem gewissen Grad die Beziehungen der johanneischen Gemeinschaft des späten 1. Jh. n. Chr. zu den von ihm so bezeichneten »apostolischen Kirchen« reflektiert. 60 Brown zufolge gestalteten sich diese Beziehungen deutlich weniger feindselig als die mit anderen Gruppierungen, weshalb er es ablehnte, die johanneische Gemeinschaft als »Sekte« zu bezeichnen. In der Interaktion des Lieblingsjüngers mit Petrus im Schlusskapitel sah Brown den entscheidenden Verhandlungsprozess zwischen johanneischen und petrinischen Kreisen sich niederschlagen. Browns seinerzeit weithin kritisierte Chrakterisierung dieser Gemeinschaft lag keine sozialwissenschaftliche Analyse zugrunde, 61 doch wird Browns Sicht durch die Ergebnisse der vorliegenden Ritualanalyse gestützt. Die johanneische Gemeinschaft scheint nicht annähernd so sektenförmig gewesen zu sein wie vielfach angenommen. Zeitschrift für Neues Testament_35 typoscript [AK] - 18.05.2015 - Seite 40 - 2. Korrektur 40 ZNT 35 (18. Jg. 2015) Zum Thema Sollte der johanneische Petrus ein cluster von Gruppierungen repräsentieren, die zu dem zusammenwuchsen, was zu einer führenden Partei innerhalb der Jesusbewegung wurde, so ist es nicht schwer, sich die mit diesem Zusammenwachsen verbunde rituelle Seite dieser Hegemonie vorzustellen. Ende des 1. Jahrhunderts war die Taufe zum grundlegenden Eingangsritual der Jesusbewegung geworden. Bei Matthäus findet diese Entwicklung ihren Niederschlag, indem der auferstandene Jesus seine Jünger beauftragt, durch die Taufe alle Völker zu Jüngern zu machen (28,19). Ebenso verhält es sich mit dem letzten Abendmahl Jesu mit seinen Jüngern. Ungeachtet der mutmaßlichen Variationsbreite der frühen Abendmahlspraxis ist mit dem synoptisch-paulinischen Mahltypus ein Normativitätsanspruch verbunden, der zur Durchsetzung dieser Mahlform und -deutung führte (Lk 22,19; 1Kor 11,24). Das Verhältnis beider Rituale zueinander war wahrscheinlich noch definitionsbedürftig. Bildete die Taufe das Eingangsritual in die Jesusbewegung, so festigte das Mahlritual Binnensolidarität und Gruppenidentität. Das Mahl war segregativ und exklusiv; die Taufe wurde zur notwendigen Teilnahmevoraussetzung: »Doch niemand soll essen und trinken von eurer Eucharistie außer denen, die auf den Namen des Herrn getauft sind« (Did. 9,5). 62 Das Johannesevangelium anerkennt sowohl Taufe wie Abendmahl, widersetzt sich aber einer zunehmenden Zentralität derselben, ihrem aufeinander abgestimmten Ordnungsverhältnis und den ihnen zugeschriebenen Funktionen. Johannes dezentriert die Taufe, indem er Jesus davon distanziert und einen alternativen Wasserritus als notwendige Ergänzung der Taufe autorisiert. Des Weiteren bietet Johannes eine eigene Version des Gemeinschaftsmahles, verlegt es vom privaten in den öffentlichen Raum, öffnet es für alle als Weg hinein in den Kreis um Jesus. Dieses neu definierte Mahl bildet das setting für die Statustransformation des Petrus, ebenso für die Verhältnisbestimmung zwischen Petrus und dem Lieblingsjünger im Schlusskapitel des Evangeliums. So impliziert die im Evangelium zum Ausdruck gebrachte Umstülpung und Umgestaltung der geltenden rituellen Ordnung beides, Anpassung und Widerstand. In diesem Sinne ist sie zu verstehen als Teil einer dynamischen Interaktion zwischen den verschiedenartigen Strängen der Jesusbewegung, unter denen die johanneische Gemeinschaft ihren eigenen Platz einnahm. 