eJournals ZNT – Zeitschrift für Neues Testament 14/28

ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
2011
1428 Dronsch Strecker Vogel

Kontexte zum ›Bösen‹ im Neuen Testament

2011
Jutta Leonhardt-Balzer
Zeitschrift für Neues Testament typoscript [AK] - 04.10.2011 - Seite 2 - 3. Korrektur 2 ZNT 28 (14. Jg. 2011) 1. Einleitung Das ›Böse‹ ist keine absolute Kategorie. Das Böse ist eine Abgrenzungskategorie, die von Menschen benutzt wird, um etwas als inakzeptabel, untragbar oder unerträglich zu kennzeichnen. Als solche wird es in unterschiedlichen Kontexten unterschiedlich gefüllt. In der exegetischen Forschung ist das Böse im Neuen Testament in konkreten Formen untersucht worden, als ethisches Böses in der menschlichen Tat, als dem menschlichen Handeln zugrunde liegende böse Grundstimmung-- Sünde 1 oder deren Folge, Tod 2 -- oder als externes Übel, das von außen auf den Menschen einwirkt, meist verursacht durch dämonische Mächte. 3 Diese Ansätze konzentrieren sich auf Teilaspekte des Bösen. Demgegenüber gibt es so pauschale Definitionen wie »Das Böse ist nach der Bibel alles, was Leben zerstört«, deren allgemeingültiger Anspruch an Präzision fehlen lässt. 4 Die biblische Rede von bösen Mächten ist auch soziologisch als Projektion staatlicher oder gesellschaftlicher Zusammenhänge gesehen worden; diese Fragestellung setzt jedoch bei einer textfremden Definition des Bösen an. 5 In noch stärkerem Maße trifft dies jedoch auf die in der Beschreibung des ›Bösen‹ im Neuen Testament meist angewandte äußere, systematische Definition des Bösen als Grundlage für die Untersuchung zu. 6 Demgegenüber wird hier gemäß der Kontextgebundenheit ›des Bösen‹ zunächst untersucht, was die Texte selbst als ›böse‹ bezeichnen. Der Blick ist auf die beiden griechischen Hauptbegriffe für ›böse‹ bzw. ›schlecht‹-- ponēros und kakos- - gerichtet. Die Grundfragen sind hier: Was ist ›böse‹? Warum ist es böse? Und wie wird damit umgegangen? Es geht bei dem hier vorliegenden Ansatz nicht um eine umfassende Beschreibung aller Konzepte des ›Bösen‹ im Neuen Testament, sondern ganz speziell um das Urteil ›böse‹ in den Texten. Das so erworbene Bild wird dann erst in einem zweiten Schritt nach systematischen Kategorien zusammengefasst. Diese lassen sich dann in einem dritten Schritt mit ähnlichen Phänomenen aus dem neutestamentlichen Umfeld vergleichen. Auf diese Weise wird deutlich, was die Texte des Neuen Testaments aus ihrer Umwelt übernommen, in welchem Rahmen sich die frühen Christen verortet und in welcher Weise sie neue Abgrenzungen vorgenommen haben. So werden Schlussfolgerungen zur zugrunde liegenden Motivation möglich. 2. Der neutestamentliche Textzusammenhang Im klassischen Griechisch umfasst die Bedeutungsbreite von ponēros ›schlecht‹ im Sinne von ›minderwertig‹, ›erbärmlich‹ (als sozial elend) und insbesondere von moralisch ›böse‹. Im frühjüdischen Kontext überwiegt in diesem Bedeutungsfeld die moralische Bedeutung. 7 Demgegenüber bezeichnet kakos (›schlecht‹, ›wertlos‹) keine positive Größe, sondern einen Mangel im Gegensatz zu dem Guten als Prinzip, und ist in der klassischen Literatur zur Behandlung der Frage nach dem Ursprung des Bösen von Bedeutung. 8 Im Neuen Testament verliert der Begriff an konzeptioneller Bedeutung. 9 In dem hier gegebenen Kontext wird, um die beiden Begriffe zu unterscheiden, kakos mit ›schlecht‹ und ponēros mit ›böse‹ wiedergegeben, wobei damit nicht ausgedrückt werden soll, dass sich ihre Bedeutung nicht überschneiden kann. 2.1 Unreflektiertes Übel Im Neuen Testament gibt es Texte, die ›böse‹ oder ›schlecht‹ unreflektiert für schmerzhafte Krankheiten, negative Ereignisse oder illegale Handlungen gebrauchen, so in fast dem gesamten lukanischen Geschichtswerk und der Offenbarung des Johannes. In diesem unreflektierten Gebrauch dienen die Begriffe ›böse‹, ›schlecht‹, ›schlimm‹ zunächst zur Beschreibung von Krankheit, Missgeschick und Tod (Geschwüre in Offb 16,2; die Leiden des armen Lazarus in seinem Leben in Lk 16,25, der [nicht durchgeführte] Selbstmord des Gefängniswärters in Apg 16,28, die [ausbleibenden] Folgen des Schlangenbisses des Paulus in Apg 28,5). Dass ›böse‹ keine absolute Kategorie ist, sondern das, was die jeweils Sprechenden ablehnen, zeigt sich in den lukanischen Seligpreisungen: »Selig seid ihr, wenn euch die Menschen hassen, wenn sie euch ausstoßen, beschimpfen und euren Namen als böse verwerfen wegen des Menschensohns« (Lk 6,22). Umgekehrt wird der Begriff in Apg 17,5 für die »bösen Männer« gebraucht, Jutta Leonhardt-Balzer Kontexte zum ›Bösen‹ im Neuen Testament Neues Testament aktuell Zeitschrift für Neues Testament typoscript [AK] - 04.10.2011 - Seite 3 - 3. Korrektur ZNT 28 (14. Jg. 2011) 3 Jutta Leonhardt-Balzer Kontexte zum ›Bösen‹ im Neuen Testament So gebraucht auch das Johannesevangelium die Begrifflichkeit im Zusammenhang eines Urteils von außen: In Jesu Gespräch mit Hannas: »Wenn ich schlecht geredet habe, dann beweise, dass es schlecht war; wenn aber richtig, was schlägst du mich? « (Joh 18,23) und dann in der Anklage der Juden, dass sie ihn nicht übergeben hätten, »wenn er nicht jemand wäre, der Böses tut« (Joh 18,30). 