eJournals ZNT – Zeitschrift für Neues Testament 14/27

ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
2011
1427 Dronsch Strecker Vogel

Brot-Brechen und Körper-Gemeinschaft

2011
Eckart Reinmuth
1. Das stärkste Sinnbild christlicher Gemeinschaft ist die Feier des Gemeinschaftsmahles. Hier wird deutlich, dass die Gemeinde sich einer Begründung verdankt, die sie nicht selber stiftete, und auf einem Grund existiert, den sie nicht gelegt hat (vgl. 1Kor 3,11). Gegenwärtige soziologische und politisch-theoretische Überlegungen sprechen von der Unbegründbarkeit von Gemeinschaft. 1 Sie gehen von der Beobachtung aus, dass alle Begründungen von politisch relevanten Kollektiven, seien es Gesellschaften, Nationen, Staaten oder Gemeinschaften, auf Eigenschaftszuschreibungen beruhen. Diese verbindenden Eigenschaften - denken wir z.B. an gemeinsame Sprachen, Lebensräume, Geschichten, Kulturleistungen - sind jedoch letztlich als fiktionale Konstrukte und in dieser Hinsicht als sekundäre Begründungen zu verstehen. Tatsächlich aber sind sie in ihrer Machtförmigkeit für die Herstellung und Sicherung der entsprechenden Identitäten unerlässlich. Soziale Kollektive benötigen Begründungen, um ihre Identität zu definieren. Sie sind jedoch keineswegs natürlich gegebene, ursprüngliche, alternativlose Größen, auch wenn ihre Gründungsgeschichten und Konstitutionsleistungen genau dies suggerieren. Je ›natürlicher‹, ›objektiver‹, historisch alternativloser diese Begründungen ausfallen, desto weniger stehen anscheinend entsprechende Ansprüche in Frage. Stets werden in diesen Begründungsprozessen Überhöhungen, Apotheosen und Tabuisierungen vorgenommen, mit denen Eigenschaftszuschreibungen transzendiert werden. Ihre Dekonstruktion führt zur Einsicht in die historische Kontingenz der Gemeinschaften und zur Frage ihrer tatsächlichen Begründbarkeit. Dieser Zusammenhang wird am paulinischen Gemeindeverständnis eindrucksvoll sichtbar. Für Paulus ist die Gemeinde keine Partei, kein Interessens- oder Mysterienverein; für sie sind weder gemeinsame Sprache noch soziale Übereinstimmungen oder antike Mahlpraktiken konstitutiv. Sie verdankt sich aus seiner Sicht einzig dem Handeln Gottes, wie es in der Geschichte Jesu Christi sichtbar und erfahrbar wurde. Dieser exklusive Bezug wurde ursprünglich nicht als die Apotheose eigener Machtansprüche verstanden. Er diente vielmehr ihrer Kritik. Das zeigt sich im ersten Korintherbrief, um den es in dieser Kontroverse geht, an vielen Stellen 2 und sehr deutlich im hier entwickelten Verständnis des Gemeinschaftsmahls. In 1Kor 10f. finden wir die älteste Erwähnung des Gemeinschaftsmahls im Neuen Testament. Sie ist zugleich eine polemische Korrektur, keine neutrale Definition. Paulus bezeugt keine ideale, fraglose, unbestrittene Praxis; er kommentiert die korinthische Praxis des Herrenmahls vielmehr und stellt eine kritische Relation zu der Geschichte her, auf die diese Praxis sich bezieht. Ihm geht es um einen exklusiven, normierenden Bezug auf diese Geschichte, unbeschadet der Tatsache, dass in soziologischer wie historischer Hinsicht sowohl das korinthische Herrenmahl wie die Mahlpraxis Jesu nur in der Vielfalt ihrer kulturellen Kontexte zu verstehen sind. Für Paulus ist entscheidend, dass Jesus von Nazareth, der ›Herr der Herrlichkeit‹ (1 Kor 2,8), dem die Gemeinde ihre Praxis des Gemeinschaftsmahls verdankt, zu Tode gefoltert wurde, und dass es dieser Tod ist, der im gemeinsamen Mahl vergegenwärtigt wird. Paulus insistiert unbeirrbar auf diesen Umstand, indem er im Zusammenhang des Herrenmahls nicht nur von Christi Tod (vgl. 1Kor 11,26), sondern auch von seinem Blut (vgl. 1Kor 10,16; 11,25.27) oder Körper (10,16; 11,24.27.29) spricht. ›Tod‹, ›Blut‹ und ›Körper‹ stehen für seine Geschichte. Auf sie bezieht sich auch die Zeitangabe, die von der »Nacht, in der er ausgeliefert wurde« spricht (11,23). Das ist ein narratives Detail der Passionsgeschichte, das in seiner Konkretheit diese zugleich als Handeln Gottes interpretiert. 