eJournals ZNT – Zeitschrift für Neues Testament 18/35

ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
2015
1835 Dronsch Strecker Vogel

Anstöße der Ritualforschung

2015
Christian Strecker
Zeitschrift für Neues Testament_35 typoscript [AK] - 12.05.2015 - Seite 3 - 2. Korrektur ZNT 35 (18. Jg. 2015) 3 »Mit jeder Religion, gehöre sie der alten oder der neuen Zeit an, finden wir einerseits bestimmte Glaubensvorstellungen, andererseits bestimmte rituelle Institutionen, Bräuche und Lebensregeln verknüpft. Unsern modernen Anschauungen entspricht es, die Religion mehr nach der Seite ihres Glaubensinhaltes [belief] als nach der des Brauches [practice] zu betrachten. […] Aber die antike Religion war zum grössten Teil nicht ein Glauben; sie bestand hauptsächlich aus Institutionen und Bräuchen. […] Von der höchsten Wichtigkeit ist es, sich von Anfang an klar zu vergegenwärtigen, dass Ritus und praktischer Brauch [ritual and practical usage] den Gesamtinhalt [the sum-total] der alten Religionen ausmachten.« 1 Es ist der schottische Gelehrte William Robertson Smith, der diese Sätze in seinen berühmten, 1894 in zweiter Auflage publizierten »Lectures on the Religion of the Semites« formulierte. Der zunächst als Professor für Hebräisch und Altes Testament in Aberdeen und dann-- nach einem Konflikt mit der Kirche-- als Professor für Arabisch in Cambridge lehrende Robertson Smith sollte mit seinen bahnbrechenden »Lectures« zu einem der bedeutendsten Gründerväter der sozialanthropologischen Forschung und der vergleichenden Religionswissenschaft werden. 2 Neben vielen anderen wegweisenden Einsichten, war insbesondere seine konsequent durchgehaltene These revolutionär, der Kern antiker Religionen liege im rituellen Handeln und nicht in bestimmten Glaubensvorstellungen. Er behauptete dementsprechend, dass in den alten Religionen »beinahe in jedem Fall der Mythus aus dem Ritus hergeleitet ist und nicht der Ritus im Mythus wurzelt« 3 . Diese innovative Fokussierung auf das Ritual als Kern antiker Religiosität, die bald darauf von den sog. Cambridge Ritualists um Jane Ellen Harrison aufgegriffen, vertieft und auf andere Felder der Altertumsforschung-- etwa die Entstehung des Theaters-- übertragen wurde, 4 hinderte Robertson Smith aber nicht daran, für die moderne Religiosität ausdrücklich am Primat des Glaubens gegenüber dem Ritual festzuhalten, ein Umstand, der sich wohl nicht zuletzt aus der Ritualskepsis seiner protestantischen Herkunft erklärt. 5 Einer im Wesentlichen vergleichbaren Konstellation begegnet man nur wenig später in Deutschland in den Forschungen der sogenannten Religionsgeschichtlichen Schule. 6 Deren Vertreter gingen durchweg davon aus, dass die Basis der theologischen Aussagen im Neuen Testament im Kultus, d. h. im Gottesdienst, also letztlich im rituellen Handeln lag. Dementsprechend fokussierten sie ihre Forschungen über das frühe Christentum ganz auf die kultische Verehrung Christi, wie sie sich namentlich im gottesdienstlichen und zumal im sakramentalen Vollzug manifestierte. Die im Neuen Testament vielfach bezeugten Geistwirkungen deuteten sie vor diesem Hintergrund als reale Erlebnisse im Kontext des Kultes. Aber auch hier wurde die resolute Fokussierung auf die rituelle Welt von jener skeptischen Haltung gegenüber Ritualen konterkariert, die schon bei Robertson Smith begegnete: Als protestantische Theologen waren sich die Religionsgeschichtler nämlich »in der Relativierung der Bedeutsamkeit des Kultischen und der Rituale für die eigene Theologie und Frömmigkeit einig« 7 . Die exegetisch detailliert eruierte Priorität des Kultus im frühen Christentum verwarfen sie genauerhin aus der dogmatischen Erwägung heraus, dass sich Heil nicht an historisch-kontingenten Kultvollzügen festmachen lasse. Stattdessen beriefen sie sich, dem Erbe der liberalen Theologie folgend, ganz auf die vermeintlich persönlich-ethische Religion Jesu, wie sie sie den synoptischen Evangelien entnahmen. Diese bei Robertson Smith und den Religionsgeschichtlern gleichermaßen begegnende theologische Ambivalenz gegenüber Ritualen schlug in der Folgezeit rundweg in Desinteresse bzw. in Missfallen an Ritualen um. Die Einsicht in die hohe historische Relevanz von Ritualen in der antiken Religiosität und im frühen Christentum ging in der Exegese weithin verloren. Bis heute erfährt die gezielte Erforschung der rituellen Dimension der frühchristlichen Lebenswelt in der neutestamentlichen Forschung nur begrenzt Beachtung. Dies ist umso erstaunlicher, als die Ritualforschung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und mehr noch Christian Strecker Anstöße der Ritualforschung Das Ritual als Forschungsfeld der neutestamentlichen Exegese Neues Testament aktuell »Bis heute erfährt die gezielte Erforschung der rituellen Dimension der frühchristlichen Lebenswelt in der neutestamentlichen Forschung nur begrenzt Beachtung. Dies ist umso erstaunlicher, als die Ritualforschung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und mehr noch in den beiden letzten Jahrzehnten enorme Fortschritte machte.« Zeitschrift für Neues Testament_35 typoscript [AK] - 12.05.2015 - Seite 4 - 2. Korrektur 4 ZNT 35 (18. Jg. 2015) Neues Testament aktuell geprägten Terminus auf antike Texte bzw. antikes Handeln impliziert. Weder im antiken Griechisch noch im Hebräischen begegnet ein terminologisches Pendant. 8 Allerdings geht der Ritualbegriff, vermittelt über das Adjektiv ritualis (= den ritus betreffend), auf die alte lateinische Vokabel ritus (= Gebrauch Sitte, Gewohnheit, Art) zurück, 9 die in der antiken römischen Welt eine nach alter, rechter Weise bzw. mit Erfolg durchgeführte Handlung bezeichnete. Dieser ursprüngliche lateinische Sprachgebrauch überschneidet sich jedoch offenkundig nur bedingt bzw. nur in Teilsaspekten mit jenem modernen Konzeptbegriff »Ritual«, der in seiner Abstraktheit ein ausgesprochen weites, nur schwer eingrenzbares Feld disparater Handlungen und Handlungstypen bezeichnet. 10 Im Englischen taucht der Begriff des »Rituals« seit dem 17., im Deutschen seit dem 18. Jahrhundert auf, und zwar zunächst jeweils als Bezeichnung für die in Buchform fixierte liturgische Ordnung der römisch-katholischen Kirche (Rituale Romanum) bzw. allgemein für die Durchführungsordnung festgelegter religiöser Zeremonien. 11 Als besonderer wissenschaftlicher Konzeptbegriff etablierte sich der Terminus »Ritual« erst um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert. Die einschlägigen Einträge der Encyclopaedia Britannica führen diesen terminologischen Umbruch deutlich vor Augen: Darin wird der Ritualbegriff von der ersten Auflage im Jahr 1771 bis zur siebten Auflage im Jahr 1852 durchweg als Bezeichnung für ein Buch bzw. Skript religiöser Praktiken geführt. In den folgenden drei Auflagen begegnet bezeichnenderweise weder ein Eintrag zu »ritual« noch zu »rite«. In der elften Auflage aus dem Jahr 1910 erscheint dann allerdings ein umfänglicher neuer Artikel, den der bedeutende britische Religionswissenschaftler und Ethnologe Robert Ranulph Marett verfasste. Der Begriff markiert hier nun nicht mehr primär ein Buch, sondern ein spezifisches religiöses-- nicht länger zwingend christliches-- Handeln und darüber hinaus jedes nicht strikt religiöse Agieren, welches etwas Bestimmtes zu symbolisieren oder auszudrücken vermag und darin das individuelle Bewusstsein und die soziale Organisation tangiert. 