eJournals ZNT – Zeitschrift für Neues Testament 15/29

ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
2012
1529 Dronsch Strecker Vogel

Der Hebräerbrief als ständiger Gast im Haus der Kirche

2012
Manuel Vogel
Zeitschrift für Neues Testament typoscript [AK] - 08.03.2012 - Seite 46 - 4. Korrektur 46 ZNT 29 (15. Jg. 2012) Der Hebräerbrief ist ein ständiger Gast im Haus der Kirche. Er ist ein ständiger Gast, weil er zum neutestamentlichen Kanon gehört, Gaststatus hat er, weil sein soziokulturelles Milieu- - eine jesusgläubige Synagogengemeinde hellenistisch-jüdischer Couleur-- bei aller ökumenischer Vielfalt, in der die christliche Kirche existierte und existiert, nirgends mehr vorkommt und historisch wohl auch nie eine realistische Chance hatte. Dem Hebräerbrief geht es also wie dem wandernden Gottesvolk: Er ist auf Erden heimatlos. Das antike messianische Judentum des 1. Jh., das ihn hervorgebracht hat, ist untergegangen, und seine Lektüren im Binnenraum einer reinen Heidenkirche, die je länger desto mehr von jüdischer Glaubensweise nichts mehr verstand, mussten fast zwangsläufig sein Judentum zugunsten abstrakter »Schrifttheologie« aus den Augen verlieren. 1. Zeit- und ortlos wahr? Unbestritten »funktioniert« der Hebräerbrief auch unter diesen Bedingungen: als ein Dokument frühchristlicher Schriftauslegung, das die Bedeutung Jesu Christi in einzigartiger Weise im Rückgriff auf das christliche Alte Testament neu zur Sprache bringt. Und ist seine Botschaft nicht überhaupt so angelegt, dass sie den Gegensatz von Judentum und Christentum weit hinter sich lässt? Die der biblischen Symbolwelt entlehnten Bilder vom wandernden Gottesvolk und der himmlischen Heimat meinen den Menschen als solchen, Juden und Heiden gleichermaßen. Die großen gedanklichen Widerlager des Sichtbaren und des Unsichtbaren, des Zeitlichen und Ewigen leiden es nicht, dass man sie auf das Format eines spezifisch judenchristlichen Denkens herunter bricht. Man kann die Gedankenwelt des Hebräerbriefes in ihrer Tiefe und Breite erschließen, ohne die Frage nach seinem juden- oder heidenchristlichen Kontext überhaupt zu stellen. »Niemand muss wissen, wer den Hebr[äerbrief ] geschrieben hat, um ihn zu verstehen«, urteilte E. Grässer. 1 Die Frage, ob der Verfasser-- oder die Verfasserin (A.v. Harnack tippte auf Priszilla)-- des Hebr Judenchrist(in) war und an seinesbzw. ihresgleichen geschrieben hat, wird in der Forschung denn auch in weiten Teilen verneint. Oder aber man weicht ihr mit dem Hinweis aus, dass auch Nichtjuden sich in der Bibel gut auskannten. Bei den Adressaten denke der Verfasser »weder an Juden noch speziell an Judenchristen; eher schon könnte man sagen, er wende sich an Heidenchristen […], doch im Grunde sind einfach ›die Christen‹ gemeint«, und »die Auseinandersetzung mit der jüdischen, biblischen Tradition […] wird auf der theoretischen, literarischen Ebene geführt« 2 , so Conzelmann/ Lindemann. Mit U. Schnelle kann man dem entgegenhalten: »Wer […] die Frage nach der Herkunft der Gemeindeglieder für nicht relevant hält, unterschätzt die Voraussetzungen für eine Rezeption der Theologie des Hebr auf Seiten der Adressaten. Gerade wenn der Brief die Zweifel überwinden und Gewissheit vermitteln will, müssen das Verstehen und Bejahen der ausgefeilten Argumentation des Hebräerbriefes möglich sein« 3 . In der Tat hat mich die Erklärung, der Hebräerbrief wehre gemeinchristlicher Glaubensmüdigkeit durch die Aktivierung biblischer Deutungskategorien, nie sonderlich überzeugt. Wer etwa Heidenchristen umständlich auseinanderlegte, dass das levitische Priestertum ohne Eid eingerichtet wurde, dasjenige Melchisedeks dagegen mit einem solchen (Hebr 7,20 f.), musste der nicht damit rechnen, dass sein Publikum erst recht in Tiefschlaf verfiel oder mit Unverständnis reagierte? Es war kein Geringerer als Rudolf Bultmann, der seinem Befremden über den Hebr in aller Deutlichkeit Ausdruck verliehen hat: »Wozu die ganze Veranstaltung einer Vorabbildung des Heilswerkes Christi, die in der Zeit vor Christus ja niemand verstehen konnte, eigentlich geschehen sei, würde man den Verfasser, der sich seiner Interpretation freut, wohl vergeblich fragen« 4 . 