2.2 Lasterkataloge Im Zusammenhang von Listen von Lastern findet sich häufig der Gebrauch der Adjektive ohne tiefere Reflektion. In 1Kor 5,13 wird der Gemeindeausschluss für Geiz, Götzendienst, Gotteslästerung, Trunksucht und Raub bestimmt. Konkret geht es in 1Kor 5 um einen spezifischen Fall von Unzucht eines Mannes mit der Frau seines Vaters. Der Inzest reiht sich unter die anderen moralischen Vergehen ein, unter denen Vergehen gegen Gott, sich selbst und andere Menschen ungeordnet nebeneinander stehen. Die wahllose Liste zeigt, dass Paulus weniger eine umfassende Beschreibung von Problemen in der korinthischen Gemeinde gibt als einen Abriss von möglichen Verfehlungen, durch die sich die gottferne Welt kennzeichnet. In der Liste der Laster der gottlosen Welt vor der Rettung durch Christus in Röm 1,26-31 werden neben Unzucht, Ungerechtigkeit, Schlechtigkeit, Habgier, Neid, Mord, Niedertracht, Verleumdung und Frevel die Missetäter »Erfinder von Schlechtem« genannt (V.30). Es reiht sich so die Verleumdung unter die Liste der üblichen Vergehen. Auch 1Tim 6,5 gebraucht die Begrifflichkeit des Bösen im Zusammenhang von Verleumdungen. Den Irrlehrern werden »böse Verdächtigungen«, Verblendung, Unwissenheit, falsche Lehre, Neid, Zank, Lästerung und die Vermarktung von »Frömmigkeit« vorgeworfen. Der Autor mahnt, bei dem Dienst an der »Frömmigkeit« nicht Reichtum, sondern lediglich den Lebensunterhalt anzustreben (6,6-9). »Denn die Wurzel alles Schlechten ist die Geldgier« (6,10). In Mk 7,23 wird der Katalog von Lastern, die den Menschen von innen verunreinigen-- Unzucht, Gier, Hinterlist, Neid etc. und auch »schlechte Gedanken«, Mk 7,21f.-- zusammengefasst: Alle diese »bösen Dinge kommen von innen heraus und machen den Menschen unrein.« die in Thessalonich einen gewaltbereiten Mob gegen Paulus und Silas organisieren. Das Böse als Zusammenfassung einer Anklage findet sich im Lukasevangelium in der Anklage des Täufers gegen Herodes »wegen alles Bösen, das Herodes getan hatte« (Lk 3,19). In gleicher Weise fragt Pilatus bei Jesu Prozess: »Was hat er denn Schlechtes getan? « (Mt 27,23, par. Mk 15,14; Lk 23,22; vgl. Joh 18,30). In der Apostelgeschichte ist dieser Gebrauch häufiger, aber ausschließlich im Zusammenhang von Anklagen gegen Paulus: aus dem Mund des Hananias für die Taten des Paulus gegen die Jerusalemer Gemeinde (Apg 9,13), für Anklagen gegen Paulus aus dem Mund des Statthalters in Korinth (Apg 18,14), aus dem Mund der Pharisäer in der Verhandlung vor dem Hohen Rat (»nichts Schlechtes« Apg 23,9), aus dem Mund des Paulus in seiner Verteidigungsrede (Apg 25,18) und in der Bestätigung durch die römische Gemeinde, dass ihnen über Paulus aus Judäa »nichts Böses« gemeldet wurde (Apg 28,21). Hier beschreiben die Begriffe Handlungen, die von den Sprechern als schädlich, unerlaubt oder illegal bezeichnet werden. »Dass ›böse‹ keine absolute Kategorie ist, sondern das, was die jeweils Sprechenden ablehnen, zeigt sich in den lukanischen Seligpreisungen: ›Selig seid ihr, wenn euch die Menschen hassen, wenn sie euch ausstoßen, beschimpfen und euren Namen als böse verwerfen wegen des Menschensohns‹ (Lk 6,22).« Prof. Dr. Jutta Leonhardt-Balzer, geb. 1971, studierte in Tübingen, Cambridge und Heidelberg ev. Theologie und promovierte in Cambridge zum Thema »Jewish Worship in Philo of Alexandria«. Zur Zeit ist sie Lecturer in New Testament an der University of Aberdeen und arbeitet an einem Buch zum Thema »Das Böse in dualistischer Weltwahrnehmung. Ein Vergleich dreier Konzeptionen (Qumran, Johanneische Schriften, Johannesapokryphon).« Weitere Informationen unter: http: / / www.abdn.ac.uk/ divinity/ staff/ details.php? id=j.leonhardt-balzer Jutta Leonhardt- Balzer Zeitschrift für Neues Testament typoscript [AK] - 04.10.2011 - Seite 4 - 3. Korrektur 4 ZNT 28 (14. Jg. 2011) Neues Testament aktuell Die Lasterkataloge machen keinen Unterschied zwischen dem ›Bösen‹, das in Taten, Worten oder Gedanken begangen wird. Die Listen sollen nicht vollständig sein, die einzelnen Laster sind die üblichen Vergehen gegen Gott, den Nächsten und das eigene Selbst, nur an der »falschen Lehre« zeigt sich die konkrete Ausrichtung der jeweiligen Schrift. In Verweisen auf konkrete Handlungen lässt sich deutlicher ablesen, was hinter der Beschreibung des ›Bösen‹ steht. 2.3 Reflektiertes ›Böses‹ 2.3.1 Böse Handlungen Oft gebraucht Paulus kakos wie in der klassischen Tradition im Kontext des Gegensatzes von guten und schlechten Werken. Der Wortgebrauch von kakos und ponēros bei Paulus unterscheidet sich dadurch, dass der letztere Begriff für alles, was grundsätzlich gottlos und gottfern ist, gebraucht wird, während ersterer sich konkret auf falsches, schlechtes und regelwidriges Verhalten bezieht. So betet Paulus in 2Kor 13,7 für die Gemeinde: »Wir bitten aber Gott, dass ihr nichts Schlechtes tut, nicht damit wir als tüchtig erscheinen, sondern damit ihr das Gute tut, wir aber wie die Untüchtigen seien.« In Röm 2,9 werden diejenigen, »die Schlechtes tun«, denen gegenübergestellt, die Gutes tun. Und in Röm 3,8 fragt Paulus im Zusammenhang der Rechtfertigung aus Glauben: »Ist es etwa, wie wir verleumdet werden und wie einige behaupten, wir sagten: ›Lasst uns Schlechtes tun, damit Gutes kommt‹? Deren Gericht ist gerecht.