eJournals ZNT – Zeitschrift für Neues Testament 15/29

ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
2012
1529 Dronsch Strecker Vogel

Der Hebräerbrief im Kontext der neueren englischen Forschung

2012
David M.  Moffitt
Zeitschrift für Neues Testament typoscript [AK] - 08.03.2012 - Seite 2 - 4. Korrektur 2 ZNT 29 (15. Jg. 2012) 1. Hinführung Das Interesse der neutestamentlichen Exegese am Hebräerbrief ist in den letzten Jahrzehnten kontinuierlich gestiegen. Oft als das »Rätsel des Neuen Testaments« 1 bezeichnet, erlangt der Hebräerbrief allmählich die Aufmerksamkeit, die er verdient. Tatsächlich können viele der derzeit zentralen historischen und theologischen Fragen der neutestamentlichen Theologie (z. B. die Beziehung der frühchristlichen Bewegung zu ihrem jüdischen Kontext, die hermeneutische Aneignung der jüdischen Schrift durch das frühe Christentum, die Vielzahl der theologischen und christologischen Bekenntnisse innerhalb der frühchristlichen Bewegung, die Frage einer frühchristlichen Identität) an jenem »Wort der Ermahnung« (Hebr 13,22) erprobt werden. Dieser kurze Aufsatz hat nicht den Anspruch, die gesamte aktuelle und relevante englischsprachige Literatur zum Hebräerbrief zu erfassen. Trotz der Beschränkung des Aufsatzes auf Untersuchungen und Kommentare dieses Jahrhunderts ist die Fülle der Forschungsliteratur für einen solch kurzen Überblick zu groß. 2 Stattdessen wurden einige der Schlüsselfragen zum Hebräerbrief ausgewählt, die in den gegenwärtigen englischsprachigen Publikationen diskutiert werden. Folgende Aspekte sollen in diesem Aufsatz behandelt werden: 1.) Verfasserschaft, Adressaten, Gattung und historischer Hintergrund des Hebräerbriefes und 2.) bedeutsame theologische und hermeneutische Probleme. 2. Aktuelle Diskussionen zu Gattung und historischem Hintergrund Mit einiger Sicherheit kann man sagen, dass der Verfasser des Hebräerbriefes an eine christliche Gemeinde schrieb. Doch wann wurde der Brief verfasst, wer ist der Autor und wo lebten die ursprünglichen Adressaten? Zusätzlich muss sowohl nach der Gattung und der Intention des Hebräerbriefes als auch nach den historischen Zusammenhängen gefragt werden. Im ersten Jahrzehnt dieses Jahrhunderts sind bereits einige englischsprachige Kommentare 3 und mindestens zwei kurze Einführungen zum Hebräerbrief 4 erschienen. In jeder dieser Veröffentlichungen werden die oben genannten Fragen thematisiert. Mit wenigen Ausnahmen sind sich die Autoren einig darin, dass der Verfasser des Hebräerbriefes als völlig unbekannt zu gelten habe; Paulus kann als Verfasser ausgeschlossen werden. 5 Zur Entstehungszeit des Hebräerbriefes können keine sicheren Aussagen gemacht werden, wenngleich es einen wachsenden Trend zu einer Datierung vor der Zerstörung des Jerusalemer Tempels im Jahre 70 gibt. 6 Genauso wenig ist der Ort und die Konstitution der ursprünglichen Adressaten zweifelsfrei zu bestimmen. Einige der genannten Exegeten plädieren nach wie vor für Rom als den wahrscheinlichsten Ort der Adressaten, 7 oder aber für Jerusalem. 8 Andere, so auch der Autor dieses Textes, sind mit den Worten Luke Timothy Johnsons »damit zufrieden, über die geographische Lokalisierung [der Adressaten] nichts sicheres zu wissen«. 9 Dasselbe muss, so Johnson, über die Adressaten hinsichtlich ihres »genauen sozialen Umfelds und sogar ihres ethnischen Hintergrundes« 10 gesagt werden. Doch auch wenn die aktuelle Reflexion dieser Einleitungsfragen nicht zu neuen Kenntnissen oder innovativen Vorschlägen geführt hat (woran auch künftiges Hypothesenwerk, sofern es ohne neues Quellenmaterial auskommen muss, nichts ändern wird), liegen einige innovative und interessante Studien zum konzeptuellen Hintergrund des Verfassers des Hebräerbriefes vor. Diese Untersuchungen lassen auf neue Diskussionen und Auseinandersetzungen um den Hebräerbrief hoffen. Clare K. Rothschild vertritt die provokative These, dass die traditionelle Verfasserzuschreibung des Hebräerbriefes als Brief des Paulus keinesfalls zufällig in den Text eingetragen wurde, sondern vielmehr vom Verfasser des Briefes bewusst im Text angelegt worden sei. 11 Der Hebräerbrief sei mithin als ein Beispiel paulinischer Pseudepigraphie zu betrachten. Aus diesem Grund sei als konzeptueller Hintergrund der Schrift eine von Paulus stark beeinflusste Gruppierung des frühen Christentums anzunehmen, die vorrangig durch die paulinischen Briefe und die Paulusdarstellung der Apostelgeschichte geprägt wurde. Dass der Verfasser des Hebräerbriefes als Paulus identifiziert werden wollte, erhebt Rothschild aus dem brieflichen Charakter von Hebr 13 (Kap. 13 wirkt so, als komme es nach den David M. Moffitt Der Hebräerbrief im Kontext der neueren englischen Forschung Ein kurzer Überblick über die wichtigsten Forschungsprobleme Neues Testament aktuell Zeitschrift für Neues Testament typoscript [AK] - 08.03.2012 - Seite 3 - 4. Korrektur ZNT 29 (15. Jg. 2012) 3 David M. Moffitt Der Hebräerbrief im Kontext der neueren englischen Forschung phie benötige keine explizite Angabe eines falschen Verfassers. Stattdessen genügten die literarische Entfaltung der Nachahmung und Anklänge an einen bekannten Verfasser. Weite Teile ihres Buches sind dem Ausweis möglicher Kontaktstellen zwischen den paulinischen Briefen und dem Hebräerbrief gewidmet. Unabhängig vom Problem der Anonymität fallen allerdings überraschende Unstimmigkeiten zwischen dem Hebräerbrief und Paulus-- sowohl dem Paulus, dem wir in seinen Briefen begegnen, als auch dem Paulusbild, das die Apostelgeschichte entwirft-- auf. Beispielsweise ist es sehr schwer nachvollziehbar, wie der Verfasser des Hebräerbriefes, sofern er sich bewusst als Paulus darstellen wollte, den Fehler begehen konnte, sich selbst mithilfe von Konzepten zu beschreiben, die einen Christen aus der zweiten Generation suggerieren. Der Verfasser behauptet schlicht, dass ihm (als einer der »wir«) die Heilsbotschaft von denen bestätigt worden sei, die sie vom Herrn gehört hatten (Hebr 2,3). Sowohl die Apostelgeschichte als auch die paulinischen Briefe stimmen darin überein, dass Paulus seinen Auftrag durch eine direkte Offenbarung Jesu Christi bekam. 13 Warum also spricht der Verfasser von sich selbst als einer derer, denen die Botschaft Jesu von anderen bestätigt worden ist, die wiederum die Botschaft direkt von Jesus hörten? Hätte er nicht von sich selbst als einem derjenigen reden müssen, die den Herrn gehört haben und deren eigene Botschaft für die impliziten Leser als bestätigt galt? Sollte der Verfasser tatsächlich das Ziel gehabt haben, sich als Paulus auszugeben, hat er dies in 2,3 nicht sonderlich überzeugend getan. Es besteht die Möglichkeit, dass der Verfasser schlichtweg einen ungewollten aber vielsagenden Fehler gemacht hat. Da aber auch der explizite Anspruch auf die Verfasserschaft durch Paulus fehlt, ist dieses Detail leichter zu erklären als ein Hinweis gegen die paulinische Verfasserschaft oder gegen die Pseudepigraphie. Noch unverständlicher ist in diesem Zusammenhang vielleicht sogar die Frage, wie es sein kann, dass der Verfasser, der, so Rothschild, in den paulinischen Briefen und der Apostelgeschichte außerordentlich gut bewandert gewesen sein müsste, zentrale Problemstellungen dieser Texte vollständig ignoriert hat. Wäre es das erklärte Ziel gewesen, einen pseudepigraphischen Brief zu schreiben, der die Gedanken des Paulus auf adäquate Weise formuliert und erklärt, wäre eine Auseinandersetzung mit den wichtigen paulinischen Fragen vorangegangenen Kapiteln aus dem Nirgendwo), aber vor allem aus der Art und Weise, wie der Schluss an die paulinischen Briefe erinnert und Timotheus erwähnt. Der Text, so Rothschild, sei wahrscheinlich als eine Ergänzung verfasst worden, die in eine frühe Paulusbriefsammlung integriert werden sollte. Das übergeordnete Ziel des Verfassers sei eine Harmonisierung widersprüchlicher Aussagen innerhalb der paulinischen Briefe aber auch der konkurrierenden Pauluskonzeptionen in den Briefen und in der Apostelgeschichte gewesen. Rothschild nimmt an, dass der Hebräerbrief verfasst worden sei, um das als unvollständig wahrgenommene Ende der Apostelgeschichte zu füllen: Der Hebräerbrief sollte eine Rede liefern, wie sie bereits der Verfasser der Apostelgeschichte Paulus in Rom an die Heiden hätte halten lassen sollen. 