eJournals ZNT – Zeitschrift für Neues Testament 14/27

ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
2011
1427 Dronsch Strecker Vogel

Körper und Realpräsenz bei Paulus

2011
François Vouga
1. Einführung Was ist der Körper? Wer und was definiert, was wir »Körper« nennen, und wem gehört es? Die Entwicklungen der medizinischen Technik, der Genetik, der Chirurgie und der Informatik verbieten mittlerweile jede evidente Beantwortung solch elementarer Fragen 1 . Die Form des Körpers ist unklar geworden: fehlende Glieder werden durch Prothesen ersetzt. Gehört dann die Prothese zum Körper? Und wie ist es mit der ästhetischen Chirurgie? Können wir unseren Körper beliebig verändern, ohne damit auch unsere Identität zu verändern? Die fortschreitende Entwicklung in der Genetik stellt theoretische Möglichkeiten in Aussicht, Eigenschaften des menschlichen Körpers zu modifizieren und aus dem technisch Möglichen Kriterien zu erheben, auf welche körperlichen Eigenschaften Fortpflanzung zielen soll. Wem gehört der Körper noch ungeborener Kinder? Den Eltern, die über eine freie Wahl im Bereich des Machbaren verfügen? Religiösen oder ethischen Instanzen der Gesellschaft, die elterlichen Entscheidungen einen gewissen Rahmen zu setzen wollen? Oder dem Staat, der politische und juristische Grenzen des Machbaren vorgibt? Sodann stellen Patientenverfügungen - zumindest implizit - die Frage nach der Identität und der Zugehörigkeit der Körper von Verstorbenen: Wem gehört ein Leichnam? Der Person des Verstorbenen, die in absentia Besitzerin ihres Körpers bleibt? Den Angehörigen, die sich von ihr verabschieden möchten? Der Medizin, die ihre Organe therapeutisch - für andere, lebende Menschen - einsetzen oder wissenschaftlich - für Forschungszwecke - verwenden kann? Oder dem Staat, der den Umgang mit Verstorbenen zu regulieren hat, um alle zu schützen? Nicht nur die Medizin verschiebt die Fragestellungen: Die Wirklichkeit virtueller Realität, wie sie etwa durch das Internet gegeben ist, hebt die klare Unterscheidung zwischen Realität und Fiktion auf. Wenn ich mich selbst unter verschiedenen Namen und Identitäten vorstellen kann, wenn jeder meine Lebensgeschichte wie es ihm gefällt schreiben und anonym in die Öffentlichkeit geben kann, löse ich mich selbst und wird meine Person von ihrer Vorfindlichkeit als Körper gelöst. Was ist also mein Körper und wer bin ich? 1.1 These: Die Definition des Körpers als Verheißung - und als hermeneutische Aufgabe Nicht allzu paradox sollte angesichts dieser offenen Fragen der Gegenwart erscheinen, dass auch die Paulusbriefe sich keineswegs darauf beschränken, mehr oder weniger originelle Betrachtungen über die bekannte und klar definierte Gegebenheit des menschlichen Körpers zu bieten, sondern den Körper und das Selbstbewusstsein des menschlichen Subjekts als Körper neu definieren - und überhaupt definieren: Zu den Implikationen des Evangeliums gehört eine präzise Reflexion über den Körper, über das Verhältnis des Selbst zu seinem Körper und über die Bestimmtheit der Existenz durch ihre Körperlichkeit. Aus der Revolution der Gotteserkenntnis und der Erkenntnis des menschlichen Selbst, die im Ereignis des Kreuzes stattgefunden hat, folgt als unmittelbare Konsequenz eine sowohl für jüdisches als auch hellenistisches Verständnis neue Definition des Körpers als existentieller Dimension des geistigen Lebens des Einzelnen in seiner Universalität und in seiner Singularität. Denn das paulinische Verständnis des Körpers führt nicht nur eine Veränderung der in der Kultur bereits vorhandenen Körpervorstellungen ein. Es verweist vielmehr auf eine Offenbarung, die den Einzelnen in ein Subjekt erster Person verwandelt, das unabhängig von seinen Eigenschaften durch die Verheißung der bedingungslosen Anerkennung Gottes definiert wird. Dadurch entsteht die Möglichkeit der freien und kritischen Selbstbetrachtung des Einzelnen: - Die Offenbarung setzt eine Unterscheidung zwischen der Person und ihrem Körper voraus: Der Mensch reduziert sich nicht auf seinen Körper. Er definiert sich Zum Thema François Vouga Körper und Realpräsenz bei Paulus 36 ZNT 27 (14. Jg. 2011) »Der Körper verweist [...] auf die Fehlbarkeit des Subjektes, das sich von Mächten abhängig macht, die es dann beherrschen - oder aber zum Leben befreien.« 016911 ZNT 27 - Inhalt 24.03.11 11: 08 Seite 36 François Vouga Körper und Realpräsenz bei Paulus nicht über seinen Körper, vielmehr ist das Verhältnis, das er zu seinem Körper entwickelt, durch seine Freiheit bestimmt. - Der Körper bezeichnet und bestimmt nur Aspekte, aber symptomatische Aspekte, des Verhältnisses des Menschen zu sich selbst und zum Geschenk seines Lebens: Der Körper fasst nicht die Person zusammen, sondern bietet ihr den gegebenen Raum und die gegebene Zeit ihrer Präsenz zu sich selbst und Anderen in der Schöpfung Gottes. - Auch wenn sich der Körper nicht unmittelbar mit der Person identifizieren lässt, gehört er als Bestandteil und als Dimension ihres Denkens und Handelns zu ihr. Der Körper bildet die Exteriorität der Person, aber als Exteriorität übersetzt und prägt er auch ihr geistiges Leben. 