2. Von den Anfängen der christlichen Religion in der jüdischen Das Binnenjüdische des frühen Christentums, das mit dem Hebräerbrief exemplarisch zur Diskussion steht, ist der Neutestamentlichen Wissenschaft als Problem Manuel Vogel Der Hebräerbrief als ständiger Gast im Haus der Kirche Kontroverse Zeitschrift für Neues Testament typoscript [AK] - 08.03.2012 - Seite 47 - 4. Korrektur ZNT 29 (15. Jg. 2012) 47 Manuel Vogel Der Hebräerbrief als ständiger Gast im Haus der Kirche bleibend aufgegeben, allein schon deshalb, weil der Weg von der jüdischen Jesusbewegung hin zu einer reinen Heidenkirche mit einem nichtchristlichen Judentum als ungeliebtem Nachbarn (»parting of the ways«) als historisches Phänomen noch nicht in allen seinen Facetten erfasst und verstanden ist. Das eingängige Szenario der Flucht der Jerusalemer judenchristlichen Urgemeinde aus der im jüdischen Krieg zerstörten Gottesstadt ins ostjordanische Pella wird noch immer gern mit dem faktischen Ende eines nennenswerten judenchristlichen Einflusses im frühen Christentum gleichgesetzt. Aber auch theologisch gilt dieser Einfluss schon früh als überholt, viel früher sogar, nämlich seit dem Galaterbrief. Die Geschichte hat hier nur die Tatsachen geschaffen, die in der Sache längst feststanden. Schon mit den Paulusbriefen als den literarisch ältesten Dokumenten des Neuen Testaments ist das Tor zu einer »Kirche aus Juden und Heiden« durchschritten, in der Judesein theologisch keine Rolle mehr spielt, denn »es ist der eine Gott, der gerecht macht die Juden aus dem Glauben und die Heiden durch den Glauben« (Röm 3,30). Wer hier problematisiert, muss mit dem Vorwurf rechnen, er falle hinter Paulus zurück. Auf diese Weise ist der Weg zu einer Lektüre des Neuen Testaments geebnet, die diesen zweiten Teil der christlichen Bibel selbstverständlich als Buch der Kirche reklamiert. Man findet dann das Eigene schon ganz am Anfang, erkennt sich wieder im Ursprung, richtet das Haus der Geschichte, in der man lebt, im eigenen Stil ein, vom Keller bis zum Dach. Das hermeneutische Gegenmodell bestünde in einem Fremdverstehen, das in einem ersten Schritt voraussetzt, dass Fremdes überhaupt da und zu entdecken ist, und das, in einem zweiten Schritt, das Fremde nicht sogleich dem Eigenen anverwandelt (und dies dann »Verstehen« nennt), sondern es als das Nichtidentische stehen und gelten lässt, zu Lasten seiner Verrechenbarkeit mit den Grunddaten der eigenen Weltauffassung. Wissenschaftlich darf sich ein solches Verfahren nennen, weil es mit der wissenschaftlichen Lust an der Differenzierung Hand in Hand geht, und es trägt zu einer Ethik der Interpretation bei, weil Erkenntnis unter den skizzierten Voraussetzungen nicht dazu dient, im aneignenden Begreifen über die eigenen Grenzen hinaus zu streben, sondern dieser Grenzen gewahr zu werden und sie zu respektieren. Auf dem Feld des Neuen Testaments geht es darum, den jüdischen Anfängen einer Religion Rechnung zu tragen, die selbst nicht mehr jüdisch ist. Gegenüber der verbreiteten Auffassung, diese Unterscheidung sei namentlich im Blick auf den Hebräerbrief belanglos, wird hier die These vertreten, dass die Transformation der biblisch-jüdischen Religion durch den Jesusglauben Juden ein höheres Maß an Konflikterfahrung und sozialer Desintegration zumutete als Nichtjuden. Idealtypisch kann man folgende Unterscheidung treffen: Der fromme Jude, der in den Traditionen und sozialen Bezügen seiner Religion lebte und sich dem Jesusglauben anschloss, tat dies in der Überzeugung, dass mit dem Kommen Jesu die Religion seiner Väter und seines Volkes in ein qualitativ neues, messianisches Stadium eingetreten war und dabei tiefgreifend umgebildet wurde. Der jesusgläubige