12 Rothschild präsentiert eine interessante, neue Perspektive im Hinblick auf Struktur und Kontext des Hebräerbriefes. Dennoch müssen einige Bedenken vorgebracht werden. Es bleibt verwunderlich, wie eine anonyme Schrift pseudepigraphisch sein kann. Rothschild führt einen plausiblen Grund hierfür an. Pseudepigra- Dr. David M. Moffitt, geb. 1974, Assistenzprofessor für Neues Testament und Griechisch an der Campell University Divinity School. 1995 B. A. (Grove City College), 2001 M. A. (Trinity Evangelical Divinity School), 2003 Master of Theology (Duke Divinity School), 2010 Ph. D. (Duke University). 2006-2007 Studienjahr als Fulbright Scholar in Tübingen. Er ist Autor von Atonement and the Logic of Resurrection in the Epistle to the Hebrews, Leiden 2011, sowie einiger Beiträge in JBL und ZNW. Forschungsinteressen: Hebräerbrief, Matthäusevangelium, jüdische Apokalyptik. David M. Moffitt »Clare K. Rothschild vertritt die provokative These, dass die traditionelle Verfasserzuschreibung des Hebräerbriefes als Brief des Paulus keinesfalls zufällig in den Text eingetragen wurde, sondern vielmehr vom Verfasser des Briefes bewusst im Text angelegt worden sei.« Zeitschrift für Neues Testament typoscript [AK] - 08.03.2012 - Seite 4 - 4. Korrektur 4 ZNT 29 (15. Jg. 2012) Neues Testament aktuell wie z.-B. den Beziehungen zwischen Juden und Heiden, dem Status der Heiden in Bezug auf das Gesetz, den Spannungen zwischen Paulus und anderen jüdischen Nachfolgern Jesu und dem Problem der Beschneidung unumgänglich gewesen. Sowohl in den paulinischen Briefen als auch in der Apostelgeschichte werden diese Themen breit ausgeführt. Dazu kommt, dass der Verfasser des Hebräerbriefes sogar explizit die Rolle des Mosaischen Gesetzes und einiger seiner zentralen Institutionen diskutiert (vgl. v. a. Hebr 7-9). 14 Doch selbst an diesem Punkt, an dem man erwarten würde, dass Paulus seine Gedanken über den Status der Heiden und über die Rolle der Beschneidung äußert, schweigt der Verfasser über diese Themen. Ich möchte dieses Schweigen mit dem nicht bellenden Hund in Sir Arthur Conan Doyles berühmter Geschichte »Silver Blaze« aus Sherlock Holmes vergleichen. Das Schweigen des Verfassers schwächt die Plausibilität der These Rothschilds. Rothschilds These bleibt den Beweis schuldig. Es ist schwer zu belegen, dass eine Nachahmung und Anspielung auf Paulus bis hin zur intendierten Pseudepigraphie (d. h. zur bewussten Absicht des Verfassers, seine Schrift als die des Paulus zu präsentieren) vorliegt, vor allem wenn eine explizite Verfasserzuschreibung fehlt. Nichtsdestoweniger gibt ihr Buch der Forschung neue Impulse, mögliche Einflüsse paulinischer Tradition auf den Verfasser eingehender zu ergründen. Andere, kürzlich erschienene Untersuchungen haben die Aufmerksamkeit auf die Bedeutung der griechisch-römischen Kultur für das Verständnis des Hebräerbriefes gelenkt. Patrick Gray etwa untersucht die Verwendung der Konzepte Furcht und Furchtlosigkeit im Hebräerbrief, wie sie für die hellenistische Moralphilosophie typisch sind. 15 Hauptsächlich geht es um das Motiv der Furcht im moralphilophischen Diskurs zum Aberglauben, vor allem bei Plutarch. Namentlich geht es Gray darum, wie Furcht das Verhalten im Angesicht von Leiden und Tod bestimmt und die Haltung zur Gottheit prägt. Es gelingt ihm, mit gebührendem Abstand zur parallelomania Analogien und Differenzen herauszuarbeiten. Nach Gray ist es eines der Ziele des Hebräerbriefes aufzuzeigen, dass der Glaube an Jesus keine Form des Aberglaubens ist, sondern vielmehr-- auf Grundlage der sühnenden Tat Jesu-- die angemessene Balance zwischen der Furcht vor Gott und dem Glauben an Gott bildet. Diese »Gottesfurcht« (eulabeia) ermöglicht es dem Glaubenden, so in der Welt zu leben, wie es Gott gefällt. Jason A. Whitlark wendet das antik-mediterrane Denken in reziproken Beziehungen auf das Motiv der Geduld im Hebräerbrief an. 16 Whitlark zeigt einerseits, dass der Hebräerbrief einen kulturellen Hintergrund voraussetzt, in dem Loyalität und Treue durch die Etablierung reziproker Verpflichtungen (besonders durch das Mittel geschuldeter Dankbarkeit) gesichert werden, und zwar sowohl zwischen den Angehörigen verschiedener sozialer Schichten wie auch im Verhältnis zu Gott/ den Göttern. Auf der anderen Seite betont Whitlark, dass der Verfasser des Hebräerbriefes diese sozialen Mechanismen äußerst kritisch beurteilt und an einem zentralen Punkt sogar bestreitet, dass sie überhaupt funktionieren: Whitlark führt aus, dass die Reziprozitätssysteme auf dem Glauben basieren, dass man Menschen dazu veranlassen kann, in ihren Bindungen und Beziehungen ergeben und treu zu bleiben (er bezeichnet dies als eine optimistische Anthropologie). Im Gegensatz dazu vertrete der Hebräerbrief eine pessimistische Anthropologie, nach der die Menschen aus eigener Kraft nicht treu sein und in ihren Bindungen und Verpflichtungen ausharren könnten, besonders nicht gegenüber Gott. Der Verfasser habe sich diese Sichtweise aus jüdischer Perspektive angeeignet. Nach seiner Auffassung könne keine göttliche Wohltat groß genug sein, um dauerhafte menschliche Treue zu motivieren, weil die Menschen aus eigenem Vermögen nicht in der Lage sind, ihre Verpflichtungen innerhalb von Beziehungen zu erfüllen. Nur wenn Gott selbst Menschen dazu befähigt dadurch, dass er die menschliche Verfassung grundlegend ändert, können Menschen treu sein. Nicht durch die Verpflichtung zur Dankbarkeit wird Treue möglich, sondern durch den von Gott selbst gestifteten neuen Bund, der eine bis in den Bereich des Gewissens reichende Sündenvergebung umfasst. Als letztes Beispiel eines neuen Zugangs zum griechisch-römischen Hintergrund des Hebräerbriefes sei Kevin B. McCrudens Untersuchung angeführt. McCruden befasst sich mit der Sprache der Vollendung (teleioun) in den Papyrusurkunden aus Ägypten im Blick auf einen möglichen Gewinn für das Verständnis des Hebräerbriefes. Er führt aus, dass das Verb teleioun (»vollenden«) in juristischen Kontexten einen Nachweis bezeichnet (d. h. eine bindende und öffentlich zugängliche Bestätigung), dass ein Vertrag oder eine andere rechtlich bindende Verpflichtung (wie z.-B. eine Geschäftsabwicklung oder ein Kredit) auf solche Weise getätigt wurde, dass sie gültig und rechtskräftig sind. Die Bedeutung für den Hebräer- »Andere, kürzlich erschienene Untersuchungen haben die Aufmerksamkeit auf die Bedeutung der griechischrömischen Kultur für das Verständnis des Hebräerbriefes gelenkt.