eJournals ZNT – Zeitschrift für Neues Testament 14/27

ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
2011
1427 Dronsch Strecker Vogel

»Am Leitfaden des Leibes«

2011
Annette Weissenrieder
»Am Leitfaden des Leibes zeigt sich eine ungeheure Vielfachheit; es ist methodisch erlaubt, das besser studierbare reichere Phänomen zum Leitfaden für das Verständnis der ärmeren zu benutzen.« »Es liegt so unsäglich viel mehr an dem, was man ›Leib‹ und ›Fleisch‹ nannte: der Rest ist kleines Zubehör.« 2 Mit dem »Leitfaden des Leibes« wird uns wohl einer der gewagtesten Zugänge zum Gesamtwerk Friedrich Nietzsches eröffnet: Die Aussagen über den letzten Grund der Philosophie werden nicht anhand der Seele oder des Geistes geleitet, sondern anhand des Leibes, der somit auch einen methodischen Zugang zum Werk eröffnet. Nietzsche thematisiert den menschlichen Leib (den er auch wahlweise Körper nennt) und erkennt ihm einen Primat vor der einseitigen Vernunft zu. Nietzsches Leibphilosophie verkündet gegen die Zersplitterung der mechanischen Welt in der modernen Philosophie die Ganzheit des Leibes. Mit seinem Ganzheitsdenken wertet Nietzsche den Leib außerordentlich auf. Die Aufgabe der philosophischen Anthropologie soll es sein, auf dem Weg einer Kritik der neuzeitlichen Philosophie die Grundzüge eines neuen Verständnisses der Existenzform des Menschen zu gewinnen. Auch in antiken medizinischen und naturphilosophischen Traktaten ist das Nachdenken über sōma (»Körper« oder »Leib«) der Ausgangspunkt zahlreicher Abhandlungen, häufig auch deshalb, weil sōma mit allen anthropologischen Begriffen verknüpft ist, wie eine Wortfelduntersuchung, die ich im Rahmen des Quellenbuches Embodying New Testament Anthropology gemacht habe, zeigen kann. 3 Begriffe wie psychē (»Seele« oder »Leben«), nous (»Verstand«) oder kardia (»Herz«) werden nicht isoliert entworfen, sondern in der Regel in Relation zu sōma gesetzt. Dass wir demnach ein einheitliches Konzept dessen, was man in der Antike unter sōma verstanden hat, finden können, ist schon unter dieser Voraussetzung unwahrscheinlich. Vielmehr ist die Tatsache grundlegend, dass sich die Heilkunde und die Philosophie der Antike in einem Prozess der Ausdifferenzierung befunden haben. 4 Somit musste sich auch das frühe Christentum einerseits zur Ausdifferenzierung einer naturwissenschaftlich-rationalen Medizin aus den Heilkulten und andererseits zu dem Neben- und Miteinander von Philosophie und antiker Medizin verhalten. Welches sind die methodischen Grundlagen für den »Leitfaden des Leibes« in den antiken medizinischen und philosophischen Texten? Und welche Diskurse waren leitend? Um diesen Prozess der Ausdifferenzierung nachvollziehen zu können, ist es sicherlich von Belang, dass die Grenzen zwischen Philosophie und Medizin, zwischen theoretischen und empirisch-praktischen Implikationen noch keineswegs gezogen und deshalb Gegenstand hitziger Debatten auf beiden Seiten waren. Dass philosophische Denker wie Platon (428/ 27- 348/ 47 v.Chr.), Aristoteles (384-322 v.Chr.), Alexander von Aphrodisias (2.-3. Jh. n.Chr.) oder Sextus Empiricus (160-210 n.Chr.) sich mit großem Interesse der Physiologie des menschlichen Körpers widmeten und Mediziner wie Hippokrates (460-370 v.Chr), Diokles von Karystus (wahrscheinlich Mitte 4. Jh. v.Chr.) oder Erasistratus (304-250 v.Chr.) in der doxographischen Tradition, beispielsweise eines Artius (1.-2. Jh. n.Chr.), als Philosophen geführt werden, ist weithin unbekannt. Dazu hat sicherlich der Faktor beigetragen, dass es eine zertifizierte Ausbildung medizinischer und philosophischer Provenienz nicht gab. In diesem Sinne ist auch die Bezeichnung »rationale« Medizin irreführend, die häufig als Abgrenzung gegen eine antike Volksmedizin herangezogen wird, weil diese Bezeichnung eine Art Aufklärungsbewegung in der Antike voraussetzt, die sich in Opposition zu dem Suprarationalen oder auch Irrationalen etablierte. Der Begriff »rational« ist an dieser Stelle vielmehr als logikos zu interpretieren und meint eine theoretisch fundierte Medizin. Gegenstand dieser theoretisch fundierten Medizin war in erster Linie die Verhältnisbestimmung von (philosophisch fundierter) Theorie und Erfahrung am und mit dem menschlichen Körper. 5 Was die unterschiedlichen philosophischen und Zum Thema Annette Weissenrieder »Am Leitfaden des Leibes« Der Diskurs über so¯ ma in Medizin und Philosophie der Antike 1 ZNT 27 (14. Jg. 2011) 15 »Was die unterschiedlichen philosophischen und medizinischen Schulen vereint, ist ihre Suche nach einer natürlichen Ursache von körperlichen Vorgängen, besonders aber von Krankheiten, die nicht auf übernatürliche Faktoren zurückgeführt werden sollten.« 016911 ZNT 27 - Inhalt 24.03.11 11: 08 Seite 15 Zum Thema 16 ZNT 27 (14. Jg. 2011) medizinischen Schulen vereint, ist ihre Suche nach einer natürlichen Ursache von körperlichen Vorgängen, besonders aber von Krankheiten, die nicht auf übernatürliche Faktoren zurückgeführt werden sollten. Eines der bekanntesten Beispiele ist sicherlich die frühe Schrift De morbo sacro des Corpus Hippocraticum (ca. 5. Jh. v.Chr. bis 1. Jh. n.Chr.), in der sich der Autor dezidiert gegen übernatürliche göttliche Faktoren bei der Erklärung der Krankheit Epilepsie wendet, und er sich explizit gegen göttliche Heiler richtet. Stattdessen wird eine natürliche Ursachenanalyse vorangetrieben, die in einer Verstopfung durch Schleim derjenigen Adern gedeutet wird, die zum Gehirn führen, und die regelmäßige Luftzufuhr ins Gehirn verhindern. Nicht die Krankheit, sondern allein die Gottheit ist von Reinheit und Heiligkeit umgeben. Schon deshalb sei keineswegs eine Gottheit die Ursache für die Krankheit. Diese Zuschreibung erfolge allein durch ein Deutungsvakuum: »Diese Menschen wählten die Gottheit als Deckmantel für ihre Hilflosigkeit; denn sie hatten nichts, mit dessen Anwendung sie helfen konnten.« Das Deutungsvakuum verbindet sich nach dem Verfasser mit einem zweiten Moment, nämlich der Schuldfrage, wenn er schreibt: »So aber ist nicht mehr das Göttliche schuld, sondern etwas Menschliches« (Corpus Hippocraticum; im Folgenden abgekürzt mit CH De morbo sacro 1.25). Diese menschliche Schuld wird im Laufe der Schrift dann als vererbte Krankheit gedeutet (CH De morbo sacro 3.1). Methodisch zeigt sich hier eine Generalisierung von Theorien - an der genannten Stelle in De morbo sacro der Ausgleich vier verschiedener Säfte -, eine Vorgehensweise, die typisch für hippokratische Traktate ist. Ausgangspunkt hippokratischer Traktate ist mehrheitlich die generelle Natur des menschlichen Körpers, wie beispielsweise die Aussagen über Lebensbedingungen, die sich jedoch in erster Linie an den Charakteristika der Witterung und Jahreszeiten und sehr viel weniger an dem sozialen Status der Personen orientieren. Hinzu kommt die generelle und individuelle Natur des Körpers, wie Geschlecht, Lebensalter und besondere Konstitution. Das grundlegende Ansinnen ist es, sich anhand des sichtbaren Äußeren des Körpers dem unsichtbaren Inneren des Körpers zu nähern. Anatomische Untersuchungen und Obduktionen waren nicht üblich. Mit dieser Annäherung an das Innere des Körpers anhand äußerer Zeichen etabliert sich die medizinische Physiognomie. Man mag diese Lehre mit Platons Symposium verbinden, wo Alkibiades Sokrates mit den Bildwerken der Silenen vergleicht, die nur äußerlich wie Silenen aussehen, innerlich aber Bildsäulen der Götter bergen. Platon greift hier - wenn wir den Aussagen Galens glauben schenken dürfen - auf medizinisch-philosophisches Wissen zurück, um die Frage zwischen äußerem und innerem Menschen zu beantworten (Symposium 215b). Aber folgen wir Galen, so hat diese Diskussion mit Hippokrates ihren Anfang genommen, wenn er schreibt, dass »in those who practice medicine without a knowledge of the science of physiognomy, the judgement goes to seed, wallowing in darkness« (Gal. Prognostica de Decubitu ex Mathematica Scientia, Kühn XIX 530). Physiognomie im Sinne der antiken Medizin und Philosophie ist nicht an den Schönheitsidealen ihrer Zeit, sondern vielmehr an den inneren körperlichen Vorgängen interessiert. Grundlegend dafür ist, dass die sichtbaren Symptome am Körper auf unsichtbare Ursachen schließen lassen. Galen spricht von »obskuren Stellen am Körper, die man nicht sehen kann« 6 , und meint damit, dass diese für die Sinneswahrnehmung nicht oder kaum wahrnehmbar sind. In diesem Sinne erscheint der Körper dann als informierter Körper, denn es ist der äußere Körper, der spricht. 