Jude sah sich darin im Einklang mit der Religion Israels, dem Gott Israels und der Geschichte Israels. Vor diesem Hintergrund kann die Erfahrung, dass der neue Glaube im engeren und weiteren sozialen Umfeld auf Ablehnung und Widerstand stieß, an Dramatik kaum überschätzt werden. Das Trauma des Synagogenausschlusses der johanneischen Christen gibt eine Anschauung hiervon. Ein Heidenchrist hatte derlei Probleme nicht. Wer sich von paganer Religion löste und diese hinter sich ließ, vollzog gewissermaßen einen sauberen Schnitt. Kein Heidenchrist wird auf die Idee gekommen sein, einen paganen Kult zu christianisieren und bei dessen Anhängern für die neue Kultvariante zu werben. Dementsprechend gab es heidenchristlich nicht die Enttäuschung über angestrebte, aber nicht erreichte Synthesen von altem und neuem Prof. Dr. Manuel Vogel, geb. 1964 in Frankfurt/ Main, Studium der Evangelischen Theologie in Erlangen, Heidelberg und Frankfurt, 1994 -1996 Vikariat in Bayern, 1995 Promotion in Heidelberg, 1996 -2003 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institutum Judaicum Delitzschianum in Münster, 2003 Habilitation in Münster, 2003 -2006 Pfarramt in Hessen-Nassau, 2006 -2008 Pfarrer im Hochschuldienst an der Goethe-Universität Frankfurt, seit 2009 Professor für Neues Testament an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Veröffentlichungen u. a. zu Paulus, Josephus und zum Hellenistischen Judentum. Manuel Vogel Zeitschrift für Neues Testament typoscript [AK] - 08.03.2012 - Seite 48 - 4. Korrektur 48 ZNT 29 (15. Jg. 2012) Kontroverse Glauben. Die soziale Desintegration, die Exklusion aus der paganen Mehrheitsgesellschaft schärfte die eigene Identität, neue soziale Bezüge traten an die Stelle der alten. Die Weigerung der frühen Christen, an Götter- und Kaiserkult zu partizipieren, hat die junge Religion stark gemacht. Dagegen musste ein Judenchrist erleben, dass die innovative Traditionsbindung seines Jesusglaubens auf jüdischer Seite mehrheitlich auf Ablehnung stieß, ja dass die Mehrheit seines Volkes gerade dabei war, das messianische Zeitalter zu verpassen. Der Graben, der sich in entscheidender geschichtlicher Stunde zwischen Gott und Gottesvolk auftat, musste eine kaum zu ertragende kognitive Dissonanz erzeugen, die der Judenchrist Paulus in Röm 9,2 f. gültig in Worte gefasst hat. Ein Heidenchrist hatte solche Schmerzen nicht. Analoges gilt auf der Ebene der Sinnkonstruktion: Es ist nicht einerlei, ob Judenchristen ihre eigene Tradition, in der sie bisher schon gelebt haben, kreativ weiterdachten, oder ob Heidenchristen, die zuvor noch nie etwas von Abraham, Mose und Elia gehört hatten, nahmen, was man ihnen vorsetzte. Sie gleichen den Predigthörern, die nicht wissen, dass die Predigt, der sie gerade lauschen, jemanden von Samstag auf Sonntag den Nachtschlaf gekostet hat. Selbstredend lässt sich der Idealtypus Judenchristen/ Heidenchristen vielfältig differenzieren, schon allein mit Blick auf die Gruppen der Sympathisanten, Gottesfürchtigen und Proselyten (s. u. zur These von W. Schmithals). Auch sind Gegenbeispiele unschwer zu finden. Die skizzierte Unterscheidung scheint mir dennoch zumindest heuristisch unverzichtbar, weil sonst schnell übersehen wird, dass die anfänglichen Transformationsprozesse des biblisch-jüdischen Glaubens hin zu einer ethnisch entgrenzten neuen Religion von Juden geleistet wurden, die ihre eigene Tradition zur Disposition gestellt und sozusagen mit hohem Risiko und mit erheblichem Konfliktpotential daran herumexperimentiert haben. 