4. Schlussbetrachtung Eine vollständige Ritualanalyse hätte noch weitere Rituale zu berücksichtigen, die im Johannesevangelium einen literarischen Niederschlag gefunden haben, und sie müsste weitere rituelle Kontexte erschließen. Der vorliegende Beitrag war mit Ritualen der griechischrömischen Mahl- und Festkultur befasst, unter Ausblendung antiker jüdischer Ritualpraktiken. Trotz dieser Einschränkung wurde deutlich, inwiefern Ritualforschung die neutestamentliche Wissenschaft bereichert. Im Blick auf das Johannesevangelium trägt sie zur Klärung, mindestens aber zur Weiterentwicklung unserer Sicht auf die johanneischen Gemeinschaft bei. Forschungsgeschichtlich betrachtet sind ritualtheoretische Ansätze geeignet, ererbte Einseitigkeiten der neutestamentlichen Wissenschaft auszugleichen. Die moderne Bibelwissenschaft ist in Protestantismus und Aufklärung fest verankert. Von beiden Seiten wurde das Ritual notorisch abgewertet. Namentlich der Protestantismus hat im Laufe seiner Geschichte stets den Glauben und die innere Gesinnung gegenüber dem Ritual und dem äußerem Ausdruck bevorzugt. Die neutestamentliche Wissenschaft steht bis heute unter diesem Negativeinfluss. Ritualtheoretische Ansätze können das Ihre dazu tun, den genannten forschungsgeschichtlich bedingten Einseitigkeiten gegenzusteuern und auf diese Weise dem Ritual seine zentrale Stellung zurückzugeben, die es im kulturellen Kontext der frühen Gemeinden innehatte. 63 Anmerkungen 1 Vgl. R. A. Segal (Hg.), The Myth and Ritual Theory: An Anthology, Oxford 1998, 1-8. 2 Vgl. R. Reitzenstein, Die hellenistischen Mysterienreligionen: Ihre Grundgedanken und Wirkungen, Leipzig 1910. 3 Als repräsentatives Beispiel sei hier verwiesen auf W. Heitmüller, Taufe und Abendmahl bei Paulus: Darstellung und religionsgeschichtliche Beleuchtung, Göttingen 1903. 4 Vgl. z.B. R. Perdelwitz, Die Mysterienreligion und das Problem des 1. Petrusbriefes: Ein literarischer und religionsgeschichtlicher Versuch, Gießen 1911. 5 Vgl. G. Lüdemann, Im Würgegriff der Kirche: Für die Freiheit der theologischen Wissenschaft, Lüneburg 1998, 60-63. 6 Vgl. dazu W. Bornemann, Der erste Petrusbrief - eine Taufrede des Silvanus? , ZNW 19 (1920), 143-165; F.L. Cross, I. Peter: A Pascal Liturgy, London 1954; H. Preisker, Anhang zum ersten Petrusbrief, in: H. Windisch (Hg.), Die Katholischen Briefe (HNT 15), Tübingen 3 1951, 152-162. Einen guten Überblick bietet D.G. Horrell, Becoming Christian: Essays on 1 Peter and the Zeitschrift für Neues Testament_35 typoscript [AK] - 18.05.2015 - Seite 41 - 2. Korrektur ZNT 35 (18. Jg. 2015) 41 Richard E. DeMaris Ritualforschung: Eine Bereicherung für die neutestamentliche Wissenschaft Making of Christian Identity (Early Christianity in Context/ LNTS 394), London 2013, 67-72. 7 Vgl. K. L. Schmidt, Die literarische Eigenart der Leidensgeschichte Jesu, Die Christliche Welt 32 (1918), 114-116; reprinted in: M. Limbeck (Hg.), Redaktion und Theologie des Passionsberichtes nach den Synoptikern (WdF 481), Darmstadt 1981, 17-20. 