3 Für Paulus ist das erinnerte Geschehen von seiner Deutung nicht zu trennen; es ist nicht einmal theoretisch zu differenzieren. Paulus konnte keine Christusvon einer Jesusgeschichte abheben (vgl. 2Kor 5,16); er redet vom Getöteten in der Perspektive des von Gott zum Leben Gebrachten. Die Geschichte Jesu Christi ist für ihn konstitutiv für die Entstehung der Gemeinde, für ihre soziale wie ethische Wirklichkeit. Er versteht sie als die Geschichte Gottes. 4 Kontroverse Eckart Reinmuth Brot-Brechen und Körper-Gemeinschaft. Herrenmahl und Gemeinde im ersten Korintherbrief 46 ZNT 27 (14. Jg. 2011) 016911 ZNT 27 - Inhalt 24.03.11 11: 08 Seite 46 Eckart Reinmuth Brot-Brechen und Körper-Gemeinschaft ZNT 27 (14. Jg. 2011) 47 Paulus erinnert an diese Geschichte, zieht Konsequenzen aus ihr und verweist auf sie - gerade dann, wenn es um Probleme geht, die gelöst werden müssen. Im Fall des Herrenmahls in Korinth geht es Paulus darum, dass das soziale Gefälle unter den Gemeindegliedern in der Gemeinde keine Rolle spielen darf, sondern aufgehoben ist. Es wäre hinsichtlich der Interpretation von 1Kor 10-11 ein Fehlschluss, die soziale Wirklichkeit der Gemeinde und ihrer Mahlpraxis von der Deutungsperspektive zu trennen, in der sie hier kommuniziert wird. Eine scheinbar ›transzendierende‹ Interpretation sozialer Wirklichkeit tritt nicht sekundär hinzu; es ist vielmehr der grundlegende Bezug auf die Jesus- Christus-Geschichte, der von Paulus als konstitutiv gegenüber der Mahlpraxis der Korinther kritisch in Anschlag gebracht wird. 2. Paulus war kein systematischer Denker, kein ›Dogmatiker‹, sondern ein Erzähler, der sich da, wo er argumentieren musste - in seinen Briefen also - grundlegend auf narrative Strukturen bezog. Paulus ist damit kein Sonderfall. Die Praxis des Argumentierens mit Erzählinhalten teilt er mit seinen ehemaligen theologischen Kollegen. Die Literatur des frühen Judentums kann das vielfach belegen. Wer mit Erzählinhalten argumentiert, wird in den seltensten Fällen erst erzählen und dann argumentieren. Er wird vielmehr auf Erzählungen zurückgreifen, die bekannt und bedeutend sind. Er wird sich auf sie beziehen, auf sie anspielen, sie mit einem Kürzel aufrufen bzw. zusammenfassen - und sie selbstverständlich jederzeit zu explizieren wissen. Jeder weiß, was gemeint ist, und kann den Wechsel vom Narrativen zum Argumentativen mitvollziehen. Narrative Abbreviaturen stellen in erzähltextanalytischer Hinsicht graduell variierende Sonderfälle kondensierenden Erzählens, in argumentationstheoretischer Hinsicht Argumente mit begründender, plausibilisierender, erläuternder, veranschaulichender usw. Funktion dar. Sie können im Verbund mit weiteren intertextuellen Bezugnahmen, also etwa Zitaten, explizit narrativen Elementen oder kondensierenden Wiedergaben biblischer Erzählinhalte, gebraucht werden. 