3. Ein Blick in die Forschungsgeschichte Frühe Zuschreibungen des Hebr an ein jüdisches oder judenchristliches Milieu schlagen sich bereits in der (wahrscheinlich sekundären) Überschrift »An die Hebräer« (griech. pros ebraious) nieder. Schon in der ältesten Handschrift, dem Papyrus Chester Beatty II (um 200), ist sie enthalten. Clemens von Alexandrien (gest. 215 n. Chr.) hielt den Hebr für ein von Paulus »an die Hebräer in hebräischer Sprache« verfasstes Schreiben, das von Lukas ins Griechische übersetzt worden sei (Euseb, h. e. 6,14,2). Grässer sieht in der Überschrift den ältesten »Kommentar« zum Hebr, der freilich von der heutigen Exegese »nicht ernst zu nehmen« sei, »da er aus der hebraisierenden Art des Hebr reichlich oberflächlich geschlossen hat, so oder ähnlich könnte christlich-theologisches Denken bei konvertierten Juden um die Wende vom 1. zum 2. nachchristlichen Jahrhundert ausgesehen haben« 5 . Die Gegenthese lautet, dass hier nicht Oberflächlichkeit am Werk war, sondern das Empfinden für einen Umgang mit biblisch-jüdischer Tradition, der innerhalb eines zunehmend heidenchristlich bestimmten Christentums eine Besonderheit darstellte. Bei Clemens war dieses Empfinden so ausgeprägt, dass er trotz des gehobenen Griechisch ein hebräischsprachiges Substrat annahm. Das Jüdische dieser frühchristlichen Schrift gewichtete er so stark, dass er sie gar an nichtchristliche Juden adressiert wähnte. Zwei dieser drei Annahmen haben sich nicht bewährt: Der Hebr ist nicht paulinisch, und er ist keine Übersetzung aus dem Hebräischen. Vertreten wurde und wird hingegen ein ursprünglich jüdisches bzw. judenchristliches Milieu. Im 19. Jh. war es Franz Delitzsch, der eine Jerusalemer Adresse sowie eine Frühdatierung auf Anfang der sechziger Jahre angenommen hatte. 6 Zu Beginn des 20. Jh. erneuerte Eduard Riggenbach 7 die Annahme judenchristlicher Adressaten. In den fünfziger Jahren votierten dann mit je eigenen Argumenten Yigael Yadin und Hans Kosmala für einen Adressatenkreis in einem »essenischen« Umfeld. 8 Kosmala wies für die Formulierungen in Hebr 6,1 (»Umkehr von den toten Werken« und »Glaube an Gott«), die üblicherweise als zweifelsfreies Indiz für heidenchristliche Adressaten verbucht werden, auf terminologische und sachliche Entsprechungen in den Qumrantexten (1QS, CD) hin, die »Umkehr« innerjüdisch ganz ähnlich zur Sprache bringen. 9 George Wesley Buchanan, Autor des 1972 in der Anchor Bible erschienenen Hebr-Kommentars, sah in den Adressaten eine Gruppe von Rückwanderern aus der Diaspora, die sich in messianisch-apokalyptischer Erwartung in Jerusalem niedergelassen hatten und ein strenges kommunitäres Leben pflegten. 10 Die Notiz in »Der Graben, der sich in entscheidender geschichtlicher Stunde zwischen Gott und Gottesvolk auftat, musste eine kaum zu ertragende kognitive Dissonanz erzeugen, die der Judenchrist Paulus in Röm 9,2 f. gültig in Worte gefasst hat.« Zeitschrift für Neues Testament typoscript [AK] - 08.03.2012 - Seite 49 - 4. Korrektur ZNT 29 (15. Jg. 2012) 49 Manuel Vogel Der Hebräerbrief als ständiger Gast im Haus der Kirche 10,34 »Den Raub eures Eigentums habt ihr mit Freuden akzeptiert [gr. prosdechō]« deutet er auf den freiwilligen Verzicht auf Privateigentum zugunsten der Gemeinschaft, und Hebr 12,22 »ihr seid gekommen zu dem Berg Zion und zu der Stadt des lebendigen Gottes« liest er so wörtlich, wie es dasteht: Der Hebr ist an eine messianische Synagoge in Jerusalem gerichtet. Dort und nur dort ist auch die himmlische Realität erfahrbar, von der in 12,22 f. anschließend die Rede ist, der himmlische Raum über der irdischen Gottesstadt und ihrem Tempel, der, so Buchanan, zur Zeit der Abfassung noch existierte. Für die Ablehnung seines Kultbetriebes findet er in der Gruppe um den »Lehrer der Gerechtigkeit« eine innerjüdische Vergleichsgröße. Ein synagogales Umfeld nahm in eigener Spielart auch Walter Schmithals an. Er suchte die Adressaten unter gottesfürchtigen Heidenchristen, die ob ihres Jesusglaubens aus der Synagoge ausgeschlossen wurden: »Die aus der Synagoge hinausgedrängten Christen halten ihre eigenen Versammlungen ab (10,25), und haben Gemeindeleiter (13,7.17), doch fällt es ihnen offenbar schwer, ihre Identität außerhalb der Synagoge zu gewinnen […], und hinsichtlich des christlichen Spezifikums sind sie […] so harthörig, dass man ihnen eigentlich