7 Der diesen medizinischen Traktaten zugrundeliegende Erfahrungsbegriff basiert auf dem Beobachtungswissen am einzelnen Körper, das man dann auf die schon genannten Theorien appliziert. Die verschiedenen methodischen Ansätze, wie die Lehre des Mikrokosmos-Makrokosmos oder die Säftelehre, bestätigen die rein rationale Fundierung der Medizin etwa einer hippokratischen Provenienz. Erst in hellenistischer Zeit veränderte sich diese Denkweise, indem man annahm, dass man mit empirischen klinischen Fallstudien, nicht zuletzt angeregt auch durch anatomische Studien eines Herophilus oder Erasistratus, Aussagen über das Körperinnere machen könne. Die Faszination des unsichtbaren Körperinneren ist eine grundlegende Tendenz in der antiken Philosophie und Medizin, aber der Umgang damit verändert sich: Waren in den früheren Schriften noch pauschale theoretische Setzungen grundlegend, sind es nun »klinische« Studien. Der Begriff der Erfahrung entfernt sich von der Körperbeobachtung einzelner Kranker durch den jeweiligen behandelten Arzt hin zur Anwendung medizinischen Allgemeinwissens. Mit Galen verändert sich der Blick auf den Körper nochmals, indem er einer fundierten Theoriebildung (orientiert an der aristotelischen Grundlegung von apodeixis, diairesis und definitio) über das Körperinnere positiv gegenübersteht, da er diese mit seinem Begriff der Erfahrung verbinden kann, die sich auf Dissektionen und anatomischen Untersuchungen an Tieren gründet. 8 Die Fundierung der 016911 ZNT 27 - Inhalt 24.03.11 11: 08 Seite 16 Annette Weissenrieder »Am Leitfaden des Leibes« ZNT 27 (14. Jg. 2011) 17 antiken Medizin als rationale scheint eine religiöse Fundierung gänzlich unmöglich zu machen. Drei Gründe sprechen gegen diese einseitige Deutung der antiken Medizin: Grundlegend ist auffallend, dass im Corpus Hippocraticum ein Traktat dem Phänomen des Träumens als eines Mittels zur Erstellung von Diagnosen gewidmet ist (CH De victu IV). Die träumende Seele gebe über den Zustand des Körpers Auskunft. »Derjenige, der die richtige Erkenntnis hat, wird finden, dass die Anzeichen, die sich im Schlaf einstellen, einen großen Einfluss auf die Vorgänge im Körper ausüben. Denn die Seele, die dem wachenden Körper Dienste leistet, ist (im Schlaf ) nicht sie selbst, da sie ihre Sorge auf vielerlei verteilt; sie gibt vielmehr einem jeden einzelnen Teil des Körpers etwas von sich ab, dem Gehör, den Erscheinungen, dem Gefühl, dem Gang, den Tätigkeiten des ganzen Körpers, zu sich selbst aber kommt der Verstand dabei nicht.« (CH De victu IV.1) Damit nimmt die hippokratische Tradition eine Methode auf, die sich auf die heilende Wirkung des Schlafes bezieht, und die uns in besonderer Weise durch Heilkulte überliefert ist. Diese Nähe bezeugt zudem der sog. Hippokratische Eid (Iusiurandum). 9 Dort heißt es: »Ich schwöre und rufe Apollo, den Arzt, und Asklepios […] und alle Götter und Göttinnen zu Zeugen an, dass ich diesen Eid und diesen Vertrag nach meiner Fähigkeit und meiner Einsicht erfüllen werde.« (CH Iusiurandum 1). Die hippokratische Tradition wird hiermit in eine Reihe mit dem Heilgott Apollo gestellt. Interessant ist zudem ein im Corpus Hippocraticum erhaltener Brief, der in Form einer Novelle vom Aufheben des Äskulapstabes bei einem jährlichen Fest eine Verhältnisbestimmung zwischen dem Heilkult des Asklepios und der rationalen Medizin der Hippokratiker bietet (CH Epistulae 11). Das Aufheben und Heimbringen des Stabes stellt die symbolische Hinwendung der Hippokratischen Tradition zu dem Ursprung Asklepios dar. Die Weitergabe des Stabes zeigt: Wissenschaftliche Medizin und Tempelmedizin schließen sich nicht aus. Sie ergänzen sich gegenseitig in ihren Ansätzen. Auch wenn man dem pseudepigraphen Charakter der Schrift Rechnung trägt, macht die Novelle doch eines deutlich: Im Bewusstsein der Antike waren ärztliche Kunst und göttliche Tradition eng verbunden. Damit ist deutlich: Die sog. rationale Medizin der Antike ist hinsichtlich ihrer religiösen Fundierung durchaus ambivalent. Durch den Hippokratischen Eid ist sie in ihrem Selbstverständnis religiös fundiert. Die medizinischen Schriften stellen auch die Existenz von Göttern nicht in Frage. Diese religiöse Fundierung hat ihre Grundlage häufiger in den Heilkulten des Apollo und des Asklepios. Dies gilt in besonderer Weise für Galen, der Asklepios als Legitimation seiner eigenen medizinischen Fähigkeiten heranzieht, was durchaus verständlich ist, wenn man bedenkt, dass der medizinische Beruf durch keinerlei Examina geschützt war 10 . So bezeugt Galen häufiger Übereinstimmung zwischen dem Handeln des Asklepios und seinen medizinischen Fähigkeiten, wenn er schreibt: »Another wealthy man, this one not a native but from the interior of Thrace came to Pergamon because a dream had prompted him to do so. The dream appeared to him, the god [Asclepius] describing that he should drink every day of the drug produced from the vipers and should anoint the body from the outside. The disease [elephantiasis] after a few days turned into leprosy; and this disease, in turn, was Assoc. Prof. Dr. Annette Weissenrieder wirkt seit 2008 als Professorin für Neues Testament am Graduate eological Union und San Francisco eological Seminary, nachdem sie zuvor Assistentin an der Universität Heidelberg war. Als visiting scholar war sie am Union eological Seminary in New York, am McCormick Seminary in Chicago und an Harvard Divinity. Zusammen mit Gregor Etzelmüller hat sie 2007 den Hengstberger Preis des Internationalen Wissenschaftsforums für wissenschaftlichen Nachwuchs gewonnen. Ihren Forschungsschwerpunkt hat sie im Bereich neutestamentlicher Anthropologie und Pneumatologie sowie an der Schnittstelle zwischen Griechisch-Römischem Kontext und dem Neuen Testament, speziell im Bereich antiker Medizin, Philosophie und antiker Kunst. Annette Weissenrieder »Ich schwöre und rufe Apollo, den Arzt, und Asklepios […] und alle Götter und Göttinnen zu Zeugen an, dass ich diesen Eid und diesen Vertrag nach meiner Fähigkeit und meiner Einsicht erfüllen werde.