5 Entsprechende Beispiele finden sich in den paulinischen Gemeinschaftsmahl-Texten mehrfach; sie verraten die narrative Grundierung seiner Argumentation in der Jesus-Christus-Geschichte und mit ihr in weiteren biblischen und frühjüdischen Erzähltraditionen. Zu Beginn von Kap. 10 - hier spielt Paulus mit den pneumatischen Nahrungsmitteln erstmalig im Brief auf das Herrenmahl an - erwähnt er die Exodustradition. 6 In 10,7 zitiert Paulus Ex 32,6 nach der Septuaginta und ruft damit den entsprechenden Erzählkontext auf; in den VV.8ff. greift er in kondensierender Form auf weitere Erzählinhalte zurück. V.11 stellt klar, dass Paulus zwischen den biblischen Bezugstexten und dem einstigen Geschehen zu unterscheiden weiß. Die biblischen Texte bezeugen das einstige Geschehen und wurden zur gegenwärtigen Beherzigung aufgeschrieben. Die parallelen Bezugnahmen auf das Blut und den Körper Christi in 10,16 sind als narrative Abbreviaturen zu verstehen, mit denen sein Foltertod und damit der erzählerische Kontext der Passionsgeschichte aufgerufen werden. Die Gemeinschaft, die sich nach V.16 im Herrenmahl realisiert, gründet auf dieser Geschichte und bezieht sich bleibend auf sie. Die Geschichte Jesu Christi ist nicht ein nachträgliches Mittel ihrer »Für Paulus ist entscheidend, dass Jesus von Nazareth, der ›Herr der Herrlichkeit‹ (1 Kor 2,8), dem die Gemeinde ihre Praxis des Gemeinschaftsmahls verdankt, zu Tode gefoltert wurde, und dass es dieser Tod ist, der im gemeinsamen Mahl vergegenwärtigt wird.« Prof. Dr. Eckart Reinmuth, 1951 in Rostock geboren, studierte Evangelische eologie in Greifswald, wurde 1981 in Halle promoviert und habilitierte sich 1992 in Jena. Er war Gemeindepastor in Mecklenburg und Professor für Neues Testament an der Kirchlichen Hochschule Naumburg und der Universität Erfurt. Seit dem Sommersemester 1995 lehrt er an der eologischen Fakultät der Universität Rostock. Eckart Reinmuth 016911 ZNT 27 - Inhalt 24.03.11 11: 08 Seite 47 Kontroverse 48 ZNT 27 (14. Jg. 2011) Legitimierung oder Beglaubigung, sondern ihre exklusive Begründung und ihr Maß. Diese Einsicht ist insofern entscheidend und folgenreich, als die im Herrenmahl sich realisierende Gemeinschaft jeder anderen Begründung entbehrt. Die Gemeinde in Korinth existiert nicht aufgrund gleicher Eigenschaften ihrer Mitglieder, etwa gemeinsamer Sprache oder Rituale, soziologischer Zugehörigkeit oder moralischen Niveaus, sondern einzig im gemeinsamen, vertrauenden Bezug auf Jesus Christus, dessen Geschichte für sie vertrauenswürdig, bindend und gegenwärtig ist. Sie wissen sich dieser Geschichte verbunden, weil sie den Tod des Christus als stellvertretend für sie begreifen (11,24). Im Brechen des Brotes werden sie Teil dieses Geschehens, dieser sie einbeziehenden und über sie hinausgehenden Geschichte. Auf dieser hermeneutischen Grundlage entwickelt Paulus die metaphorische Aussage, dass die das Herrenmahl feiernde Gemeinde als ›ein Leib‹ aufzufassen sei (10,17). Bereits in dem Abschnitt 6,12-20 hatte Paulus die einzelnen Christen als ›Glieder Christi‹ (6,15) bezeichnet, und in 12,12ff. wird er die klassische Leib- Glieder-Metaphorik auf die Vielfalt der Gaben in der Gemeinde anwenden. Die Aussage in 10,17 steht jedoch in einem eigenen Begründungszusammenhang. Verweisen das gebrochene Brot auf den gefolterten Körper Christi wie der gesegnete und zu leerende Kelch auf das vergossene Blut Christi, so soll das ›Ein-Leib-Sein‹ der Gemeinde als unumgängliche und, wie die argumentativen Partikeln zeigen, unumkehrbare Folge eben dieser Geschichte, wie sie in 11,23ff. dann weiter erläutert wird, verstanden werden. 