« Hier dienen ›gut‹ und ›schlecht‹ zur Bezeichnung und zum Kontrast von richtigem, regelgetreuen und falschem, regelwidrigen Verhalten. In gleicher Weise klagt Paulus auch über das Leben unter der Anklage des göttlichen Gesetzes: »Denn das Gute, das ich will, das tue ich nicht, sondern das Schlechte, das ich nicht will, das tue ich« (Röm 7,19). ›Gut‹ und ›schlecht‹ ruhen in all diesen Fällen für Paulus grundsätzlich in dem Urteil Gottes. Gutes und schlechtes Verhalten ist auch der Kontrast im Zusammenhang des Verhaltens gegenüber der Staatsmacht: »Vor den Herrschenden gibt es keine Furcht wegen guter, sondern wegen schlechter Werke; willst du aber die staatliche Gewalt nicht fürchten, dann tue Gutes, so wirst du von ihr Lob erhalten; denn sie ist Gottes Dienerin für dich zum Guten. Aber wenn du das Schlechte tust, fürchte dich! Denn sie trägt das Schwert nicht ohne Grund; denn sie ist Gottes Dienerin, die das Strafurteil vollstreckt an denen, die Schlechtes getan haben« (Röm 13,3f.). Dem Staat ist nur deswegen zu gehorchen, weil er Gottes Diener ist. 10 Deswegen fallen staatliche und göttliche Vorstellungen von Recht in diesem Fall zusammen. Im Hebräerbrief ist das Wissen um Gut und Böse das Kennzeichen des letzten Stadiums in dem Bild von dem Kind, das langsam von Milch zu fester Nahrung fortschreitet (Hebr 5,12-14): »Für die Vollkommenen ist aber die feste Speise, die, die durch Übung geübte Sinne haben zur Unterscheidung von gut und schlecht« (V.14). Hier geht es nicht nur um Wissen, sondern um die Wahl des Gotteswillens. Ein konkreter Fall der Schlechtigkeit ist es, wenn die Eintracht der Gemeinde dadurch gefährdet wird, dass einige Opferfleisch von heidnischen Opfern essen, weil sie nicht mehr an die heidnischen Götter glauben, obwohl es andere in der Gemeinde verunsichert und Anstoß erregt (Röm 14,20). Ein weiterer Fall sind in Phil 3,2 die, »die Schlechtes tun«. Sie werden »Hunde« genannt und mit denen identifiziert, die die Beschneidung lehren. In beiden Fällen werden die Einheit und der Zusammenhalt der Gemeinde bedroht. Die Bedrohung des Gemeindezusammenhalts liegt auch der Rede vom Bösen im Jakobusbrief zugrunde, so bei der unterschiedlichen Wertung von Gemeindemitgliedern aufgrund von Reichtum und Ansehen (Jak 2,1-7): »Unterscheidet ihr nicht unter euch und werdet Richter mit bösen Überlegungen? « (V.4). Auch die Bosheit falscher Selbstsicherheit (Jak 4,13-17) ist schädlich: »Nun aber rühmt ihr euch in eurem Übermut; all dieses Rühmen ist böse« (4,16). Auch die Zunge richtet Schaden an (Jak 3,1-12): »die Zunge kann kein Mensch zähmen, das wechselhafte Übel, voll von tödlichem Gift« (V.8). In gleicher Weise wirkt das Böse in den Johannesbriefen zersetzend auf die Gemeinde und die Mission. Von der widergöttlichen Aktivität der Irrlehrer soll man sich fern halten (2Joh 10): »Denn wer ihn grüßt, hat Anteil an seinen bösen Werken«. Den Hausherren der Hausgemeinden wird so untersagt, Irrlehrer in ihr Haus und damit in die Gemeinde zu lassen. Konkret wird in 3Joh 10 auch das Wirken des Diotrephes als »böse« charakterisiert, der sich weigert, die Missionare des Presbyters aufzunehmen (V.9): »Deswegen werde ich ihn, wenn ich komme, an die Werke, die er tut, erinnern, wenn er uns mit bösen Worten verleumdet und sich nicht damit begnügt, sondern er selbst nimmt die Brüder nicht auf und hindert die, die es wollen, und wirft sie aus der Gemeinde.« 2.3.2 Das Gottlose Grundlegendes Paradigma für Gottlosigkeit, das den Glaubenden als Lehre dienen soll, ist der Götzendienst Zeitschrift für Neues Testament typoscript [AK] - 04.10.2011 - Seite 5 - 3. Korrektur ZNT 28 (14. Jg. 2011) 5 Jutta Leonhardt-Balzer Kontexte zum ›Bösen‹ im Neuen Testament »Ein konkreter Fall der Schlechtigkeit ist es, wenn die Eintracht der Gemeinde dadurch gefährdet wird, dass einige Opferfleisch von heidnischen Opfern essen, weil sie nicht mehr an die heidnischen Götter glauben, obwohl es andere in der Gemeinde verunsichert und Anstoß erregt (Röm 14,20).« der Wüstengeneration beim Auszug aus Ägypten: »Dies ist als unser Vorbild geschehen, damit wir nicht das Schlechte begehren, wie jene es begehrt haben« (1Kor 10,6). Auch im Hebräerbrief findet sich die Rede von dem Bösen als Gottlosigkeit im Kontext der Wüstengeneration (Hebr 3,7-11): »Seht zu, Brüder, dass in keinem von euch ein böses Herz von Unglaube sei, das vom lebendigen Gott abfällt« (V.12). Das Böse charakterisiert zum einen die Gegenwart. In der Anrede des Galaterbriefes beschreibt Paulus das Werk Gottes und Christi, »der sich selbst für unsere Sünden gegeben hat, dass er uns befreie aus dem gegenwärtigen bösen Äon nach dem Willen Gottes unseres Vaters« (Gal 1,4). Der gegenwärtige Äon bezieht sich auf die apokalyptische Einteilung von Zeit und Raum in unterschiedliche Bereiche. Der »böse Äon« definiert den Äon als gottfern, und Gottes Handeln besteht darin, die Glaubenden davor zu retten. Im Epheserbrief findet sich ein ähnlicher apokalyptischer Verweis auf die böse Gegenwart, wenn die Leser im Zusammenhang weisen Verhaltens aufgefordert werden: »Kauft die Zeit aus, denn die Tage sind böse« (Eph 5,16). Der »böse Tag« wird auch in Eph 6,13 als Gegner erwähnt, gegen den die Waffenrüstung Gottes aufgenommen werden muss. Das Böse ist Gegner in der apokalyptischen Endschlacht. Das Böse charakterisiert auch die Zeit vor dem Eintritt in die Gemeinde: »Obwohl auch ihr einst fremd und feindselig gesinnt wart in bösen Werken, hat er euch nun durch den Tod seines sterblichen Leibes versöhnt, damit ihr heilig, untadelig und makellos vor ihn tretet« (Kol 1,21). In gleicher Weise ermahnt der Autor die Leser in Hebr 10,22 nach dem Verweis auf das Opfer Christi als Hohepriester: »Lasst uns mit aufrichtigem Herzen hinzutreten in der Gewissheit des Glaubens, zur Reinigung besprengt an den Herzen los von dem bösen Gewissen und gewaschen am Leib mit reinem Wasser«. Das schlechte Gewissen ist hier als ›böse‹ gekennzeichnet, weil es die Gottlosigkeit des Menschen vor der Reinigung durch das Opfer Christi aufzeigt. Im Jakobusbrief wird definiert, dass Gott zum Schlechten unfähig ist (Jak 1,12-15): »Niemand, der versucht wird, sage, er sei von Gott versucht; denn Gott kann nicht zum Schlechten versucht werden, und er selbst versucht niemanden.