1.2 Apostolisches Schweigen zum Körper Die Körpervorstellungen der Paulusbriefe verbleiben nicht im deskriptiven Bereich. Sie konzentrieren sich auch nicht auf den Körper an sich, sondern interpretieren die Körperlichkeit des menschlichen Subjektes als Symptom und als den Ort seines Verhältnisses zu seinem Selbst vor Gott und in der Welt. Auffällig erscheint, dass sich die Auseinandersetzungen des Paulus um den Körper mit vielen Fragen, die einem modernen Leser in diesem Zusammenhang unmittelbar kommen könnten, überhaupt nicht befassen: Kosmetik, Pflege oder Medizin. Zwar spielt der Körper eine wichtige Rolle in der paulinischen Anthropologie, aber Paulus interessiert sich weder für die Probleme des Alters oder der Gesundheit noch, was vielleicht weniger überrascht, für Sport oder Ästhetik. Dies liegt weder daran, dass Fragen nach Gesundheit und Krankheit für Paulus unbedeutend gewesen wären, noch daran, dass Schönheit für das frühe Christentum insgesamt irrelevant war: - Die Schwachheit, die die Befindlichkeit des Apostels kennzeichnet (Gal 4,12-20; 2Kor 4,7-18; 12,1-10), muss nicht unbedingt mit physischen Behinderungen oder Grenzerfahrungen verbunden werden. Dagegen erklärt er eindeutig Krankheitsfälle, die in Korinth aufgetreten sind, als Symptome der Krankheit des Gemeindelebens (1Kor 11,23-34). Der Begriff des Körpers taucht in der Argumentation des Apostels in zweifacher Weise auf, um den Körper Christi zu bezeichnen: Zum einen in der Tradition und im Kommentar der Einsetzungsworte, um auf die Selbsthingabe des Herrn hinzuweisen (1Kor 11,24.27), zum anderen, um die Gemeinschaft, die sich in seinem Namen versammelt, zu definieren. Paulus führt ihn allerdings nicht ein, um den Sitz der Krankheit zu beschreiben, sondern als reine Metapher, um die Missachtung der gegenseitigen Anerkennung der Geschwister, die für das Verständnis der Gemeinde als Körper Christi konstitutiv ist (1Kor 11,29), als Ursache für die pathologischen Erscheinungen zu benennen. - Nun zeigt Paulus kaum Interesse für die Ästhetik, obwohl etwa auch die Bergpredigt das in der Antike diskutierte Thema der Offenbarungsrelevanz der Schönheit aufnimmt, um die Zuhörer Jesu aufzufordern, auf die Vögel des Himmels und die Blumen des Feldes zu achten, weil ihre unnütze Pracht die Großzügigkeit der Vorsehung des himmlischen Vaters bezeugt (Mt 6,25-34). Halten wir also einfach fest, dass Paulus für den Körper an sich kein Interesse zeigt und seine Briefe den Körper weder als Ort der Sorge um die Lebenserhaltung noch als Sichtbarkeit der äußeren Erscheinung, nicht einmal ZNT 27 (14. Jg. 2011) 37 Prof. Dr. theol. Dr. theol. h.c. François Vouga, Jahrgang 1948, ist Professor an der Kirchlichen Hochschule Wuppertal / Bethel. 1973-1974 Assistent von Christophe Senft in Lausanne; 1975-1982 Gemeindepastor in Avully und Chancy (Genf ); 1982-1985 Maître assistant in Montpellier; 1985 èse de doctorat und venia legendi im Fach Neues Testament in Genf; 1984-1985 Gastprofessor in Neuchâtel; 1985- 1986 Professor in Montpellier, 1986-2009 an der Kirchlichen Hochschule Bethel, seit 2008 in Wuppertal. Seit 1988 regelmäßige Gastprofessuren an der Facoltà Valdese di Teologia in Rom; 1998 Ehrendoktor der Universität Neuchâtel; 1999 und 2001 Gastprofessur, 2008-2010 Honrarprofessur an der Faculté de théologie et de sciences religieuses de Université Laval, Québec. Forschungsschwerpunkte: Geschichte der frühchristlichen Literatur, Einheit und Vielfalt der neutestamentlichen eologie, Paulus und die paulinische eologie, die Petrusbriefe, eologie und Ästhetik (Kunst und Musik), eologie und Naturwissenschaften. Zahlreiche Veröffentlichungen, zuletzt: Politique du Nouveau Testament, Genf 2008, und Pâques ou rien. La Résurrection au coeur du Nouveau Testament, Genf 2010. Für weitere Informationen siehe: www.kiho.thzw.de François Vouga 016911 ZNT 27 - Inhalt 24.03.11 11: 08 Seite 37 Zum Thema 38 ZNT 27 (14. Jg. 2011) i.S. einer dankbaren Anerkennung der Gaben Gottes, in den Blick nehmen. Paulus interessiert sich nicht für den Körper an sich, sondern für das Netz der Beziehungen, die sich im Körper miteinander verbinden und sichtbar werden. 2. Der Körper der Person als Bindeglied zu den Anderen und den Mächten, die sie bestimmen Auffällig erscheint dann, dass sich die paulinischen Reflexionen über den Körper mit zwei Fragen befassen, die an Aktualität nicht verloren haben - und auch nicht verlieren werden. Der erste Lebensbereich, mit dem sie sich auseinandersetzen, betrifft das Verhältnis zwischen Mann und Frau auf der Ebene der Sexualität (Röm 1,18-31; 1Kor 6,12-20; 7,1-40) und der zweite, mit dem der erste eng zusammenhängt, besteht aus den Machtverhältnissen, in denen der Körper das geistige Leben des Subjektes engagiert (Röm 6,1-14; 8,9-17). 