« Zeitschrift für Neues Testament typoscript [AK] - 08.03.2012 - Seite 5 - 4. Korrektur ZNT 29 (15. Jg. 2012) 5 David M. Moffitt Der Hebräerbrief im Kontext der neueren englischen Forschung brief sieht er darin, dass die Liebe Jesu für die Menschen in seinem Leiden und Sterben öffentlich dargestellt und bestätigt-- vollendet-- wurde. Das bedeute letztlich, dass die Vollendung Jesu nicht so sehr eine Aussage über sein Geschick als über seinen Charakter ist. 17 McCruden eröffnet der Forschung mit seiner Untersuchung der Papyri einen neuen Zugang zur Vorstellung der Vollendung Jesu im Hebräerbrief und erinnert außerdem an die weitreichende Bedeutung dieses nichtliterarischen Materials für die Erhellung der Sozialgeschichte des frühen Christentums. Er rechnet damit, dass die Anwendung eines juristischen terminus technicus auf die Erklärung des Hebräerbriefes in der Forschung nicht unwidersprochen bleiben wird, und betont, dass seine Ergebnisse einer Überprüfung am Text des Hebräerbriefes standhalten müssen. 18 Ein Aspekt, der von McCruden jedoch im Interesse seiner These noch eingehender bedacht werden muss, ist die Frage der Herkunft der Papyrusurkunden. Man kann nicht unbesehen davon ausgehen, dass die Benutzung eines juristischen Terminus in Fayum im frühen römischen Ägypten in der weiteren griechisch-römischen Welt in eben dieser Bedeutung bekannt war. Das wäre erst zu zeigen. Außerdem führt McCruden Stellen im Hebräerbrief auf, an denen die Bezeugung und die Gewissheit christologischer Inhalte problematisiert werden, z. B. wenn der Verfasser des Hebräerbriefes den Eid Gottes erwähnt, der den priesterlichen Status Jesu garantiert (Hebr 7,20 ff.). Er erklärt aber nicht, aus welchem Grund der Verfasser an dieser Stelle die Sprache der Vollendung nicht verwendet. Wenn die Verwendung von teleioun im Hebräerbrief für eine demonstrative Bezeugung analog zur Bedeutung in den Papyrusurkunden steht, verwundert es, warum der Verfasser nicht auch den teleioun-Begriff verwendet, wenn er Gottes demonstrative Bezeugung des priesterliches Status Jesu diskutiert. Ein weiterer konzeptueller Hintergrund des Hebräerbriefes, der neuerdings Aufmerksamkeit auf sich gezogen hat, ist die jüdische Apokalyptik. Freilich werden noch immer Untersuchungen dargeboten, die die fundamentale Bedeutung des Platonismus für den Hebräerbrief betonen (so z.-B. die Kommentare von Johnson und Thompson und die Einführung von Schenck), 19 doch gibt es einige ertragreiche neuere Arbeiten, die die Beziehung zwischen der Eschatologie und Kosmologie des Hebräerbriefes und den apokalyptisch orientierten Quellen eingehender betrachten. Scott D. Mackie vertritt die These, dass eine Variation der Zwei-Äonen-Eschatologie des Judentums zentral für die Ermahnungen im Hebräerbrief ist. 20 Jesu Tod und Erhöhung markierten das Ende des gegenwärtigen, begrenzten Äons und das Hereinbrechen des kommenden, ewigen Äons, des Königreiches Gottes. Die Fülle des ewigen Lebens wird erst noch kommen, aber schon jetzt leben die Gläubigen in den »letzten Tagen« (Hebr 1,2). Mackie ordnet in seiner Monographie durchgängig die mahnenden Abschnitte und die Hohepriester-Christologie dem Beginn des Eschatons zu, das maßgeblich durch den Tod und die Erhöhung Jesu angebrochen ist. Die mahnende Bedeutung des anbrechenden Äons wird in vielerlei Hinsicht spürbar. So rühre die dringliche Sprache des Verfassers (vgl. vor allem 9,24-28 und 10,19-39) unmittelbar von seiner Überzeugung her, dass die Fülle des kommenden Äons in jedem Moment sichtbare Wirklichkeit werden könne. Die eindringliche Mahnung, weiterzugehen und nicht zurückzufallen, rührt von diesem Bewusstsein der Nähe des neuen Äons her. Die Stellung der Adressaten zu Gott wird für die Ewigkeit und unwiderruflich festgelegt, sobald sich der Übergang ins Eschaton ereignet. Diese von Naherwartung gekennzeichnete Eschatologie ist jedoch nicht nur Anlass für dringliche Ermahnungen. Der hohepriesterliche Status Jesu verheißt die Verwirklichung eines himmlischen Äons und ist deshalb ebenso Anlass für Ermutigung und Hoffnung. Dass Jesus bereits in diese Wirklichkeit eingetreten ist, dass sie bald für alle offenbart wird, und dass er als Hoherpriester wirkt, bedeutet für die Leser, dass sie schon jetzt der Erlösung und der Kraft des neuen Äons teilhaftig werden können. Weil Jesus bereits im himmlischen Heiligtum weilt, haben die Adressaten direkten Zugang zu Gott. Darüber hinaus ist der Hohepriester zugleich der inthronisierte Sohn Gottes. Die Leser könnten also Trost darin finden, dass der herrschende Jesus auch ihr Bruder ist. Mackies Monographie argumentiert plausibel für den Einfluss jüdischer apokalyptischer Eschatologie auf den Hebräerbrief. Seine Zwei-Äonen-Terminologie mag die apokalyptische Periodisierung des Judentums, in der die Geschichte häufig in verschiedene separate Äonen eingeteilt wird, nicht völlig angemessen wiedergeben (man beachte, dass Hebr 9,26 nicht vom Ende des Äons sondern vom Ende der Äonen spricht), doch sein übergeordnetes Argument für die Maßgeblichkeit des letzten Äons in Relation zum vorhergehenden ist gleichwohl zutreffend. Seine Untersuchung trägt somit wichtige Aspekte zu unserem Verständnis des Hebräerbriefes bei, indem er aufzeigt, dass das ethische Element des Briefes von der apokalyptischen Eschatologie nicht getrennt werden kann. Die Ethik wird durch die Eschatologie begründet und an ihr ausgerichtet. Eric F. Masons Arbeit über den Einfluss des jüdischen Messianismus auf die priesterliche Christologie Zeitschrift für Neues Testament typoscript [AK] - 08.03.2012 - Seite 6 - 4. Korrektur 6 ZNT 29 (15. Jg. 2012) Neues Testament aktuell des Hebräerbriefes untersucht auf ähnliche Weise die Analogien zwischen dem Hebräerbrief und der von apokalyptischen Vorstellungen geprägten jüdischen Literatur. Mason zieht verschiedene Texte des Judentums aus der Zeit des zweiten Tempels heran (vor allem Texte aus Qumran), die priesterliche messianische Traditionen und die Vorstellung des Melchisedek als einer Engelsfigur enthalten. Er vertritt die These, dass die in diesen Schriften belegte Reflexion über Melchisedek die naheliegendste Analogie für die priesterliche Christologie im Hebräerbrief darstellt. Er vermeidet es jedoch, eine direkte Abhängigkeit des Hebräerbriefes von den Schriften aus Qumran zu postulieren. Stattdessen schlägt er vor (und dies erscheint mir plausibel), dass diese Texte Variationen der Messias- und Melchisedek-Traditionen darstellen, die dem Verfasser des Hebräerbriefes bekannt waren. Von besonderem Interesse ist die Vorstellung einer himmlischen Priesterschaft, die sich aus Engeln und Melchisedek als einem der höchsten Engel rekrutiert (Vgl. das aramäische Levi-Dokument, Testament Levis, Sabbatliturgie, 11Q Melchisedek). Derartige Vorstellungen liegen auch dem Hebräerbrief zugrunde, wenn Jesus als der große himmlische Hohepriester dargestellt werde. Ein weiterer Punkt, der hier bezüglich des jüdischen Hintergrunds des Hebräerbriefs angesprochen werden sollte, ist mein eigener Vorschlag zur Frage nach der Intention des Verfassers. In meiner kürzlich erschienenen Monographie, die ich unten diskutiere, beschäftige ich mich direkt mit dem Einfluss der jüdischen Apokalyptik. 