12 Über die Gründe dieses einschneidenden, sich offenkundig zwischen 1852 und 1910 in England vollziehenden und dann schnell in anderen Ländern verbreitenden Begriffswandels 13 ist viel spekuliert worden. Vermutlich erklärt sich der Wandel aus dem in jener Zeit massiv aufkommenden wissenschaftlichen Interesse an fremdartig, zumal auch bizarr und irrational anmutenden Praktiken nichtchristlicher Völker und Religionen, die sich mit den herkömmlichen, meist christlich geprägin den beiden letzten Jahrzehnten enorme Fortschritte machte. Die Untersuchung ritueller Motive im Neuen Testament und der rituellen Welt des frühen Christentums kann heute auf einem viel höheren Niveau erfolgen als dies noch zu Zeiten von Robertson Smith und der Religionsgeschichtlichen Schule möglich war. Vor diesem Hintergrund soll im Folgenden den »Anstößen« der Ritualforschung für die neutestamentliche Exegese nachgegangen werden. Der Begriff des »Anstoßes« ist dabei bewusst in seiner ganzen Mehrdeutigkeit gewählt. In den Blick genommen werden sollen sowohl die Herausforderungen der Ritualforschung für die neutestamentliche Forschung samt den theologischen Vorbehalten bzw. Befangenheiten (»Anstoß« im Sinn von Provokation) wie auch die Impulskraft der ritual studies für die neutestamentliche Forschung (»Anstoß« im Sinne von Impetus, Anregung). Zudem sollen die Anfänge und Neuanfänge (»Anstoß« im Sinn von Spielbeginn) der Ritualforschung im Allgemeinen und der neutestamentlichen Ritualforschung im Speziellen dargelegt werden. 1. Entdeckung und Abwertung des Rituals Zunächst gilt es unumwunden einzuräumen, dass die Verwendung des Ritualsbegriffs in der neutestamentlichen Exegese die Übertragung eines in der Neuzeit Prof. Dr. Christian Strecker studierte Evangelische Theologie in Neuendettelsau, Hamburg, Heidelberg und Tübingen. 1996 Promotion. 2003 Habilitation. Vertretungsprofessuren in Heidelberg (2005-2006), München (2006/ 07), Mainz (2007) und Neuendettelsau (2004; 2009). Seit 2010 Professor für Neues Testament an der Augustana-Hochschule Neuendettelsau. Forschungsschwerpunkte: Paulusforschung, Jesusforschung, Kulturwissenschaftliche Exegese des Neuen Testaments, Ritual- und Performanzforschung, Philosophische Perspektiven. Prof. Dr. Christian Strecker Zeitschrift für Neues Testament_35 typoscript [AK] - 12.05.2015 - Seite 5 - 2. Korrektur ZNT 35 (18. Jg. 2015) 5 Christian Strecker Anstöße der Ritualforschung ten oder konnotierten Begriffen nicht in der gewünscht neutralen und distanzierten bzw. distanzierenden Form beschreiben ließen, weshalb sich in der Wissenschaftssprache neben der Einführung indigener Begriffe wie taboo, totem und mana nun eben auch das Fremdwort »Ritual« als allgemeiner religionswissenschaftlicher und ethnologischer Fachbegriff einbürgerte. 14 Intensive Reflexionen über die Bedeutung und Wirksamkeit von Ritualen sind freilich älter als die Einführung des besagten Konzeptbegriffs. Von zentraler Bedeutung war diesbezüglich die Reformation. Mit den protestantischen Angriffen auf das katholische Sakramentsverständnis und den innerreformatorischen Abendmahlsstreitigkeiten rückten Rituale und ihre Effektivität in den Fokus eines hochkomplexen intellektuellen Diskurses. Nicht zu Unrecht beschreibt der britische Kulturhistoriker Peter Burke die Reformation als eine-- neben anderen wichtigen Aspekten-- große Debatte über die Bedeutung, die Funktionen und angemessenen Formen des Rituals, die in ihrem Umfang und ihrer Intensität ohne Parallele sei. 15 Weitere wichtige Impulse erhielt der Ritualdiskurs aber auch durch das Interesse der deutschen Romantik an volkstümlichen Bräuchen. Zu nennen ist hier insbesondere die einflussreiche Studie des Volkskundlers Wilhelm Mannhardt über die Wald- und Feldkulte. 16 All diese Aufmerksamkeit für rituelle Praktiken änderte freilich-- von wenigen Ausnahmen abgesehen-- nichts an der bis in die jüngere Zeit hinein allenthalben verbreiteten grundsätzlichen Reserve gegenüber rituellen Praktiken. So stellte die bekannte Kulturanthropologin Mary Douglas in ihrer 1970 erschienenen Untersuchung »Natural Symbols« einen allgemein verbreiteten Abscheu und Widerwillen gegen das Ritual fest und betonte: »›Ritual‹ ist ein anstößiges Wort geworden, ein Ausdruck für leeren Konformismus.« Und weiter: »Viele Soziologen verwenden […] den Ausdruck ›Ritualist‹ für jemanden, der gewisse äußerliche Gesten vollzieht, ohne sich den in ihnen zum Ausdruck kommenden Idealen und Werten innerlich verbunden zu fühlen.« 17 Noch 1991 zeichnete Rainer Wiedenmann in seiner Dissertation »Ritual und Statustransformation« für den Bereich der sog. »Mainstream-Soziologie« folgendes Bild: »Rituelle Praktiken gelten häufig als anachronistisch, als Überbleibsel oder Atavismus eines für das westliche Modell ›moderner‹, ›säkularisierter‹ Gesellschaften untypischen Verhaltens, wenigstens aber als Krisensymptom der Moderne.« 18 Die Ursachen für diese bis heute verbreiteten Vorbehalte gegenüber Ritualen sind vielfältig. In einem lehrreichen Beitrag zum Thema führt der Alttestamentler Frank Gorman Jr. die zumal auch in der Bibelauslegung greifbare Reserve gegenüber Ritualen auf drei, teilweise sich überschneidende abendländische Diskurse zurück: den reformatorischen Diskurs über Theologie, den aufklärerisch-rationalen Diskurs über Religion und den historisch-kritischen Methodendiskurs. 19 Die Abwertung des Rituals im protestantischen Diskurs über Theologie macht Gorman dabei im Näheren an folgenden drei Punkten fest: (1) an der reformatorischen Unterscheidung zwischen Werk und Glauben im Sinne einer qualitativen Differenzierung zwischen bloß äußerlichem Handeln (Ritual) und der wesenhafteren innerlichen Glaubenserfahrung, (2) an der christozentrischen Auslegung biblischer Texte, namentlich des Alten Testaments, die das Gesetz Israels mitsamt seinen rituellen Inhalten zu einer vorläufigen bzw. beendeten Instanz erklärte, und (3) überhaupt an antijudaistischen und antikatholischen Tendenzen, die es mit sich brachten, dass die hohe Bedeutung des Gesetzes und der Sakramente durch Schlagwörter wie »Werkgerechtigkeit« oder »Sakramentalismus« diskreditiert wurde. Dem rationalen Diskurses über Religion entnimmt Gorman ebenfalls drei antiritualistische Komponenten: (1) Im Rahmen des aufklärerischen Projektes einer universal gültigen rationalen Religion habe man das Ritual, zumal das Opferritual, als ein überholtes irrationales Relikt der »Primitiven« verpönt. (2) Die Reduktion von Religion auf Ethik sei mit einer Ablehnung des Rituals als ethisch irrelevantes und der menschlichen Autonomie hinderliches Unterfangen einhergegangen. (3) Die konsequente Ausrichtung der Religion auf Rationalität habe zu einer einseitigen Aufwertung der kognitiven Aspekte von Religiosität zuungunsten der religiösen Dimension ritueller Körpererfahrungen geführt. Was die historisch-kritische Bibelforschung anbelangt, macht Gorman schließlich (1) in der einseitigen Konzentration auf eine rationale, objektive und neutrale Auslegung der Texte, (2) in der konsequenten Fokussierung der Forschung auf die Wortebene und (3) in der im Gefolge des deutschen Idealismus etablierten Suche nach der »wahren Bedeutung« der Texte »hinter« bzw. »über« diesen eine verfehlte Ausblendung der rituellen Hintergründe und Dimensionen der biblischen Schriften aus. »Die Ursachen für die[se] bis heute verbreiteten Vorbehalte gegenüber Ritualen sind vielfältig.« Zeitschrift für Neues Testament_35 typoscript [AK] - 12.05.2015 - Seite 6 - 2. Korrektur 6 ZNT 35 (18. Jg. 2015) Neues Testament aktuell 2. Konturen der Ritualforschung und der jüngste Neuaufbruch Die massiven Vorbehalte gegenüber dem Ritual wurden erst im Kontext des dynamischen Aufbruchs der kulturanthropologischen Ritualforschung in den 1960er und 1970er Jahren einschneidend infrage gestellt. 