2.1 Der Körper des Mannes und der Körper der Frau Im kulturellen Vergleich überrascht zunächst die Reziprozität, die das kleine Handbuch der Ethik des ersten Korintherbriefes zwischen Mann und Frau konstituiert. Jeder und jede hat natürlich den je eigenen Körper, aber weder der Mann noch die Frau wird mit dem eigenen Körper identifiziert: Die beiden Körper werden vielmehr als Verbindungselemente eines gegenseitigen Verhältnisses gesehen und jedem Partner wird die Freiheit zuerkannt, auf den Besitz des eigenen Körpers zu bestehen oder zu verzichten (1Kor 7,2-7): (2)-Wegen der Versuchungen zur Unzucht soll haben jeder Mann seine Frau und jede Frau ihren Mann. (3)-Der Frau gegenüber erfülle der Mann seine Pflicht, ebenso die Frau dem Mann gegenüber. (4)-Die Frau hat nicht Autorität über ihren Körper, sondern der Mann; ebenso hat auch nicht der Mann Autorität über seinen Körper, sondern die Frau. [...] (6)-Dies sage ich als Entgegenkommen und nicht als Befehl. (7)-Ich wünschte, alle Menschen wären wie ich. Aber von Gott hat jeder seine besondere Gabe, der eine so, der andere so. Die Möglichkeit, dem Partner die Autorität über den eigenen Körper anzuvertrauen, setzt ein Verhältnis der Freiheit voraus, das die Distanz der Person zum eigenen Körper impliziert. Genau diese Freiheit bietet den freien Raum dafür, dass die Gegenseitigkeit als wechselseitige Gabe geschenkt und empfangen wird, und sich nicht in ein Abhängigkeitsverhältnis verwandelt. Im strengen Sinne geht es in dieser Argumentation nicht um Ethik, das heißt um die Definition und Begründung von Werturteilen und Normen, sondern um Seelsorge. Ausdrücklich erklärt der Apostel den dialogischen Charakter seiner Empfehlungen: Er will keine Vorschrift geben, sondern er ist vielmehr um die Anerkennung der Gnadengaben jedes Einzelnen bemüht. Der Unterscheidung zwischen Befehl und Entgegenkommen (1Kor 7,6) entspricht auch die klare Opposition zwischen den privaten Wünschen des Apostels und der schöpferischen Logik Gottes (1Kor 7,7): Paulus selbst würde zwar gerne einen einheitlichen Umgang mit dem Körper definieren und empfehlen, aber Gott hat es anders entschieden: Jede Person hat eine ihr eigene Gabe von Gott bekommen. Dieser Satz bildet das Programm des ganzen Kapitels: Jeder Mann und jede Frau lebt in einem Körper, mit dem er und sie das singuläre Verhältnis aufbauen kann, das ihm und ihr von Gott geschenkt ist. Die Wahrheit des Körpers besteht also nicht im Vollkommenheitsideal eines bestimmten Standes - allein zu bleiben oder heiraten zu müssen -, sondern in der Wahrnehmung der Gnade, die jedem Menschen, alleinstehend oder in einer Partnerschaft, gegeben wird. 2.2 »Körper« als Fehlbarkeit des Menschen Den Körper verstehen die Paulusbriefe nicht nur als Bindeglied der Ich-Du-Beziehung, sondern auch als den Ort des Verhältnisses des Ich zu den Mächten, die es beherrschen und bestimmen, das heißt aber dann eigentlich auch zu sich selbst. Die Teilnahme am Tod und der Auferstehung Christi bedeutet das Mitgekreuzigt-werden des alten Menschen und die Vernichtung des Körpers der Sünde, die die Kehrseite des neuen Lebens bilden. Die Metonymie des Mit-gekreuzigt-werdens bekommt von der Interpretation des Todes Jesu als Offenbarung der Umsonstheit der Gerechtigkeit Gottes her einen problemlos nachvollziehbaren Sinn: Im Ereignis der Kreuzigung seines Sohnes hat sich Gott als der Vater offenbart, der bedingungslos »Paulus interessiert sich nicht für den Körper an sich, sondern für das Netz der Beziehungen, die sich im Körper miteinander verbinden und sichtbar werden.« 016911 ZNT 27 - Inhalt 24.03.11 11: 08 Seite 38 François Vouga Körper und Realpräsenz bei Paulus ZNT 27 (14. Jg. 2011) 39 vergibt und rechtfertigt (Röm 3,21-26). Wer seine Identität durch die Anerkennung Gottes umsonst bekommt, findet sich dann auch von der Notwendigkeit befreit, sie durch Selbstverwirklichung und Authentizität vor Gott zu gewinnen. Und genau die Abhängigkeitssituation, die aus der Suche der Existenz nach der Selbstbegründung entsteht, personifiziert Paulus als Sünde. Von daher erhält die Äquivalenz zwischen dem neuen Leben, das durch das Mit-Christus-gekreuzigt-worden-sein gegeben ist, und der Vernichtung des Körpers der Sünde ihre Plausibilität (Röm 6,4-12): (4) Wir wurden also durch die Taufe in den Tod mit ihm begraben, damit, wie Christus von den Toten auferweckt wurde durch die Herrlichkeit des Vaters, so auch wir in der Neuheit des Lebens wandeln. (5) Denn: wenn wir in die Ähnlichkeit seines Todes eingepflanzt sind, werden wir es aber auch sein [in der Ähnlichkeit] seiner Auferstehung, (6) erkennend dieses, dass unser alter Mensch mitgekreuzigt wurde, damit der Körper der Sünde vernichtet würde, auf dass wir der Sünde nicht mehr dienen. (7) Denn: wer gestorben ist, ist weg von der Sünde gerechtfertigt. (8) Wenn wir mit Christus gestorben sind, glauben wir, dass wir auch mit ihm leben werden, (9) wissend, dass Christus, von den Toten auferweckt, nicht mehr stirbt, der Tod herrscht nicht mehr über ihn -, (10) denn was starb, starb für die Sünde ein für allemal. Aber wer lebt, lebt für Gott. (11) So denkt auch ihr, einerseits tot für die Sünde zu sein, andererseits lebendig für Gott in Christus Jesus! (12) Darum soll die Sünde nicht herrschen in eurem sterblichen Körper, auf dass ihr seinen Begierden gehorcht, Die