21 In meinem Aufsatz hingegen konzentriere ich mich auf die Bedeutung der himmlischen Sphären im Zusammenhang mit Jesu Hohepriesteramt. Ich ziehe die Möglichkeit in Betracht, dass das Herz der Predigt eine Apologie für die Legitimität des hohepriesterlichen Status Jesu ist. 22 Ein Problem, mit dem die frühen Christen im jüdischen Kontext konfrontiert wurden, wenn sie über Jesus als einen Priester sprachen, war das der Genealogie. Jesus kam aus dem Stamm Juda-- ein Stamm, über den Mose hinsichtlich eines etwaigen priesterlichen Dienstes keine Aussage macht (Hebr 7,14). Mit anderen Worten liegt es nicht auf der Hand, dass Jesus ein Priester sein konnte (geschweige denn ein Hohepriester); das Mosaische Gesetz verbietet es ihm, am Altar zu dienen. Der Verfasser ist sich bewusst, dass nach dem Gesetz nur Nachkommen Aarons als Priester dienen dürfen (Vgl. Hebr 7,1-14; 8,4). Er tut das Gesetz aber nicht einfach ab, indem er behauptet, dass Mose keine Autorität habe, Jesus das Hohepriesteramt zu untersagen (Vgl. vor allem 8,4; hier verbietet das Gesetz, dass Jesus ein Priester auf Erden ist). Stattdessen konstruiert der Verfasser ein exegetisches Argument, um zu beweisen, dass Jesus ein Priester sein kann, nämlich weil es ein anderes Priesteramt gibt-- das des Melchisedek. Melchisedek war nicht Priester aufgrund seiner Genealogie. Er hatte nicht einmal eine Genealogie (7,3.6). Außerdem war er Priester, bevor Levi überhaupt geboren wurde, und man kann sagen, dass, als Abraham Melchisedek (dem Vorfahre Levis) den Zehnten gab, Levi und seine Nachkommen Melchisedek den Zehnten gaben (7,9 f.). Die Strategie des Verfassers ist es zu zeigen, dass Jesus zur gleichen Priesterordnung (Ps 110,4; Hebr 5,6.10; 6,20; 7,16) wie Melchisedek gehört. Dieses Priesteramt ist offenkundig nicht genealogisch begründet (da sonst Melchisedek nicht dazu gehören könnte), sondern durch die Befähigung, für immer Priester zu »bleiben« (Vgl. 7,3 und 7,23f ), aufgrund immerwährenden »Lebens« (Vgl. 7,8 und 7,16.25). Da Jesus diese Qualität des unzerstörbaren Lebens hat (7,16), wird er als Priester in Melchisedeks Ordnung ausgezeichnet. Damit wäre bewiesen, dass die genealogischen Vorschriften des Gesetzes Jesus nicht daran hindern, Priester zu sein, obwohl er aus dem Stamm Juda und nicht aus dem Stamm Levi kommt. Diese Beweisführung fungiert offenkundig als Legitimation des priesterlichen Status Jesu trotz der Vorschriften des Gesetzes. Fragt man sich nun, warum der Verfasser ein solches Argument überhaupt vorbringen musste, liegt es nahe, dass es jemanden gab, der das Bekenntnis, Jesus sei ein Hohepriester, auf der Grundlage des Gesetzes bestritten hat. Darüber hinaus erscheint ein solches Bekenntnis vor einem jüdischen Hintergrund, in dem das Mosaische Gesetz als autoritativ angesehen wurde, sehr wahrscheinlich. Der Verfasser des Hebräerbriefes ist also vermutlich in eine innerjüdische Debatte über Gesetz und Exegese involviert. Ich komme daher zu der Annahme, dass der Hebräerbrief in einem Kontext entstand, in dem Judenchristen von ihrem Bekenntnis zu Jesus als dem Hohepriester abgebracht wurden entweder 1) durch Juden, die Christus nicht folgten und die diesen Aspekt des Christentums als eine Schwäche betrachteten, die das ganze Bekenntnis zum Messias Jesus in Frage stellte, oder 2) durch andere Juden, die Jesus als Messias bekannten, die aber bestritten, dass er zugleich Hohepriester sei. 23 3. Theologische und hermeneutische Fragen der aktuellen Forschung Der vorangehende Abschnitt sollte einen Einblick in den derzeitigen Stand der englischsprachigen Diskussion über die relevanten Einleitungsfragen geben. Nun geht es um einige wichtige theologische und herme- Zeitschrift für Neues Testament typoscript [AK] - 08.03.2012 - Seite 7 - 4. Korrektur ZNT 29 (15. Jg. 2012) 7 David M. Moffitt Der Hebräerbrief im Kontext der neueren englischen Forschung neutische Debatten über den Schriftgebrauch. Selbstverständlich können historische Aspekte nicht völlig vernachlässigt werden, spielen aber nachfolgend keine hervorgehobene Rolle mehr. 3.1 Das Verhältnis zum Alten Testament In den letzten zwei Jahrzehnten wurden von britischen Exegeten zwei herausragende Monographien vorgelegt, die sich mit der Benutzung der jüdischen Schriften im Hebräerbrief beschäftigen. David M. Allen (nicht zu verwechseln mit dem amerikanischen Exegeten David L. Allen, dessen Kommentar in Anm. 5 aufgelistet ist) hat in seiner Dissertation die Bedeutung des Deuteronomiums für die Ermahnungen im Hebräerbrief untersucht. 24 In Anlehnung an die aktuelle Intertextualitätsdebatte untersucht Allen, auf welche Weise der Hebräerbrief Elemente aus dem Deuteronomium aufgreift und seiner Argumentation dienstbar macht. Hierbei unterscheidet er (a) Zitate und Anspielungen (besonders aus Dtn 29 und 32), (b) deuteronomische Motive (z. B. das Land, Segen-Fluch- Metaphorik) und rhetorische Ausdrücke (z. B. Elemente einer Abschiedsrede, die auf eine neue Führungsperson hindeuten, wie Mose auf Josua-- dessen Name im griechischen Text »Jesus« ist), und (c) Gemeinsamkeiten zwischen der narrativen Situation Israels im Deuteronomium und derjenigen der Adressaten des Hebräerbriefs (z. B. die Bereitschaft der Adressaten, ins Gelobte Land einzuziehen). Allens Dissertation stellt nicht nur einen Beitrag zur Hebräerbriefexegese dar, indem er die Bedeutung des Deuteronomiums als Intertext für den Hebräerbrief ausweist. Er macht auch darauf aufmerksam, auf welch komplexe und subtile Weise ein antiker Autor die Schrift verwenden konnte. Intertextuelle Beziehungen beschränken sich keineswegs nur auf Zitate, Echos und Anspielungen. Allen macht deutlich, wie umfangreich und bedeutsam solche Beziehungen sein können. Ein weiterer wertvoller Beitrag zur gegenwärtigen Hebräerbriefforschung ist Susan E. Dochertys Arbeit über die in der frühjüdischen Exegese typische Benutzung interpretativer Strategien im Hebräerbrief. 25 Sie bringt hilfreiche Übersichten zweier wichtiger Forschungsfelder in die Diskussion ein, die unmittelbare Relevanz für das Verständnis des Hebräerbriefes hinsichtlich seines Umgangs mit der Schrift haben: Forschungen zum jüdischen Midrasch und zur Septuaginta. Docherty findet zahlreiche Parallelen zwischen den frühjüdischen, midraschischen Auslegungstechniken und denen des Hebräerbriefes, etwa die Bevorzugung biblischer Texte in der 1.Pers. (vgl. Ps 40 in Hebr 10), die Segmentierung eines biblischen Textes, um spezielle Elemente unabhängig voneinander zu untersuchen (vgl. die Segmentierung von Ps 110,4 in Hebr 7), und die Benutzung von gezerah schawah-- der Rekurs auf eine Stelle, um eine andere durch ein Stichwort zu interpretieren (vgl. Ps 96,11 and Gen 2,2 in Hebr 4,3ff ). Ihre Untersuchung beruht vor allem auf den Analysen von A. Sameley, A. Goldberg und P. Alexander. Zu Recht vertritt sie die Auffassung, dass der Verfasser des Hebräerbriefes, genau wie andere jüdische Schriftausleger, großen Respekt gegenüber dem genauen Wortlaut der Schrift hat. Zusätzlich zeige er eine genaue Kenntnis des größeren Kontexts der Passagen, die er zitiert. Frühjüdische Ausleger konnten erstaunlicherweise eine biblische Passage problemlos als eine Sammlung göttlicher Aussprüche und zugleich als Teil eines größeren, kohärenten Ganzen verstehen. Dochertys Untersuchungen zur Septuaginta sind ebenso bedeutend. Insbesondere betont sie, dass es nicht die eine »Septuaginta« gegeben hat (d. h. nicht eine klar umrissene, fixierte griechische Übersetzung der jüdischen Bibel). Stattdessen gibt es Hinweise auf verschiedene Textversionen. Es besteht für jedes Zitat die Möglichkeit einer Abweichung im Text, wie er dem Verfasser vorlag, zu dem Text, wie wir ihn heute kennen. Abweichungen, die durch Fehler beim Abschreiben entstanden sind, kommen hinzu. Diese Einsichten haben große Bedeutung für die Frage der Benutzung des Alten Testaments im Hebräerbrief. Wir können vor allem nicht schlussfolgern, dass der Verfasser den biblischen Text verändert hat, wenn ein Unterschied zwischen seinem Zitat und der Version festgestellt werden kann, die in Rahlfs’ Septuaginta vorkommt (oder in den kritischen Editionen von Cambridge und Göttingen). Docherty führt überzeugende Argumente dafür an, dass der Verfasser des Hebräerbriefes wahrscheinlich sehr wenige Änderungen an den Texten, die er zitiert, vorgenommen hat. Auch die Beachtung kleiner Details der Schrift durch den Verfasser verstärkt die Schlussfolgerung, dass er sehr wenige Eingriffe in den Wortlaut der Zitate vorgenommen habe, um sie für seine Zwecke nutzbar zu machen. Unterschiede zwischen der Septuaginta, wie wir sie kennen, und »In den letzten zwei Jahrzehnten wurden von britischen Exegeten zwei herausragende Monographien vorgelegt, die sich mit der Benutzung der jüdischen Schriften im Hebräerbrief beschäftigen.