« Mit einer ähnlichen Grundeinstellung rät auch der 3Joh: »Mein Lieber, ahme nicht das Schlechte nach, sondern das Gute. Wer Gutes tut, ist aus Gott; wer Böses tut, hat Gott nicht gesehen« (V.11). Das Böse als Handlungen beeinflussender Bereich spielt eine große Rolle in der Bergpredigt des Matthäusevangeliums. Das Böse ist der Bereich der Menschenwelt, die sich von der Reinheit Gottes unterscheidet. So heißt es in Mt 7,11: »Wenn nun ihr, die ihr böse seid, euren Kindern gute Gaben gebt, um wie viel mehr wird euer Vater im Himmel denen Gutes geben, die ihn bitten.« Es gilt, sich von dem Bösen fernzuhalten und Gottes Reinheit nachzueifern. An den Taten ist erkennbar, ob man zu Gott gehört oder nicht: »An ihren Früchten werdet ihr sie erkennen. Kann man denn Trauben von Dornen ernten, oder Feigen von Disteln? So bringt jeder gute Baum gute Früchte, aber ein verfaulter Baum bringt böse Früchte. Ein guter Baum kann keine bösen Früchte bringen, und ein verfaulter Baum kann keine guten Früchte bringen« (Mt 7,16-18). Dasselbe Bild vom Baum und seinen Früchten wird in Mt 12,33 gebraucht, hier mit dem abschließenden Ausruf: »Ihr Schlangenbrut, wie könnt ihr Gutes reden, obwohl ihr böse seid? Ein guter Mensch bringt Gutes hervor aus dem guten Schatz seines Herzens, und ein böser Mensch bringt Böses hervor.« So lassen sich die wahren von den falschen Christen unterscheiden. In gleicher Weise nennt im Gleichnis vom unbarmherzigen Gläubiger der Herr den Knecht zum Schluss »böse«, weil dieser kein Erbarmen zeigt (Mt 18,32). Wer das Böse tut, ist vom Bösen. Deswegen darf man sich nicht daran beteiligen. Ein konkretes Zeichen des Bösen wird in den Seligpreisungen in übler Nachrede gesehen: »Selig seid ihr, wenn sie euch um meinetwillen beschimpfen und alles Böse gegen euch reden, wenn sie lügen« (Mt 5,11). Falsche Rede spielt auch eine Rolle in Mt 5,37: »Euer Wort sei: Ja, ja-- nein, nein; was darüber ist, ist vom Bösen«. Das Wort zeigt in besonderer Weise an, wie es um den Menschen bestellt ist: »Was aber aus dem Mund herauskommt, das kommt aus dem Herzen, und das macht den Menschen unrein« (Mt 15,18). So sind nicht nur das Wort und die Tat, sondern auch die Gedanken zu beachten, und das Böse ist in allen Formen und unter allen Umständen zu meiden, denn schon ein erster Schritt befleckt den ganzen Menschen: »Das Auge ist das Licht des Körpers. Deswegen, wenn dein Auge klar ist, wird dein ganzer Körper hell Zeitschrift für Neues Testament typoscript [AK] - 04.10.2011 - Seite 6 - 3. Korrektur 6 ZNT 28 (14. Jg. 2011) Neues Testament aktuell sein. Wenn aber dein Auge böse ist, wird dein Körper finster sein. Daher, wenn das Licht in dir Finsternis ist, wie groß wird dann die Finsternis sein? « (Mt 6,22f.; par Lk 11,34). Die Bedeutung des »bösen Auges« wird deutlich in Mt 20,15: wo es den Neid der ersten Arbeiter im Weinberg über die bessere Bezahlung der später eingestellten beschreibt. So ist das »böse Auge« ein Bild für Neid und Eifersucht. Der Vorwurf der Gottlosigkeit findet sich auch zu den geheimen Gedanken der Pharisäer und Schriftgelehrten, die Jesus Gotteslästerung unterstellen, als er dem Gelähmten seine Sünden vergibt (Mt 9,2-8). Diese Gedanken, die das Werk Gottes kritisieren, werden von Jesus böse genannt: »Warum denkt ihr Böses in euren Herzen? « (9,4). Die Pharisäer und Schriftgelehrten werden auch in Mt 12,39 zu der bösen Welt gerechnet, da sie Gottes Plan in Frage stellen: »Ein böses und treuloses Geschlecht fordert ein Zeichen, aber es wird ihm kein Zeichen gegeben werden als das Zeichen des Propheten Jona.« So werden die Gegner Jesu und der Gemeinde »böse« genannt. Das Johannesevangelium markiert die gottlose Welt insgesamt als böse: »Das aber ist das Gericht, dass das Licht in die Welt gekommen ist, und die Menschen liebten die Finsternis mehr als das Licht; denn ihre Werke waren böse« (Joh 3,19). Eindeutig ist der Unglaube, die Ablehnung des Zeugnisses Jesu als böse markiert. 2.3.3 Das Böse als Macht Im Anschluss an die Mahnung zum Vergeltungsverzicht in 1Thess 5,13 fordert Paulus zum Gebet, zur Förderung des Geistes und Achtung der prophetischen Rede auf (5,17-20) und schließt diesen Teil der Ermahnung: »Prüft aber alles, das Gute behaltet, haltet euch fern von dem Bösen in jeder Gestalt« (5,21f.). Der Kontext der Geistwirkungen durch Gebet und Prophetie zeigt, dass Paulus auch an das Böse als widergöttliche Macht denkt. Auf diese Weise erfolgt auch eine inhaltliche Bestimmung des Bösen als das, was Gott widersteht, und so führt Paulus unmittelbar im Anschluss eine Bitte um die Heiligung und Bewahrung der Gemeinde an (V.23), die mit der Betonung endet, dass Gott treu ist und diese Bitte erfüllen wird (V.24). Das Böse wird hier als Macht gesehen, die sich in menschlichen Handlungen manifestiert. Das lässt sich noch deutlicher an der Aufnahme dieser Verse in 2Thess erkennen: Hier bittet der Autor darum, »dass wir erlöst werden, von falschen und bösen Menschen. Aber der Herr ist treu, der euch stärkt und vor dem Bösen bewahrt« (3,2-3). In Röm 16,19-20 wird diese Macht personifiziert. Die ethischen Ermahnungen werden mit einer Warnung vor dem Bösen als Tat und dem Ausdruck von Zuversicht bezüglich der Bewahrung vor dem Satan abgeschlossen: »Euer Gehorsam ist bei allen bekannt, deshalb freue ich mich über euch; ich will, dass ihr weise seid zum Guten, aber unzugänglich für das Schlechte. Aber der Gott des Friedens wird bald den Satan unter eure Füße zertreten.