Interpretation der menschlichen Geschichte von der absoluten Singularität des Todes und der Auferstehung Christi her deutet die Situation des Subjektes als durch eine existentielle Alternative bestimmt: Entweder unterliegt der Mensch der Macht der Sünde, in deren Dienst er sich dann befindet, oder er ist mit Christus gestorben zu einem neuen Leben, und dient dann der Gerechtigkeit (Röm 6,15-23). Tertium non datur: Die Versuchung der Autonomie löst präzise die Lawine der Sünde aus, die das Subjekt unter ihrer Macht gefangen nimmt. Der Körper spielt in der Analyse insofern eine entscheidende Rolle, als die Gefangenschaft des Subjektes unter der Sünde (Röm 6,6.11-12) als eine Gefangenschaft des Körpers beschrieben wird: Der Körper der Sünde ist durch die Teilnahme am Tod und an der Auferstehung Jesu vernichtet worden (Röm 6,6), so dass die Sünde nicht mehr in »unserem« sterblichen Körper herrschen soll und wir seinen Begierden nicht mehr gehorchen sollen (Röm 6,12). Wenn Paulus ausführt, dass der Körper der Sünde vernichtet wird (Röm 6,6), denkt er selbstverständlich nicht an eine Zerstörung des physischen Körpers, sondern an eine Befreiung von der Verbindung zwischen Körper und Sünde: Das Subjekt ist von der Gefangenschaft seines Körpers durch die Sünde erlöst worden. Die Inszenierung des dreieckigen Verhältnisses zwischen dem »Wir«, dem Körper und der Sünde wird dann in der folgenden Aussage erneut aufgenommen. Paulus schreibt nicht: Die Sünde soll nicht mehr über »euch« herrschen, sondern, dass sie nicht mehr »über euren sterblichen Körper« herrschen soll. Wir können also feststellen, dass der Körper nicht einfach die Person bezeichnet, auch nicht nur die Person unter dem Aspekt ihrer durch ihre Körperlichkeit bedingten Endlichkeit - als Mensch, der durch seine Fähigkeiten und seine Grenzen bestimmt ist. Der Körper verweist vielmehr auf die Fehlbarkeit des Subjektes, das sich von Mächten abhängig macht, die es dann beherrschen - oder aber zum Leben befreien 2 . Er symbolisiert die Asymmetrie der Situation, die ihm in seiner Endlichkeit gegeben ist: Auf der einen Seite befindet er sich in Gefangenschaft unter der Sünde, und auf der anderen Seite hört er die gute Nachricht seiner Befreiung durch seine Pfropfung in den Tod und die Auferstehung Christi. Kurzum: Für Paulus stellt sich der Körper nicht als der Zusammenhang jener körperlichen Bedingungen dar, die das Leben prägen: Gesundheit, Krankheit, Alter, Geschlecht, Aussehen, intellektuelle und physische Geschicktheit. Er bestimmt den Körper vielmehr als das Verhältnis, das der menschliche Geist mit diesen Gege- »Zu den Implikationen des Evangeliums gehört eine präzise Reflexion über den Körper, über das Verhältnis des Selbst zu seinem Körper und über die Bestimmtheit der Existenz durch ihre Körperlichkeit.« 016911 ZNT 27 - Inhalt 24.03.11 11: 08 Seite 39 Zum Thema 40 ZNT 27 (14. Jg. 2011) benheiten seiner Endlichkeit herstellt. So ist der Mensch zwar durch seine Fehlbarkeit gekennzeichnet, die ihn in die Versuchung führt, seine persönliche Identität und den Sinn seiner Existenz auf allgemeinen und »ausgeliehenen« Eigenschaften (Blaise Pascal) zu begründen, ihm ist aber auch die Möglichkeit gegeben, aus dem Vertrauen in das bedingungslose Vertrauen Gottes zu leben. 2.3 Der Tod des Körpers und das Leben des Geistes Wenn der Körper die Fehlbarkeit des Menschen bezeichnet, erstaunt es nicht, dass der Apostel die Erlösung des Körpers als eschatologischen Horizont der Freiheit der Kinder Gottes erhofft (Röm 8,23): (23) [...] wir, die die Erstlingsgabe des Geistes haben, auch wir seufzen in uns selber, indem wir die Sohnschaft erwarten, die Erlösung unseres Körpers. Der Gewissheit der Hoffnung entspricht im Briefwechsel mit Korinth (1Kor 15,35-58) das Vertrauen des paulinischen Denkens in eine endzeitliche Vollendung der Schöpfung, die nicht nur durch die Erlösung unseres Körpers, sondern durch die Bekleidung der Auferstandenen mit einem neuen, durch Endlichkeit und Fehlbarkeit nicht mehr bestimmten Körper, gekennzeichnet sein wird: Die Universalität der gesamten Menschheit soll »im Augenblick der letzten Trompete« (1Kor 15,52) verwandelt werden, und alle, Lebende und Tote, werden einen unsterblichen (1Kor 15,53- 54), geistlichen und unvergänglichen Körper an Stelle ihres gegenwärtigen, beseelten und schwachen Körpers bekommen (1Kor 15,35-49) 3 : (42) So [...] die Auferstehung der Toten: Gesät wird in Vergänglichkeit, auferweckt wird in Unvergänglichkeit. (43) Gesät wird in Unehre, auferweckt wird in Herrlichkeit. Gesät wird in Schwachheit, auferweckt wird in Kraft, (44) Gesät wird ein beseelter Körper, auferweckt wird ein geistlicher Körper. Die doppelte Betonung der Körperlichkeit sowohl der neuen Identität, die allen Menschen durch die endzeit liche Verwandlung gegeben werden wird, als auch des qualitativen Unterschieds zwischen ihren aktuellen und ihren endzeitlichen Körpern, erklärt sich durch die argumentative Perspektive, die die Realität der Auferstehung der Toten als logische Implikation des Bekenntnisses zu Tod und Auferstehung