20 Damals entstanden richtungsweisende Ritualtheorien--- u. a. von Mary Douglas, Victor Turner und Clifford Geertz--, die die verbreitete Assoziierung rituellen Handelns mit solch pejorativen Stichworten wie Primitivität, Irrationalität, Formalismus, Konformismus aufkündigten und die Abqualifizierung der rituellen Welt als eine gegenüber der Welt des Diskursiven minderwertige Form des menschlichen Ausdrucks und der Kommunikation aufgaben. Gleichwohl blieb außerhalb des kulturanthropologischen Fachdiskurses die Reserve gegenüber Ritualen vielfach weiter bestehen. Erst mit dem im Zuge des sog. cultural turn ab den 1990er Jahren neu einsetzenden Aufschwung der Ritualforschung scheint sich der lange und breit verwurzelte Antiritualismus allmählich zu verflüchtigen. Bevor die jüngsten Fortentwicklungen gesichtet werden, ist ein knapper Überblick über die Ritualforschung angezeigt, um deren Bedeutung und enorme Produktivität zu erfassen und um eine zumindest grobe Orientierung in dem verzweigten Forschungsfeld zu gewinnen. Über den gesamten Zeitraum der Ritualwissenschaft seit dem Ende des 19. Jahrhunderts gesehen, lassen sich vier basale Forschungsparadigmen unterscheiden, 21 die sich sukzessive herausbildeten, ohne dabei einander abzulösen. In diversen Ausformungen und Überschneidungen bestimmen sie die Ritualforschung bis heute. 22 (1) Das erste Forschungsparadigma ist durch die Leitfrage nach dem historischen Ursprung und Wesen des Rituals geprägt. Von Beginn an stand die Ritualforschung im Zeichen einer intensiv geführten, essentialistisch ausgerichteten Debatte darüber, ob Religion primär dem Mythos oder dem Ritual entsprang. Während Robertson Smith und die Cambridge School of Myth und Ritual, wie eingangs dargelegt, auf den Primat des Rituals pochten, räumten religionsphänomenologisch orientierte Forscher wie etwa Mircea Eliade eher dem Mythos Priorität ein. Auch Sigmund Freuds psychoanalytische Vorstellungen über den totemistischen Kult und René Girards vieldiskutierte mimetische Theorie, die das Ritual mit der Ausübung von Gewalt assoziiert, folgen dem an essentialistischen Ursprungs- und Wesensfragen orientierten Paradigma. (2) Das zweite Forschungsparadigma ist auf die gesellschaftliche Funktion von Ritualen ausgerichtet. Rituellen Praktiken werden hier u. a. folgende Aufgaben zugeschrieben: Formierung und Erhaltung sozialer Bindungen bzw. die Errichtung von Gemeinschaft (Émile Durkheim), Sozialisierung von Individuen qua ritueller Übernahme gemeinsamer Werte und Wissensbestände (Erik Erikson), Regulierung sozialer Konflikte (Max Gluckman) sowie Erneuerung und Transformation sozialer Statuspositionen und gesellschaftlicher Strukturen (Arnold van Gennep). (3) Im dritten Paradigma steht die kulturelle Bedeutung und Performanz von Ritualen im Fokus. Primärer Untersuchungsgegenstand ist das jeweils kulturell geprägte symbolische und bedeutungsbzw. wirklichkeitsgenerierende Handeln in Ritualen. Dieses ist von der sozialen Einbettung ritueller Praktiken nicht gänzlich zu lösen, weswegen das dritte Paradigma eng auf das zweite bezogen bleibt. Das dritte Paradigma vereint äußerst differente Forschungsansätze. Dazu zählen u. a. Claude Lévi- Strauss’ strukturalistische These, die Produktion kultureller Phänomene wie Kunst, Mythos und Ritual würde durch verborgene Regelsysteme geleitet, die einer Grammatik glichen und letztlich im menschlichen Geist ankerten. Zu nennen ist weiter Milton Singers Einbindung ritueller Vollzüge in das Konzept öffentlicher Darbietungen, sog. kultureller Performanzen (cultural performances), in denen sich das Selbstverständnis einer Kultur in besonderer Weise verdichtet und anschaulich wird, ferner Victor Turners Deutung des Rituals als ein in soziale Dramen eingebettetes dreiphasiges symbolisches Prozessgeschehen, das in seiner mittleren Schwellenphase einen Raum der kreativ-spielerischen Umgestaltung und Modifikation tragender Elemente der jeweiligen kulturellen Matrix öffnet und darin zum Motor der Transformation existierender sozialer Strukturen werden kann, Clifford Geertz’ Theorie, wonach im Ritual vorgestellte und gelebte Welt, Weltauffassung und Ethos verschmelzen, Catherine Bells an Pierre Bourdieus Praxistheorie orientiertes dynamisches Konzept der Ritualisierung von Handlungen und ihre auf Michel Foucault rekurrierende Analyse der darin eingelassenen Machtkonstellationen sowie die mit unterschiedlichen Akzenten von Fritz Staal und Caroline Humphrey/ James Laidlaw ausgearbeitete These der generellen Bedeutungslosigkeit von Ritualen, die rituelles »Erst mit dem im Zuge des sog. cultural turn ab den 1990er Jahren neu einsetzenden Aufschwung der Ritualforschung scheint sich der lange und breit verwurzelte Antiritualismus allmählich zu verflüchtigen.« Zeitschrift für Neues Testament_35 typoscript [AK] - 12.05.2015 - Seite 7 - 2. Korrektur ZNT 35 (18. Jg. 2015) 7 Christian Strecker Anstöße der Ritualforschung Agieren als rein regelgeleitete Aktivität, d. h. als eine Art Syntax ohne Semantik, bestimmt, welche ihre Bedeutung allererst sekundär durch den Kontext gewinnt. (4) Schließlich sind die im Rahmen der sog. kognitiven Religionswissenschaft entwickelten neurobiologischen bzw. kognitionspsychologischen Erklärungen zu nennen, die rituelles Verhalten biologistisch auf kognitive Universalien zurückführen. Hierzu zählen die ritual form hypothesis von Thomas Lawson und Robert McCauley sowie die ritual frequency hypothesis von Harvey Whitehouse. 23 Insofern diese Erklärungen bewusst als Gegenmodelle zu den sozial- und kulturwissenschaftlichen Ritualtheorien konzipiert sind, mag man in ihnen ein eigenes naturalistisches Forschungsparadigma erblicken, dem sich dann evtl. auch die älteren naturalistischen Ritualtheorien der Verhaltensforschung zuordnen lassen. Dieser alles andere als vollständige Überblick mag vielleicht die komplexe Vielfalt der älteren und jüngeren Ritualforschung hinlänglich verdeutlicht haben. Wie auch immer, wichtig ist: Ab den 1990er Jahren und mehr noch ab dem ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts erfuhr die Ritualforschung nochmals einen weiteren Schub. In dieser Zeit etablierte sich nicht nur das bereits 1987 gegründete Journal of Ritual Studies, es erschienen nun auch diverse ritualwissenschaftliche Einführungs- und Überblickswerke. 24 Im Jahr 2005 wurde dann in Nimwegen der weltweit erste Lehrstuhl für ritual studies eingerichtet. Besetzt wurde er mit dem amerikanischen Ritualforscher und Mitbegründer der Oxford Ritual Studies Series Ronald Grimes. Maßgeblich vorangetrieben wurde und wird die Ritualforschung schließlich seit der Jahrhundertwende namentlich in Deutschland, insbesondere in Form zweier wissenschaftlicher Großprojekte: So spielten in dem an der Freien Universität Berlin angesiedelten und von 1999 bis 2010 aktiven DFG-Sonderforschungsbereich »Kulturen des Performativen« rituelle Praktiken eine wichtige Rolle. 25 Bedeutsamer aber noch war und ist die im Jahr 2002 erfolgte Etablierung des ebenfalls von der DFG geförderten und bis heute aktiven Sonderforschungsbereichs 619 »Ritualdynamik. Soziokulturelle Prozesse in historischer und kulturvergleichender Perspektive«. Wie die Verantwortlichen betonen, handelt es sich dabei um den weltweit größten Forschungsverbund, der sich ausschließlich mit dem Thema »Rituale«, deren Veränderungen und ihrer Dynamik befasst. 