« Hier wird das moralisch schlechte Verhalten ausdrücklich mit dem Einfluss des Satans verbunden, den Paulus als bald von Gott überwunden sieht. Im ersten Johannesbrief wird der Begriff durchgehend für »den Bösen« gebraucht, so werden die jungen Männer gelobt: »Ich schreibe euch, junge Männer, weil ihr den Bösen besiegt habt […] Ich habe euch, junge Männer, geschrieben, weil ihr stark seid und das Wort Gottes in euch bleibt und ihr den Bösen besiegt habt« (2,13.14). Auch wenn hier das Böse personifiziert ist, ist weiterhin der Aspekt der Gottlosigkeit vorherrschend. Durch die Aufnahme des Gotteswortes ist der Einfluss des Bösen gebrochen. Das zeigt sich in der Bruderliebe, zu der Kain als Brudermörder das Gegenbeispiel ist: »Denn das ist die Botschaft, die ihr von Anfang an gehört habt, dass wir einander lieben sollen, nicht wie Kain, der von dem Bösen stammte und seinen Bruder umbrachte; und warum hat er ihn umgebracht? Weil seine Werke böse waren, die seines Bruders aber gerecht« (1Joh 3,11-12). In klassischer Form wird hier der Zusammenhang von menschlichem Handeln und satanischem Einfluss formuliert. In gleicher Weise heißt es gegen Ende des Traktats in 1Joh 5,18-19: »Wir wissen, dass jeder, der aus Gott geboren ist, nicht sündigt; sondern wer aus Gott geboren ist, den bewahrt er, und der Böse rührt ihn nicht an. Wir wissen, dass wir aus Gott sind und die ganze Welt im Bösen liegt.« Hier wird der Gegensatz zwischen der Welt als dem Bereich des Satans und den Glaubenden als dem Bereich Gottes aufgestellt. Diese böse Welt wird im hohepriesterlichen Gebet Jesu mit dem Einfluss des personifizierten Bösen in Verbindung gebracht: »Ich bitte dich nicht, dass du sie aus der Welt nimmst, sondern dass du sie bewahrst vor dem Bösen« (Joh 17,15). Hier wird darum gebeten, was in 1Joh 5,18-19 als Erwartung ausgedrückt wird, dass Gott die Seinen vor den Übergriffen des Bösen schützt. So findet sich in den johanneischen Schriften ein zusammenhängendes Konzept des Bösen als Macht, die menschliche Handlungen beeinflussen und Menschen zur Leugnung Christi bewegen kann, vor der jedoch Gott die Glaubenden schützt. Personifiziert als Satan findet sich der Böse auch bei Matthäus, so wird im matthäischen Vaterunser gebeten: »Und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen« (Mt 6,13). Während im Vater- Zeitschrift für Neues Testament typoscript [AK] - 04.10.2011 - Seite 7 - 3. Korrektur ZNT 28 (14. Jg. 2011) 7 Jutta Leonhardt-Balzer Kontexte zum ›Bösen‹ im Neuen Testament unser nicht ganz eindeutig ist, ob das Böse als personifizierte Macht gedacht wird, besteht in der Deutung des Gleichnisses vom Sämann kein Zweifel daran: »Bei jedem, der das Wort von dem Reich hört und nicht versteht, kommt der Böse und nimmt weg, was in sein Herz gesät ist, das ist der, bei dem auf den Weg gesät ist.« (Mt 13,19). In gleicher Weise findet sich die Personifikation des Bösen in der Deutung des Gleichnisses vom Unkraut in Mt 13,38-39: »Der Acker ist die Welt, der gute Same, das sind die Kinder des Reiches; das Unkraut sind die Kinder des Bösen. Der Feind, der es sät, ist der Teufel.« In beiden Gleichnissen handelt der Teufel, indem er bei denen, bei denen er Halt findet, den guten Einfluss des Wortes zunichte macht. 2.3.4 Umgang mit dem Bösen: Vergeltungsverzicht und Feindesliebe Im frühesten Paulusbrief findet sich in den ethischen Ermahnungen ein Ruf, Frieden zu halten (1Thess 5,13), indem in aller Geduld die Unordentlichen gerügt, die Niedergeschlagenen ermutigt und die Schwachen gestärkt werden (5,14). Die Ermahnungen werden zusammengefasst mit: »Seht zu, dass niemand Schlechtes mit Schlechtem vergelte, sondern verfolgt das Gute untereinander und gegen alle« (5,15). Im gleichen Sinn wird der Begriff ›böse‹ in Röm 12,9 gebraucht, wenn Paulus die Gemeinde auffordert, in ihrer Liebe ohne Heuchelei zu sein: »verabscheut das Böse, haltet fest am Guten! « Der Gegensatz von Gut und Böse definiert auch hier die Grenze von Gemeinde und Außenwelt und zeigt sich an der aufrichtigen Liebe, Wertschätzung und Hilfsbereitschaft untereinander (12,10-16). Die konkreten Ermahnungen zur Einheit unter dem Thema der Feindesliebe werden mit ähnlichen Worten wie im 1Thess 5,15 fortgeführt: »Vergeltet niemandem Schlechtes mit Schlechtem, seid gegenüber allen Menschen auf Gutes bedacht« (Röm 12,17). Auf diese allgemeine Einleitung folgen verschiedene Aufforderungen, Frieden zu halten, auf Rache zu verzichten und Hilfe für den Feind zu leisten (12,18-20), sie enden mit dem Ruf: »Lass dich nicht von dem Schlechten besiegen, sondern besiege das Schlechte mit Gutem«. Die Gemeinde wird aufgefordert, gegenüber den Anfeindungen von außen nicht zu vergelten, sondern durch wohlwollende Handlungen und Worte Frieden zu schaffen. 11 Durch die in ihr praktizierte Liebe, auch den Feinden gegenüber, unterscheidet sich die Gemeinde von der Welt und beweist, dass sie gut, gottgefällig ist. In Röm 13,10 wird der Paragraph zur Nächstenliebe (13,8-10) zusammengefasst und dieses Verständnis der Liebe noch einmal betont: »Die Liebe tut dem Nächsten nichts Schlechtes. Deshalb ist die Liebe die Erfüllung des Gesetzes.