Jesu versteht: Wenn die Toten tatsächlich auferstehen sollen, wie Christus gestorben und als Erster auferstanden ist (1Kor 15,12-20), dann müssen sie - als wirklich Auferstandene - einen Körper haben. Aber welchen Körper? Kontinuität und Diskontinuität sind eng miteinander verbunden. Die Kontinuität besteht zum einen in dem Personalpronomen »Wir«, das die personale Identität der Gestorbenen und noch Lebenden mit den Verwandelten zum Ausdruck bringt (»Alle werden wir nicht entschlafen, aber alle werden wir verwandelt werden«, 1Kor 15,51), und zum anderen in der Überzeugung, dass es erst dann eine Person gibt, wenn sie einen Körper hat. Die Diskontinuität besteht dann aber genau darin, dass der Körper nicht nachgebessert, sondern gewechselt - die Kontinuität trägt nicht der Körper, sondern die Person (»Wir«) - und der neue Körper kein Sitz der Fehlbarkeit mehr sein wird. Der Begriff eines unvergänglichen, nicht mehr beseelten, sondern geistlichen Körpers ist ein Oxymoron: Es gehört zur Definition des Körpers, zeitlich bedingt zu sein. Ein Körper ist gesund oder krank, jung oder alt, sexuell bestimmt - und dadurch auf Fortpflanzung orientiert, wie es das Markusevangelium richtig gesehen hat (Mk 12,25! ) - und sterblich. Paulus ist also konsequent, wenn er im Römerbrief das neue Leben in Christus nicht nur als eine Tötung der Handlungen des Körpers (Röm 8,12) und Lebendig-Machen des sterblichen Körpers durch den Geist beschreibt (Röm 8,11), sondern auch in einem auffälligen und überraschenden Parallelismus, als den »Tod des Körpers durch die Sünde« und »Leben des Geistes durch die Gerechtigkeit« (Röm 8,10): (9) Ihr seid nicht mehr im Fleisch, sondern im Geist, wenn denn Gottes Geist in euch wohnt. Wenn jemand Christi Geist nicht hat, der gehört nicht zu ihm. (10) Wenn aber Christus in euch ist, ist der Körper tot durch Sünde, lebt der Geist durch Gerechtigkeit. (11) Wenn der Geist dessen, der Christus von den Toten auferweckt hat, in euch wohnt, wird der, der Christus von den Toten auferweckte, eure sterblichen Körper lebendig machen durch seinen Geist, »Wenn die Toten tatsächlich auferstehen sollen, wie Christus gestorben und als Erster auferstanden ist (1Kor 15,12-20), dann müssen sie - als wirklich Auferstandene - einen Körper haben. Aber welchen Körper? Kontinuität und Diskontinuität sind eng miteinander verbunden.« 016911 ZNT 27 - Inhalt 24.03.11 11: 08 Seite 40 François Vouga Körper und Realpräsenz bei Paulus ZNT 27 (14. Jg. 2011) 41 der in euch wohnt. (12) Nun, Brüder, sind wir Schuldner nicht mehr dem Fleisch, um nach dem Fleisch zu leben. (13) Denn, wenn ihr nach dem Fleisch lebt, werdet ihr sterben, wenn ihr durch den Geist die Handlungen des Körpers tötet, werdet ihr leben. Die neue Situation der Glaubenden, die aus der Gerechtigkeit des Vertrauens leben, ist durch das Ereignis der Offenbarung Gottes in Christus möglich geworden (Der »Geist Gottes« oder »Christus« wohnt in ihnen) und wird als Auswirkung einer Veränderung erklärt, die als ein Tod und als Wunder eines neuen Lebens definiert wird: als Tod des Körpers durch die Sünde (Röm 8,10) als Leben des Geistes durch die Gerechtigkeit (Röm 8,10) als Lebendig-Machen des sterblichen Körpers durch den Geist (Röm 8,11) - und als Tötung der Handlungen des Körpers durch den Geist (Röm 8,13) Tötung der Handlungen des Körpers durch den Geist (Röm 8,13) und Lebendig-Machen des sterblichen Körpers durch den Geist (Röm 8,11) folgen logisch aus der Interpretation der Gemeinschaft mit dem Tod und der Auferstehung Christi als Befreiung vom Körper der Sünde (Röm 6,6): Das Vertrauen in die bedingungslose Anerkennung Gottes befreit von den Abhängigkeitsverhältnissen, in welche die Fehlbarkeit den Menschen führt, und verleiht seiner Endlichkeit Identität und Sinn. Paradox erscheinen dagegen die parallelen Formulierungen, die das Leben in Christus als »Tod des Körpers durch Sünde« und »Leben des Geistes durch Gerechtigkeit« beschreiben (Röm 8,10). Der Widerspruch zu der Vorstellung, dass das Mit-Christusgekreuzigt-worden-sein das Subjekt rechtfertigt und vom Körper der Sünde befreit (Röm 6,6-7), ist jedoch nur scheinbar: - In Christus herrscht nicht mehr die Lawine der illusorischen Autonomie des »Fleisches« (Röm 8,10a). - Als Konsequenz lebt im Subjekt nicht mehr die Fehlbarkeit des Körpers, die durch die Versuchung und die Illusion der Selbstbegründung bewegt wird (»durch die Sünde«, Röm 8,10b), sondern in ihm lebt der Geist, durch welchen die Gerechtigkeit Gottes in ihm handelt (Röm 8,10c). Wenn Paulus erklärt, dass der Körper, in dem die Sünde wirksam wird, tot ist und der Geist lebt, meint er nicht, dass die Adressaten des Briefes körperlose Wesen oder unbeseelte, aber vom Geist erfüllte Leichname geworden sind. Das Verständnis vom Körper, das durch die Argumentation aufgebaut wird, setzt voraus, dass »Körper« etwas anderes als die materielle Form der Person - samt ihres Gesundheitszustandes, ihres Alters, ihres Geschlechts und ihrer übrigen physischen und psychischen Eigenschaften - meint. »Körper« bezeichnet nicht einfach die zeitlich bedingte, endliche Verfasstheit der menschlichen Existenz, sondern die Fehlbarkeit im Sinne der Schwachheit des Ich, das der Versuchung der Sünde erliegt und sich dann in der unglücklichen Notwendigkeit befindet, zu tun, was es nicht will, und nicht zu tun, was es will (Röm 7,13- 20). Wenn die »Handlungen des Körpers« die Selbstwidersprüche des unfreien Willens bezeichnen, verweist der Körperbegriff auf das Ich - auf den »Körper des Todes« (Röm 7,24) -, das durch die Sünde - genauso wie die paradigmatische Figur Adams (Röm 7,7- 12) - betrogen wurde. 