« Zeitschrift für Neues Testament typoscript [AK] - 08.03.2012 - Seite 8 - 4. Korrektur 8 ZNT 29 (15. Jg. 2012) Neues Testament aktuell den biblischen Zitaten im Hebräerbrief sind mit der speziellen Handschrift der griechischen Bibel, die der Verfasser benutzte, zu erklären. Dochertys exzellente Monographie leidet etwas an der Begrenzung ihres Gegenstandes. Sie beschränkt sich im Wesentlichen auf die in den ersten vier Kapiteln verwendeten Zitate. Eine umfassendere Analyse des Hebräerbriefes hätte ihren Thesen mehr Überzeugungskraft verliehen. Dennoch hat ihre Arbeit das Potential, einige verbreitete Auffassungen vom Hebräerbrief und seiner Benutzung des Alten Testaments zu korrigieren. Zumindest müssen die Annahmen über die Leichtfertigkeit, mit der der Verfasser den Wortlaut der Schrift im Interesse seiner christologischen Vorannahmen verändern konnte, neu geprüft werden. 3.2 Studien zur narrativen Struktur des Hebräerbriefes Substantielle Beiträge zu unserem Verständnis einiger literarischer Besonderheiten im Hebräerbrief datieren in das vergangene Jahrzehnt. Von besonderer Wichtigkeit sind Arbeiten zu Struktur, Rhetorik und narrativer Grundierung des Briefes. In ihrer 2005 erschienenen Arbeit zur Struktur des Hebräerbriefes hat Cynthia L. Westfall den Hebräerbrief aus diskursanalytischer Sicht untersucht. 26 Mit der Diskursanalyse soll erklärt werden, wie formale (d. h. morphologische) Kategorien und lexikalische Entscheidungen in Diskursen dazu dienen, bestimmte Themen hervorzuheben und Bedeutungszusammenhänge herzustellen. Westfall arbeitet sich planvoll durch den Brief, wobei ihr besonders das gehäuft verwendete ermahnende »lasst uns« (Verb im Konjunktiv) in Kapitel 4 (vgl. 4,1.11-16) und 10 (vgl. 10,22 ff.) auffällt. Sie zeigt, dass diese Anhäufungen der ermahnenden Rede eine Klimax im Diskurs signalisieren. Die Wiederholung und Anhäufung dieses morphologischen Phänomens im Hebräerbrief dient der Einschärfung der Botschaft. Zugleich fungieren sie als Gliederungssignale, die die Adressaten über Struktur und Fortschritt des Gedankengangs orientieren. Sie entdeckt eine dreiteilige Struktur im Brief (durch die überschneidenden Diskurshöhepunkte markiert), die aus drei Themen bestehen und mit den Ermahnungen korrespondierten: (a) Jesus ist ein Apostel/ Bote, also »lasst uns« am Bekenntnis festhalten (1,1-4,16), (b) Jesus ist Hoherpriester, also »lasst uns« vor Gott treten (4,11-10,25), und (c) die Adressaten sind mit Jesus verbunden, also »lasst uns« geistlich wachsen (10,19-13,16). Westfalls Beitrag demonstriert das interpretatorische Potential der Diskursanalyse für das Verständnis der Botschaft des Hebräerbriefes. Kenneth L. Schencks Einführung zum Hebräerbrief wurde bereits erwähnt. Mit Akribie untersucht Schenck die narrativen Elemente der Epistel. In seiner Dissertation erfährt die narrative Struktur des Hebräerbriefes eine noch ausführlichere Analyse. 27 Anstatt sich einem Ansatz zum kulturellen Hintergrund der Schrift wie dem Platonismus oder der jüdischen Apokalyptik zu widmen, konzentriert sich Schenck auf die narrative Welt des Hebräerbriefes. Er zeigt, dass ein narrativer Zugang zum Hebräerbrief ermöglicht, das zeitliche Setting (Eschatologie) und das räumliche Setting (Kosmologie) des Plots zu identifizieren. Für das zeitliche Setting ist der Tod Jesu das entscheidende Ereignis, das die Richtung der Heilsgeschichte auf die Verherrlichung der Menschheit und die Vollendung aller Dinge neu ausrichtet. Die Geschichte hat eine von Gott bestimmte Richtung, nämlich hin auf den kommenden, letzten Äon einer ewigen Ruhe und Gottesgemeinschaft. Hinsichtlich des räumlichen Settings sind die Sphären des Himmels und der Erde entsprechend als die Sphäre der ewigen Wirklichkeit bzw. der temporären Existenz zu verstehen. Der Tod und die Erhöhung Jesu in den Himmel werden im Sinne der Hohepriester-Metapher entfaltet. Dieser interpretatorische Schritt ermöglicht es dem Verfasser, das historische Ereignis des Todes Jesu als ein Opfer auszuweisen, das sich im sakralen Raum des göttlichen Heilsplanes ereignet hat. Das übergeordnete Ziel sei es, zu zeigen, dass die Sphäre der Ewigkeit dem Heilsverlangen der Adressaten mehr entspricht als die irdische Sphäre, die der Zerstörung anheim fällt. Da die Adressaten in der Zeit des Übergangs leben, befinden sie sich mitten in diesem Plot. Ihre irdische Existenz ist von der Wirklichkeit der Erlösung in Jesus umgeben. Sie bewegen sich stetig (oder sollten sich bewegen) auf den letzten Äon und ihren endgültigen Eingang in die himmlische Sphäre zu. Schenck verortet einen solchen Plot, der der paränetischen Rhetorik des Hebräerbriefes zugrunde liegt, in der Zeit nach der Zerstörung des Tempels 70 n.-Chr., in der die Christen der Vergewisserung ihres Glaubens bedurften. Wie auch immer sein Ansatz im Einzelnen zu beurteilen ist, seine Arbeit stellt in jedem Fall einen anregenden und wichtigen Beitrag dar. Schenck richtet seine Aufmerksamkeit vor allem auf die Bedeutung der zugrundeliegenden, narrativen Strukturen. Anstatt zu- »Substantielle Beiträge zu unserem Verständnis einiger literarischer Besonderheiten im Hebräerbrief datieren in das vergangene Jahrzehnt.« Zeitschrift für Neues Testament typoscript [AK] - 08.03.2012 - Seite 9 - 4. Korrektur ZNT 29 (15. Jg. 2012) 9 David M. Moffitt Der Hebräerbrief im Kontext der neueren englischen Forschung erst das Problem des historischen Hintergrunds zu lösen, betont er zu Recht die Bedeutung der narrativen Welt des Hebräerbriefes und des theologischen Interesses des Verfassers als die primären Ziele seiner exegetischen Bemühungen. 3.3 Fragen zur Substitutionstheologie und der Beziehung des Hebräerbriefs zum Judentum Die bisherige Untersuchung hat sich vorwiegend mit Monographien zum Hebräerbrief befasst. Es wurden in letzter Zeit auch zahlreiche Aufsätze und Sammelbände herausgegeben, die die Diskussion wesentlich bereichern. 28 Drei Aufsätze zu Fragen, die die Forschung dauerhaft beschäftigen, sollen eingehender besprochen werden: Steht der Hebräerbrief für einen Bruch mit dem Judentum? Ist er ein Beispiel für frühchristliche Substitutionstheologie? In der modernen Auslegung war es lange üblich, den Hebräerbrief als eines der frühesten und kompromisslosesten Beispiele eines christlichen Triumphalismus zu begreifen. Als eindeutiger Beleg für Substitutionstheologie galt die Deutung des Todes und der Erhöhung Jesu: Der Tod Jesu macht das levitische Opfer überflüssig und entspricht damit einer Substitutionsvorstellung. Gott habe in der Vergangenheit auf vielfältige Weise zu seinem Volk Israel gesprochen, aber nun habe er es beiseite geschoben und durch die Kirche ersetzt. A. J. M. Wedderburns 2005 im Journal of Theological Studies veröffentlichter Aufsatz steht genau in dieser Tradition. 