« Im Hohelied der Liebe in 1Kor 13 heißt es dementsprechend auch: »Sie [sc. die Liebe] rechnet das Schlechte nicht zu« (1Kor 13,5). Der Vergeltungsverzicht ist in der Logienquelle mit dem Gebot der Feindesliebe verbunden (Lk 6,27f.; Mt 5,44), 12 das Matthäus und Lukas mit der Begrifflichkeit des ›Bösen‹ kommentieren: »Vielmehr liebt eure Feinde und tut Gutes, und leiht ohne etwas zurück zu erhoffen; so wird euer Lohn groß sein, und ihr werdet Söhne des Höchsten sein, denn er ist gütig gegen die Undankbaren und Bösen« (Lk 6,35). Lukas charakterisiert die Ablehnung der Zuwendung der Gemeinde als ›böse‹. Auch Matthäus gebraucht diese Begrifflichkeit, um die Feindesliebe zu erläutern. »Ihr habt gehört, dass gesagt ist: Auge um Auge, und Zahn um Zahn. Ich aber sage euch, stellt euch nicht gegen das Böse, sondern wer dich auf die rechte Backe schlägt, dem drehe auch die andere zu« (Mt 5,38f.). Die Frage, was genau verboten wird, ist unterschiedlich beantwortet worden, mal als Widerstand im Allgemeinen, dann als bewaffneter, gewaltsamer Aufstand oder als Aussage vor Gericht. Die Antwort darauf bestimmt, ob »das Böse« juridisch als Vergehen gegen das Gesetz, als politische oder als spirituelle Macht gedacht wird und hängt von der jeweiligen Vorstellung des sozialen Hintergrunds des Matthäusevangeliums ab. 13 Die bisher dargelegte Bedeutungsbreite, der Zusammenhang von Geisterwirken und ethischem Handeln, der Hintergrund in Dtn 19,15-21 und der matthäische Kontext lassen die erste und letzte Bedeutung gleichzeitig zu. Die Aufforderung zum Verzicht auf Vergeltung findet sich auch in 1Petr 3,9-12: »Vergeltet nicht Schlechtes mit Schlechtem oder Kränkung mit Kränkung; dagegen segnet, denn ihr seid dazu berufen, dass ihr Segen ererbt. Denn wer das Leben lieben und gute Tage sehen will, hüte seine Zunge vor Schlechtem und seine Lippen, dass sie nicht Trug reden, er wende sich ab vom Schlechten und tue das Gute, er suche Frieden und jage ihm nach; denn die Augen des Herrn sind über den Gerechten und seine Ohren bei ihren Bitten, aber das Antlitz des Herrn ist gegen die, die Schlechtes tun«. Auch hier resultiert der Racheverzicht aus der Zugehörigkeit zu Gott. Die Christen sind zum Segnen berufen, ihr Erbe, ihr Wesen ist der Segen. Daher würde ein Abweichen vom Frieden zum Verlust der Gottesbeziehung führen. In 1Petr wird stärker betont, dass das christliche Leiden gänzlich unschuldig sein muss. 14 Vergeltungsverzicht ist somit Ausdruck des neuen Lebens des Gottesvolks, das nicht mehr an den Mitteln des alten Äons Teil hat. Er bezeugt, dass sich Vergel- Zeitschrift für Neues Testament typoscript [AK] - 04.10.2011 - Seite 8 - 3. Korrektur 8 ZNT 28 (14. Jg. 2011) Neues Testament aktuell tung nicht lohnt, hofft, dass ein solches Verhalten die Lage ändert, indem das Opfer die Aktion bestimmt, und vertraut auf die eschatologische Durchsetzung der Liebe Gottes, indem schon jetzt das Handeln danach ausgerichtet und die Vergeltung Gott überlassen wird. 15 2.3.5 Trennung von dem Bösen: Gericht Grundsätzlich ruht die neutestamentliche Vorstellung von der Überwindung des Bösen auf apokalyptischem Boden und der Erwartung des Gerichts. Die Weigerung, selbst zu vergelten, bedeutet aber nicht, dass das Böse geduldet wird. So weist Paulus in 1Kor 5,13 die Korinther an, keine Gemeinschaft mit einem »Bruder« zu haben, der sich als geizig erweist, heidnische Götter anbetet, Gott lästert, trinkt oder raubt. Paulus verbietet mit solchen Menschen die Tischgemeinschaft (1Kor 5,11). Effektiv weist er so den Gemeindeausschluss an: »Denn was soll ich die draußen richten? Richtet ihr nicht die drinnen? Die draußen richtet aber Gott. Schafft den Bösen aus eurer Mitte! « (5,12-13). Der »Böse« zeigt durch sein Verhalten, dass er nicht Teil der Gemeinde Gottes ist, dass die Treue zur Gemeinde nur Lippenbekenntnis ist. Um des Opfers Christi willen muss der Leib Christi von solchen schädlichen Einflüssen gereinigt werden. In Eph 6,13 ist der »böse Tag« der Gegner, gegen den die Waffenrüstung Gottes aufgenommen werden muss. In Eph 6,12 ist dieser Gegner genauer beschrieben: »Denn wir haben nicht gegen Fleisch und Blut zu kämpfen sondern gegen Mächte und Gewalten, gegen die Beherrscher der Welt, dieser Finsternis, gegen die Geister der Bosheit unter dem Himmel«. In noch stärkerem Ausmaß als bei Paulus ist der Gegner eine personifizierte Macht. Als personifizierte Gottlosigkeit ist es selbstverständlich, dass der »Schild des Glaubens« (Eph 6,16) davor schützt. Die kriegerische Metaphorik soll jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass es sich nicht um eine aggressive Auseinandersetzung handelt, sondern dass all die Waffen gegen den bösen Tag friedlicher Natur sind: die Wahrheit der Friedensbotschaft, Glaube, Heil, der Geist im Wort Gottes und Gebet (Eph 6,13-20). In 2Tim wird die Vergeltung von Schandtaten im Gericht Gottes erwartet. So heißt es: »Alexander, der Schmied, hat mir viel Schlechtes angetan; der Herr wird ihm nach seinen Werken vergelten« (2Tim 4,14), und am Ende der Liste der Leiden folgt die Erwartung: »Der Herr wird mich erlösen von allen bösen Werken und retten in sein himmlisches Reich« (2Tim 4,18). Das Schicksal der Bösen wird in Mt 13,49f., der Auslegung des Gleichnisses vom Fischnetz, dargelegt: »So wird es auch am Ende des Äons sein: die Engel werden ausgehen und die Bösen aus der Mitte der Guten entfernen, und sie werden sie in den Feuerofen werfen; dort wird Heulen und Zähneklappern sein.« Am Ende der Zeit wird Gott Gut und Böse voneinander trennen und das Böse, Gottlose endgültig vernichten. 