sogar die jüdisch-synagogale Grundlage der christlichen Predigt wieder mitteilen müsste« 11 . Das ist eine interessante Konstruktion: Schmithals geht von heidenchristlichen Adressaten aus, aber eben von solchen, die jüdisch sein wollten, die auf dem besten Wege waren, es zu werden, und die nun, da das Jüdischwerden ihnen verwehrt wird, in ihrer christlichen Existenz dadurch bestärkt werden sollen, dass sie des essenziell Jüdischen ihres Jesusglaubens versichert werden. Ein neuerer Versuch der Einordnung des Hebr in das Judenchristentum des 1. Jh.s liegt mit der 2007 erschienenen Dissertation von Gabriella Gelardini vor. 12 In Anknüpfung an ältere Zuordnungen des Hebr zur Synagogenpredigt unternimmt Gelardini eine Näherbestimmung als Sabbat-Homilie zu Tisha be-Av. Der Hebr kommt damit innerhalb eines beziehungsreichen Text- und Sinnzusammenhangs rabbinischer Diskurse zu Bundesbruch und Bundeserneuerung zu stehen. Damit wird ein genuin jüdischer Interpretationskontext eröffnet, der ungeachtet evidenter chronologischer Probleme des Quellenvergleichs 13 bedenkenswert erscheint. Das ursprüngliche Publikum des Hebr sieht Gelardini nicht in Rückwanderern aus der Diaspora, sondern umgekehrt in deportierten palästinischen Juden, die als Gefangene des ersten jüdischen Krieges nach Rom gekommen waren. Der Rekurs auf den himmlischen Kult ist dann nicht tempelkritisch zu verstehen, sondern als Kompensation des im Krieg untergegangenen irdischen Heiligtums. Der Hebr ist unter diesen Voraussetzungen die Neuinterpretation des Jesusglaubens jenseits der Epochenschwelle der Tempelzerstörung. Die Überführung des irdischen in den himmlischen Kult ist dann kein im Grunde auswechselbares Sprachbild, sondern ein Versuch der Bewältigung einer für Juden existentiellen Katastrophe. Alle diese Zuweisungen sind anfechtbar, weil sie zu viel zu genau wissen wollen. Sie legen aber den Finger auf etwas für den Hebr Charakteristisches, das im produktiven Irrtum immer noch besser zur Geltung kommt, als unter der Voraussetzung, die Frage nach dem ursprünglichen Rezeptionsmilieu sei für das Verstehen des Hebr unerheblich oder gar abträglich. 4. Beobachtungen am Text 4.1 Die Väter Wer anfängt, den Hebr zu lesen, weiß sich unmittelbar gemeint: »Gott hat zu uns gesprochen«. Wenn man an den »Sohn« glaubt, durch den Gott geredet hat, vernimmt man unwillkürlich das »uns« inklusiv, sieht sich ohne viel Federlesens bei den Angeredeten, zumal die Zeitansage »in den letzten Tagen« immer nur die je eigene Gegenwart meinen kann. Der eschatologische Horizont wandert mit durch die Jahrhunderte. Die »Väter«, zu denen Gott »einst« geredet hat, sind dann die Patriarchen der Bibel, mit denen heutige Adressaten genauso wenig verwandt sind wie mit den Kirchenvätern. Diese gemeinchristliche Lektüre hat jedoch eine Vorgängerin, die im paulinischen Sprachgebrauch noch klar zutage liegt: »Ihnen gehören die Väter« (Röm 9,5). Das sagt der Judenchrist und Heidenapostel nicht von den Heiden, nicht unterschiedslos von allen Christen, sondern von den Juden als Volk, gleichviel ob jesusgläubig oder nicht (vgl. auch Röm 11,28; 15,8). So ist auch die Sprachregelung des lukanischen Doppelwerkes: Über die »Väter« sprechen in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle Juden mit Juden. In Hebr 1,1 f. deutet nichts auf eine übertragene Redeweise im Sinne von »Vätern im Glauben« oder dergleichen. 