29 Wedderburn vermeidet den Begriff Substitutionstheologie konsequent. Die These des Aufsatzes lautet jedoch, dass der Verfasser des Hebräerbriefes einen radikalen Bruch mit den Institutionen und der Praxis des antiken Judentums vollzogen habe. Wedderburn argumentiert, dass die Theologie des Hebräerbriefes auf der einen Seite auf der Vorstellung des sühnenden Blutritus beruhe, auf der anderen Seite aber diese Vorstellung dekonstruiert, indem Jesus als derjenige dargestellt wird, der in die himmlische Sphäre eintritt und den Blutritus obsolet macht. Der Verfasser des Hebräerbriefes habe damit den theologischen Ast, auf dem er saß, abgesägt. Für Wedderburn stellt dies nicht notwendig ein Problem dar; nur habe der Verfasser nicht bemerkt, dass er damit seine eigenen Argumente entkräftet habe. Indem er die jüdischen Voraussetzungen seines theologischen Vorhabens destruierte, habe er unabsichtlich auch sein eigenes Vorhaben untergraben. Richard B. Hays hat sich in einem Aufsatz direkt mit der Frage der Substitutionstheologie auseinandergesetzt. 30 Hays revidiert seine frühere Position zum Hebräerbrief 31 und meint nun, dass der Hebräerbrief weder Polemik gegen Juden oder jüdische Autoritäten enthält noch die Haltung suggeriert, dass das Volk Gottes durch eine neue Gruppierung ersetzt worden sei. Der Verfasser vertrete jedoch die Ansicht, dass ein zentrales Element der jüdischen Religionspraxis (das Opfer) für die Vergebung unzureichend und nicht länger notwendig ist. Er verweist damit auf die Einrichtung eines neuen Bundes, der den vorhergehenden Bund als »veraltet« und »dem Ende nahe« qualifiziert (8,13). Aber sind solche Aussagen nicht charakteristisch für die Substitutionstheologie? Hays würde dem nicht zustimmen. Seiner Ansicht nach setzt der Hebräerbrief nicht das »Christentum« gegen das »Judentum«. Der Text sei am besten zu verstehen als New Covenantalism einer jüdischen Sondergruppe. 32 Zwar konstatiert der Verfasser eindeutig die Überlegenheit Jesu als Messias über andere jüdische Figuren und Institutionen, doch müssen diese Aussagen, analog zu den Qumrantexten, innerhalb des Judentums und seiner verheißungsorientierten Schriftauslegung positioniert werden. Der Verfasser erfindet den neuen Bund nicht. Er findet diese Verheißung in Jeremia 31 (38LXX) vor. Er glaubt, dass Gottes neuer Bund, der nach Jeremia mit dem Haus Juda und dem Haus Israel geschlossen wird (Hebr 8,8), durch das, was Jesus getan hat, in Kraft gesetzt wurde. Damit will er zeigen, dass Jesu Tod und Auferstehung die große Narration von der Erlösung Israels durch Gott voranbringt. Ist diese Sicht des Verfassers christologisch motiviert, so ist seine Argumentationsweise exegetischer Art. Die Schriften selbst, so will er zeigen, haben auf die neue, in Jesus Christus eröffnete Wirklichkeit hingewiesen. Gegen Wedderburn ist einzuwenden, dass der Hebräerbriefes nicht einfach gedankenlos das Judentum transzendiert und kritisiert und dennoch seine Argumentation auf zentrale Annahmen des jüdischen Glaubens und der jüdischen Praxis gründet. Der Verfasser versucht vielmehr zu zeigen, dass die Verheißungen der Schrift über sich selbst auf eine kommende, ewige Wirklichkeit hinausweisen. In diesem Sinne schlägt Hays vor, den Hebräerbrief als ein self-consuming artifact 33 zu verstehen-- als eine Botschaft, die bewusst ihre Leser herausfordert, seit langem bestehende Positionen zu überdenken, um die größere Wirklichkeit zu erkennen, auf die diese Positionen vorausweisen. »Steht der Hebräerbrief für einen Bruch mit dem Judentum? Ist er ein Beispiel für frühchristliche Substitutionstheologie? « Zeitschrift für Neues Testament typoscript [AK] - 08.03.2012 - Seite 10 - 4. Korrektur 10 ZNT 29 (15. Jg. 2012) Neues Testament aktuell Pamela M. Eisenbaum hat ähnlich wie Hays ihre früheren Annahmen über die Beziehung des Hebräerbriefes zum Judentum überdacht und wendet nun einige Erkenntnisse neuerer Studien zum »parting of the ways« auf den Hebräerbrief an. 34 Forscher wie Daniel Boyarin haben ältere Annahmen über eine frühe, klare Unterscheidung zwischen einer »jüdischen« und einer »christlichen« Identität und entsprechenden Gemeinschaften in Frage gestellt. Basierend auf einigen kurzen Vergleichen zwischen dem Hebräerbrief und Texten aus dem 2. Jh. führt Eisenbaum Gründe dafür an, dass der Hebräerbrief selbst aus dem 2. Jh. stamme. Sie zieht in Betracht, dass der Hebräerbrief nach der Zerstörung des Tempels in Jerusalem in einer Zeit verfasst wurde, in der zwischen Juden und Christen noch nicht unterschieden werden konnte, so z. B. während der Verfolgung durch Rom, als christliche und jüdische Gemeinden sich selbst noch nicht als abgegrenzte Entitäten wahrgenommen haben. Vielleicht wurden entstehende Grenzen zwischen »jüdischen« und »frühchristlichen« Gemeinden sogar wieder aufhoben, da man einen gemeinsamen Feind hatte. Der gemeinsame Feind und das gemeinsame Verlustgefühl infolge der Tempelzerstörung mag ein Gefühl der Verbundenheit zwischen »jüdischen« und »christlichen« Gemeinden gestiftet haben. In diesem Sinne sei die »Substitutionstheologie« des Hebräerbriefes keinesfalls als ein frühes Beispiel einer antijüdischen Ersetzungstheologie zu verstehen (wie sie im Barnabasbrief vorliegt), sondern vielmehr »als verzweifelter Versuch, sich ein religiöses Erbe, das verloren schien, neu anzueignen«. 35 Der Hebräerbrief reflektiere also ein frühes Judenchristentum, und versuche, die Menschen, die an Jesus glauben, im Angesicht von Verlust und erfahrener Verfolgung zu trösten. Der Hebräerbrief enthalte keine ablehnende Polemik gegen die Juden, denn er stamme aus einer Zeit »bevor eine jüdische und christliche Rhetorik den Ton angab, die feste Grenzen zwischen Judentum und Christentum konstruierte« 36 . Die Datierung Eisenbaums wird ohne aussagekräftigere Belege kaum überzeugen können. Gleichwohl stellen ihre Betrachtungen zum Text, die dem neuerdings geschärften Bewusstseins von den Schwierigkeiten einer frühen Trennung zwischen Juden und Christen Rechnung tragen, einen wichtigen Beitrag zum Verständnis des Hebräerbriefes dar. An ihrem behutsamen Umgang mit dem Text bei der Erörterung dieser Frage mag künftige Forschung Maß nehmen. 3.4 Opfer und Auferstehung Ein letzter erwähnenswerter Bereich der gegenwärtigen Forschung ist die Untersuchung jüdischer Opferpraktiken und Konzepte kultischer Reinheit. Mehrere deutschsprachige Forscher (z. B. Bernd Janowski, Christian Eberhart, Rolf Rendtorff und Ina Willi-Plein) haben auf diesem Feld wichtiges beigetragen. Einige haben ihre Erkenntnisse auf den Hebräerbrief angewendet, nach meiner Kenntnis ausschließlich in englischsprachigen Veröffentlichungen. 37 Ich greife hier zwei Aufsätze von Christian Eberhart und Ina Willi-Plein auf. 38 Beide stellen fest, dass die Tötung des Opfertieres weder der Höhepunkt noch das sühnende Moment im jüdischen Blutopfer ist. Der rituelle Umgang mit dem Blut, das bei der Tötung gewonnen wird, sei das eigentlich Zentrale. Eberhart äußert, dass »es der Besprengungsritus ist, der die Reinigung bewirkt«. 