26 Höhepunkt der bisherigen Arbeit war die internationale Konferenz »Ritualdynamik und Ritualwissenschaft« in Heidelberg, an der im Herbst 2008 über 600 Ritualforscher und -forscherinnen teilnahmen. 27 Im Rahmen dieses nunmehr über ein Jahrzehnt währenden Forschungsprojekts entstanden darüber hinaus zahlreiche wichtige Publikationen. 28 Die professionelle Erforschung von Ritualen ist insofern heute- - v. a. auch in den deutschen Sozial- und Kulturwissenschaften-- kein Randthema mehr. Inzwischen steht weithin außer Frage, dass Rituale das menschliche Leben auf vielen Ebenen maßgeblich prägen und strukturieren, und zwar so, dass sie dem menschlichen Miteinander einerseits Bindekraft verleihen und es andererseits über der Erschließung neuer Erfahrungen und Handlungsspielräume für Veränderungen öffnen. Christoph Wulf und Jörg Zirfass bündelten diese Einsicht vor einiger Zeit in dem zunächst lapidar klingenden Satz, »dass Rituale und Ritualisierungen in allen Bereichen menschlichen Lebens eine wichtige Rolle spielen«, um dann fortzufahren: »Für die Entstehung und Praxis von Religion, Gesellschaft und Gemeinschaft, Politik und Wirtschaft, Kunst und Kultur, Erziehung und Bildung sind sie [Rituale und Ritualisierungen] unerlässlich. Mit ihrer Hilfe werden die Welt und die menschlichen Verhältnisse geordnet und interpretiert; in ihnen werden sie erlebt und konstruiert. Rituelle Handlungen erzeugen einen Zusammenhang zwischen Geschichte, Gegenwart und Zukunft; sie ermöglichen Kontinuität und Veränderung, Struktur und Gemeinschaft sowie Erfahrungen von Transition und Transzendenz.« 29 Wer Einblicke in die Konstitution und Konstruktionen von Gesellschaft und sozialer Gemeinschaft, in die Emergenz und Ausformung von Kultur und Religion, in die Prozesse der Subjektwerdung und Habitualisierung von Lebensformen gewinnen will, kommt insofern an einer Erforschung ritueller Praktiken kaum vorbei. Ist es vor diesem Hintergrund nicht geboten, den Reichtum der Ritualwissenschaft verstärkt auch in der neutestamentlichen Forschung fruchtbar werden zu lassen? »Die professionelle Erforschung von Ritualen ist [...] heute - v. a. auch in den deutschen Sozial- und Kulturwissenschaften - kein Randthema mehr.« »Wer Einblicke in die Konstitution und Konstruktionen von Gesellschaft und sozialer Gemeinschaft, in die Emergenz und Ausformung von Kultur und Religion, in die Prozesse der Subjektwerdung und Habitualisierung von Lebensformen gewinnen will, kommt [...] an einer Erforschung ritueller Praktiken kaum vorbei.« Zeitschrift für Neues Testament_35 typoscript [AK] - 12.05.2015 - Seite 8 - 2. Korrektur 8 ZNT 35 (18. Jg. 2015) Neues Testament aktuell 3. Die rituelle Welt des Neuen Testaments Gegen die Heranziehung von Ritualtheorien in der historischen Forschung im Allgemeinen und in der biblischen Exegese im Speziellen wurden immer wieder zwei Argumente angeführt: (1) Antike Rituale lassen sich naturgemäß nicht mehr beobachten. Ihr konkreter Vollzug und ihre Bedeutung müssen aus den Quellentexten allererst sekundär erschlossen werden. Jonathan Z. Smith mahnte vor diesem Hintergrund bereits in den 1980er Jahren, das fragliche biblische Material sei allzu lückenhaft, um Einsichten der Ritualforschung sinnvoll anwenden zu können. Es ließe sich heute kein einziges in der Bibel erwähntes Ritual allein auf der Basis dessen durchführen, was überliefert sei. Die Bibel biete mithin nur bruchstückhafte Darbietungen dessen, was damals tatsächlich praktiziert wurde. 30 Zu diesem Problem gesellt sich die Schwierigkeit, dass die biblischen Ritualbeschreibungen meist im Dienst bestimmter Interessen stehen und insofern verfälscht oder auch gänzlich fiktiv sein können. (2) Mit dem Begriff des »Rituals« wird überdies-- wie oben bereits dargelegt-- ein moderner Konzeptbegriff an die historischen Texte und die darin beschriebenen Praktiken angelegt. Über die Ritualtheorien würden daher, so die Kritik, implizit moderne Vorstellungen in die antiken Texte eingetragen und darin die historischen Sachverhalte entstellt. Beide Kritikpunkte, nämlich die Bruchstückhaftigkeit der bibischen Ritualdarstellungen samt ihres unüberprüfbaren Realitätsgehaltes und die Gefahr anachronistischer Verzerrungen durch die Heranziehung moderner Ritualtheorien machte im Jahr 2001 der Mediävist Philippe Buc in dem Buch »The Dangers of Ritual« nachdrücklich geltend, um die Relevanz der ritual studies für die historische Forschung grundsätzlich zu diskreditieren. 31 Die Polemik Bucs stieß freilich ihrerseits auf Kritik. 32 Und in der Tat stehen die genannten Einwände keineswegs zwingend einer Verwertung ritualtheoretischer Erkenntnisse in der historischen bzw. biblischen Forschung entgegen: (1) Jede Beschreibung von Ritualen, auch die aktuell beobachtbarer ritueller Praktiken, ist notgedrungen fragmentarisch. Die Forderung nach einer alle möglichen Perspektiven ausleuchtenden und dabei völlig interesselosen Ritualschilderung ist nicht zuletzt angesichts der hohen symbolischen Komplexität ritueller Handlungen grundsätzlich verfehlt. Im Übrigen lassen sich bisweilen die in einem konkreten Ritualportrait übergangenen Elemente aus vorhandenen Angaben, dem Kontext oder auch Parallelen zumindest partiell erschließen. 33 Schwerer aber noch wiegt, dass der Berücksichtigung ritualwissenschaftlicher Erkenntnisse ja gerade dazu verhilft, fragmentarische und interessegeleitete Ritualportraits in wissenschaftlich verantwortlicher Weise neu auszuleuchten, und zwar keineswegs nur im Hinblick auf das faktische Geschehen und seine Bedeutung, sondern auch im Hinblick auf literarische Ritualtopoi und die Wirkabsicht der Quellen. (2) Die Anwendung moderner Konzeptbegriffe lässt sich weder in der historischen noch in der biblischen Forschung rundweg vermeiden. Jeder historischen bzw. historischbiblischen Betrachtung liegt in der einen oder anderen Weise unweigerlich ein von außen an die Quellen herangetragener theoretischer Rahmen zugrunde, der die alten Quellen unserem Denken öffnet. Nur so ist ein Brückenschlag über die Zeiten hinweg möglich. Selbstverständlich hat die Verwendung moderner Theorien und Konzeptbegriffe reflektiert zu geschehen. 34 Mit welchem Ritualbegriff soll man nun aber das neutestamentliche Material sichten und deuten? Eine allgemein akzeptierte Ritualdefinition liegt in der Ritualforschung nicht vor, vielmehr begegnet man dort angesichts des komplexen Reichtums ritueller Praktiken einer kaum mehr überschaubaren Vielfalt verschiedenster Bestimmungen. Vor diesem Hintergrund zeichnet sich in der jüngeren Ritualwissenschaft der Trend ab, auf klassische Definitionen, die die Phänomenfülle unsachgemäß einengen, zu verzichten und stattdessen qualitative Charakteristika zu sammeln, die eine bestimmte Handlung »mehr oder weniger« als Ritual ausweisen. Es liegen inzwischen diverse Listen ritueller Handlungsqualitäten vor. Sie können hier allerdings nicht genauer diskutiert werden. 35 Wenn man nun in dieser Weise ein weit gespanntes Netz möglicher Charakteristika an die neutestamentlichen Texte anlegt, stellt sich freilich die weitere Frage, wie man die solcherweise freigelegte Fülle rituellen Handelns und ritueller Topoi ordnen und kategorisieren soll. Möglich wäre es, sich an Catherine Bells Unterscheidung sechs basaler Typen ritueller Aktivität zu orientieren, nämlich: Passageriten, Kalendarische Riten, Tausch- und Kommunikationsriten, Riten zur Überwindung der Gefährdung oder Störung einer Ordnung (Heilungsrituale, Konfliktrituale etc.), Feste und Fasten »Eine allgemein akzeptierte Ritualdefinition liegt in der Ritualforschung nicht vor, vielmehr begegnet man dort angesichts des komplexen Reichtums ritueller Praktiken einer kaum mehr überschaubaren Vielfalt verschiedenster Bestimmungen.