7 Das ›Aneinander-Teilhaben‹ der Gemeinde (V.17b) 8 hat hier seinen exklusiven Ursprung. Es ist die Todes- und Lebensgeschichte Jesu Christi, die in paulinischer Perspektive für diesen Leib konstitutiv und prägend ist. 3. Blicken wir nun auf die Bezüge zu dieser Geschichte in 11,23ff. Bereits einleitend trifft Paulus in V.23 einen entscheidenden Hinweis. Er bezieht sich auf eine Übernahme- und Übergabegeschichte. Er selbst war Adressat dessen, was (gr. ho) er der angeredeten Gemeinde übergab. Die Tradition, mit der er sie nun erneut adressiert, wird auf ihren Ursprung im Kyrios gegründet. Paulus versteht das Wesen des Herrenmahls vom Herrn her und als durch ihn bestimmt. Es ist derselbe Herr, dessen symbolisches Handeln in der Nacht, in der seine Auslieferung sich vollzog, den Adressaten von Paulus in Erinnerung gerufen wird. Soweit ich sehe, wird die erschütternde Dramatik, die den Hintergrund der ›Einsetzungsworte‹ bildet, meist kaum bemerkt. Ich paraphrasiere: In der Nacht, in der der Herr Jesus von Gott seinen Feinden überlassen wurde, nahm er Brot, dankte, brach es und sagte: In diesem Handeln versinnbildlicht sich mein Todesweg, der sich in Vertretung für euch und euch zugute vollzieht. Wenn es wörtlich heißt »dieses ist mein Leib anstatt eurer (gegeben)«, dann bezieht sich das erstens nicht auf das Brot, sondern auf das Brechen des Brotes, und es bezieht sich zweitens nicht auf einen mystischen Leib, sondern auf die Identität 9 und damit den konkreten Körper Jesu, der ausgeliefert und zerstört wird. Die konventionelle Übersetzung, die an dieser Stelle Sōma mit ›Leib‹ wiedergibt, lässt schnell vergessen, dass es konkret um einen in den Foltertod gegebenen Körper geht. Die Anamnesis, die vergegenwärtigende Erinnerung, 10 von der am Ende des Verses als Ziel des wiederholenden Handelns der Gemeinde die Rede ist, bezieht sich folglich auf diesen Erzählinhalt und damit auf den Gesamtkontext der Jesus-Christus-Geschichte. Die Drastik der expliziten Körperlichkeit wird im Kontext der hier implizierten Gottesgeschichte herausgestellt und ist ohne diese nicht verständlich. Beide ›Geschichten‹ sind nicht in eine immanente gegenüber einer transzendenten zu abstrahieren. Paulus geht es nicht um die Frage einer Verhältnisbestimmung zwischen ›Kreuz‹ und ›Auferstehung‹, sondern um das Verständnis der Lebens-Geschichte des Gekreuzigten als Geschichte Gottes. Die pure Körperlichkeit des Gefolterten, ihre Präsenz im Mahl, thematisiert und durchkreuzt zugleich jede transzendierende Sinngebung von Geschichte. Es ist gerade die identifizierende Zeichenhandlung (das Brechen des Brotes symbolisiert den gewaltsamen Tod Jesu), die dem Modell der Transzendierungsleistungen zuwiderläuft. Es gibt kein Ausweichen ins Abstrakte; vielmehr wird die Jesus-Christus-Geschichte als Gottes-Geschichte konkret und alternativlos erfahren - gerade weil sie aus menschlicher Sicht nicht alternativlos ist, sondern die undenkbarste und skandalöseste aller Alternativen darstellt (vgl. 1,18ff.). »Die pure Körperlichkeit des Gefolterten, ihre Präsenz im Mahl, thematisiert und durchkreuzt zugleich jede transzendierende Sinngebung von Geschichte.