« 016911 ZNT 27 - Inhalt 24.03.11 11: 08 Seite 17 Zum Thema 18 ZNT 27 (14. Jg. 2011) cured by the drugs which the god commanded« (Gal. De simplicium medicamentorum temperamentis ac facultatibus 10-11, 1,1, XII 313 ff. Kühn). Galen (2. Jh. n.Chr.) und seine Schüler praktizieren dementsprechend ganz im Sinne des Heilgottes Asklepios. Besonders hinsichtlich seines Naturbegriffs richtet Galen jedoch seine Aufmerksamkeit auch auf eine göttliche Transzendenz: Die Natur ist die transzendente göttliche, providentielle Urheberin der Dinge, die Lebewesen konstituiert. Grundlegend offenbart sich hier die Schönheit der Lebewesen, die in der Ordnung des ganzen Organismus und in der Zweckdienlichkeit der Teile besteht. Fraglich ist für ihn auch der Grund dieser Ordnung. Damit geht er den Weg von der Medizin zur Theologie und schreibt die Ordnung in der Welt - der Gesamtheit der Dinge am Himmel und der Erde - und die Ordnung in den Lebewesen, die sich in den Individuen manifestiert, der Natur zu, die er auch »Demiurg« nennen kann. Diese Teleologie bildet Galens Grundvorstellung in der Erklärung des Lebendigen und demnach in seiner Erklärung der Natur. Auch wenn die rationale Medizin in ihrem Selbstverständnis religiös fundiert ist, distanziert sie sich jedoch entschieden von religiösen Deutungen von Krankheit und körperlichen Vorgängen, indem sie eine Gottheit als Krankheitsursache und in den Körper eingreifende Macht ablehnt. Wir können also sehen: Die Unterscheidung, die wir heute zwischen »natürlichen« und »übernatürlichen« Deutungszusammenhängen ziehen, und die wir an unsere neutestamentlichen Texte herantragen, wurde in der Antike so nicht konsequent durchgeführt. Zahlreiche Beispiele im Neuen Testament belegen m.E. diese Tendenz. Auf eine Kopplung zwischen Heilkult und rationaler Deutung von Krankheit treffen wir in Apg 28,1-10, wo der Apostel Paulus nach seiner Errettung vom Schiffbruch und seiner Verschonung von den Folgen eines Schlangenbisses als Gott bezeichnet wird. Die Erfahrungen, die Paulus rund um den Schiffbruch macht, lassen eine Nähe zur Asklepiostradition vermuten. Die schriftliche Darstellung des heilenden Handelns Pauli entspricht den ikonographischen Darstellungen des Asklepios. Ähnlich wie Asklepios muss Paulus seiner Mission nach Rom folgen, fungiert als Seher und auch er hat Macht über die Schlange. Aber er zerstört sie! Und ähnlich wie Asklepios kommt Paulus die Fähigkeit zu heilen zu. Doch die Heilkraft bezieht er nicht aus sich selbst. Er erfährt sie im Gebet und durch Handauflegung. All diese Bezüge legen eine Nähe von Apg 28 zur Asklepiostradition nahe. Die anschließende Heilung des Vaters des Publius jedoch entspricht ganz der rationalen Medizin, indem nicht nur Termini aus der rationalen Medizin - Dysenterie und Fieber - benannt werden, sondern ebenfalls auf das höhere Lebensalter des Vaters des Publius und die Krankheitsursachen - Regen und Kälte - verwiesen wird. Eine Unterscheidung zwischen der medizinischen Krankheitsbeschreibung und der übernatürlichen Heilung wird nicht vorgenommen. Im Folgenden sollen drei zentrale Diskurse über sōma benannt und kurz skizziert werden, wobei jeweils am Schluss ein kurzer Rekurs auf neutestamentliche Aspekte stehen soll. 11 1. Am Leitfaden des Leibes: so¯ ma als Raum Diogenes Laertius definiert in den Vitae Philosophorum VII 135.1−8 sōma auf dreifache Weise: (1) Ein Körper ist das, auf was eingewirkt werden kann. (2) Ein Körper ist das dreidimensional Ausgedehnte mit Widerständigkeit. Diese Auffassung wird zwar allgemein der Stoa zugeschrieben, ist aber verlässlich nur von Apollodorus von Seleukia belegt. (3) Die Oberflächen des Körpers sind ihrerseits Körper. Apollodorus bestimmt Körper in diesem Text unter Verzicht auf Widerständigkeit allein durch die Dreidimensionalität. 12 Allein der Kontext dieser Stelle weist auf einen menschlichen Körper als Referenzpunkt. Galen erweitert die Dreidimensionalität auf der Basis seiner Beschäftigung mit Aristoteles und Platon um das Vermögen zu wirken oder Wirkung zu erleiden, mit der eine weitere Eigenschaft einhergeht, nämlich Widerständigkeit, die antitypia, aus der heraus Re-Aktion gewonnen wird. Was diese theoretische Einsicht nun konkret meint, zeigt Galen am Beispiel der Verwendung des Wortes thixei, welches zunächst schlicht »berühren« meinen kann, im metaphorischen Sinne jedoch auch »begreifen« oder »erfassen«: Die Seele oder mentale Verfassung des Körpers ist mit dem Körper verbunden und kann den Körper als solchen erfassen, selbst wenn die Augen geschlossen sind. Der Körper kann demnach von innen und außen erfasst und berührt werden. »Auch wenn die rationale Medizin in ihrem Selbstverständnis religiös fundiert ist, distanziert sie sich jedoch entschieden von religiösen Deutungen von Krankheit und körperlichen Vorgängen, indem sie eine Gottheit als Krankheitsursache und in den Körper eingreifende Macht ablehnt.« 016911 ZNT 27 - Inhalt 24.03.11 11: 08 Seite 18 Annette Weissenrieder »Am Leitfaden des Leibes« ZNT 27 (14. Jg. 2011) 19 Die Frage nach der Räumlichkeit der Körper ist jedoch schon sehr viel früher im Bereich der Medizin aufgekommen, freilich jedoch mit einer ganz eigenen Zuspitzung: Weniger die Frage nach einer geometrischen Definition war Gegenstand der Beschreibung des Körpers, als vielmehr die Übertragung von alltäglichen Raumerfahrungen, die dann auf den menschlichen Körper, vielmehr das Körperinnere, übertragen wurden. Für den inneren Körper hat man drei Beobachtungen zugrunde gelegt: (1) Der innere Körper wird als Raum erfahren, der begehbar und als Stadt etc. visuell erfahrbar ist. (2) Er muss sich in einem ständigen Prozess der Erneuerung befinden. Dies ergibt sich allein schon durch das Eindringen des pneuma durch die Haut und die Atmung, aber auch durch die verschiedenen Körpersäfte. (3) Ein Körper gliedert sich nicht nur durch Organe, Muskeln, Venen etc., sondern auch durch Hohlräume. (1) Um zu erfahren, wie man in der Antike den Körper als Raum erfasst, startet man bei dem Traktat De locis in homine, wo der Begriff chōrion eingeführt wird, der ›Platz‹ oder auch ›Raum‹ und ›Gebiet‹ meinen kann und einen bestimmten Teil des menschlichen Körpers bezeichnet. Die Verwendung des Begriffs ruft deshalb Erstaunen hervor, weil der Traktat mit dem topos-Begriff überschrieben ist und auch sonst für die Umschreibung eines Körperteils in dem Traktat meros verwendet wird, das wir auch in den paulinischen Schriften finden. Für Galen sind die Begriffe meros und topos austauschbar, wenn er beispielsweise schreibt: »Nicht nur die mehr aktuellen Ärzte, sondern auch einige der älteren Ärzte nennen die Körperteile Plätze (topoi).« 13 Im Corpus Hippocraticum treffen wir ansonsten selten auf chōrion; es wird meist durch topos ersetzt, da es möglicherweise stärker als Raumkategorie denn als Stelle eines Körpers empfunden wurde (CH De diaeta acutorum 42; De vetere medicina 18.22; De fracturis. 