39 Darüber hinaus repräsentiere das Blut nach Lev 17,11 nicht den Tod des Opfertieres, sondern sei vielmehr als das Element zu verstehen, welches das Leben des Opfertieres trägt. Das Besprengen des Altars mit Blut, d. h. die Opferung von Blut, bewirkt die Reinigung von den Sünden durch die Darbringung nicht eines toten Tieren, sondern des im Blut enthaltenen Lebens des Tieres. Willi-Plein antizipiert und erläutert meine eigene Ansicht, wenn sie darlegt, dass vom Standpunkt eines Alttestamentlers aus die im Hebräerbrief benutzte Sprache des Blutopfers impliziere, dass »Christus das himmlische Heiligtum nicht durch eine rituelle Tötung, nicht einmal durch sein Selbstopfer betreten habe, sondern durch die Darbringung von unverdorbenem Leben.« 40 Eberhart schärft diesen Punkt noch, indem er sagt: »In der Bildersprache des Opfers ist der Tod Christi nicht das eigentliche Heilsereignis, sondern die Voraussetzung für die Darbringung von Blut« 41 . Zumal Eberhart ist davon überzeugt, dass die Benutzung von Opfersprache im Hebräerbrief eine Metapher ist, um die Bedeutung des Todes Jesu zu erhellen. Nicht in Gänze ist hierbei erfasst, wie der Hebräerbrief auf den Ritus des Versöhnungstages rekurriert. Dennoch tragen Eberhart und Willi-Plein in ihren Aufsätzen Wichtiges zur Diskussion bei, vor allem indem sie daran erinnern, dass das jüdische Blutopfer, welches die Tötung eines Tieres voraussetzt, nicht auf die Tötung zu reduzieren ist. Die Tötung des Tieres bewirkt nicht die Sühne, sondern die Darbringung des Lebens/ Blutes des Tieres bewirkt die Reinheit. Meine eigene Arbeit zum Hebräerbrief bestätigt diese von Eberhart und Willi-Plein vorgestellte Logik des Opferritus. 42 In meiner kürzlich veröffentlichten Untersuchung vertrete ich die Ansicht, dass die Forschung weithin die Bedeutung der Auferstehung und Himmelfahrt des menschlichen Leibes Jesu vernachlässigt habe. Das Menschsein Jesu ermöglicht ihm, so die Zeitschrift für Neues Testament typoscript [AK] - 08.03.2012 - Seite 11 - 4. Korrektur ZNT 29 (15. Jg. 2012) 11 David M. Moffitt Der Hebräerbrief im Kontext der neueren englischen Forschung Lesart von Ps 8 in Hebr 2, über die Engel erhöht zu werden. Die Auferstehung Jesu vollendet sein sterbliches Menschsein, nicht der Verlust oder die Auflösung seines Blutes und Leibes. Analog zu einigen anderen apokalyptischen Texten, in denen die Transformation und Verherrlichung des menschlichen Leibes es dem aufsteigenden Menschen ermöglicht, in die Gegenwart Gottes zu gelangen und eine den Engeln übergeordnete Stellung einzunehmen, ermöglicht es auch Jesu Auferstehung, dass er in Gottes Gegenwart kommt und dort für immer bleibt. Diese Annahme erklärt m.- E., wie Jesus die Sühne vollzieht und wie es sich der Verfasser vorstellt, dass Jesus ein sühnendes Opfer darbietet. Jesus bietet sich selbst Gott im himmlischen Heiligtum dar, lebend und vollkommen rein. Jesu Tod ist ein notwendiger Aspekt dieses Opfergeschehens, aber der Fokus der Darbietung vollzieht sich, genau wie der Verfasser des Hebräerbriefes darlegt, im Himmel. Die Beurteilung meiner Arbeit überlasse ich anderen. Ich meine jedoch, dass meine Lektüre des Hebräerbriefes, wenn sie denn einigermaßen das Richtige trifft, die herausragende Bedeutung der jüdischen Apokalyptik und der jüdischen Opferkategorien für den Verfasser und wahrscheinlich auch die Adressaten vor Augen führt. Wie auch immer die genaue Konstitution und Herkunft der ursprünglichen Adressaten zu beschreiben ist, die Lesart, die ich vorschlage, impliziert, dass der Verfasser die Validität der jüdischen Schrift und die Logik der jüdischen Opfertheologie annimmt. Es ist Jesu auferstandenes Leben (etwas, das er nur aufgrund seines Todes hat) und nicht sein Tod per se, der die Sühne für seine Brüder und Schwestern ermöglicht. 4. Schlussfolgerung Ich habe einige Arbeiten zum Hebräerbrief vorgestellt, die in den ersten Jahren des 21. Jhs. erschienen sind. Dem Hebräerbrief ist in den letzten Jahrzehnten nicht nur gesteigerte Aufmerksamkeit widerfahren. Die besprochene Literaturauswahl zeigt auch, dass die Forschung vielfältige, innovative und inspirierende Zugänge zu einigen alten Fragen gefunden hat, die uns diese rätselhafte Epistel aufgibt. Der Hebräerbrief, verglichen mit Paulus und den Evangelien lange Zeit weithin ignoriert, bekommt nun allmählich das Interesse und den Respekt, den er verdient. Anmerkungen 1 So W. Wrede, Das literarische Rätsel des Hebräerbriefes. Mit einem Anhang über den literarischen Charakter des Barnabasbriefes (FRLANT 8), Göttingen 1906. Aufgegriffen wurde diese Bezeichnung u. a. von H.-M. Schenke, Erwägungen zum Rätsel des Hebräerbriefes, in: H. D. Betz/ L. Schottroff (Hgg.), Neues Testament und christliche Existenz, FS H. Braun, Tübingen 1973, 421-437; J. W. Thompson, The Beginnings of Christian Philosophy: The Epistle to the Hebrews (CBQMS 13), Washington 1983,-1. 2 Eine gute Forschungsgeschichte, welche die Literatur der letzten 25 Jahre des 20. Jhs. darstellt, bietet D. J. Harrington, What are they saying about the Letter to the Hebrews? (WATSA), New York 2005. 3 D. L. Allen; D. DeSilva; L.T. Johnson; C. R. Koester; P.T. O’Brien; J. W. Thompson. Auf der Ebene der theologischen Reflexion haben diese Kommentare beachtliches geleistet. 4 K. L. Schenck; A.T. Lincoln. Lincolns Arbeit zählt zu den besten knapp gehaltenen Einführungen zum Hebräerbrief, die momentan im englischsprachigen Bereich erhältlich sind. 5 Eine Ausnahme stellt D. L. Allen dar, der erneut die Argumente für eine lukanische Verfasserschaft stark gemacht hat, Vgl. Hebrews, 47-61; s. auch seine Monographie: The Lukan Authorship of Hebrews (NACSBT), Nashville 2010. Johnson, Hebrews, S. 42-44, optiert für Apollos als Verfasser, obgleich er zugesteht, dass diese Annahme rein spekulativ und nicht entscheidend für das Verständnis des Hebräerbriefes sei. 6 Der magnus consensus datiert den Hebräerbrief zwischen 60 und 90. Sowohl Koester, Hebrews, 54, als auch Lincoln, Hebrews, 40, messen dieser Datierung große Plausibilität zu. Im Gegensatz dazu halten Allen, Hebrews, 74-78; DeSilva, Perseverance, 20 f.; O’Brien, Hebrews, 15-20 und Johnson, Hebrews, 39 f., eine Datierung vor 70 für wahrscheinlicher. Letztere Option wurde vor allem am Ende des letzten Jahrhunderts mehrheitlich vertreten. Schenck hingegen plädiert für eine Datierung in die Zeit Domitians (81-96 n. Chr.), Vgl. Understanding, 104. Eine hiervon abweichende Datierung nimmt P.M. Eisenbaum vor, wenn sie für die Abfassung im zweiten Jh. argumentiert, vgl. Locating Hebrews. 7 Vgl. Koester, Hebrews, 49 f.; Lincoln, Hebrews, 38 f.; O’Brien, Hebrews, 14 f.; Schenck, Understanding, 91. 8 C. Mosser, der momentan seine Dissertation für die Publikation vorbereitet, ist dieser Schlussfolgerung in seinem Aufsatz deutlich zugeneigt, vgl. Ders., Rahab Outside the Camp, in: R. Baukham u. a. (Hgg.), The Epistle to the Hebrews and Christian Theology, Grand Rapids 2009, 383-404, hier: 404. 9 Johnson, Hebrews, 38; s. auch: DeSilva, Perseverance, 21 f., und Thompson, Hebrews, 7. 10 Johnson, Hebrews, 38. An dieser Stelle muss jedoch auf den Umstand hingewiesen werden, dass im Hebräerbrief-- anders als in den paulinischen Briefen-- die Heiden und die Heidenmission nicht erwähnt werden. Freilich darf dieses Zeitschrift für Neues Testament typoscript [AK] - 08.03.2012 - Seite 12 - 4. Korrektur 12 ZNT 29 (15. Jg. 2012) Neues Testament aktuell Schweigen argumentativ nicht ausgereizt werden, da Paulus im Galaterbrief das Argument für die völlige Eingliederung der Heiden in die Heilsgeschichte Israels entfaltet. Einige Gruppierungen des frühen Christentums konnten zweifelsohne israelspezifische Sprache auf die Heiden anwenden (z. B. 1Petr). Dennoch ist das Schweigen an dieser Stelle, vor allem im Vergleich mit den paulinischen Briefen, auffallend. Die Sprache aus Jer 31 benutzend spricht der Verfasser des Hebräerbriefes nur von einem neuen Bund »mit dem Haus Israel und mit dem Haus Juda« (8,8). 