8 Vgl. É.Trocmé, The Passion as Liturgy: A Study in the Origin of the Passion Narrative in the Four Gospels, London 1983, 81 f. 9 Paradigmatisch sei hier verwiesen auf J. Bowman, The Gospel of Mark: The New Christian Jewish Passover Haggadah (SPB 8), Leiden 1965; vgl. dazu auch D. Daube, The Earliest Structure of the Gospel, NTS 5 (1958), 174-187. 10 Vgl. B. Standaert, L’Évangile selon Marc: Composition et genre littéraire, Nijmegen 1978; A. Stock, The Method and Message of Mark, Wilmington 1989. 11 Sachgemäße Untersuchungen sind selten. Bemerkenswert immerhin G. Theißen, Eine Theorie der urchristlichen Religion, Gütersloh 1999; W. A. Meeks, The First Urban Christians: The Social World of the Apostle Paul, New Haven 1983, 140-163. 12 Vgl. E. Ferguson, Baptism in the Early Church: History, Theology, and Liturgy in the First Five Centuries, Grand Rapids 2009. 13 Vgl. A. K. Petersen, Rituals of Purification, Rituals of Initiation: Phenomenological, Taxonomical and Culturally Evolutionary Reflections; D. Sänger, ›Ist er heraufgestiegen, gilt er in jeder Hinsicht als ein Israelit‹ (bYer 47b); C. Strecker, Taufrituale im frühen Christentum und in der Alten Kirchen: Historische und ritualwissenschaftliche Perspektiven, in: D. Hellholm/ T. Vegge/ Ø. Norderval/ C. Hellholm (Hgg.), Waschungen, Initiation und Taufe: Spätantike, frühes Judentum und frühes Christentum (3 Bde.; BZNW 176/ I-III), Berlin 2011, 3-40; 291-334; 1383- 1440. 14 Vgl. J. L. Martyn, The Gospel of John in Christian History: Essays for Interpreters (Theological Inquiries: Studies in Contemporary Biblical and Theological Problems), New York 1978, 90-121. 15 Vgl. R. E. Brown, The Gospel According to John (2 vols.; AB 29-29A), Garden City 1966-1970, 1: xxxiv-xxxix. 16 Vgl. R. E. Brown, The Community of the Beloved Disciple: The Life, Loves, and Hates of an Individual Church in New Testament Times, New York 1979. 17 Vgl. Brown, Beloved Disciple, 14-16; 88-91. 18 Vgl. z. B. T. Onuki, Zur literatursoziologischen Analyse des Johannesevangeliums-- auf dem Wege zur Methodenintegration, AJBI 8 (1982), 162-216; ders., Gemeinde und Welt im Johannesevangelium: Ein Beitrag zur Frage nach der theologischen und pragmatischen Funktion des johanneischen »Dualismus« (WMANT 56), Neukirchen- Vluyn 1984. 19 Vgl. W. A. Meeks, The Man from Heaven in Johannine Sectarianism, JBL 91 (1972), 44-72; dazu auch H. Leroy, Rätsel und Missverständnis: Ein Beitrag zur Formgeschichte des Johannesevangeliums (BBB 30), Bonn 1968, 191-193. 20 Vgl. z. B. J.H. Elliott, The Jewish Messianic Movement: From Faction to Sect, in: P.F. Esler (Hg.), Modelling Early Christianity: Social-Scientific Studies of the New Testament in Its Context, London 1995, 75-95. 21 Zur jüngsten detaillierten Studie vgl. K. S. Fuglseth, Johannine Sectarianism in Perspective: A Sociological, Historical, and Comparative Analysis of the Temple and Social Relationships in the Gospel of John, Philo, and Qumran (NovTSup 119), Leiden 2005. 22 Vgl. B. J. Malina, The Gospel of John in Sociolinguistic Perspective (Protocol of the 48 th Colloquy, 11 March 1984, Center for Hermeneutical Studies in Hellenistic and Modern Culture), Berkeley 1985. 23 Vgl. J. H. Neyrey, An Ideology of Revolt: John’s Christology in Social-Science Perspective, Philadelphia 1988, 171f; 196. 