2 u.a.). Der dritte Begriff, der den Körper als Raum beschreibt ist teuchea. Der Begriff ist für das Corpus Hippocraticum ungewöhnlich und wird nur wenige Male erwähnt und hier auch in unterschiedlichen Konnotationen wie ›Behälter‹ oder ›Körperkanal‹ und ›Gefäß‹ (CH De sterilibus; De locis in homine 47.7). Der Begriff bezeichnet den Körper als Ganzen wie auch einzelne seiner Teile. Interessant ist die Verwendung des Begriffs bei Homer, die dann auch im Corpus Hippocraticum aufgenommen wird. Beschrieben wird eine tödliche Flut, die das Meer mit sich bringt, die dann analog zu Körpersäften im Körper gebraucht wird, der überflutet wird. Neben dem Raum werden auch Wege und Korridore erwähnt, wie diodoi: Weil das Fleisch weniger komprimiert sei und sich dementsprechend ausweitet, öffnen sich Gänge oder Korridore. Diese sind aber auch aus anderen hippokratischen Traktaten bekannt, wie etwa in De natura ossium, wo sie die Wege zur Lunge im Körper öffnen und in De genitura, wo diese Passagen dem Sperma einen Durchgang verschaffen. Eng verbunden mit der Raummetaphorik ist koinōneō - ein Verb, das eine Partnerschaft von zwei oder mehreren Beteiligten in einem Raum beschreiben kann. Im Kontext des Körpers bezeichnet das Verb die verschiedenen Körperteile, die im Austausch miteinander stehen. In einem der ältesten uns erhaltenen Texte der antiken griechischen Medizin, De vetere medicina, wird der Körper mit einer besonderen Raumvorstellung umschrieben, dem semantischen Wortfeld aus Politik und Krieg, was besonders durch das Verb auteō bezeichnet wird. Das Substantiv autē meint »Schuss« oder »Schrei«, speziell »Kriegsgeschrei«. Das Verb auteō meint »aktuell an einem Kriegsschauplatz (durch Geschrei) präsent sein«. Der Körper wird dabei nicht als aktives Element gedeutet, sondern er ist der Kriegsschauplatz, auf dem unterschiedliche Substanzen, Körperflüssigkeiten und Oppositionen ihr Unwesen treiben. Dass Kriegsmetaphorik insgesamt für antike Literatur nicht ungewöhnlich für die Beschreibung von Körperzuständen war, wird ausführlich von Kahn und Solmsen belegt. 14 Der Kriegsschauplatz wird dann verwendet, wenn es sich um gegensätzliche Flüsse oder Kräfte im Körper handelt. Vergleichbares findet sich auch in dem Traktat De alimentis »Über die Nahrung« 2.1−3.2 (100.4−9 Littré), wo der Verfasser seine Verben so wählt, dass diese zwischen siegreich sein, übermächtig sein oder beherrschen des Körpers und packen oder reißen, habgierig sein, festfressen und krampfen changieren. Nicht die Kriegsmetapher ist hier leitend, sondern vielmehr der Ringsportwettkampf, der in einer Arena stattfindet, die der Körper ist. Nahrung (griech. trephē) und Sich-Ernähren (griech. trephō) werden dementsprechend auch als befestigen und haltbar machen (des Fleisches) benannt. »Die Erfahrungen, die Paulus rund um den Schiffbruch macht, lassen eine Nähe zur Asklepiostradition vermuten. […] Ähnlich wie Asklepios muss Paulus seiner Mission nach Rom folgen, fungiert als Seher und auch er hat Macht über die Schlange. Aber er zerstört sie! « 016911 ZNT 27 - Inhalt 24.03.11 11: 08 Seite 19 Zum Thema 20 ZNT 27 (14. Jg. 2011) (2) Die Frage nach der Zirkulation der Säfte und des pneuma im Inneren war in der Antike Gegenstand breiter Diskussion. Wie ein Kreis keinen Anfang und kein Ende habe, so der Verfasser von De locis in homine, so auch der Körper nicht. 15 Diesen Kreislauf meinte man mit Blick auf den äußeren Menschen wahrnehmen zu können. Dass dieser Kreislauf einem Rhythmus unterworfen ist, zeigt ein weiterer Text. Er vergleicht den inneren Kreislauf mit einem athletischen Wettkampf und verortet diesen wiederum in einem antiken Gymnasium: Eine Signalflagge verweist dann auf den Wendepunkt im Lauf und muss vor dem Rücklauf berührt werden. Der Gedanke des Kreislaufs ist mit einem weiteren Gedanken verbunden: Das Innere des Menschen befindet sich nicht nur in einem stetigen Kreislauf, sondern damit auch in einem ständigen Feld der Erneuerung. Dies betrifft die Säfte ebenso wie das pneuma und die Stoffwechselvorgänge. Damit unterscheidet sich das Innere grundlegend von der äußeren Erscheinung. Denn diese befindet sich gerade nicht im Kreislauf der Erneuerung, sondern der Alterung. (3) Neben den, wie Böhme sie nennt, Leibesinseln, die auf Zirkulation der Substanzen basieren, sprechen medizinische Texte, auch wenn dies nun für uns Erstaunen hervorrufen mag, von Hohlräumen. So geht der Verfasser des ersten Buchs von De morbis 16 davon aus, dass wir nur deshalb frieren, weil der Körper im Inneren nichts habe, »was sich entgegenstellt, sondern Hohlraum [sei]« (CH De morbis I 26). Diese Hohlräume, so die Vorstellung, erzeugten den Schall und waren lediglich angefüllt mit pneuma. Einige Schriften verorten jedoch auch das sōma in diesen Räumen und deuten sōma dann gerade als einen Körper, der körperlich nicht fassbar ist! So kann eine Schrift behaupten, dass das »Körperinnere fleischlos« (CH De locis in homine 13.6) sei und das sōma selbst nicht sichtbar. Diese Diskussion beschäftigt die antike Medizin bis zu Galen, der im Gegensatz zu Herophilus das sōma als sichtbar deutet. Fraglich ist, ob diese räumliche Kategorie des Körpers auch auf neutestamentliche Texte anwendbar ist, wie wir diese beispielsweise von Paulus kennen, wenn er schreibt »Wisst ihr nicht, dass ihr Tempel Gottes seid […]? « (1Kor 3,16f.) oder in 1Kor 6,19, wo Paulus das Bild des Tempels mit sōma verbindet? Dass in 1Kor 3,5-18 unterschiedliche uns aus der antiken Architekturtheorie bekannte Begriffe mit sōma verbunden werden, legt einen Bezug zu den genannten Traditionen nahe. Dies gilt besonders dann, wenn man das anthropomorphe Maßsystem der Antike mit einbezieht: der menschliche Organismus ist Grundlage der architektonischen Maße, so dass man von einer Äquivalenzbeziehung zwischen physischem und architektonisch-sakralem Raum sprechen kann. 17 2. Am Leitfaden des Leibes: Die Einheitlichkeit des so¯ ma Wir haben gesehen: Der menschliche Körper bildet den Austragungsort für Verhältnisbestimmungen im Körper. Ist der Körper dann aber noch als Einheit zu betrachten? Und ist der Körper nur die Summe aller Teile oder ist er mehr als das? Bemerkenswert ist dazu eine kurze Stellungnahme eines Traktats: »Der Körper hat keinen Anfang und kein Ende« (CH De locis in homine 1). Zentral ist vielmehr die Zirkulation des »Inneren«. Ausgangspunkt des Textes ist, dass der Körper eine Einheit bildet. Diese Einheit wird gleichzeitig auch als Grundlage für die Lehre der Körperteile einerseits und des Austausches zwischen den Körperteilen andererseits gedeutet. Beide Lehren entnimmt der Autor der aktuellen medizinischen Diskussion der Antike. Die Verbindung der einzelnen Körperteile ist durch Zirkulation - in erster Linie der Körperflüssigkeiten - gegeben. Dabei ist Zirkulation nicht im Sinne des Austausches, beispielsweise als Blutzirkulation, zu denken. Es geht vielmehr um ein Auf und Ab der Flüssigkeiten im Sinne von Ebbe und Flut. 18 Wir haben schon festgehalten, dass die Verbindung zwischen den Körperteilen thematisiert wird. Besonders homoethnia (Menschen derselben ethnischen Gruppe) und ethnē (eine spezifische Gruppe Menschen) beschreiben den Körper anhand der Metapher einer Gemeinschaft vieler Gruppen. Bemerkenswert ist auch der Ausdruck »in jedem [pan] einzelnen Teil fühlt der Körper den Schmerz«, da die prädikative Stellung von pan intendiert, dass der ganze Körper in jedem Teil den Schmerz empfindet. Zahlreiche Autoren wie der Verfasser von De hebdomadibus, Philo von Alexandrien (15 v.-40 n.Chr.), Nicomachus von Gerasa (1.Jh. n.Chr.), Clemens von Alexandrien (150-215 n.Chr.), Macrobius (395-423 n.Chr.) und viele andere haben sich hinsichtlich der Einheitlichkeit des sōma eines Menschen mit Arithmologie auseinandergesetzt. Es ist bemerkenswert, dass die genannten Autoren dafür in besonderem Maße die Siebenzahl herangezogen haben. Mit der Siebenzahl sind »Der Körper hat keinen Anfang und kein Ende« (CH De locis in homine 1) 016911 ZNT 27 - Inhalt 24.03.11 11: 08 Seite 20 Annette Weissenrieder »Am Leitfaden des Leibes« ZNT 27 (14. Jg. 2011) 21 verschiedene Aspekte verbunden, die von der Frage nach den artes liberales, über die nach dem Zusammenhang zwischen Makro- und Mikrokosmos bis hin zu der nach der Struktur des Körpers, der Seele und einzelner Körperteile - vorzugsweise des Kopfes - reichen. Die Arithmologie, die dem Zahlbegriff das moderne Charakteristikum der Verbindung mit der rational bestimmten Quantität nimmt und an seine Stelle eine irrationale, mystische oder symbolische Deutung setzt, resultiert nach S. Grebe ursprünglich aus abergläubischen Vorstellungen. 