3. Der Körper in der Lawine der Sünde Paulus hat Augustinus nicht gelesen 4 und kennt dessen Vorstellung des Sündenfalls und der Erbsünde nicht. Die Adamsgeschichte, wenn die Briefe auf sie Bezug nehmen (Röm 5,12-21; Röm 7,7-12; 1Kor 15,21-28), erfüllt nicht die Funktion, die Bestimmung der menschlichen Existenz durch die Sünde als eine Vererbung der Genetik zu erklären. Adam wird als Paradigma verstanden: Der Tod herrscht über den Menschen, weil alle wie Adam gesündigt haben (Röm 5,12). Die Gefangenschaft des Körpers unter der Macht der Sünde betrachtet Paulus nicht als eine angeborene Eigenschaft, sondern er stellt sie als das faktische Ergebnis eines Prozesses dar, der in mehreren Schritten abläuft, die - um ein deskriptives und analytisches Modell der Physik mit einem medizinischen Begriff zu verbinden - als die Lawine einer Abhängigkeitssituation (lateinisch: addictum; englisch und französisch: addiction) beschrieben werden können. - Das mathematische Modell der Lawinen veranschaulicht, wie kontinuierliche Handlungen zu kritischen Situationen führen, die qualitative Umbrüche verursachen 5 . - Die Abhängigkeitssituation (addiction) entsteht dadurch, dass sich der Mensch einer Lösung verschreibt, die sich in ein unlösbares Problem verwandelt. 016911 ZNT 27 - Inhalt 24.03.11 11: 08 Seite 41 Zum Thema 42 ZNT 27 (14. Jg. 2011) Die Lawine der Sünde, die die Menschen ins Rollen bringen und die den Körper verschüttet, wird in Röm 1,18-31 in ihren verschiedenen Etappen offenbart und analysiert. Die Geschichte beginnt mit der Suche nach Autonomie - Paulus spricht von der Gottlosigkeit und der Ungerechtigkeit der Menschen, die sich verweigern, die Wahrheit der Gerechtigkeit Gottes, die jede Person unabhängig von ihren Eigenschaften anerkennt und dem Vertrauen die Möglichkeit gibt, eine Identität umsonst zu bekommen (Röm 1,16-17; 3,21-26), wahrzunehmen (Röm 1,18-21): (18) Denn der Zorn Gottes wird vom Himmel her geoffenbart über jede Art von Gottlosigkeit und Ungerechtigkeit der Menschen, die die Wahrheit unrechterweise unterdrücken. (19) Denn was an Gott erkennbar ist, ist bei ihnen offenbar; denn Gott hat es ihnen geoffenbart. [...] so dass sie nicht entschuldigt werden können, (21) denn obwohl sie Gott erkannten, haben sie ihn nicht als Gott verherrlicht und ihm gedankt; vielmehr verfielen sie in ihrem Denken der Nichtigkeit, und es verfinsterte sich ihr unverständiges Herz. Als Konsequenz der Gottlosigkeit und der Ungerechtigkeit, die Gott zwar erkennt, ihn aber nicht als Gott anerkennt, führt die Lawine unmittelbar zur Unfähigkeit, zwischen dem Schöpfer und der Schöpfung zu unterscheiden. Der Mensch, der überzeugt ist, mündig und vernünftig zu sein, gerät in einen ersten Selbstbetrug, indem er eine Apotheose der Schöpfung 6 - die Verabsolutierung seiner selbst - mit der Transzendenz des lebendigen Gottes verwechselt (Röm 1,22-23): (22) Sie behaupteten zwar, weise zu sein; aber sie wurden zu Toren. (23) Und sie tauschten die Herrlichkeit des unvergänglichen Gottes, gegen ein Bild ein, das einen vergänglichen Menschen, Vögel, Vierfüssler oder Kriechtiere darstellt. Nachdem sie den Menschen dazu verführt hat, die Transzendenz der Wahrheit und der Gerechtigkeit des lebendigen Gottes mit menschlichen Vorstellungen und Fantasien (Martin Luther) zu verwechseln, sodass der Mensch dann seine eigenen Fantasien und Vollkommenheitsideale verabsolutiert, führt ihn die Lawine der Sünde - des missverstandenen Gottes - zu einem verlogenen Verhältnis zu sich selbst und zu seinem Körper. Der Körper wird gerade dadurch entehrt, dass der Mensch zu einer Verwechslung zwischen Gott und dem eigenen Selbst und deswegen unter die Herrschaft der Begierden seines Herzens gerät (Röm 1,24- 25): (24) Deshalb hat sie Gott der Unreinheit ausgeliefert, in den Begierden ihres Herzens so dass ihre Körper durch sie selbst entehrt wurden. (25) Sie, die die Wahrheit Gottes mit der Lüge getauscht haben und Verehrung und Dienst dem Geschaffenen erwiesen statt dem Schöpfer, der gepriesen ist in Ewigkeit. Amen. Als weiteren, selbstorganisatorischen Verlauf der Lawine der Sünde, die die Universalität der Menschheit mitreißt, liest Paulus das Phänomen der Homosexualität. Die Logik scheint klar: Die Verwechslung zwischen der Gotteserkenntnis und der Anerkennung Gottes als lebendigen Gott hat zur Verkennung der Distanz zwischen Schöpfer und Schöpfung geführt, und diese zweite Verwechslung führt zu einer dritten, die den Menschen in die Versuchung bringt, seine Welt und sich selbst zu verabsolutieren. Diese vierte Verwechslung leitet ihn dazu, seinen eigenen Körper zu missbrauchen, und sie führt ihn zu einer fünften Verwechslung, die die Geschlechter nicht mehr unterscheidet (Röm 1,26-27) 7 : (26) Deshalb hat sie Gott ehrlosen Leidenschaften ausgeliefert. Denn ihre Frauen vertauschten den natürlichen Verkehr mit dem widernatürlichen. (27) Und ebenso ließen auch die Männer vom natürlichen Verkehr mit der Frau ab und entbrannten in ihrer Begierde nacheinander; Männer trieben mit Männern Unanständiges und empfingen an sich selbst die gebührende Belohnung für ihre Verirrung. 