« Zeitschrift für Neues Testament_35 typoscript [AK] - 12.05.2015 - Seite 9 - 2. Korrektur ZNT 35 (18. Jg. 2015) 9 Christian Strecker Anstöße der Ritualforschung sowie politische Rituale. 36 James R. Davila präsentierte vor einigen Jahren eine an diesem Schema orientierte Sichtung ritueller Motive in den jüdischen Pseudepigraphien. 37 Bells Kategorisierung orientiert sich allerdings überwiegend an ethnographischen Beobachtungen bestimmter Rituale, weniger an der textlichen Verarbeitung derselben. Zieht man dagegen das Spektrum möglicher Verflechtungen von Texten und Ritualen als Unterscheidungskriterium heran, lassen sich grundsätzlich sechs Formen der textlichen Verarbeitung ritueller Handlungen, Elemente und Strukturen im Neuen Testament ausmachen, die im Folgenden jenseits aller exegetischen Detaildebatten und Reflexionen auf mögliche historische Hintergründe anhand einiger weniger Beispiele grob vor Augen geführt werden sollen. (1) Texte, die zur Ausführung eines Rituals anweisen. Zu nennen wären hier etwa die sog. Gedächtnisworte in 1Kor 11,24.25 und Lk 22,19, die die regelmäßige Feier des Abendmahls anordnen, ebenso der Taufbefehl Jesu in Mt 28,19f. und Mk 16,15f. (unechter Markusschluss) wie auch die Aufforderungen zur Taufe in der Apostelgeschichte (Apg 2,38; 10,48). Weiterhin wäre an das in Joh 13,12-15 im Rahmen der Fußwaschung formulierte mandatum Jesu zu denken, seinem Exempel zu folgen, das neben einer ethischen Bedeutung evtl. auf eine entsprechende rituelle Praxis in der johanneischen Gemeinde zielt. Aber auch die in 1Kor 5,4 f.13 von Paulus geforderte Exkommunikation eines Unzüchtigen im Rahmen einer Gemeindeversammlung ließe sich unter dieser Rubrik einordnen. (2) Texte, die den Vollzug einer rituellen Handlung konstatieren oder genauer schildern. Zahlreiche Stellen mit mannigfaltigen Ritualformen oder Ritualelementen kommen bei dieser Kategorie in Betracht. So finden sich im Neuen Testament mehrfach Taufberichte, angefangen von der Taufe Jesu durch Johannes (Mk 1,9-11 par.), die freilich in mancherlei Hinsicht einen Sonderfall darstellt, bis zu den Taufschilderungen und kurzen Taufnotizen in der Apostelgeschichte (Apg 2,41; 8,12; 8,36-39; 9,18; 16,15.33; 18,8). Weiterhin sind unter dieser Überschrift die Berichte über die Einsetzung des Abendmahls durch Jesus anzuführen (Mt 26,26-29; Mk 14,22-25; Lk 22,15-20; 1Kor 11,23-26), die als Ätiologien des nachösterlichen Herrenmahls fungierten. Auch die in der synoptischen Tradition verankerten Mahlgemeinschaften Jesu mit sozial Ausgegrenzten (Mk 2,15-17; Lk 15,2; 19,1-10), Zuhörern (Mk 6,35-44; 8,1-10) oder Pharisäern (Lk 7,36-50; 11,37-54; 14,1- 24) besitzen nicht zuletzt vor dem Hintergrund der antiken Mahltraditionen rituellen Charakter. Die bereits oben erwähnte rituelle Fußwaschung wird in Joh 13,4 ff. bekanntlich ebenfalls im Kontext eines Mahls entfaltet. Zudem weisen die Heilungen Jesu und der Jünger rituelle Züge auf. Dazu zählen Handauflegungen (Mk 1,41; 5,23; 6,5, 7,32; 8,23.25; Lk 4,40), Speichelgebrauch (Mk 7,33; 8,23; Joh 9,6), Ölungen (Mk 6,13; vgl. Jak 5,14), verbale Formeln (Mk 5,41; 7,34) sowie Beten und Fasten (Mk 9,29). Formale Amtseinsetzungen begegnen in Apg 1,15-26; 6,1-6; 13,1-3; 14,23, wobei erneut die Handauflegung eine zentrale Rolle spielt (s. auch 1Tim 4,14; 2Tim 1,6). Darüber hinaus erscheint im Neuen Testament häufig die Praxis des Betens (Jesus: Mk 1,35; 14,35-42; Mt 11,25 f. u. ö.; Gemeinde: Apg 1,14; 2,42; 4,23-31 u. ö.). Auch vom Fasten wird wiederholt berichtet (Lk 2,37; Apg 13,2 f.; 14,23). Relativ selten ist dagegen von konkreten Opfervollzügen die Rede (Lk 1,8-11; 2,22-24; vgl. Mk 1,44; Mt 5,23). Nicht unerwähnt soll schließlich bleiben, dass sich die Berichte über die Passion Jesu in den Evangelien als Darstellungen eines umfassenden Statuserniedrigungsrituals erhellen lassen. (3) Texte, die sich mit der Bedeutung, Funktion oder rechten Durchführung rituellen Handelns auseinandersetzen. Auch in dieser Hinsicht sind die Belege breit gestreut. In 1Kor 14 diskutiert der Apostel Paulus ausführlich die Bedeutung ritueller Elemente im Gottesdienst. Dies gilt v. a. für die Glossolalie. Bereits die vorausgehenden Kapitel des ersten Korintherbriefes sind durch die Auseinandersetzung mit rituellen Fragestellungen bestimmt: 1Kor 8 und 10,14 ff. kreisen um das Problem des rechten Umgangs mit Götzenopferfleisch und heidnischen Kulten; 1Kor 11 erörtert das strittige Verhalten der korinthischen Frauen im Gottesdienst (11,2-16) sowie die angemessene Form der Feier des Herrenmahls (11,17-34). Mehrfach hebt Paulus in seinen Briefen die Bedeutung der Taufe hervor (Röm 6,1-14; 1Kor 6,11; 12,13; Gal 3,26-28). Das Beschneidungsritual negiert er mit Blick auf nichtjüdische Christusgläubige (Gal 2,1- 10; 5,1-12; 6,12-15; Röm 2,25-29; 4,9-12; 1Kor 7,18f.; Phil 3,3ff.). Auch die Jesustradition ist durch Auseinandersetzungen über die Bedeutung ritueller Vorschriften und Handlungen geprägt. Hierzu zählen etwa die Streitigkeiten im Zusammenhang mit dem Sabbatgebot (Mk 2,23-28; 3,1-6; Mt 12,11f.; Lk 13,10-17; 14,1-6; Joh 5; 7,22f.; 9), die Diskussion um Reinheitsvorschriften (Mk 7,1-23; Mt 23,25f.; Lk 11,37ff.) oder die Frage nach dem rechten Fasten (Mk 2,18-22; Mt 6,16-18). Hinzu kommen Texte, die das Opfern relativieren oder kritisieren (Mk 12,33; Mt 5,23 f.; 9,13; 12,7; s. auch Mk 11,15-19; 14,58 und Hebr). (4) Texte, die direkt rituellem Gebrauch entstammen. Dazu zählen die vielen unterschiedlichen traditionel- Zeitschrift für Neues Testament_35 typoscript [AK] - 12.05.2015 - Seite 10 - 2. Korrektur 10 ZNT 35 (18. Jg. 2015) Neues Testament aktuell »Rituale begegnen im Neuen Testament keineswegs als marginale, rein äußerliche Phänomene. Rituelle Akte, Elemente, Muster und Strukturen prägen vielmehr große Teile der in den neutestamentlichen Schriften enthaltenen Erzählungen, Auseinandersetzungen und Argumentationen.« len Formeln (z. B. Röm 10,9; 1Kor 8,6), Gebete (z. B. Mt 6,9-13) und Hymnen (z. B. Phil 2,6-11; Kol 1,15- 20). Die Identifizierung und Gattungsbestimmung dieses breit gestreuten Formelgutes ist freilich Gegenstand zahlreicher Kontroversen. Es ist oft nicht leicht zu bestimmen, ob und in welchem konkreten rituellen Kontext (Gemeindeversammlung, Taufe, Abendmahl) traditionelles Gut ursprünglich Verwendung fand. (5) Texte, die eine unmittelbare rituelle Funktion besitzen. In diesem Zusammenhang ist etwa an die Grüße in der ntl. Briefliteratur zu denken, die den rituellen Akt der Begrüßung qua Schrift direkt transportierten. Ähnliches gilt für Doxologien bei der förmlichen Beendigung eines Briefes (Röm 16,27; Phil 4,20; 2Tim 4,18; Hebr 13,21), eines Lobpreises (Röm 11,36; Eph 3,21), eines Briefpräskipts (Gal 1,5) bzw. eines Textabschnittes (1Tim 1,17) oder auch für Eulogien, die als Schlussformeln am Ende eines Satzes (Röm 1,25; 9,5) oder am Anfang einer längeren Preisung bzw. einem Proömium (2Kor 1,3; Eph 1,3; 1Petr 1,3) begegnen. 