24 Vgl. Brown, 1: cxi-cxiv; jüngst auch F.J. Moloney, »A Hard Saying«: The Gospel and Culture, Collegeville 2001, 9-30; R.E. Brown, An Introduction to the Gospel of John (Francis J. Moloney, ed.; Anchor Bible Reference Library), New York 2003, 229-234; F.W. Guyette, Sarcramentality in the Fourth Gospel: Conflicting Interpretations, Ecclesiology 3 (2007), 235-250. 25 Vgl. H. Weiss, Foot Washing in the Johannine Community, NovT 21 (1979), 298-325. 26 Vgl. A. J. Hultgren, The Johannine Footwashing (13: 1- 11) as Symbol of Eschatological Hospitiality, NTS 28 (1982), 539-546. 27 Vgl. L. P. Jones, The Symbol of Water in the Gospel of John (JSNTSup 145), Sheffield 1997, 217-218. 28 Vgl. F. H. Gorman, Jr., Ritual Studies and Biblical Studies: Assessment of the Past, Prospect for the Future, Semeia 67 (1994), 13-36, bes. 23-24; R.L. Grimes, Beginnings in Ritual Studies (rev. ed.; SCR), Columbia 1995, 66. 29 Vgl. J. H. Neyrey, The Foot Washing in John 13, 6-11: Transformation Ritual or Ceremony? , in: L.M. White/ O.L. Yarborough (Hgg.), The Social World of the First Christians: Essays in Honor of Wayne A. Meeks, Minneapolis 1995, 198-213. 30 Vgl. R. L. Grimes, Ritual Criticism: Case Studies in Its Practice, Essays on Its Theory (SCR), Columbia 1990, 90; 219; C.M. Bell, Ritual: Perspectives and Dimensions, New York 1997, 171. 31 Vgl. S. J. Tambiah, Culture, Thought, and Social Action: An Anthropological Perspective, Cambridge 1985, 125. 32 Vgl. J. Beutler, In Search of a New Synthesis, in: T. Thatcher (Hg.), What We Have Heard from the Beginning: The Past, Present, and Future of Johannine Studies, Waco 2007, 23-34; E. Kobel, Dining with John: Communal Meals and Identity Formation in the Fourth Gospel and its Historical and Cultural Context (BIS 109), Leiden 2011, 20-22; B. Salier, Jesus, the Emperor, and the Gospel According to John, in: J. Lierman (Hg.), Challenging Perspectives on the Gospel of John (WUNT 2219), Tübingen 2006, 284-301. 33 Vgl. J. Ashton, Second Thoughts on the Fourth Gospel, in: T. Thatcher (Hg.), What We Have Heard from the Beginning: The Past, Present, and Future of Johannine Studies, Waco 2007, 1-21. Zeitschrift für Neues Testament_35 typoscript [AK] - 18.05.2015 - Seite 42 - 2. Korrektur 42 ZNT 35 (18. Jg. 2015) Zum Thema 34 Die deutsche Übersetzung des neutestamentlichen Textes entstammt-- wie auch im Folgenden-- der Revidierten Lutherbibel (1984). 35 G. R. O’Day, The Gospel of John: Introduction, Commentary, and Reflections, in: L.E. Keck et al. (Hgg.), The New Interpreter’s Bible (12 vols.), Nashville, 9: 491-865, hier: 9: 560. 36 In der lukanischen Version ist Johannes der Täufer bei Jesu Taufe selbst abwesend. 37 Vgl. Neyrey, Foot Washing, 202-205. 38 Zu Lazarus, Maria und Martha als Prototypen in der Christus-Nachfolge vgl. P. F. Esler and R.A. Piper, Lazarus, Mary and Martha: Social-Scientific Approaches to the Gospel of John, Minneapolis 2006. 39 Vgl. D. E. Smith, From Symposium to Eucharist: The Banquet in the Early Christian World, Minneapolis 2003, 22. 40 Vgl. »Dank sagen« (eucharisteō): Joh 6,11; 1 Kor 11,24; Lk 22,19; »geben, zuteilen« (didōmi, diadidōmi): Joh 6,11; Mk 14,22; Mt 26,26; Lk 22,19. 41 Vgl. H. Taussig, In the Beginning Was the Meal: Social Experimentation and Early Christian Identity, Minneapolis 2009, 26-32; Smith, Symposium, 9-11. 