016911 ZNT 27 - Inhalt 24.03.11 11: 08 Seite 42 François Vouga Körper und Realpräsenz bei Paulus ZNT 27 (14. Jg. 2011) 43 In ihrer Mündung kommt die Lawine zu den »Handlungen des Körpers« (Röm 1,28-31): (28) Und wie sie nicht dafür hielten, Gott Anerkennung zu zollen, gab sie Gott der Haltlosigkeit preis. So tun sie, was sich nicht gehört, (29) sind erfüllt von jeglichem Unrecht [...] Die Geschichte der ganzen Lawine, die den Körper in einem Körper verschüttet und ihn in einen Körper der Sünde verwandelt, setzt klare Unterscheidungen voraus. Die Fehlbarkeit gehört zu der Befindlichkeit eines Subjektes, das endlich und frei geschaffen ist: Die Freiheit impliziert die Möglichkeit, falsche Entscheidungen zu treffen. Und genau die Entscheidung, autonom und Herr seiner selbst sein zu wollen - Markus würde schreiben: »seine Seele retten zu wollen« (Mk 8,34-38) - führt zur Situation einer zunächst selbst gewählten und dann vom Subjekt selbst nicht mehr vermeidbaren Abhängigkeit. 4. Die Kehrseite: Der Körper als Glied Christi und Tempel des heiligen Geistes Die Hervorhebung des Verhältnisses zum Körper als bedeutender Station auf dem Weg der Lawine der Sünde fällt auf, weil die Argumentation, die die Auswirkungen der Verwechslung der Wahrheit Gottes mit der Fantasie der Menschen beschreibt (Röm 1,24-25), einen anderen, vielleicht näherliegenden Verlauf hätte wählen können. Wenn es Paulus darum geht, die Konsequenzen der Herrschaftsübernahme der Begierden des Herzens zu zeigen, könnte er auch auf ihre zwischenmenschlichen Dimensionen verweisen. Warum lenkt der Apostel unsere Aufmerksamkeit aber gerade auf die Ehre des Körpers? Eine plausible Antwort findet sich in einer - in den Paulusbriefen unerwarteten - Unterscheidung, die das Sündigen am eigenen Körper von allen anderen Vergehen, die den Körper nicht betreffen, abgrenzt (1Kor 6,18). In seinem Kommentar hält sie Johannes Calvin aus nachvollziehbaren Gründen für eine »absurditas« 8 , aber Paulus sieht es offensichtlich anders. Er verdeutlicht dies, indem er diese erste Unterscheidung durch eine zweite vorbereitet, die den Bauch und den Körper gegenüberstellt: Der Bauch ist zwar für die Speisen da, wie die Speisen für den Bauch, aber der Körper ist für den Herrn da, wie der Herr für den Körper (1Kor 6,13). Der Körper, der die Fehlbarkeit des Menschen symbolisiert, wird nicht nur als Ort der Versuchung und als Ausgangspunkt und Opfer der Lawine der Sünde wahrgenommen, sondern auch, und gerade in seiner Endlichkeit und seiner Fehlbarkeit, als die Gabe Gottes, die jede Person als Glied von Christus geschenkt bekommt und in welcher der Geist seine vielfältige Frucht trägt, anerkannt und bekannt (1Kor 6,12-20): (12)-Alles ist mir erlaubt, aber nicht alles ist zuträglich. Alles ist mir erlaubt, aber nichts soll Macht haben über mich. (13)-Die Speisen sind für den Bauch da, und der Bauch für die Speisen; Gott wird ihn und sie zugrunde gehen lassen. Der Körper aber ist nicht für die Unzucht da, sondern für den Herrn, und der Herr für den Körper: (14)-Gott hat den Herrn auferweckt und wird auch uns auferwecken durch seine Kraft. (15)-Wisst ihr nicht, dass eure Körper Glieder des Christus sind? Also, soll ich die Glieder des Christus nehmen und zu Gliedern einer Dirne machen? Nein! (16)-Oder wisst ihr nicht, dass wer der Dirne anhängt, ein Körper mit ihr ist? Denn die zwei werden, heißt es, ein Fleisch sein. (17)-Wer aber dem Herrn anhängt, ist ein Geist mit ihm. (18)-Meidet die Unzucht! Jedes Vergehen, das ein Mensch begeht, betrifft nicht seinen Körper. Wer Unzucht begeht, sündigt am eigenen Körper. (19)-Oder wisst ihr nicht, dass euer Körper Tempel des heiligen Geistes in euch ist, den ihr von Gott habt, und ihr gehört nicht euch selbst? (20)-Ihr seid teuer erkauft. Verherrlicht also Gott in eurem Körper! Die Schönheit des Körpers besteht in der Bewunderung der Gnadengaben, mit denen die Vorsehung Gottes uns - wie die Blumen des Feldes - bekleidet, und seine Gesundheit in der Dankbarkeit gegen den Schöpfer, der ihn uns umsonst schenkt. Uns wird er nicht gegeben, damit wir ihn als Mittel zum Zweck degradieren, damit wir ihn instrumentalisieren, um uns durch Vollkommenheitsideale der Gesundheit, der Ästhetik oder fantasievoller Leistungen zu verewigen. Die Lawine, die dadurch ausgelöst wird, ist bereits beschrieben worden. Der Körper ist uns als Endlichkeit und Fehlbarkeit geschenkt, damit wir die Freiheit des Vertrauens, das uns die bedingungslose