19 Man kann jedoch auch weniger wertend eine Zuordnung verschiedener Eigenschaften mit konkreten Zahlen bemerken. Diese Zuordnung kennen wir schon durch pythagoreische Kreise, die ein religiös-mystisches Interesse entwickeln und in den Zahlen einen Schlüssel zur Ganzheit finden können. Zentraler Stellenwert kommt der Arithmologie in medizinisch-philosophischen Texten der Antike zu: Hier werden die physis und Prozesse des menschlichen Körpers und der Seele anhand von Zahlensymbolik erläutert. Interessant ist, dass bei allen uns bekannten Autoren durchgängig der Kopf als erstes Körperteil genannt wird, als zweites und drittes häufiger auch Hände und Füße. Nicomachus und Macrobius bezeugen auch die Organe, die für die Verdauung von Essen und Trinken zuständig sind. Bei Philo findet sich folgende Beschreibung: »Untersucht jemand die inneren und äußeren Körperteile, dann findet er [oder sie] sieben Teile unter [der Leitung des Kopfes]; Die sichtbaren Teile sind Kopf, Brust, Bauch, zwei Hände und zwei Füße.« 20 Diese Textbasis ist m.E. für neutestamentliche Forschung deshalb weiterführend, weil sie Konnotationen physiologischer, soziologischer und ökonomischer Provenienz gleichermaßen berücksichtigt, die auch für den ersten Korintherbrief tragend sind. In 1Kor 12,12-31 konstituiert die Nennung der menschlichen Körperteile das sōma. Der Kontext ist demnach ein physiologischer, der dann mit den Gliedern der Gemeinde analog gesetzt wird. Das sōma selbst ist nur über die Glieder sichtbar und erfahrbar. Sie konstituieren den Leib. Damit rückt das Leibmodell in 1Kor 12 in die Nähe physiologischer Modelle der Antike, von denen die Schrift De hebdomadibus, von der Siebenzahl des Leibes, eines überliefert. Es besagt: Das menschliche und kosmologische sōma konstituiert sich über die Körperglieder, die sowohl die inneren Organe als auch Gliedmaßen, den inneren und äußeren Menschen, meinen. Die Wirkmächtigkeit der Glieder konstituiert den Leib nach außen hin. Daneben sind das Vermögen zu wirken, Wirkung zu erleiden und die Widerständigkeit (antitypia) definierende Merkmale für Körper in einer Reihe von Texten. 21 Eines ist jedoch deutlich: sōma bietet die Grundlage, auf die hin alle anderen Aspekte bezogen sind. 22 Betrachten wir unter diesem Aspekt 1Kor 12: Anlass für die Vermutung, dass 1Kor 12,12-31 am sōma- Modell der Siebenzahl orientiert sein könnte, sind die sieben sōma-Glieder, die Paulus in einer Aufzählung nennt. Er erwähnt hier neben den beiden Füßen die Hand, das Ohr, das Auge, die Nase (Geruch) und das Haupt. Wie in den Schriften zur Siebenzahl alle Glieder gemeinsam einen Leib bilden, in dem das Gleichgewicht der Glieder zentral ist, so auch im paulinischen Konzept. Wie in den Schriften über die Siebenzahl alle Glieder leiden, wenn ein Glied erkrankt ist, so auch in 1Kor 12,12-30. Die Zahl Sieben konstituiert in beiden Schriften das Gleichgewicht der Glieder. Auffallend ist, dass die Gemeinde nicht mehr selbst den Leib konstituiert, sondern vielmehr die Glieder (melē: 12,14ff.), die der Leib Christi sind. Als Glieder der Gemeinde werden gemäß ihrer Funktion weibliche und männliche Apostel, Propheten, Lehrer, Wundertäter, Heiler, Zungenredner und Ausleger genannt. Der Leib Christi und die Glieder der Gemeinde können aufgrund der weiten Rezeption der Siebengliedrigkeit des Leibes leicht mit der Hebdomadenlehre der Hippokratiker, der Stoiker und Philos assoziiert werden. Dass wir davon ausgehen können, dass die Lehre über die Siebenzahl des Körpers in Korinth bekannt war, legt sich aufgrund folgender Beobachtungen nahe: Eine Erwähnung des Isthmos von Korinth an einer zentralen Stelle des »Weltenkörpers« in einer siebenteiligen Weltkarte, die im elften Kapitel von De hebdomadibus zu finden ist, war in der antiken Welt bekannt. Nach Roscher erinnert sie in ihrer Anlage an die erste Weltkarte des Milesiers Anaximandros. 23 Nach der - jedoch stilistisch verderbten - lateinischen Ausgabe des Ambrosianus lautet der Text: »Auch die ganze Erde zerfällt in sieben Teile: 1. Sie hat als Kopf und Gesicht den Peloponnes, den Wohnort hochgesinnter Männer [und Frauen]. 2. Den Isthmos, entsprechend dem Rückenmark [-Hals]. 3. Ionien als Zwerchfell. 4. Den Hellespont als Schenkel. 5. Den thrakischen und kimmerischen Bosporus als Füße. 6. Ägypten und das ägyptische Meer als Bauch [d.h. den oberen Teil]. 7. Pontos Euxeinos und Maioris als unteren Bauch [Harnbzw. Zeugungsorgan].« 24 Wie auch bei den genannten Körpermodellen werden hier die Glieder vom Kopf bis zu den Füßen genannt. 25 Dem Isthmos in Korinth kommt in dieser Karte auf zweifache Weise eine zentrale Rolle zu: Zum einen nimmt Korinth eine 016911 ZNT 27 - Inhalt 24.03.11 11: 08 Seite 21 Zum Thema 22 ZNT 27 (14. Jg. 2011) zentrale Stellung als Hals und Rückenmark und somit eine wichtige Funktion für die Nervenstränge ein, zum anderen scheint Korinth durch seine geographisch günstige Lage offensichtlich als Nadelöhr zu den westlichen Kolonien, dem persischen Weltreich und Athen zu gelten, die wohl aus diesem Grund nicht erwähnt werden. Falls unsere Vermutung zutreffen sollte, könnte man den paulinischen sōma-Begriff in 1Kor 12 somit u.a. im Kontext der kosmologischen Deutungen der Diätetik deuten, für die das Gleichgewicht zwischen Mikro- und Makrokosmos zentral ist. Paulus deutet Leib demnach als einheitliches, unteilbares Gebilde, das jedoch als Ganzes nochmals mehr ist als nur die Summe seiner Glieder. Dass eine Deutung des Leibbildes auch Auswirkungen auf das Verständnis des Abendmahls in 1Kor 11 hat, wird in der Forschung häufig bemerkt. Zentral ist dabei die Frage nach der Wendung diakrinein to sōma, die vor diesem Kontext als Aufforderung an die Korinther zu verstehen ist, die besondere Eigenart dieses sōma richtig zu würdigen und zu achten, also »zu unterscheiden« (diakrinein), zumal sie ein Teil dieses Körpers sind. Würdigen sie den Leib nicht, gefährden sie sich selbst und andere, indem sie als Glieder nicht mehr den Leib des Herrn konstituieren. So kann mit Jens Schröter formuliert werden: »Die Kranken und Toten sind dabei nicht diejenigen, die das Mahl unwürdig gefeiert haben. Vielmehr macht Paulus deutlich, dass unwürdiges Feiern die Gemeinschaft schädigt und es deshalb zu Krankheit und Todesfällen gekommen ist. Diese Todesfälle werden als eine erzieherische Maßnahme des Herrn (V.32: paideuein) gedeutet, die zu vermeiden gewesen wäre, wenn die Gemeinde ihr Verhalten selbst beurteilen und daraus die nötigen Konsequenzen ziehen würde.« 26 3. Am Leitfaden des Leibes: So¯ ma und psyche¯ Die Frage nach der Einheitlichkeit des Körpers ist noch in anderer Hinsicht zentral: Nicht nur in philosophischen Traktaten ist die Frage nach der Relation von Körper und Seele zentral. Sōma wird in einigen zentralen medizinischen Texten wie dem Corpus Hippocraticum auch als Korrelat zu psychē genannt. Es ist bemerkenswert, dass psychische Phänomene wie Intelligenz, Emotionen, Wahrnehmung und Bewegung fast durchgehend anhand der Beschaffenheit des Körperteils beurteilt werden, dem diese zugerechnet werden. Beide Aspekte, sōma und psychē, kennzeichnen die Natur des Menschen: äußere Erscheinung und Charakter bzw. Verstand, die zudem auch geschlechtsspezifisch sind. Grundsätzlich ist die psychē das dem Leben zugrundeliegende Prinzip, das im Falle einer Ohnmacht oder gar des Todes entweicht. 