11 Vgl. C. K. Rothschild, Hebrews as Pseudepigraphon: The History and Significance of the Pauline Attribution of Hebrews, Tübingen 2009. 12 Vgl. Rothschild, Hebrews as Pseudepigraphon, 154-162. 13 Rothschild ist sich dieses Einwands bewusst. Daher konzentriert sie sich auf die Bestätigung des Evangeliums durch Wunder anstatt auf das »uns« einzugehen. Sie weist darauf hin, dass das Evangelium des Paulus in den Gemeinden durch Wunder bestätigt worden sei, so dass man den Kommentar als paulinisch verstehen könne. Außerdem zeigt sie, dass die Berufung des Paulus in Apg 9 und Gal 1 schwer vereinbar seien. Anscheinend möchte sie behaupten, dass der kurze biographische Kommentar im Hebräerbrief dazu dienen sollte, die Unstimmigkeiten dieser beiden Berichte zu glätten oder zu verwischen. Dieser Punkt scheint, sofern ich sie richtig verstehe, nicht nur an der eigentlichen Frage vorbeizugehen, sondern auch das wesentliche Problem nicht zu berücksichtigen. Es geht eben nicht um die Bestätigung des Evangeliums durch Wunder derer, die es predigen, sondern darum, dass sich der Verfasser als einer der »wir« bezeichnet, d. h. als ein Mitglied der Gruppe, welche durch die Zeichen und Wunder der Evangeliumsboten die Bestätigung der Heilsbotschaft erhalten hat. 14 Zu denken ist an moderne kritische Auslegungen des Epheserbriefes. Der Epheserbrief wird oft als ein Beispiel paulinischer Pseudepigraphie betrachtet. Im Herzen dieses Briefes wird eingängig erklärt, dass Juden und Heiden nicht länger durch das Gesetz und die Beschneidung getrennt sind. Eph 2,11-3,6 versichert, dass Jesus die Trennung durch das Gesetz beseitigt und Frieden zwischen Juden und Heiden gestiftet hat (Vgl. Kol 2,6-23; 3,11). 15 P. Gray, Godly Fear: The Epistle to the Hebrews and Greco- Roman Critiques of Superstition (AB 16), Atlanta 2003. 16 J. A. Whitlark, Enabling Fidelity to God: Perseverance in Hebrews in Light of the Reciprocity Systems of the Ancient Mediterranean World (PBM), Colorado Springs 2008. 17 S. vor allem McCruden, Solidarity Perfected, 68 f. 18 Vgl. McCruden, Solidarity Perfected, 37. 19 Damit soll nicht gesagt sein, dass diese Exegeten sich einseitig auf den Platonismus konzentrieren und die jüdische Apokalyptik gänzlich vernachlässigen. 20 S. D. Mackie, Eschatology and Exhortation in the Epistle to the Hebrews (WUNT 2/ 223), Tübingen 2007. 21 D. M. Moffitt, Atonement and the Logic of Resurrection in the Epistle tot he Hebrews, in: NTSupp 141, Leiden 2011. 22 D. M. Moffitt, Jesus the High Priest and the Mosaic Law: Reassessing the Appeal to the Heavenly Realm in the letter ›To the Hebrews‹, in: M. Caspi and J.T. Greene (Hgg.), Problems in Translating Texts about Jesus: Proceedings from the International Society of Biblical Literature Annual Meeting 2008, Lewiston 2011, 195-232. 23 Die Schriften, die mit Qumran assoziiert werden, enthalten viele Belege dafür, dass einige Juden aus der Zeit des zweiten Tempels zwei Messiasgestalten erwarteten-- einerseits den verheißenen davidischen Herrscher und andererseits den aaronitischen Priester. Eine solche Position scheint auf einen Widerstand gegen die Vorstellung hinzudeuten, dass der davidische Herrscher auch Priester ist. Die Wurzeln dieser Position sind wahrscheinlich exegetischer Art (d. h. aus dem Toraverbot ist erschlossen, dass jemand anderes als ein Levit Priester wird). Es kann hier aber auch ein politisches Problem vorliegen: Einige Juden lehnten die hasmonäische Personalunion von König und Hohempriester ab. 24 D. M. Allen, Deuteronomy and Exhortation in Hebrews: A Study in Narrative Re-Presentation (WUNT 2/ 238), Tübingen 2008. 25 S. E. Docherty, The Use of the Old Testament in Hebrews: A Case Study in Early Jewish Bible Interpretation (WUNT 2/ 260), Tübingen 2009. 26 C. L. Westfall, A Discourse Analysis of the Letter to the Hebrews: The Relationship Between Form and Meaning (LNTS 297), London 2005. 27 K. L. Schenck, Cosmology and Eschatology in Hebrews: The Settings of the Sacrifice (SNTSMS 143), Cambridge 2007. 28 Die Titel sind zu zahlreich, um sie im Rahmen dieses Aufsatzes zu besprechen. Einige der publizierten Aufsatzbände verdienen jedoch eine eigene Erwähnung. 2006 wurde eine Konferenz zum Hebräerbrief und der Christlichen Theologie in der St. Andrew’s University in Schottland abgehalten. Zwei Sammelbände sind in der Folge erschienen: R. Bauckham u. a. (Hgg.), A Cloud of Witnesses: The Theology of Hebrews in its Ancient Contexts (LNTS 387), London 2008; und: Bauckham, Epistle to the Hebrews, dazu mehrere Vorträge der SBL Hebrews Consultation der Jahre 2001 bis 2004. Diese Aufsatzbände wurden veröffentlicht in: G. Gelardini, Hebrews. Kürzlich erschienen ist der Aufsatzband zu einer Konferenz über die Benutzung der Psalmen im Hebräerbrief: J. Human/ G.J. Steyn (Hgg.) Psalms and Hebrews: Studies in Reception (LHBOT 527), New York 2010. 29 Vgl. A. J. M. Wedderburn, Sawing of the Branches: Theologizing Dangerously ad Hebraeos, JTS 56 (2005), 393-414. 30 Vgl. R. B. Hays, ›Here We Have No Lasting City‹: New Covenantalism in Hebrews, in: Bauckham, Epistle to the Hebrews, 151-173. 31 Vgl. R. B. Hays, Echoes of Scripture in the Letters of Paul, New Haven 1989, 98-99, 177. In diesem Aufsatz schätzt Hays den Hebräerbrief als »relentlessly Christological und relentlessly supersessionist« ein, 98. 32 Hays, No Lasting City, 155. 33 Hays, No Lasting City, 168-173, übernimmt die Terminologie »self-consuming artifact« von Stanley Fish. 34 Eisenbaum, Locating Hebrews. 35 Eisenbaum, Locating Hebrews, 236. Zeitschrift für Neues Testament typoscript [AK] - 08.03.2012 - Seite 13 - 4. Korrektur ZNT 29 (15. Jg. 2012) 13 David M. Moffitt Der Hebräerbrief im Kontext der neueren englischen Forschung 36 Eisenbaum, Locating Hebrews, 237. 37 S. vor allem die Aufsätze von C. Eberhart, I. Willi-Plein und E. W. und W. Stegemann in: Gelardini, Hebrews. Gelardini selbst hat zu diesem Band einen Aufsatz beigetragen, der den Hebräerbrief als eine in den Synagogen verlesene Homilie versteht, welche die Zerstörung des Jerusalemer Tempels reflektiert. Ich habe hier keine Zusammenfassung ihrer Position vorgenommen, da ihr Beitrag auf Deutsch veröffentlicht worden ist. 38 C. Eberhart, Characteristics of Sacrificial Metaphors in Hebrews, in: Gelardini, Hebrews, 37-64; I. Willi-Plein, Some Remarks on Hebrews from the Viewpoint of Old Testament Exegesis, in: Gelardini, Hebrews, 25-35. 39 Eberhart, Characteristics, 42. 40 Willi-Plein, Viewpoint, 33. 41 Eberhart, Characteristics, 59. 42 Moffitt, Atonement. A. Francke Verlag • Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen • info@francke.de • www.francke.de Stephan Hagenow Heilige Gemeinde - Sündige Christen Zum Umgang mit postkonversionaler Sünde bei Paulus und in weiteren Texten des Urchristentums Texte und Arbeiten zum Neutestamentlichen Zeitalter, Band 54 2011, 370 Seiten, € (D) 68,00/ SFr,00; ISBN 978-3-7720-8419-5 In der Gemeinde in Korinth sah sich der Apostel Paulus mit Fällen von Unzucht, dem Verkehr mit Prostituierten und einer tiefen sozialen Zerrissenheit beim Feiern des Abendmahls konfrontiert. Die Glaubwürdigkeit der ganzen Gemeinschaft und damit ihrer Botschaft stand auf dem Spiel. Zur theologischen und pragmatischen Bewältigung des Problems griff Paulus auf heiligkeitsethische, kultische und apokalyptische Deutehorizonte zurück. Diese Studie wagt den Blick hinter die oft konfessionell gefärbte Auslegung.