« 016911 ZNT 27 - Inhalt 24.03.11 11: 08 Seite 48 Eckart Reinmuth Brot-Brechen und Körper-Gemeinschaft ZNT 27 (14. Jg. 2011) 49 So, wie das Brechen des Brotes den gewaltsamen Tod Jesu symbolisiert, ist auch der Becher Sinnbild für die sich an Jesus auswirkende Todesgewalt (11,25). Auch hier geht es - wie in Röm 3,25; 5,9 - mit dem ›Blut‹ um den gewaltsamen Tod Jesu. Beide Verweisstellen bestätigen übrigens, dass die sich an Jesus stellvertretend auswirkende Todesgewalt die Glaubenden nicht mehr trifft. Ihnen gilt vielmehr die Einladung zu dem neuen Bundesschluss Gottes, den sie im Gemeinschaftsmahl versinnbildlichen. Ausschlaggebend für die Bestätigung der bisherigen Interpretationslinie ist der Übergang von V.25b zu V.26 in der Aufnahme des ›wann immer‹ (gr. hosakis). Da das ›ihr macht bekannt‹ (gr. kataggellete) als Indikativ zu verstehen ist, kommt damit zum Ausdruck, dass die Feier des Abendmahls die Bedeutung des Todes Jesu gültig und hinreichend versinnbildlicht und diese als die Körper-Gemeinschaft der Feiernden realisiert. Deshalb darf es keine Überlegenheits- oder Machtpositionen in der Herrenmahlsgemeinschaft geben (VV.17-22). Alle bisherigen narrativen Abbreviaturen, die sich auf den Kontext der Passionsgeschichte bezogen, werden hier auf den ›Tod des Herrn‹ fokussiert und mit dieser komplexen Abbreviatur zusammengefasst. Dabei ist eine ähnliche Voraussetzung zu berücksichtigen, wie sie im Übergang von 1,17 zu 1,18 sichtbar wird: Mit dem ›Kreuz Christi‹, das sinnentleert werden kann, ist selbstverständlich seine Bedeutung, das ›Wort vom Kreuz‹, gemeint. In gleicher Weise ist mit dem ›Tod des Herrn‹ die Bedeutung gemeint, die er im Licht des auferweckenden Handelns Gottes erhalten hat, ohne von diesem Handeln getrennt werden zu können. Im nachlaufenden Kontext sprechen noch einmal V.27.29 in aller Schärfe vom zum Tode geschundenen Körper des Herrn. V.27 wiederholt mit ›Blut‹ und ›Körper‹ die beiden bereits verwendeten narrativen Abbreviaturen. Sie verweisen auf den Maßstab, den die Feier des Herrenmahls an der Passion des Kyrios nehmen soll. Eine ›unwürdige‹ (gr. anaxiōs) Teilnahme, die sich konkret in der praktischen Nichtaufhebung des sozialen Gefälles in der Gemeinde äußert (vgl. VV.17- 22), käme dem Handeln der Feinde Gottes in der Passionsgeschichte gleich. Paulus macht damit den strengen Bezug geltend, den er zwischen dem Herrenmahl und dem Tod Jesu Christi sieht. In dieser Perspektive kommt alles darauf an, die Gestalt des Herrenmahls vom Bezug auf seinen in den Tod gegebenen Körper bestimmt sein zu lassen (V.29). Insofern geht es mit dem ›Unterscheiden des Leibes‹ (gr. diakrinein to sōma 11,29) nicht um eine richtige Beurteilung bzw. angemessene Wahrnehmung der Mahlelemente, sondern um das Identifizieren der alles überwindenden Lebensmacht Gottes am gefolterten, dem Tod ausgelieferten Körper Christi. Diese Lebensmacht Gottes ist zugleich richtende Macht (vgl. nur 1,18; 5,13), die sich auch an denen auswirkt, die zu eigenem ›Richten‹ sich selbst gegenüber nicht bereit sind (11,31f.). 4. Greifen wir abschließend unsere Eingangsüberlegungen auf, so können wir feststellen: Das Gemeinschaftsmahl versinnbildlicht in der Perspektive des Paulus die Unbegründbarkeit jeder Gemeinschaft. Sie verweist mit ihrer Begründung in der Todes- und Lebensgeschichte Jesu Christi auf eine bleibende ›Leerstelle‹, die nicht durch die Transzendierung von Eigenschaftszuschreibungen aufzufüllen und zu ersetzen ist. Von einer ›Leerstelle‹ ist deshalb zu sprechen, weil es Paulus mit der Geschichte Jesu Christi um die Geschichte des Gottes geht, dessen Macht sich in der Welt als Schwäche zeigt (vgl. z.B. 1,27; 2Kor 12,9f.). Der 1Kor spielt das konsequent durch. Und der zweite Brief demonstriert dramatisch die provozierenden Konsequenzen für die Autoritätskonstruktion des Apostels. Ist sein Auftreten als mächtig oder als ohnmächtig zu beurteilen; ist es