3. Konzeptionelle Kontexte Somit finden sich im Neuen Testament unreflektierte Verweise auf das Böse als negatives Ereignis oder als wie auch immer gearteten Rechtsbruch (Mt 27,23, par Mk 15,14; Lk 23,22; vgl. Joh 18,30; Lk 3,19; 16,25; Apg 9,13; 16,28; 17,5; 18,14; 23,9; 25,18; 28,5.21; Joh 18,30). Zunächst kann dies das politische Recht sein, doch im Kontext des Judentums ist es auch die Torah, das Gottesrecht oder weiter gefasst die frühchristlichen ethischen Vorstellungen. Was ›böse‹ ist, bestimmt der jeweilige Sprecher. In den frühchristlichen Texten wird jedoch die Verortung innerhalb des Gottesrechts bestimmend für die ethische Definition. Sowohl das Gute als auch das Böse wird durch die Gegenüberstellung beider definiert: Ziel des christlichen Lernens ist die Fähigkeit der Unterscheidung von gut und schlecht (Hebr 5,12-14). Es geht darum, das eine zu suchen, das andere zu verabscheuen (Röm 12,9), sich nicht vom Schlechten besiegen zu lassen (Röm 12,17-20). Der Gegensatz zum Schlechten ist die Liebe (Röm 13,8-10; 1Kor 13,5), die das Böse nicht zurechnet. Gute stehen gegenüber schlechten Werken, so im Verhalten innerhalb der Gemeinde (2Kor 13,7; Röm 2,9; 3,8) wie dem Staat gegenüber (Röm 13, 3f.). Konkret umfasst das ›Böse‹ Götzendienst (1Kor 10,6; Röm 14,20; Hebr 3,7-11) oder als gottlos empfundene Lehre: bei Paulus das Lehren der Beschneidung von Heidenchristen (Phil 3,2), in den Johannesbriefen das falsche Christusbekenntnis (2Joh 10) und verbunden damit das Hindern der Ausbreitung des wahren Bekenntnisses (3Joh 10), bei Matthäus Zweifel an Jesus (Mt 9,2-8; 12,39). Die so beschriebenen Handlungen verorten den Täter außerhalb der Gemeinde. Listen von »Grundsätzlich ruht die neutestamentliche Vorstellung von der Überwindung des Bösen auf apokalyptischem Boden und der Erwartung des Gerichts. Die Weigerung, selbst zu vergelten, bedeutet aber nicht, dass das Böse geduldet wird.« Zeitschrift für Neues Testament typoscript [AK] - 04.10.2011 - Seite 9 - 3. Korrektur ZNT 28 (14. Jg. 2011) 9 Jutta Leonhardt-Balzer Kontexte zum ›Bösen‹ im Neuen Testament weiteren Vergehen, die das gottlose Verhalten charakterisieren (Röm 1,26-31; Mk 7,21f.), enthalten Vergehen gegen andere, wie Neid (Mt 20,15), Gier, Habsucht und Mord (1Joh 3,11f.), allgemeines unmoralisches Verhalten wie Trunksucht oder Unzucht und Blasphemie als Vergehen gegen Gott. Die Vergehen erfolgen nicht nur als Tat, sondern insbesondere durch Verleumdungen (Röm 1,30; 1Tim 6,4f.; Jak 3,1- 12; Mt 5,11.37; 15,18) und sogar durch »böse Gedanken« (Mk 7,21f.) und hochmütige Haltung (Jak 4,13-17). Bei Paulus und den Paulusschülern findet sich eine begriffliche Differenzierung von grundlegender Bosheit (ponēros: 2Tim 4,18) und schlechten Taten (kakos: Röm 3,8; 7,19; 2Tim 4,14), die sich in den anderen Schriften nicht findet. An den Taten lassen sich die falschen Gemeindemitglieder und alle Außenseiter erkennen (Mt 7,16-18; 12,33). Somit sind böse Handlungen nicht nur konkrete Vergehen gegen die Gebote Gottes, sondern Haltung und Handlungen, die das Zusammenleben von Menschen behindern und sich deswegen besonders schädlich innerhalb der Gemeinde Gottes auswirken. Die Beschreibung als ›böse‹ verortet diese Handlungen außerhalb der Gemeinde. Die soziologische Trennung von Gemeinde und Außenwelt wird durch die kosmische Kategorie des Bösen rationalisiert. Der Gegensatz von Gut und Böse ist kein rein ethischer, sondern markiert auch einen kosmischen Kontrast. Das kosmische Böse als gottferne Macht wird apokalyptisch als böser Äon gedacht (Gal 1,4; Eph 5,16; 6,12f.16). Menschen gehören ohne das Wirken Gottes grundsätzlich diesem Bereich an (Mt 7,11). Am Ende des Äons erfolgt ein Gericht über alles Böse und Gottlose, das mit der Trennung von Gut und Böse und der Vernichtung des Letzteren endet (Mt 13,49f.). In diesem Leben besteht der Gegensatz zwischen Gottes Geist und dem zu meidenden Bösen (1Thess 5,21f.; Joh 3,19). Gott hat mit dem Bösen nichts zu tun und führt nicht in Versuchung (Jak 1,12-15), er beschützt vor dem Bösen (Mt 6,13; Joh 17,15; 1Joh 5,18f.). Das Böse ist ein Machtbereich (2Thess 2,2f.), hinter dem ›der Böse‹, der Satan, steckt (1Joh 2,13.14; Mt 13,19.38f.), der die Menschen bedroht (1Joh 5,18f.), und dem man sich durch böse Taten zugehörig zeigt (Röm 16,19f.). Daher hat man die, die böse Taten zeigen, aus der Gemeinde auszuschließen (1Kor 5,12f.). Von dem Bösen soll man sich fern halten (Röm 12,9; Mt 6,22f. par Lk 11,34; Mt 5,38f.). Das Meiden des Bösen ist so fundamental, dass man selbst wenn einem Schlechtes angetan wird, nicht Gleiches mit Gleichem vergilt (Röm 12,17-20; 1Petr 3,9-12; Lk 6,27-35). Der Verzicht auf Vergeltung basiert nicht nur auf dem Vertrauen auf das Gericht Gottes, sondern auf der positiven Definition der Gemeinde als derer, die zu Gott gehören und daher nicht das Böse tun. Selbst wenn es legal ist, bedeutet Vergeltung, Gewalt zu gebrauchen, dem Bösen nachzugeben, ihm zu unterliegen. Die Weigerung, Feuer mit Feuer zu bekämpfen, ist keine Kapitulation vor der Macht des Bösen, sondern die aktive Wahl der Position, dass der Zweck niemals die Mittel heiligt. Somit ist die neutestamentliche Vorstellung von dem ›Bösen‹ eine Mischung von kosmischen, ethischen und moralischen Elementen, deren traditionsgeschichtlicher Hintergrund vielfältig ist. 4. Traditionsgeschichtliche Kontexte Der Kontrast von Gut und Böse ist ein Konzept, das sich durch das gesamte Alte Testament zieht, so schon im Zusammenhang des Baums im Garten Eden, der das »Wissen um Gut und Böse« gibt (Gen 1,9). In der Weisheitsliteratur wird die Weisheit selbst zum Baum des Lebens, da sie das Wissen um Gut und Böse vermittelt (Spr 3,18). Der Gegensatz von Gut und Böse spielt in der Weisheitsliteratur eine wichtige Rolle zur Beschreibung der grundlegenden Struktur der Schöpfung (Spr 15,3; Sir 11,14; 18,8). Die Struktur von Gut und Böse spielt eine große Rolle im Zusammenhang der Torah in Dtn 30,15-20: »Siehe, heute habe ich vor dein Angesicht Leben und Tod gegeben, das Gute und das Böse. Wenn du auf die Gebote des Herrn deines Gottes hörst, die ich dir heute geboten habe, zu lieben den Herrn deinen Gott, zu wandeln auf allen seinen Wegen, seine Regeln zu befolgen und seine Urteilssprüche, dann werdet ihr leben und viele werden, und der Herr dein Gott wird dich segnen auf der ganzen Erde, in die du reisen wirst, sie zu erben. Wenn aber dein Herz abtrünnig wird und du nicht mehr gehorchst, verleugnest, dich vor fremden Göttern niederwirfst und ihnen dienst, so kündige ich dir heute an, dass ihr gewisslich verderben werdet, ihr werdet kein langes Leben haben in dem Land, das der Herr dein Gott dir gegeben hat […]. Ich rufe heute den Himmel und die Erde als Zeugen gegen euch, dass ich euch das Leben und den Tod vor Augen geführt habe, den Segen und den Fluch; wähle das Leben, damit du lebst und dein Same.