38 Zu nennen ist hier auch die Aufforderung zum rituellen Kuss in der Gemeindeversammlung (1Thess 5,26; 1Kor 16,20; 2Kor 13,12; Röm 16,16), der die Maxime der christlichen Agape gleichsam physisch umsetzt (1Petr 5,14: »Kuss der Liebe«). In diesem Zusammenhang gilt es ferner zu sehen, dass die Briefe in der Gemeindeversammlung verlesen wurden (vgl. 1Thess 5,27; Kol 4,16; Apg 15,30 und Offb 1,3). Unter dem Label »Performanzkritik« (performative criticism) wird in diesem Zusammenhang die These diskutiert, die Texte seien nicht nur lapidar vorgetragen, sondern geradezu rituell »aufgeführt« worden. John Paul Heil meint gar, die Briefe enthielten im Kern auf die Verlesung im Gottesdienst hin verfasste rituelle Sprechakte. Er spricht diesbezüglich von »epistulary rituals of worship« 39 . Die These ist freilich umstritten. 40 (6) Texte, die synekdochisch mit einem Ritual vernetzt sind. Oftmals begegnen im Neuen Testament Texte, die auf ein bestimmtes Ritual anspielen oder in denen sich die Struktur eines Rituals spiegelt. Relativ klar zielen in diesem Sinn Joh 3,3-8 und 6,51c-58 auf die Taufe bzw. das Abendmahl. Erwogen wurde dies auch für Joh 2,1- 10 und 13,1-30, obwohl die These hier weitaus schwieriger zu belegen ist. Deutlicher fungieren hingegen die Speisungsgeschichten der Evangelien als Vorschattung des Abendmahls, und auch bestimmte Ostererzählungen reflektieren erkennbar dieses Ritual (Joh 21,13; Lk 24,30 f.). Äußerst umstritten ist indes, wo und inwiefern im Neuen Testament Opfer-, Eliminations- oder auch andere Todesrituale zur Deutung des Todes Jesu herangezogen werden. 41 Debattiert wird darüber hinaus, inwieweit ganze neutestamentliche Schriften in ihrem Aufbau durch Rituale oder rituelle Strukturen geformt sind. Nach Ansicht einiger älterer Exegeten spiegelt sich etwa im 1Petr möglicherweise eine Taufliturgie wider, auch wenn das Stichwort »Taufe« nur einmal, nämlich in 3,21 genannt ist. 42 Auf einer etwas abstrakteren Ebene bewegen sich Versuche, bestimmte Evangelien durch die typische Drei-Phasen-Struktur von Passageriten (Separation, Liminalität, Wiedereingliederung) geprägt zu sehen oder die Grundzüge der paulinischen Theologie vermittels ritologischer Einsichten zu erhellen. 43 Trotz seines stark fragmentarischen Charakters mag dieser knappe Überblick vielleicht einen hinlänglichen Eindruck über die Variationsbreite vermitteln, in der das Neue Testament Rituale thematisiert bzw. zum Inhalt hat. Auf unterschiedlichsten Ebenen sind rituelle Praktiken, rituelle Erfahrungen, rituelle Konflikte und rituelle Reflexivität in die Texte eingewebt. Rituale begegnen im Neuen Testament keineswegs als marginale, rein äußerliche Phänomene. Rituelle Akte, Elemente, Muster und Strukturen prägen vielmehr große Teile der in den neutestamentlichen Schriften enthaltenen Erzählungen, Auseinandersetzungen und Argumentationen. Darin öffnet sich ein weites Forschungsfeld für die Anwendung ritualwissenschaftlicher Einsichten. Dies gilt umso mehr, als mit der Publikation des mehrbändigen Thesaurus Cultus et Rituum Antiquorum 44 inzwischen ein beeindruckend umfängliches Werk über die antike Welt der Rituale bei Griechen, Etruskern und Römern vorliegt, dass mindest zu einem Teil die Suche nach antiken rituellen Hintergründen und Parallelen erleichtert. 4. Anfänge der neutestamentlichen Ritualforschung und weitere Impulse Es ist das Verdienst von Wayne Meeks, erstmals kenntnisreich die Ritualforschung für die neutestamentliche Exegese erschlossen zu haben. In seiner 1983 erschienenen Monographie »The First Urban Christians«, einer Untersuchung der sozialen Welt der paulinischen Ge- Zeitschrift für Neues Testament_35 typoscript [AK] - 12.05.2015 - Seite 11 - 2. Korrektur ZNT 35 (18. Jg. 2015) 11 Christian Strecker Anstöße der Ritualforschung meinden, widmete er dem Thema »Ritual« einen eigenen Abschnitt und rekurrierte darin namentlich auf die Ritual- und Gesellschaftstheorie Victor Turners, um u. a. die Bedeutung der Taufe als Initiationsritual zu ergründen und die Frage nach den sozialen Grenzen der paulinischen Gemeinden abzuklären. 45 Nur wenig später bediente sich Norman Petersen in seiner zu Unrecht wenig rezipierten Auslegung des Philemonbriefes und der paulinischen Theologie ausführlich Turners ritualtheoretisch fundierter Rede von Struktur und Anti-Struktur. 46 1990 durchleuchtete Jerome Neyrey die paulinischen Briefe mit Hilfe Turners Unterscheidung zwischen »Ritualen«, die Individuen, Gruppen oder Gesellschaften verändern, und »Zeremonien«, die die herkömmliche Ordnung stabilisieren. 47 Hierzulande erschloss der Autor dieses Beitrags die Ritualforschung im Allgemeinen sowie Victor Turners ritualtheoretische Konzepte der »Liminalität« und »Communitas« im Speziellen für die Deutung der auf Transformation und Partizipation hin angelegten Theologie des Paulus und darüber hinaus für das Verständnis der Taufe und des Abendmahls im Neuen Testament. 48 In seiner viel beachteten Studie über die »Religion der ersten Christen« widmete auch Gerd Theißen dem Thema »Ritual« ein eigenes Kapitel. 49 Unter dem Titel »Bridging the Gap« legte dann Gerald Klingbeil im Jahr 2007 eine ganz dem Thema Ritual gewidmete Studie vor. 50 Allerdings konzentriert sich das Buch trotz des Untertitels »Ritual and Ritual Texts in the Bible« de facto überwiegend auf das Alte Testament. Klingbeil entfaltet darin nach einer generellen Einführung in die ritual studies ein eigenes, an den Grundlagen der linguistischen Theorie orientiertes Ritualkonzept, um es an diversen biblischen Texten zu verifizieren. Ein Jahr später untersuchte Richard DeMaris in seiner Studie »The New Testament and Its Ritual World« exemplarisch die Bedeutung diverser »boundary-crossing rites« (Rituale des Gruppenein- und -ausschlusses), nämlich der Taufe, des Ausschlussrituals in 1Kor 5,1-5 und der rituellen Prägung der markinischen Passionsgeschichte, und zwar jeweils unter Rekurs auf kulturanthropologische Ritualtheorien und unter Bezug auf Zeugnisse der antiken griechisch-römischen Welt der Rituale. Die innovative Untersuchung gab und gibt in ihrer interdisziplinären Ausrichtung wichtige Anstöße zur Entwicklung einer neutestamentlichen Ritologie. 51 Anzumerken ist weiter, dass etliche skandinavische Exegeten in jüngster Zeit die kognitionswissenschaftlichen Ritualtheorien von Lawson/ McCauley und Whitehouse in der neutestamentlichen Forschung zu verankern suchen, 52 und zwar mit dem Anspruch, die vermeintlich allein auf »Intuitionen« beruhende klassische hermeneutische neutestamentliche Forschung mit dieser »wissenschaftlichen« Analyse zu überwinden. Angesichts der verbreiteten Kritik an der vermeintlichen Objektivität »strenger Wissenschaften« samt den darin eingelassenen Herrschaftsformen 53 überrascht dieser Anspruch allerdings. Schließlich soll nicht unerwähnt bleiben, dass inzwischen auch erste Überblicks- und Grundsatzartikel zur neutestamentlichen Ritualforschung erschienen sind. 54 Ungeachtet all dieser Aufbrüche harren viele Konzepte, Theorien und Themen der Ritualforschung noch einer intensiveren Rezeption in der neutestamentlichen Exegese. Das Spektrum möglicher Impulse ist groß. Eine nachhaltige Rezeption erfuhr bislang nur das Konzept der »Liminalität«, das die bei rituellen Transformationsprozessen in der Übergangsphase (»Schwellenphase«) auftretenden und über das Ritual hinaus wirkenden Erfahrungen der Ambiguität, der Außerkraftsetzung etablierter sozialer Strukturen und der damit einhergehenden Emergenz nichtalltäglicher egalitärer Sozialbeziehungen (»Communitas«), der kreativen Inversionen tragender Elemente der Kultur und der Erfahrungen von Transzendenz bezeichnet. 55 Wichtige Impulse können aber auch die ritologischen Konzepte der rituellen »Performanz«, der agency, des embodiment oder des »Habitus« geben. 