4.2 Same Abrahams Erst recht gilt dies für das Syntagma »Same Abrahams«, das sich in 2,16 nur durch einige schmerzhafte exegetische Verrenkungen gemeinchristlich neutralisieren lässt. Die Belege für »Same Abrahams« beziehen sich auch Zeitschrift für Neues Testament typoscript [AK] - 08.03.2012 - Seite 50 - 4. Korrektur 50 ZNT 29 (15. Jg. 2012) Kontroverse sonst auf geborene Juden, meinen also die ethnische Herkunft, so deutlich Röm 11,1 (Die Herkunft aus dem »Samen Abrahams« wird hier spezifiziert durch die Angabe »aus dem Stamm Benjamins«), 2Kor 11,22 (Die Paulusgegner betonen ihr Judesein) und Joh 8,33.37 (die »Juden, die an Jesus glauben«, verweisen auf ihr Judesein). In Röm 9,7 ff. wird der Terminus »Same Abrahams« zwar in einem ethnischen wie auch in einem übertragenen Sinn (Anteilhabe an der Verheißung) verwendet, doch ist hier die ethnische Abstammung von Abraham die notwendige Bedingung, zu der die hinreichende Bedingung der Abstammung von Isaak noch hinzu kommen muss. Auch hier geht es nicht um eine reine »Abrahamskindschaft im Glauben«, sondern um den Gedanken des Fortbestehens Israels in den Judenchristen. Zwar sagt Paulus in Gal 3,29 den Heidenchristen auf den Kopf zu: »Ihr seid Abrahams Same«, wie auch in Röm 4,13.16 »Same« und »Glaube« nahe beieinander stehen. Diese Stellen sind aber insofern die Ausnahme von der Regel, als sie gegen einen Sprachgebrauch verstoßen, für den Paulus selbst die wichtigsten Belege liefert. Für Hebr 2,16 wäre nichts verkehrter als ein Kurzschluss mit Gal 3 und Röm 4, denn der in Hebr 2,16 bestimmende Gegensatz zu den Engeln hebt ja gerade auf die irdisch-leibliche Verfasstheit des Gemeinten ab, nicht auf geistliche Teilhabe: Das »Volk«, dessen Sünden der Hohepriester Christus sühnt (2,17), besteht aus Menschen aus Fleisch und Blut, nicht aus leidensunfähigen Geistwesen. Abrahamskindschaft realisiert sich in der leidvollen Sequenz von Geborenwerden und Sterben, sie ist etwas ganz und gar Irdisches-- und damit etwas ganz und gar Jüdisches. 4.3 Die Engel Die ersten beiden Kapitel des Hebr enthalten eine weitschweifige Betrachtung zur Überlegenheit Christi über die Engel. Das biblisch-theologische Paradigma ist ein so brauchbarer wie unverzichtbarer Behelf für eine Interpretation dieser Passagen, die das unabweisbare religionsgeschichtliche Problem, warum denn das Thema Engel für die Adressaten so wichtig ist, ausklammert. Dass dieses Problem besteht, macht bereits der (in 1,4 vorbereitete) Auftakt in Hebr 1,5 deutlich: Die rhetorische Frage »Denn zu welchem von den Engeln hat er je gesagt […]? « setzt Vorannahmen auf Seiten der Adressaten voraus, die dem folgenden Beweisgang überhaupt erst Sinn und Notwendigkeit geben. Dass die Engel »nur als neutrale höchstrangige Kontrastfolie zu Jesus genannt werden«, ist, wie Herbert Braun zu Recht bemerkt, »unwahrscheinlich« 14 . In einer bestimmten Hinsicht, die aus dem Text selbst nicht zweifelsfrei zu erheben ist, entscheidet sich für die Adressaten an der Stellung Christi gegenüber den Engeln die Plausibilität des Bekenntnisses, auf das der Verfasser seine Adressaten verpflichten will. Gegenüber pagan-volksreligiöser oder frühgnostischer Engelverehrung verdient eine jüdische Herleitung den Vorzug. Die Vielgestaltigkeit jüdischer Engelvorstellungen seit spätalttestamentlicher Zeit lässt ein eindeutiges Bild kaum zu, eröffnet aber neue Sinnzusammenhänge, die das Verständnis des Hebr wesentlich bereichern können. So verweist Gabriella Gelardini auf die rabbinische (freilich schon im Exodusbuch angelegte) Auffassung von den Engeln als Gerichtsinstanzen und als Zeichen der Abwesenheit Gottes in Reaktion auf die Verehrung des goldenen Stierbildes durch die Israeliten. Die höherrangige Autorität des Sohnes (als priesterlicher Mittler) über diejenige der Engel (als Straforgane) erhält dann einen soteriologischen Akzent, der im direkten biblisch-theologischen Vergleich unbeachtet bleibt. 