27 Der Traktat De victu, der der Diätetik und den Träumen gewidmet ist, setzt sich intensiver mit der psychē im Verhältnis zum Körper auseinander: Gefragt wird, aus welchen ursprünglichen Bestandteilen der Mensch als Gattungswesen aufgebaut ist und von welchen elementaren Faktoren er beherrscht wird. Untersucht werden Abweichungen von der zur Orientierung dargestellten Norm, Ansätze gesundheitlicher Gefährdung, die durch Diät ausgeglichen werden können, und Abweichungen von der normalen Intelligenz der psychē, denen man ebenfalls diätetisch begegnen kann. Ein weiteres grundlegendes Thema ist die Embryonalentwicklung, denn der psychē wird die Rolle als Lebensbringer bezüglich des männlichen und weiblichen Samens zugeschrieben. 28 Die Charakteristika des Körpers des Kindes richten sich nach einer Koinzidenz von männlichen und weiblichen Sekreten der Eltern. Die Charakteristika der Seele hingegen können auf eine Kombination von männlichen und weiblichen Komponenten zurückgeführt werden. Doch nicht nur geschlechtsspezifische Charakteristika lassen sich auf diese Weise ablesen, sondern auch ethnische Besonderheiten von Körper und Verstand bzw. Seele, wie der Verfasser der Schrift De aere aquis locis zu zeigen versucht, indem er beweisen möchte, dass sowohl die körperliche Konstitution als auch die des Verstandes auf der geographischen Zuordnung des Landes und der Jahreszeit beruht. Zudem kennen die Schriften »Falls unsere Vermutung zutreffen sollte, könnte man den paulinischen sōma-Begriffin 1Kor 12 somit u.a. im Kontext der kosmologischen Deutungen der Diätetik deuten […]« »Die Charakteristika des Körpers des Kindes richten sich nach einer Koinzidenz von männlichen und weiblichen Sekreten der Eltern. Die Charakteristika der Seele hingegen können auf eine Kombination von männlichen und weiblichen Komponenten zurückgeführt werden.« 016911 ZNT 27 - Inhalt 24.03.11 11: 08 Seite 22 Annette Weissenrieder »Am Leitfaden des Leibes« ZNT 27 (14. Jg. 2011) 23 auch kulturelle Aspekte, die sowohl Körper als auch Seele beeinflussen. Doch ist die psychē in De victu ebenso eine mentale Komponente des Menschen. Die Psychē ist essentiell mit Wärme konnotiert, benötigt jedoch auch Feuchtigkeit und fließt als Wärme im Körper umher ebenso wie Blut. Als mentale Komponente ist die psychē Intelligenz und Charakter des individuellen Menschen und ist zudem bezogen auf Sinneswahrnehmung und Träume. Alle Schriften hippokratischer Provenienz verbindet eines: Körper, Seele und Verstand sind zwar sehr unterschiedliche Phänomene, die jedoch auf ein Erklärungsmodell zurückgeführt werden, die menschliche Natur. Diese umfasst die körperlichen Strukturen, die physiologischen Prozesse und die psychischen Deutungsmuster. Die mentalen Deutungsmuster werden nicht als Epiphänomen des Körpers gedeutet und von daher können wir in den Schriften des Corpus Hippocraticum, die bis ins 1. Jh. n.Chr. datiert werden, nicht von einem Leib-Seele Dualismus sprechen. Platon greift auf Pindar zurück, der für das Subjekt sittlichen Handelns psychē verwendet 29 . Hier kann die sokratische Sorge um die Seele anknüpfen. Die psychē ist das, »was durch das Gerechte besser wird, durch das Ungerechte aber zugrunde geht«. 30 Die Vorstellungen zur psychē werden von Platon zunächst ethisch untermauert, indem sie als Ursprung jeglichen Guten und Übels gedeutet werden, besonders in De re publica, wo er das gute und das schlechte Leben als durch die psychē bedingte sittliche Qualitäten erkennt; grundlegend ist der Erwerb des Wissens, der den Menschen dann zur richtigen Wahl befähige. Aber im Unterschied zum Leib könne die psychē nicht an ihren eigenen Übeln zugrunde gehen. In diesem Zusammenhang ist der Begriff der phronēsis zentral: Sie wird als Aufeinandertreffen der psychē mit der transzendenten Wirklichkeit der Ideen gedeutet, welche letztlich die Befreiung der psychē vom sōma fordert und erst durch den Tod vollendet wird. Anhand verschiedener Überlegungen versucht Platon die Unsterblichkeit der Seele zu zeigen: (1) als Ursache des Lebens schließt die psychē den Tod aus, (2) als Prinzip der sittlichen Selbstbestimmung ist sie letztlich dem Göttlichen ähnlich und (3) apriorisches Wissen kann nach Platon letztendlich nicht anders als durch Wiedererinnerung an eine vorgeburtliche Schau erklärt werden (Plat Phaed 72 e 3-77 a 5; cf. Men 80 d 5-86 c 3). Diese genannten »Beweise« gipfeln jedenfalls in der schon erwähnten sokratischen Aufforderung der Sorge um die psychē. Aristoteles lehnt entschieden Platons Versuch ab, die Natur der Seele als immaterielle Substanz zu erklären, da diese nicht dazu geeignet war, das Verhältnis zwischen Körper und Seele zu erläutern 31 . Vielmehr nimmt er seinen Ausgangspunkt beim Organismus als Ganzem und vermeidet somit den für Platon (und Descartes) zentralen Dualismus. Zentral ist für Aristoteles eine ontologische Untersuchung, die er mit der phänomenologischen Methode verbindet, wobei er auf Begriffe zurückgreifen kann, die er in Metaphysik VII- IX für die Analyse der Einzeldinge entwickelt hat: Seele ist das Lebensprinzip eines jeden Organismus. 32 Ebenso wie Aristoteles von unterschiedlichen Lebensvollzügen ausgeht, wie etwa Ernährung, Wahrnehmung, Denken und Fortbewegung, kann er auch eine unterschiedliche Vielzahl von Seelenvermögen annehmen. Psychē ist die »erste Wirklichkeit eines natürlichen Körpers, welcher die Möglichkeit nach Leben hat«. 33 Sie ist demnach als Ursache des Seins der Menschen, als dessen Wesen und als Bewegungsursprung zu deuten, was heißt: Es ist nicht die Seele, die sich freut, zornig oder traurig ist, sondern der Mensch aufgrund der psychē. Selbst ihr Denkvermögen, der nous, ist wohl nicht getrennt vom Körper zu denken, da Denken immer an Vorstellungen gebunden ist. Aristoteles vertritt demnach einen Antireduktionismus: Einerseits lassen sich mentale Prozesse nur in einer mentalen Sprache erläutern, andererseits sind diese Prozesse aber an physiologische Veränderungen gebunden und lassen sich so in einer physikalischen Sprache beschreiben. Die Stoiker unterscheiden sich von Aristoteles dadurch, dass sie in der Regel die psychē als »das mit uns zusammengewachsene pneuma« beschreiben; sie ist »Körper und bleibt Körper nach dem Tod, aber sie ist vergänglich« 34 . Grundlegend ist die Mischung von Seele und Körper; die teilbaren Stoffe durchdringen sich vollkommen und bewahren dennoch ihr Wesen. 35 Die Körperlichkeit der Seele wird auf drei Gründe zurückgeführt: Zum einen kann nichts Unkörperliches mit dem Körper mitleiden. Zum anderen sind Kinder ihren Eltern auch in seelischer Hinsicht ähnlich, wobei die Ähnlichkeit nur vom Körper ausgesagt werden kann. Schließlich wird der Tod als Trennung der Seele vom Körper gedeutet. Es kann aber nichts Unkörperliches vom Körper getrennt werden, woraus wiederum die Körperlichkeit der Seele folgt. In Bezug auf die Frage nach der Verbundenheit der Seele mit dem Körper bleibt Galen (sprachlich) in der Tradition der Hippokratiker, Platons, Aristoteles und der Stoa, wobei er jedoch nach seinem jeweiligen Interesse auswählt. 