56 Unter dem Stichwort der »Performanz« wird in jüngerer Zeit die Verlagerung des Fokus der Ritualforschung von den klassischen Leitfragen nach der »Bedeutung« und »sozial-kohäsiven Kraft« von Ritualen auf Fragen der »Aufführung« und »Transformationskraft« von Ritualen diskutiert. Rituale kommen hier nicht mehr nur als symbolisches, sondern zumal auch als wirklichkeitsgenerierendes Handeln in den Blick. Mit dieser Wende werden vermehrt Fragen nach der Handlungs- und Wirkmacht (agency) in rituellen Akten virulent. Wer oder was ist eigentlich für die performative Kraft ri- »Das Verdienst der ritual studies liegt nicht zuletzt darin, die große Relevanz von Körpertechniken und -praktiken für das Verständnis menschlicher Lebenswelten neu ins Bewusstsein gerufen und im wissenschaftlichen Diskurs fest verankert zu haben.« »Ungeachtet all dieser Aufbrüche harren viele Konzepte, Theorien und Themen der Ritualforschung noch einer intensiveren Rezeption in der neutestamentlichen Exegese.« Zeitschrift für Neues Testament_35 typoscript [AK] - 12.05.2015 - Seite 12 - 2. Korrektur 12 ZNT 35 (18. Jg. 2015) Neues Testament aktuell tueller Handlungen verantwortlich? Wer oder was führt die Wirksamkeit respektive den Erfolg ritueller Praktiken herbei? Welche Kräfte kommen den rituellen Subjekten und darüber hinaus möglicherweise den rituellen Objekten bzw. anderen Faktoren zu, und wie verhalten sich diese zueinander? Welche Rolle spielt dabei die für den Vollzug religiöser Rituale häufig konstitutive »Beteiligung« unsichtbarer Wesen (Götter, Geister, Ahnen etc.)? Als weiterer wichtiger Aspekt kommt hinzu, dass rituelles Handeln wesentlich körperliches Handeln ist. Das Verdienst der ritual studies liegt nicht zuletzt darin, die große Relevanz von Körpertechniken und -praktiken für das Verständnis menschlicher Lebenswelten neu ins Bewusstsein gerufen und im wissenschaftlichen Diskurs fest verankert zu haben. In diesem Zusammenhang verdient schließlich auch die Erkenntnis Beachtung, dass Verhaltens-, Denk- und Wahrnehmungsdispositionen, die Pierre Bourdieu unter dem Leitbegriff des »Habitus« zusammenfasste, über rituelle Prozesse in den Körper eingeschrieben werden. Der »Habitus« ankert mit anderen Worten im Körper, er artikuliert sich somatisch in der Art der Körperhaltung, des Gehens, des Redens, im Geschmack u. a. m. 57 Es bleibt abzuwarten, ob bzw. wie diese Impulse in der Exegese breiter aufgegriffen werden. Wie auch immer: Selbst wenn Rituale nicht »den Gesamtinhalt [the sum-total]« des frühen Christentums ausmachten, 58 wie dies Robertson Smith dereinst für die »alten Religionen« behauptete, so spielen rituelle Akte, Motive und Strukturen im Neuen Testament doch eine derart prominente Rolle, dass eine völlige Ignorierung der ritual studies der neutestamentlichen historisch-kritischen Exegese nur zu ihrem eigenen Nachteil gereichen würde. Anmerkungen 1 W. R. Smith, Die Religion der Semiten, Freiburg u. a. 1899, 12.14 (engl. Original: Lectures on the Religion of the Semites, London 1894 2 , 16.20). 2 Näheres bei B. Maier, William Robertson Smith. His Life, his Work and his Times (FAT 67), Tübingen 2009. 3 Smith, Religion, 13. 4 Näheres bei R. Ackerman, The Myth and Ritual School, New York 2002 2 ; W. M. Calder III (Hg.), The Cambridge Ritualists Reconsidered, Atlanta 1991. 5 So R. A. Segal, Transaction Introduction, in: W.R. Smith, The Religion of the Semites, New Brunswick 2002, vii- xlii: x. 6 Vgl. zum Folgenden die lehrreiche Studie von K. Lehmkühler, Kultus und Theologie (FSÖTh 76), Göttingen 1996. 7 G. Lüdemann, Das Wissenschaftsverständnis der Religionsgeschichtlichen Schule im Rahmen des Kulturprotestantismus, in: H.M. Müller (Hg.), Kulturprotestantismus, Gütersloh 1992, 78-107: 100. 8 Zur Suche nach möglichen Äquivalenten vgl. A. Chanoitis, »Greek«, in: J. Kreinath u. a. (Hg.), Theorizing Rituals I, Leiden/ Boston 2006, 69 f.; H.-M. Haußig, »Hebrew«, in: ebd., 71 f.; s. auch J. N. Bremmer, Götter, Mythen und Heiligtümer im antiken Griechenland, Darmstadt 1996, 43 f. 9 Die Vokabel wird etymologisch abgeleitet entweder aus dem Sanskritwort rta, das die gesetzmäßige, wahre »Ordnung« markiert, oder aus der indogermanischen Wurzel *rei, ri für »fließen« bzw. der gleichlautenden indogermanischen Wurzel für »zählen«; s. dazu B.M. Linke, Sicherheit im Ungewissen, in: ders. (Hg.), Rituale in den Religionen, Frankfurt a. M. 2007, 9-63: 21. 10 »Hinter dem lateinischen Vokabular verbirgt sich ein neuzeitliches Verständnis von rituellem Verhalten, das in seiner Abstraktionsfähigkeit weit über den antiken Ritusbegriff hinausgeht« (A. Henrichs, Dromena et Legomena, in: F. Graf (Hg.), Ansichten griechischer Rituale. FS W. Burkert, Stuttgart/ Leipzig 1998, 33-71: 37). 11 Vgl. dazu T. Asad, Genealogies of Religion, Baltimore 1993, 56; B. Boudewijnse, British Roots of the Concept of Ritual, in: A.L. Molendijk (Hg.), Religion in the Making, Leiden u. a. 1998, 277-295: 278; W. Pfeifer (Hg.), Etymologisches Wörterbuch des Deutschen, München 2008 8 , 1132. 12 Vgl. Asad, Genealogies, 56-58; Boudewijnse, Roots, 278 f.; C. Bell, Ritual. Perspectives and Dimensions, New York/ Oxford 1997, 259. 13 Vgl. zur Verbreitung im Genaueren Boudewijnse, Roots, 283 f.287-292, die ebd. W. R. Smith und A. Lang als wichtige Impulsgeber des Wandels anführt. 14 Vgl. Boudewijnse, Roots, 286 f.292 (unter Rekurs auf F. Steiner, Taboo, London 1956); J.G. Platvoet, Ritual: Religious and Secular, in: J. Kreinath u. a. (Hg.), Theorizing Rituals I, Leiden/ Boston 2006, 161-205: 173-179. 15 Vgl. P. Burke, The Historical Anthropology of Early Modern Italy, Cambridge 1987, 226; s. dazu insgesamt ebd., 223-238.258-260; s. auch J.Z. Smith, To Take Place, Chicago 1987, 96-103. 16 W. Mannhardt, Wald- und Feldkulte, 2 Bde., Berlin 1875/ 1877; vgl. dazu J. N. Bremmer, ›Religion‹, ›Ritual‹ and the Opposition ›Sacred vs. Profane‹, in: F. Graf (Hg.), Ansichten griechischer Rituale. FS W. Burkert, Stuttgart/ Leipzig 1998, 9-32: 18. 22. 17 M. Douglas, Ritual, Tabu und Körpersymbolik, Frankfurt a. M. 1981, 11 f. 18 R.E. Wiedenmann, Ritual und Sinntransformation (Soziologische Schriften 57), Berlin 1991, 11 f.; s. zum Thema auch ebd., 69 ff. 19 Vgl. zum Folgenden F. H. Gorman Jr., Ritual Studies and Biblical Studies, in: Semeia 67 (1994), 13-42: 14-20. 20 Die zweite Hälfte der 1960er Jahre gilt vielen als »a watershed in the scholarly study of ritual« (J. Kreinath u. a., Ritual Studies, Ritual Theory, Theorizing Rituals, in: dies. [Hg.], Theorizing Rituals I, Leiden/ Boston 2008, Zeitschrift für Neues Testament_35 typoscript [AK] - 12.05.2015 - Seite 13 - 2. Korrektur ZNT 35 (18. Jg. 2015) 13 Christian Strecker Anstöße der Ritualforschung xiii-xxv: xvii); Näheres bei M. Stausberg, Introduction, in: J. Kreinath u. a. (Hg.), Theorizing Rituals II, Leiden/ Boston 2007, ix-xix: xiii; Bremmer, Religion, 23; s. auch B. Dücker, Rituale, Stuttgart/ Weimar 2007, 179-185. 21 Vgl. Bell, Ritual, 1-89. Anders konturierte Forschungsüberblicke bieten etwa A. Michaels, »Le rituel pour le rituel« oder wie sinnlos sind Rituale? , in: C. Caduff/ J. Pfaff-Czarnecka (Hg.), Rituale heute, Berlin 1999, 23-47: 24-26, der die Forschung in Funktionalismus, Konfessionalismus und Formalismus unterteilt, sowie H.G. Hödl, Ritual (Kult Opfer, Ritus, Zeremonie), in: J. Figl (Hg.), Handbuch Religionswissenschaft, Innsbruck u. a. 2003, 664-689: 667-677, der folgende drei Forschungsschwerpunkte nennt: Opfer und Gabe, regulative Funktionalität sowie Symbol, Intention und Bedeutung. 22 Genauere Angaben und Literaturbelege zum Folgenden bei Bell, Ritual, 3-89. 269-286. 