schwach oder stark, beeindruckend oder eher lächerlich? Bittet Paulus, oder befiehlt er (vgl. 2Kor 5,20)? Muss die Utopie des Machtverzichts tatsächlich ortlos bleiben? Paulus ging es sichtlich nicht um eine nachträgliche Transzendierung bereits bestehenden Gemeinsinns oder erfahrener Gemeinschaft, wie sie in der reichsrömischen politischen Kultur gang und gäbe war, sondern um das verpflichtende Insistieren auf dem unableitbaren Ursprung der Gemeinde, der sich in ihrer Feier des Herrenmahls realisiert. Dieser Ursprung, die Tötung des ›Herrn der Herrlichkeit‹ (2,8), lief den antiken Begründungsroutinen reichsrömischer Macht zu- »Es gibt kein Ausweichen ins Abstrakte; vielmehr wird die Jesus-Christus-Geschichte als Gottes-Geschichte konkret und alternativlos erfahren - gerade weil sie aus menschlicher Sicht nicht alternativlos ist, sondern die undenkbarste und skandalöseste aller Alternativen darstellt (vgl. 1,18ff.).« 016911 ZNT 27 - Inhalt 24.03.11 11: 08 Seite 49 Kontroverse 50 ZNT 27 (14. Jg. 2011) wider. Die Argumentation des Paulus bietet aktuelle Anstöße, die hinsichtlich der Reflexion der fraglichen Begründbarkeit des Sozialen und mithin auch kirchlicher Gemeinschaft zu bedenken sind. Anmerkungen 1 Vgl. dazu jetzt die ausführlichen Referate und Diskussionen in O. Marchart, Die politische Differenz, Berlin 2010. 2 Das wird z.B. sinnfällig, wenn in 8,12 ein rücksichtsloses Durchsetzen eigener Einsicht als gegen Christus gerichtet interpretiert wird. 3 Mit ›er wurde ausgeliefert‹ (paredideto V.23b) ist das Handeln Gottes umschrieben (pass div; vgl. z.B. Mt 26,2; Röm 4,25). In frühjüdischer wie christlicher Literatur konnte so umschrieben werden, dass Gott Sünder, aber auch Fromme oder Märtyrer an seine Feinde bzw. das Unheil ausliefert (vgl. z.B. Röm 1,24.26.28; 8,32; Apg 7,42; Jes 53,12; Dan 3,31f. LXX; LAB 31,7; 47,2 u.ö.; ParJer 6,18.21; 2Makk 1,17). Es geht also nicht um das (durch Judas) Verratenwerden, sondern durch Gott Ausgeliefertwerden. 4 Das deutet sich nicht nur im vorausgesetzten Subjekt des passivum divinum ›er wurde ausgeliefert‹ (paredideto 11,23), sondern auch in der Bezeichnung ›Kyrios‹ für den Protagonisten, in dem ›in Vertretung für euch‹ (to hyper hymōn 11,24), in dem Stichwort ›neuer (Gottes-) Bund‹ (hē kainē diathēkē 11,25; vgl. Jer 31,31-34) und weiteren Einzelheiten an. 5 Vgl. E. Reinmuth, Allegorese und Intertextualität. Narrative Abbreviaturen der Adam-Geschichte bei Paulus (Röm 1,18-28), in: St. Alkier/ R.B. Hays (Hgg.), Die Bibel im Dialog der Schriften. Konzepte intertextueller Bibellektüre, Tübingen 2005, 57-69. 6 Wolke und Meer 10,1f.; Speise 10,3; Trank und Felsen 10,4; Tod in der Wüste 10,5; die Wendung ›das [alles] geschah‹ (tauta ... [typoi] ...egenēthēsan) in 10,6 bezieht sich über das Medium der genannten Abbreviaturen auf die damit aufgerufenen Erzählinhalte. 7 Sie ist auch der Grund für Paulus, von nur einem Brot zu sprechen, obwohl in der gemeindlichen Praxis in Korinth wohl mehrere Brote verzehrt wurden. 8 Vgl. dazu jetzt H.W. Hollander, The Idea of Fellowship in 1 Corinthians 10.14-22, NTS 55 (2009), 456-470. 9 Vgl. dazu E. Reinmuth, Anthropologie im Neuen Testament, Tübingen 2006, 232-239. 10 Vgl. zu dieser Wendung J. Schröter, Das Abendmahl. Frühchristliche Deutungen und Impulse für die Gegenwart, Stuttgart 2006, 35 Anm. 50. NEUERSCHEINUNG A. Francke Verlag www.francke.de Gerhard Kaiser Die Menschwerdung Gottes im Bibeltext € ISBN 978-3-7720-8412-6 016911 ZNT 27 - Inhalt 24.03.11 11: 08 Seite 50