36 Grundsätzlich gilt für ihn: Die Seele ist Ursache des Lebens, sie gibt dem Körper Leben, verwaltet und formt ihn bzw. das Leben ist die Wirk- 016911 ZNT 27 - Inhalt 24.03.11 11: 08 Seite 23 Zum Thema 24 ZNT 27 (14. Jg. 2011) samkeit der Seele (Platon und Aristoteles), und in diesem Sinne muss sich auch der Mediziner notwendigerweise mit der Lehre der Seele befassen, denn für einen Arzt seien Seele und Leben dasselbe. Damit räumt Galen der Seele eine Gleichwertigkeit mit dem Körper ein, auf den sie einwirkt. Ohne Körperorgane ist es der Seele jedoch nicht möglich zu wirken: Die krasis der Homöomerien beeinflusst das Wirken ihrer Kraft, so dass diese krasis auf der empirischen Ebene die Seele konstituiert. In diesem Sinne dient die Seele der materiellen Zusammensetzung des Körpers. Zudem müssen die Homöomerien geeignet sein, die Wirksamkeit der Kräfte der Seele aufzunehmen. Von Platon und Aristoteles übernimmt Galen die Vorstellung von der Dreiteilung der Seele, aber in spezieller Zuspitzung: Im Anschluss an die Stoiker deklariert Galen den vegetativen Seelenteil als Natur, so dass er letztlich nur noch zwei Bereiche (aber trotzdem drei Seelenteile! ) unterscheidet, den vernünftigen und unvernünftigen Seelenteil (wobei der unvernünftige an der Vernunft teilhaben kann), so dass er zu der Unterscheidung zwischen ethischer und führender Tugend kommt. Dass diese Entscheidung auch Auswirkungen auf den Physisbegriff Galens hat, liegt auf der Hand: Galen kann dementsprechend zwischen der Wirksamkeit der Natur und der der Seele unterscheiden. Neutestamentliche Studien beziehen sich häufig auf das platonische Verständnis der Unsterblichkeit der Seele, um den traditionsgeschichtlichen Kontext von psychē zu erhellen. Die medizinisch-philosophische Tradition eröffnet jedoch nochmals andere Perspektiven: psychē ist nicht nur sterblich und substanzhaft, sondern auch zusammen mit dem Körper für Wachstum und Tod des Menschen verantwortlich. Ein Beispiel mag dies wiederum verdeutlichen: die Aufforderung des Nicht-Sorgens in der Bergpredigt (Mt 6,24-34). Das Zünglein an der Waage zum Verständnis des Textes ist merimnaō. Einige Ausleger haben darauf verwiesen, dass merimnaō - besonders wenn man das Alte Testament mit einbezieht - ein »Sich-Mühen und Abmühen um das zukünftige Wohl« willen meint. Es geht um Streben nach Sicherheit. Demgegenüber hat man merimnaō aus dem hellenistischen Kontext abgeleitet, der eine Konnotation des Handelns »aus ängstlicher Sorge um etwas« und »Sich-Sorgen im Blick auf die Zukunft« beinhaltet. Diese Sorge bezieht sich auf die Plage, die der morgige Tag hervorbringt (V.34), auf die uns zur Verfügung stehende Nahrung und Kleidung (V.25.28), auf psychē und sōma (V.25). Die Sorge ist im Unterschied zur erstgenannten Deutung durch Angst motiviert, die in den antiken Texten oft im Zusammenhang mit Krieg und Verfolgung vorkommt. Zudem ist der Angstcharakter der Sorge betont durch die Fragen in V.31: »Was sollen wir essen? Was sollen wir trinken? Was sollen wir anziehen? « Die zentral vorangestellte Paränese enthält nun neben der Angst noch zwei weitere semantische Unklarheiten: »Macht euch nicht Sorgen wegen der psychē.« Es ist das einzige Mal, dass wir auf psychē im MtEv treffen. In der heutigen Forschung wird der Begriff psychē fast durchgängig mit »Leben« übersetzt, da eine Seele nicht esse und trinke, während ein Leben durch Nahrung erhalten werde. Dass diese Einschätzung fragwürdig ist, zeigen zahlreiche antike philosophisch-medizinische Abhandlungen, besonders aber Texte, die man dem Bereich der Diätetik zuordnet, die den Grundfragen der (Über-)Ernährung, Leib und Seele betreffend, gewidmet sind, aber auch anderen Fragen des täglichen Lebens, wie der Bekleidung. Psychē ist demnach, wie auch sōma, angewiesen und beeinflussbar durch Essen und Trinken. Hinsichtlich der Diätetik jedoch gilt: Wer sich um die Auswirkung der Nahrung auf seine Seele kümmert, gehört der Oberschicht an. Auch hinsichtlich von sōma ist das Verständnis unklar, denn die Bedeutung changiert zwischen dem physiologischen »Leib« und der »Person«, was den ganzen Menschen in seiner Außenwirkung meint. Beide Konnotationen sind hier grundsätzlich möglich, denn physiologische Aussagen zur Seele des Menschen gehen einher mit einem physiologischen Verständnis des Leibes, aber dass Kleider Leute machen, war schon in der Antike zentral, so dass eine Deutung als Person einleuchtend erscheint. Beide Konnotationen, die Bemühungen um die Nahrung der Seele und die Bekleidung, wollen jedoch nicht zu der Sorge passen, die durch Angst motiviert wird, denn sie betreffen ein grundloses Sich-Sorgen, das gerade nicht auf die Grundbedürfnisse des Lebens bezogen ist. Dass die Sorge hier in ihrer Ambivalenz gezeigt wird, entspricht wohl ihrer Eigenart. Der Sorge des Menschen wird die Fürsorge Gottes gegenübergestellt: Gott-Vater ernährt Vögel (V.26), kleidet Lilien (V.30) und er weiß um die Bedürfnisse des Menschen (V.32) und trägt für das morgige Brot Sorge (V.34). »Ohne Körperorgane ist es der Seele jedoch nicht möglich zu wirken: Die krasis der Homöomerien beeinflusst das Wirken ihrer Kraft, so dass diese krasis auf der empirischen Ebene die Seele konstituiert.« 016911 ZNT 27 - Inhalt 24.03.11 11: 08 Seite 24 Annette Weissenrieder »Am Leitfaden des Leibes« ZNT 27 (14. Jg. 2011) 25 Antike Medizin, Philosophie und Heilkulte befinden sich ab dem 4. Jahrhundert v.Chr. in einem Prozess der Ausdifferenzierung, den sie nicht zuletzt auch »am Leitfaden des Leibes« vollziehen. Dieser Prozess ist im 1. Jh. n.Chr. noch nicht abgeschlossen. Ich meine, dass es durchaus sinnvoll sein kann, neutestamentliche Texte innerhalb dieses Prozesses der Ausdifferenzierung von Medizin und Philosophie zu verorten und unsere bisherige Auslegung gegebenenfalls nochmals zu überdenken. Anmerkungen 1 Mein besonderer Dank gilt Prof. Dr. M. Vogel und St. Alkier für ihre weiterführenden Hinweise. 2 F. Nietzsche, KSA VII 104 und KSA XIII 40, siehe H. Schipperges, Am Leitfaden des Leibes, Stuttgart 1975. 3 Siehe besonders meine Verweise zu den jeweiligen anthropologischen Begriffen, die ich am Anfang jeden Kapitels zusammengestellt habe, in: A. Weissenrieder/ T.W. Martin, Embodying New Testament Anthropology in Context. A Sourcebook, Tübingen 2011 (im Druck). 4 Zum Begriff der Ausdifferenzierung siehe N. Luhmann, »Operational closure and structural coupling: the differentiation of the legal system«, Cardozo Law Review 13 (1992): 1419-1441. 5 Siehe dazu mein Kapitel: »Theory and Practice in Ancient Medicine and Philosophy. A Brief Introduction« in: A. Weissenrieder/ T.W. Martin, Embodying New Testament Anthropology in Context. A Sourcebook, Kapitel II. 6 Gal De diebus decretoriis 2.5. 7 Die Mikrokosmos-Makrokosmos-Beziehung zwischen innerem und äußerem Körper wird heute in der Literatur in zwei grundsätzliche Auslegungen gefasst: Die eine mag man eher materialistisch nennen. Sie versucht unter dem Titel »Der offene Leib« den Menschen als Ensemble kosmischer Verhältnisse zu verstehen und den Lebensprozess als Durchzug der kosmischen Medien durch den Leib zu deuten. Die andere, vielleicht eher als idealistisch benennbare Interpretation, versucht unter dem Titel »Der sprechende Leib«, den menschlichen Leib im Netz kosmischer Zeichengefüge zu sehen und versteht Leben entsprechend semiologisch (G. Böhme, Der offene Leib. Eine Interpretation der Mikrokosmos-Makrokosmos-Beziehung bei Paracelsus, 44-58, und H. Böhme. Der sprechende Leib. Die Semiotiken des Körpers am Ende des 18. Jahrhunderts und ihre hermetische Tradition, 144-185, in: D. Kamper/ Ch. Wulf [Hgg.], Transfigurationen des Körpers. Spuren der Gewalt in der Geschichte, Berlin 1989). 