23 Näheres dazu bei S. Schüler, Religion, Kognition, Evolution, Stuttgart 2012, 150-155. 24 Vgl. C. Bell, Ritual Theory, Ritual Practice, New York/ Oxford 1992; dies., Ritual (s. Anm. 12); R.L. Grimes, Beginnings in Ritual Studies, Columbia 1995 2 ; A. Belliger/ D.J. Krieger (Hg.), Ritualtheorien, Opladen/ Wiesbaden 1999; C. Caduff/ J. Pfaff-Czarnecka, Rituale heute, Berlin 1999; K.-P. Köpping/ U. Rao, Im Rausch des Rituals, Münster u. a. 2000; B. Dücker, Rituale (s. Anm. 20); J. Kreinath u. a. (Hg.) Theorizing Rituals I-II, 2 Bde., Leiden/ Boston 2006/ 2007; B. Stollberg-Rilinger, Rituale, Frankfurt a. M. 2013; Chr. Brosius u. a. (Hg.), Ritual und Ritualdynamik, Göttingen 2013. 25 Vgl. dazu E. Fischer-Lichte, Ästhetik des Performativen, Frankfurt a. M. 2004; dies., Performativität. Eine Einführung, Bielefeld 2013 2 . 26 Vgl. dazu im Näheren die Angaben unter www.ritualdynamik.de. 27 Die Beiträge liegen inzwischen in fünf Tagungsbänden veröffentlicht vor; vgl. A. Michaels u. a. (Hg.), Ritual Dynamics and the Science of Ritual, Wiesbaden 2010/ 11. 28 Vgl. nur D. Harth/ G.J. Schenk (Hg.), Ritualdynamik, Heidelberg 2004; J. Karolewski u. a. (Hg.), Ritualdesign, Bielefeld 2012. 29 Chr. Wulf/ J. Zirfas, Performative Welten, in: dies. (Hg.), Die Kultur des Rituals, München 2004, 7-45: 7 f. 30 Vgl. J. Z. Smith, Discussion, in: R.G. Hamerton-Kelly (Hg.), Violent Origins, Stanford 1987, 210. 31 Vgl. Ph. Buc, The Dangers of Ritual, Princeton 2001. 32 Vgl. G. Koziol, The Dangers of Polemic, in: Early Medieval Europe 11 (2002), 367-388, s. auch V. Postel, Rez. zu Ph. Buc, The Dangers of Ritual, in: HZ 279 (2004), 147-150. 33 Vgl. J. Klawans, Purity, Sacrifice, and the Temple, Oxford 2006, 52. 34 Vgl. zu dieser Problematik Chr. Strecker, Die liminale Theologie des Paulus (FRLANT 185), Göttingen 1999, 26-34. 35 Vgl. dazu R.L. Grimes, Ritual Criticism, Columbia 1990, 9-15, bes. 14; J.M. Snock, Defining ›Rituals‹, in: J. Kreinath u. a. (Hg.), Theorizing Rituals I, Leiden/ Boston 2006, 3-14, bes. 11; s. zum Thema auch Bell, Ritual Theory, 69-93; Platvoet, Religious, 199-202. 36 Vgl. Bell, Ritual, 91-137; s. auch Hödl, Ritual, 680-687. 37 Vgl. J. R. Davila, Ritual in the Jewish Pseudepigraphia, in: J.L. Lawrence/ M.I. Aguilar (Hg.), Anthropology and Biblical Studies, Leiden 2004, 159-183. 38 Zur Verbreitung dieser »rituellen Sprache« in den Paulusbriefen und den Deuteropaulinen vgl. W. A. Meeks, Urchristentum und Stadtkultur, Gütersloh 1993, 198 f. Da diese rituelle Sprache häufig gottesdienstlichem Gebrauch entstammt, fließen hier die Kategorien (4) und (5) ineinander über. 39 Vgl. J. P. Heil, The Letters of Paul as Rituals of Worship, Eugene 2011. 40 Näheres zur Performanzforschung bei Chr. Strecker, Performanzforschung und Neues Testament, in: Interkulturelle Theologie 39 (2013), 357-376: 362-370. 41 Vgl. J. Frey/ J. Schröter, Deutungen des Todes Jesu (WUNT 181), Tübingen 2005. 42 Vgl. dazu D.E. Aune, Art. »Worship, Early Christianity«, in: ABD VI (1992), 973-989: 987. 43 M. McVann, Baptism, Miracles and Boundary Jumping in Mark, in: BTB 21 (1991), 151-157; K.C. Hanson, Transformed on the Mountain, in: Semeia 67 (1994), 147-170; Strecker, Liminale Theologie. 44 Thesaurus Cultus et Rituum Antiquorum (ThesCRA), 8 Bde. und Index, Los Angeles 2004-2014. 45 Vgl. Meeks, Urchristentum, 288-331 und bes. 188 f.320 f. 46 Vgl. N. R. Petersen, Rediscovering Paul, Philadelphia 1985, 151 ff. 47 J. H. Neyrey, Paul, in Other Words, Louisville 1990, 75- 101. 48 Vgl. Strecker, Liminale Theologie; s. auch ders., Auf den Tod getauft, in: JBTh 19 (2004), 259-295; ders., Macht-- Tod-- Leben-- Körper, in: G. Theißen/ P. v. Gemünden (Hg.), Erkennen und Erleben, Gütersloh 2007, 133-153; ders., Leben als liminale Existenz, in: EvTh 68 (2008), 460-472; ders., Taufrituale im frühen Christentum und der Alten Kirche, in: D. Hellholm u. a. (Hg.), Ablution, Initiation, and Baptism III (BZNW 176), Berlin/ New York 2011, 1383-1440; ders., Die frühchristliche Taufpraxis, in: W. Stegemann/ R.E. DeMaris (Hg.), Alte Texte in neuen Kontexten, Stuttgart 2015, 347-410. 49 Vgl. G. Theißen, Die Religion der ersten Christen, Gütersloh 2001 2 , 171-194. 50 Vgl. G. A. Klingbeil, Bridging the Gap, Winona Lake 2007. 51 Vgl. R. E. DeMaris, The New Testament in Its Ritual World, London/ New York 2008; s. auch ders., Die Taufe Jesu im Kontext der Ritualtheorie, in: W. Stegemann u. a. (Hg.), Jesus in neuen Kontexten, Stuttgart 2002, 43-52. 52 Vgl. R. Uro, Ritual and Christian Origins, in: D. Neufeld/ R.E. DeMaris (Hg.), Understanding the Social World of the New Testament, London/ New York 2010, 220-232: 227-231. 53 Vgl. nur K. Knorr-Cetina, Die Fabrikation von Erkenntnis, Frankfurt a. M. 2002 2 ; H. Taussig, Rez. zu P. Luomanen u. a. (Hg.), Explaining Christian Origins, in: Biblical Interpretation 18 (2010), 188-190. Zeitschrift für Neues Testament_35 typoscript [AK] - 12.05.2015 - Seite 14 - 2. Korrektur 14 ZNT 35 (18. Jg. 2015) Neues Testament aktuell 54 Vgl. J.T. Lamoreaux, BTB Readers Guide: Ritual Studies, in: BTB 39 (2009), 153-165; L.I. Lawrence, Ritual and the First Urban Christians, in: T.D. Still/ D.G. Horrell, After the First Urban Christians, New York 2009, 99-115; J. Schwiebert, Evading Rituals in New Testament Studies, in: CSSR 10 (2004), 10-13. 55 Vgl. dazu die Lit. in den Anm. 45 f.48. 56 Vgl. zum Folgenden die genaueren Darlegungen und Anwendungen bei Strecker, Macht, 139 ff.; ders., Taufrituale, 1416-1430; ders., Taufpraxis, 378-402. 57 Diese explizit leibliche Dimension des »Habitus« benennt Bourdieu mit der entsprechenden griechischen Vokabel »Hexis«. In Form der »Hexis« stellt der »Habitus« die »Inkorporation« des Sozialen dar; vgl. zum Thema insgesamt P. Bourdieu, Entwurf einer Theorie der Praxis, Frankfurt a. M. 1979; ders., Sozialer Sinn, Frankfurt a. M. 1997 2 . 58 Es ist ein Proprium des Christentums, von den frühesten Anfängen an Glaube und Vertrauen in das Zentrum menschlicher Religiosität gerückt zu haben; vgl. Chr. Strecker, Fides-- Pistis-- Glaube, in: M. Bachmann (Hg.), Lutherische und Neue Paulusperspektive (WUNT 182), Tübingen 2005, 223-250. In Bezug auf Gerichtsvorstellungen ist die Endzeitrede der wohl wirkmächtigste biblische Text. Die interdisziplinär angelegte Arbeit untersucht diesen als Rede Jesu stilisierten Text aus narratologischer und intertextueller Perspektive. In einem zweiten Schritt wird die Rezeption ihrer Gerichtsvorstellungen in Liedern des Evangelischen Gesangbuchs untersucht: Wie werden sie in den Liedtexten gedeutet, welche Aspekte werden betont, welche werden ignoriert oder verfälscht? Dafür werden zunächst theologische und anthropologische Aspekte gottesdienstlichen Singens erörtert und das Gerichtsthema in das Kirchenjahr eingeordnet. Nach einem rubrikengeschichtlichen Überblick werden sieben Lieder ebenfalls aus narratologischer und intertextueller Perspektive analysiert. In diesen Analysen kommt auch die Veränderungsgeschichte der Lieder und ihre Wirkpotentiale im Gottesdienst und im Kirchenjahr in den Blick. Die Arbeit verbindet somit neutestamentliche, hymnologische und praktisch-theologische Perspektiven und ist für Wissenschaft und kirchliche Praxis gleichermaßen relevant. Anne Smets Das Endgericht in der Endzeitrede Mt 24-25 und im Evangelischen Gesangbuch MAINZER HYMNOLOGISCHE STUDIEN 27 2015, 4 Seiten €[D] 68,00 ISBN 978-3-7720-8570-3 NEUERSCHEINUNG Narr Francke Attempto Verlag GmbH+Co. KG Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen • Tel. +49 (07071) 9797-0 • Fax +49 (07071) 97 97-11 • info@narr.de • www.narr.de 5 1