4.4 Der Tempelkult und seine Priesterschaft Im Rekurs auf Tempel und Priester entfaltet der Hebr eine Christologie ganz eigenen Zuschnitts. Es bedarf keines jüdischen Sozialisations- und Traditionshintergrundes, um diesen christologischen Entwurf zu verstehen. Man muss sich höchstens ein wenig in die einschlägigen alttestamentlichen Texte einarbeiten. Im Vergleich mit dem levitischen Priestertum und seinem Opfer wird dann deutlich, dass der Christusglaube die Institution eines blutigen Opferkults weit hinter sich lässt. Man kann etwas zugespitzt sagen: So wie Christus durch seinen Tod den Tod besiegt hat (Hebr 2,14), so hat er durch sein Opfer den Opferkult überwunden. Das Schlachten hat ein Ende. Die Gottesbeziehung bedarf seiner nicht mehr. Allerdings: Die Akribie, mit der der Verfasser des Hebr die Rechtmäßigkeit des himmlischen Priesterdienstes Christi aus der Ordnung des irdischen nachzuweisen bemüht ist, ist von anderer Art als eine biblische Theologie, die sich aus dem Fundus alttestamentlicher Sprachbilder bedient. Selbst die Substitution des blutigen Opfers kann nur dann akzeptiert werden, wenn ihre Konformität mit dem mosaischen Gesetz gesichert ist: »Abrahamskindschaft realisiert sich in der leidvollen Sequenz von Geborenwerden und Sterben, sie ist etwas ganz und gar irdisches - und damit etwas ganz und gar jüdisches.« Zeitschrift für Neues Testament typoscript [AK] - 08.03.2012 - Seite 51 - 4. Korrektur ZNT 29 (15. Jg. 2012) 51 Manuel Vogel Der Hebräerbrief als ständiger Gast im Haus der Kirche »Wenn das Priestertum verändert wird, dann muss auch das Gesetz verändert werden. Denn der, von dem das gesagt wird, der ist von einem anderen Stamm, von dem nie einer am Altar gedient hat. Denn es ist ja offenbar, dass unser Herr aus Juda hervorgegangen ist, zu welchem Stamm Mose nichts gesagt hat vom Priestertum.« (Hebr 7,12-14). Hier wird halachisch argumentiert, nicht schrifttheologisch. Die Umständlichkeit der Beweisführung kann kaum anders denn als Ausdruck eines intensiven Bewusstseins von Traditionstreue gegenüber dem überkommen eigenen sozialen und religiösen Lebenszusammenhang hinreichend erklärt werden. Für Nichtjuden wäre dieser Beweisschritt völlig entbehrlich. Zugleich ist die forcierte Traditionstreue Kehrseite einer denkbar tief greifenden Neuinterpretation des biblischjüdischen Religionssystems. Hier kommt judenchristliches Denken zum Tragen, das sich der halachischen Rechtmäßigkeit seines Standpunktes versichern will. 4.5 Heidenchristen in 3,12; 6,1; 9,14? Beansprucht aber der Hebr, die messianische Transformation des biblisch-jüdischen Glaubens an der Epochenschwelle der »letzten Tage« (1,1) gültig vollzogen zu haben, muss die Abgrenzung zu anderen Spielarten des Judentums denkbar scharf ausfallen. Der Hebr vollzieht diese Abgrenzung nicht mit dem Mittel der Polemik gegen nichtchristliche Juden, wie oft beobachtet wurde, wohl aber in Gestalt eindringlicher Mahnungen, nicht hinter den messianischen Glauben zurückzufallen. In 3,12 warnt der Verfasser vor einem »bösen Herz des Unglaubens, abzufallen von dem lebendigen Gott«. In 6,1 erinnert er die Adressaten an ihre »Umkehr von toten Werken« und ihren »Glauben an Gott«, und nach 9,14 hat das Blut Christi die Wirkung »unser Gewissen zu reinigen von toten Werken zu dienen dem lebendigen Gott«. In den Formulierungen der genannten Stellen sieht man üblicherweise Indizien für ein vorwiegend heidenchristliches Publikum. Dafür wird stets auf die teilweise übereinstimmende Wortwahl in 1Thess 1,9 verwiesen. Dort ist freilich, anders als im Hebr, ausdrücklich davon die Rede, dass die Adressaten umgekehrt sind zu Gott »weg von den Götzen«. Für den Hebr lautet die entscheidende Frage: Wie einschneidend kann religiöse Neuorientierung innerjüdisch aufgefasst und zur Sprache gebracht werden? Die Täuferbewegung ist ein Beispiel dafür, dass Vollzug oder Ablehnung einer solchen Neuorientierung zu einer Frage auf Leben und Tod erklärt werden konnten. Die Hauptschriften von Qumran sind außerdem ein Beleg für innerjüdische Reformgruppen, die sich selbst als Hort gottgefälligen Lebens betrachteten und das übrige Judentum scharf kritisierten. Der Beitritt zu dieser Gruppe wurde mit derselben »Bekehrungs«-Terminologie zum Ausdruck gebracht wie in den genannten Hebr-Stellen. Darauf hat bereits Hans Kosmala hingewiesen. 15 Weitere Belege aus jüdischen Quellen des 1. Jh.s kommen hinzu. 