42 Vgl. R. E. DeMaris, The New Testament in Its Ritual World, London 2008, 29. 43 Gegen Neyrey, der davon ausgeht, dass Festessen immer dazu dienen, den gesellschaftlichen status quo und damit einhergehende Grenzen aufrechtzuerhalten; vgl. dazu J.H. Neyrey, Ceremonies in Luke-Acts: The Case of Meals and Table Fellowship, in: J.H. Neyrey (Hg.), The Social World of Luke-Acts, Peabody 1991, 361-387. 44 Vgl. Neyrey, Foot Washing, 209-212. 45 Vgl. Kobel, Dining with John, 215-249. 46 Vgl. Salier, Jesus, 291f; 294 f. 47 Deutsche Übersetzung von A. Lambert, Gaius Suetonius Tranquillus: Leben der Caesaren, Zürich/ Stuttgart 1955, 453. 48 A. Shuman, Food Gifts: Ritual Exchange and the Production of Excess Meaning, JAF 113 (2000), 495-508, hier: 496. 49 Vgl. J. H. D’Arms, Slaves at Roman Convivia, in: W.J. Slater (Hg.), Dining in a Classical Context, A. Arbor 1991, 171-183. 50 Deutsche Übersetzung von H. Wissmüller, Statius: Silvae. Das lyrische Werk in neuer Übersetzung, Neustadt/ Aisch 1990, 36 f. 51 Vgl. C. Grignon, Commensality and Social Morphology: An Essay of Typology, in: P. Scholliers (Hg.), Food, Drink and Identity: Cooking, Eating and Drinking in Europe Since the Middle Ages, New York 2001, 23-33. 52 Vgl. V. u. E. Turner, Religious Celebration, in: V. Turner (Hg.), Celebration: Studies in Festivity and Ritual, Washington 1982, 201-219. 53 Vgl. J. H. Elliott, Phases in the Social Formation of Early Christianity: From Faction to Sect—A Social Scientific Perspective, in: P. Borgen/ V.K. Robbins/ D.B. Gowler (Hgg.), Recruitment, Conquest, and Conflict: Strategies in Judaism, Early Christianity, and the Greco-Roman World (ESEC), Atlanta 1998, 273-313. 54 Vgl. M. Gluckman, Order and Rebellion Tribal Africa, London 1963, 110-136; E. Norbeck, African Rituals of Conflict, AA 65 (1963), 1254-1279; P. Weidkuhn, The Quest for Legitimate Rebellion: Towards a Structuralist Theory of Rites of Reversal, Religion 7 (1977), 167-179. 55 Vgl. C. Auffarth, Der drohende Untergang: »Schöpfung« in Mythos und Ritual im Alten Orient und in Griechenland am Beispiel der Odyssee und des Ezechielbuches (RVV 39), Berlin 1991, 27. 56 Vgl. H. S. Versnel, Inconsistencies in Greek and Roman Religion II: Transition and Reversal in Myth and Ritual (2 vols.; SGRR 6, II), Leiden 1993, 2: 116-117. 57 Vgl. S. Stewart, On Longing: Narratives of the Miniature, the Gigantic, the Souvenir, the Collection, Baltimore 1984, 106. 58 Vgl. Versnel, Transition and Reversal, 118 f. 59 B. A. Babcock, Introduction, in: B.A. Babcock (Hg.), The Reversible World: Symbolic Inversion in Art and Society (Symbol, Myth, and Ritual Series), Ithaca 1978, 13-36, hier: 29. 60 Vgl. Brown, Beloved Disciple, 81-91. 61 Ähnlich dazu O. Cullman, der den eher unpräzisen Terminus Kreis dem der Sekte vorzieht, eine soziologisch nur schwach fundierte Charakterisierung; vgl. ders., Der johanneische Kreis: Sein Platz im Spätjudentum, in der Jüngerschaft Jesu und im Urchristentum, Tübingen 1975, 41-60, bes. 59 f. 62 Deutsche Übersetzung von G. Schöllgen, Didache = Zwölf-Apostel-Lehre, Freiburg [u. a.] 1991, 123. 63 Der Autor des Artikels dankt seinem Kollegen, Prof. Dr. Christoffer Grundmann von der Valparaiso Universität, für seine freundliche Unterstützung beim Korrekturlesen.