8 Auch wenn die medizinisch-philosophischen Schulen sich grundlegend unterscheiden, ist eines doch auffallend: der Rückgriff auf die Tradition des Corpus Hippocraticum. Besonders intensiv greift Galen im 2. Jh. auf die Hippokratiker zurück, mit dem Anspruch, dass ausschließlich seine Lesart dem wahren Gehalt des Hippokratischen Werks gerecht werde. 9 Einige Bemerkungen in lus. geben uns Hinweise auf in der Antike aktuelle Fragestellungen: So ist das Verbot zur Beihilfe zum Selbstmord durch Gift gegen Pharmazeuten und Ärzte gerichtet, die hochwirksame Gifte zubereiteten (Theophr. H. Plant. IX 16,8), auf das Thema Abtreibung weisen die genannten Abtreibungszäpfchen hin, die zwar sonst im Corpus Hippocraticum nicht mehr erwähnt werden, jedoch andere Abortativa (siehe De muliebribus I 68 und De superfetatione 27), und das Verbot des Steinschnitts zeigt die Angst vor Zeugungsunfähigkeit der Männer (nur an dieser Stelle werden handwerklich geschickte Männer im CH erwähnt). Die Erwähnung der Heilkulte weist zudem auf die Frage nach dem Zusammenhang von Heilkult und rationaler Medizin. Der Hippokratische Eid besaß in der Antike jedoch nicht die Gültigkeit, die ihm in der Neuzeit beigemessen wird. Er bezeugt neben anderen hippokratischen Schriften der Standesethik nur eine Sichtweise ärztlicher Selbstbeschränkung. Wichtig ist: Das Verhalten der Ärzte unterlag keinerlei staatlicher und öffentlicher Kontrolle. 10 Siehe dazu den hervorragenden Aufsatz von T. Tieleman, »Religion und Therapie in Galen« in: G. Etzelmüller/ A. Weissenrieder, Religion und Krankheit, Darmstadt 2010, 83-95. 11 Siehe dazu meine Einleitung zu Kapitel 12: sōma in: A. Weissenrieder/ T.W. Martin, Embodying New Testament Anthropology in Context. A Sourcebook. 12 Dies wird auch durch den definiten Artikel to deutlich, der indiziert, dass diastaton auf einen Körper generell deutet. So muss man fragen, ob ein solcher Körperbegriff auf einen (unkörperlichen) Ort ebenso anzuwenden ist, wie auf einen physikalischen Körper. 13 Gal De locis affectis VIII.1 (Kühn); meine eigene Übersetzung. 14 F. Solmsen, Aristotle's System of the Physical World. A. Comparison with his Predecessors, Ithaca/ New York, 1960, 342ff. und 360-361. 15 Die Anhänger der Blutkreislauftheorie sahen in diesem Bild vom Kreis ihren Anhalt der Theorie in der Antike. Vgl. dazu die kritischen Äußerungen von Ch.R.S. Harris, The Heart and the Vascular System in Ancient Greek Medicine. From Alcmaeon to Galen, Oxford 1973, 52, der zusammenfasst: »We must compare this use of metaphor of circularity with the one just quoted from Places in man, where the author used this phrase, as we saw, not to hint at any circulation but to express, in a picturesque way, the notion of the body as an organism, no express reference being made to blood vessels, but there is no mention at all of their contents, except the general statement that pneuma and liquid flow through them to the various parts of the body.« 16 Littré VII,118. 17 Siehe dazu ausführlich meinen Aufsatz »Wisst ihr nicht, dass ihr Tempel Gottes seit« 1 Kor 3,16f. im Kontext antiker Architekturtheorie und Numismatik in: D. Balch/ A. Weissenrieder (Hgg.), Contested Space, Tübingen 2011 (im Druck). 18 Damit impliziert der Autor zwei Schlussfolgerungen: Krankheit ist als Störung der Zirkulation aufzufassen und das wiederum ist der Beginn aller Medizin, was dann im zweiten Kapitel ausgeführt wird (cf. De locis in 016911 ZNT 27 - Inhalt 24.03.11 11: 08 Seite 25 Zum Thema 26 ZNT 27 (14. Jg. 2011) homine 2). Interessant ist nun aber, dass der Text durch die Partikel men einen Kontrast zwischen Anfang und Ende impliziert und damit den Zirkulationsgedanken von Anfang an hinterfragt. 19 Vgl. S. Grebe, Martianus Capella: ›De nuptiis Philologiae et Mercurii‹. Darstellung der sieben freien Künste und ihrer Beziehungen zueinander, Leipzig/ Stuttgart 1999, 388ff. 20 Philo Opif. 118; meine Übersetzung. 21 Eine besonders eindrückliche Stelle ist Ps.-Galen, Quod qualitates incorporae sint XIX, 483 (Kühn). 22 Vgl. dazu ausführlich meine Einleitung in Kapitel VI, in: A. Weissenrieder/ T.W. Martin, Embodying New Testament Anthropology in Context. 23 Vgl. dazu W.H. Roscher, Die Hippokratische Schrift von der Siebenzahl in ihrer vierfachen Überlieferung, Studien zur Geschichte und Kultur des Altertums VI, 3f., Paderborn 1913 (= New York 1967), 51. 24 Corpus Hippocraticum, De hebdomadibus 11, nach Ambros. Lat G 108. 25 Interessant ist, dass Ionien die Funktion als Zwerchfell und somit als Zentrum der Welt zukommt, während die Peloponnes der Welt das Gesicht und den Kopf gibt, was darauf hinweist, dass man hier die politische Macht situiert hat. Vgl. dazu Roscher, Die Hippokratische Schrift von der Siebenzahl in ihrer vierfachen Überlieferung, 118. 26 J. Schröter, Das Abendmahl. Frühchristliche Deutungen und Impulse für die Gegenwart, Stuttgart 2006, 37. 27 B. Simon, Mind and Madness in Ancient Greece. The Classical Roots of Modern Psychiatry, Ithaca 1978, Kap. 2. 28 Cf. bes. De victu I 28f.; E. Lesky, Die Zeugungs- und Vererbungslehren der Antike und ihr Nachwirken, Wiesbaden 1950, 86ff. 29 Pindar Frg. 131 b, vgl. dazu die Ausführungen bei E.R. Dodds, The Greek and the Irrational, Berkeley/ Los Angeles 1951, 135-139. 30 Plato Crit. 47 d 4f. 31 Siehe besonders Arist. De anima I 3f. Es soll weder in dieser kurzen Zusammenfassung noch in der Präsentation einiger weniger Passagen des Aristoteles der Versuch gemacht werden, Aristoteles Theorie der psychē genauer zu charakterisieren, sei es dualistisch, materialistisch, funktionalistisch etc. Siehe dazu den Sammelband: M.J. Nussbaum/ A. Oksenberg Rorty Essays on Aristotle’s De Anima, Berkeley/ Los Angeles 1992. Hinsichtlich eines Dualismus sind die Ansätze von H.M. Robinson, »Mind and Body in Aristotle«, Classical Quaterly 28 (1978), 105−124, und Shields, Soul and Body in Aristotle, 103- 138 empfehlenswert, hinsichtlich des Materialismus siehe R. Sorabji, »Body and Soul in Aristotle«, Philosophy 49 (1974), 63-89, und schließlich hinsichtlich des Funktionalismus siehe D.K.W. Modrak, Aristotle: The Power of Perception, Chicago/ London 1987. 32 Neben seinem metaphysischen Zugang lässt sich bei Aristoteles doch durchaus ein bio-medizinischer Erkennen, auch wenn er sich selbst nicht als Mediziner hervorgetan hat; siehe dazu die hervorragende Diskussion von Ph. Van der Eijk, »The Matter of Mind. Aristotle on the Biology of ›Psychic‹ Processes and the Bodily Aspects of Thinking«, in: W. Kullmann/ S. Föllinger (Hgg.), Aristotelische Biologie. Intentionen, Methoden, Ergebnisse, Stuttgart 1997, 231−258. 33 Arist. De anima II 1.412 a 27f. 34 Chrysipp Frg. 774 SVF 2,217. 35 Chrysipp Frg. 473 SVF 2, 154, 22-28; 155, 24-36. 36 Galen beteiligt sich nicht an Spekulationen über das Wesen der Seele, denn diese sei für Heilkunst, Ethik, Hygiene oder Politik nicht notwendig. Von zentraler Bedeutung ist es, was der Arzt für die Seele tun kann. NEUERSCHEINUNG A. Francke Verlag www.francke.de Michael Schneider Gottes Gegenwart in der Schrift € ISBN 978-3-7720-8379-2 016911 ZNT 27 - Inhalt 24.03.11 11: 08 Seite 26