16 Die Annahme, der Hebr sei an eine überwiegend heidenchristliche Gemeinde gerichtet, liegt also nicht so nahe, wie weithin angenommen wird. 5. Resümee Das Thema dieser Kontroverse ist innerhalb der neutestamentlichen Wissenschaft bis heute strittig. In Auseinandersetzung mit Positionen, die den Hebr als Dokument heidenchristlicher Schrifttheologie lesen oder aber die gestellte Frage für verfehlt halten, weil sich der Hebr an »Christen überhaupt« richte, wurde im vorliegenden Beitrag die Auffassung vertreten, dass der Hebr einem vorrangig judenchristlichen Milieu zuzuordnen ist. Idealtypisch wurde eingangs ein messianisches Judentum, das im Bewusstsein konsequenter Traditionstreue die Erfahrung der Nichtakzeptanz im eigenen religiös-sozialen Umfeld erleidet, von einem heidenchristlichen Modus religiöser Konversion unterschieden, bei dem der Bruch mit dem religiös-sozialen Herkunftsmilieu programmatisch ist, und religiöse Identität durch die Krisenerfahrung radikaler sozialer Desintegration hindurch neu konstituiert und stabilisiert. Von daher kann man sagen, dass judenchristliche Theologie in ihren Gegenstand stärker involviert ist als heidenchristliche, die das ehedem Fremde eines universalisierten Judentums rezipiert. Der Hebr wurde sodann als ein herausragendes Beispiel judenchristlicher Deutungsarbeit gewürdigt, die die eigene Herkunft im Licht der messianischen »letzten Tage« neu zu verstehen suchte. Je länger diese »letzten Tage« sich hinzogen, desto stärker wurde der Hebr im Paradigma einer Schrifttheologie der zweiteiligen christlichen Bibel verstanden. Die Legiti- »Zugleich ist die forcierte Traditionstreue Kehrseite einer denkbar tief greifenden Neuinterpretation des biblisch-jüdischen Religionssystems. Hier kommt judenchristliches Denken zum Tragen, das sich der halachischen Rechtmäßigkeit seines Standpunktes versichern will.« Zeitschrift für Neues Testament typoscript [AK] - 08.03.2012 - Seite 52 - 4. Korrektur 52 ZNT 29 (15. Jg. 2012) Kontroverse mität dieser Lektüre wird nicht bestritten. Sie ist jedoch erst der zweite Akt in einem Drama, dessen ersten nicht zu vergessen eine Sache historischer Gerechtigkeit ist. Anmerkungen 1 E. Grässer, An die Hebräer (EKK XVII/ 1), Neukirchen- Vluyn/ Zürich 1990, 19. 2 H.Conzelmann/ A.Lindemann, Arbeitsbuch zum Neuen Testament, Tübingen 13 2000, 401. 3 U. Schnelle, Einleitung in das Neue Testament, Göttingen 7 2011, 409. 4 R. Bultmann, Theologie des Neuen Testaments, Tübingen 5 1965, 113 f. 5 E. Grässer, An die Hebräer (EKK XVII/ 1), Neukirchen- Vluyn/ Zürich 1990, 45. 6 F. Delitzsch, Commentar zum Briefe an die Hebräer, Leipzig 1857, 705. 7 E. Riggenbach, Der Brief an die Hebräer (KNT XIV), Leipzig 1913, XXIII. 8 Y. Yadin, The Dead Sea Scrolls and the Epistle to the Hebrews (ScrHie 6), Jerusalem 1958, 36-55. 9 H. Kosmala, Hebräer-- Essener-- Christen (StPB 1), Leiden 1959, 30-38. 10 G.W. Buchanan, To the Hebrews (AncB), Garden City 1972, 255-267. 11 W. Schmithals, Neues Testament und Gnosis (EdF 208), Darmstadt 1984, 139. 12 G. Gelardini, »Verhärtet eure Herzen nicht«: Der Hebräer, eine Synagogenhomilie zu Tischa be-Aw, Leiden 2007. 13 Hier liegt der Hauptkritikpunkt der Rezension von Carl Mosser in RBL 12/ 2009. In einer bisher unveröffentlichten Studie (vorab zugänglich unter http: / / eastern.academia. edu/ CarlMosser/ Papers/ 115 948/ _Torah_Instruction_Discussion_and_Prophecy_in_First-Century_Synagogues_) vertritt er die These, dass eine formelle Synagogenpredigt an der Wende zum 2. Jh. überhaupt erst aufkam. 14 H. Braun, An die Hebräer (HNT 14), Tübingen 1984, 46. 15 H. Kosmala, Hebräer-- Essener-- Christen (s. o. Anm. 9), 32. 16 M. Vogel, Das Heil des Bundes (TANZ 18), Tübingen 1996, 318 f. Attempto Verlag • Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen • info@attempto-verlag.de • www.attempto-verlag.de Att t V l Di Eve-Marie Engels/ Oliver Betz/ Heinz-R. Köhler/ Thomas Potthast (Hg.) Charles Darwin und seine Bedeutung für die Wissenschaften 2011, 291 Seiten, € (D) 29,90/ SFr 41,90; ISBN 978-3-89308-415-9