Anerkennung ermöglicht, in eine Realpräsenz der Gerechtigkeit - in einen Tempel des heiligen Geistes - verwandeln lassen 016911 ZNT 27 - Inhalt 24.03.11 11: 08 Seite 43 Zum Thema 44 ZNT 27 (14. Jg. 2011) (Röm 12,1-2! ). Das Sündigen am Körper nimmt wahrscheinlich deswegen eine Sonderstellung im paulinischen Denken ein, weil die vergängliche, endliche und fehlbare - weil freie - Bekleidung, die dem Subjekt geschenkt wird, der Geschichte seines geistigen Lebens, seines Verhältnisses zu Gott, zu sich selbst und zu den Anderen Raum und Zeit gibt. Der Körper ist der Raum und die Zeit, in denen die von Gott anerkannte Person Partnerschaft, Mutterschaft, Vaterschaft, Sohn- und Tochterschaft, Gesundheit und Krankheit, Geburt, Leben und Tod gestaltet. So erklärt sich natürlich die Ausdehnung der Körpervorstellung auf die Gemeinschaft der Schwestern und Brüder: Die Einladung, den »Körper« in der Tischgemeinschaft des Mahles des Herren anzuerkennen (1Kor 11,29), verweist sowohl auf den Körper des gekreuzigten Christus, der im Brotbrechen symbolisiert ist (1Kor 11,24), als auch auf seine aktuale Gegenwart in seinen Gliedern (1Kor 6,15): »Ihr seid der Körper von Christus« (1Kor 12,27, vgl. Röm 12,4-5). Anmerkungen 1 Umfassende Problemstellung bei St. Rodotà, La vita e le regole. Tra diritto e non diritto, Saggi Universale Economica Feltrinelli, Milano 2006, besonders im Kapitel 1: Il corpo, 73-98. 2 Den Begriff entnehme ich der Symbolik des Bösen von Paul Ricoeur. Cf. Ders., Philosophie de la volonté II: Finitude et culpabilité 1: L’homme failible, und 2: La symbolique du mal, Paris 1960; Ders., Le mal: un défi à la philosophie et à la théologie, Genève 1986; wiederveröffentlicht in: Lectures III: Aux frontières de la philosophie, La couleur des idées, Paris 1994, 211-233. 3 F. Vouga et J.-F. Favre, Pâques ou rien. La résurrection au centre du Nouveau Testament, Essais bibliques 45, Genève 2010, 181-202. 4 Augustinus, De diversis quaestionibus ad Simplicianum, 396 n.Chr. 5 Umfassende Darstellung in: P. Bak, How Nature Works. The science of self-organized criticality, New York 1996. Französische Übersetzung: Quand la nature s’organise. Avalanches, tremblements de terre et autres cataclysmes, Paris 1999. 6 G. Bornkamm, Die Offenbarung des Zornes Gottes (Röm 1-3) [1935], in: Das Ende des Gesetzes. Gesammelte Aufsätze I, BEvTh 28, München 1952, 9-33; H. Schlier, Von den Heiden. Röm 1,18- 32, EvTh 2 (1935) 9-26. 7 Das Phänomen der Homosexualität, das von der pädagogischen, im frühen Christentum (1Kor 6,9; 1Tim 1,10) scharf abgelehnten Tradition der antiken, griechischen Päderastie (die aus asymmetrischem Verhältnis zwischen Lehrer[in] und Schüler[in] besteht, Sappho, Platon, Symposion) zu unterscheiden ist, symbolisiert in dieser Argumentation die menschliche Verwirrung, die das Andere im Anderen vom Gleichen nicht mehr unterscheiden kann: Die Menschheit, die Schöpfer und Schöpfung nicht unterscheidet, verwechselt deshalb Mann und Frau, weil die Unfähigkeit, Gott als den Ganz-Anderen zu ehren, zu der Unfähigkeit führt, den anderen Menschen als Anderen anzuerkennen. Folglich geht es hier weder um ein moralisches (»Homosexualität ist eine Sünde«) noch um ein soziales Problem (»Homosexualität ist eine Abweichung von der Norm«), sondern um die universale Schwierigkeit, sich als »Ich« innerhalb einer Ich-Du-Beziehung, die durch die Umsonstheit der Gnade Gottes gegeben ist, zu verstehen. Die Störung des Verhältnisses zu sich selbst, die aus der Störung des Verhältnisses zu Gott folgt, äußert sich wahrnehmbar im Verhältnis zum anderen als Nicht-als- Anderen. Die Homosexualität ist nicht Sünde, sondern das Symptom der universalen Sünde, die im Missverhältnis des Einzelnen zu Gott und deshalb zu sich selbst besteht. In der universalen Logik von Röm 1,18-31 kann es wohl heterosexuelle Beziehungen geben, in denen der Gleiche, und nicht der Andere im Partner gesucht wird und die »wider-natürlich« sind - »Natur« ist in der Antike und bei Paulus ein bewusst kultureller Begriff (Röm 2,14,24; 11,21; 1 Kor 11,14; Gal 2,15; 4,8) - und es kann homosexuelle Ich-Du-Beziehungen geben. Aus kulturell geprägten Gründen - römische, hellenistische (nicht: griechische) und jüdische Erziehung und Moral stimmen hier im Prinzip überein - wird in Röm 1,24-27 die Homosexualität als Symbol einer Haltung gesehen, die universal verbreitet und mit dem besonderen Verhalten der Menschen, die homosexuelle Beziehungen führen, logisch nicht zu verwechseln ist. Parallele Analyse in: E.A. Lévy-Valensi, Le grand désarroi aux racines de l’énigme homosexuelle, Paris 1973. 8 Iohannis Calvini in omnes Pauli apostoli epistolas atque etiam in epistolam ad Hebraeos commentarii, Volumen I epistolas ad Romanos, Corinthios et Galatas complectens, Halis Saxonum 1831, 283. »Die Schönheit des Körpers besteht in der Bewunderung der Gnadengaben, mit denen die Vorsehung Gottes uns - wie die Blumen des Feldes - bekleidet, und seine Gesundheit in der Dankbarkeit gegen den Schöpfer, der ihn uns umsonst schenkt.« 016911 ZNT 27 - Inhalt 24.03.11 11: 08 Seite 44