« »Sowohl das Gute als auch das Böse wird durch die Gegenüberstellung beider definiert: Ziel des christlichen Lernens ist die Fähigkeit der Unterscheidung von gut und schlecht. (Hebr 5,12-14)« Zeitschrift für Neues Testament typoscript [AK] - 04.10.2011 - Seite 10 - 3. Korrektur 10 ZNT 28 (14. Jg. 2011) Neues Testament aktuell In gleicher Weise mahnt der Prophet Amos: »Sucht das Gute und nicht das Böse, auf dass ihr lebt, und so wird der Herr, der Gott Zebaoth bei euch sein, wir ihr es sagt. Hasst das Böse und liebt das Gute, richtet das Recht auf im Tor« (Am 5,14f.). Gut und Böse sind durch die Torah definiert. 16 Gott hat durch seine Regeln das Wissen um Gut und Böse seinem Volk gegeben (vgl. Hebr 5,12-14). Der Gegensatz dient zur Beschreibung von Recht und Unrecht, gelungenem und verspieltem, gottgefälligem und gottlosem Leben. 17 Das Wissen um Gut und Böse definiert das Gottesvolk. Gott stellt den Menschen vor die Wahl zwischen richtig und falsch, und diese Wahl bestimmt seine Zukunft. Insbesondere ist daher die Weigerung, die Torah zu befolgen und Gottes Willen zu tun, mit Götzendienst verbunden (Dtn 30). So stehen Gut und Böse für die Alternative von Gott und Gottlosigkeit, Leben und Tod. Die Weisheit bietet nicht nur einen Hintergrund für den Gegensatz von Gut und Böse, sie stellt auch einen Hintergrund zu dem Verzicht auf Rache dar: So ist es sinnvoll, Konflikte nicht eskalieren zu lassen, indem man auf seinem Recht beharrt (Spr 10,12; 12,16; 17,9; 19,11), und es ist besser, Gott die Vergeltung zu überlassen als sie selbst in die Hand zu nehmen (Spr 20,22; 24,17f.28f.; Weish 27,30-28,7), und sogar die paulinische Rede von den glühenden Kohlen, die man auf das Haupt des Feindes häuft (Röm 12,17-21), indem man ihm Gutes tut, findet sich in Spr 25,21f. 18 Doch gründet diese Güte meist in der zivilisierten Lebenseinstellung, dem Gedanken eines späteren Vorteils oder der Nachahmung der Güte Gottes, so auch im Aristeasbrief (225.227) und bei Philo von Alexandrien, Vertretern einer Ethik der Oberschicht. 19 Vor dem Hintergrund apokalyptischer dualistischer Vorstellungen von Mächten und Gewalten verändert sich die Motivation für den Vergeltungsverzicht. Die neutestamentliche Weigerung, Vergeltung zu üben, wurzelt nicht in einer weisheitlichen Kosten-Nutzen Abwägung, sondern in der apokalyptisch beeinflussten Vorstellung, durch Tun des Bösen selbst am Bösen teilzuhaben. Im Testament Benjamins findet sich die Vorstellung, dass böse Geister vor dem fliehen, der Gutes tut (TBenj. 5,2). 20 Auf ähnlichen Vorstellungen aufbauend verzichtet die neutestamentliche Haltung nicht passiv auf ihr Recht, sondern nimmt aktiv die Gegenhaltung zu dem erlittenen Unrecht ein. Diese Überzeugung basiert auf der Vorstellung, dass jede Tat im Einfluss von geistigen Wesen gründet, guter (Gottes Geist) und böser (Satan und Dämonen). Eine mit der weisheitlichen Tradition von Gut und Böse gepaarte apokalyptische Tradition ist die der Zweigeisterlehre (1QS 3,13-4,26) 21 : Gott schafft den Menschen, gibt ihm zwei Geister, in denen er wandeln soll, einen des Lichts und der Wahrheit und einen der Finsternis und des Frevels. Die Menschen werden jeweils von dem einen oder dem anderen Geist beherrscht, wobei der »Engel der Finsternis« auch die Vergehen der »Söhne des Lichts« verursacht (1QS 3,20-21). Es folgen ein ausführlicher Tugend- und Lasterkatalog, letzterer enthält u. a. »Gier, […] Bosheit und Lüge, […] große Gottlosigkeit, […] Greueltaten im Geist der Hurerei, […] Lästerzunge«, die alle keinen Bestand haben (1QS 4,9-11). Der Konflikt der beiden Engel in den Menschen ist von Gott bis zum Zeitpunkt der »Heimsuchung« (z. B. 1QS 4,19) bestimmt, und bis dahin besteht der gegenseitige Hass der beiden Menschengruppen (1QS 4,24-25). Dann wird Gott seinen reinigenden Geist über die Seinen ausgießen, sie von allem bösen Einfluss reinigen und damit das Böse dem Nichts übergeben (1QS 4,18-23). Die gottgegebene Aufgabe und Fähigkeit des Menschen ist, wie in Dtn 30,15-20, zwischen Gut und Böse unterscheiden zu können (1QS 4,26). So finden wir hier einen Lasterkatalog, die Vorstellung von dem bösen Verhalten als gottlos und frevelhaft, beeinflusst durch eine böse Macht und einen andauernden Konflikt zwischen Gut und Böse. In Qumran gibt es noch eine andere Ausgestaltung dieses Konflikts in Form eines eschatologischen Krieges zwischen den Söhnen des Lichts unter der Führung des Engels Michael und den Söhnen der Finsternis unter der Führung Belials in der Kriegsregel (1QM). 22 Ausführlich werden die Chronologie, Bewaffnung und Schlachten bis zum endgültigen Sieg der Mächte des Lichts durch die Hilfe Gottes beschrieben. Hier sind Menschen Teil des kosmischen Krieges zweier entgegengesetzter Mächte. Im Gegensatz dazu sieht das Neue Testament den Kampf gegen diese bösen Mächte nicht nur durch die Seite bestimmt, auf der man steht, sondern auch durch die Art, in der man kämpft. Durch Tun des Bösen, auch in der Meinung, im Recht zu sein, gibt sich der Mensch in die Hand der falschen Mächte. »Die neutestamentliche Weigerung, Vergeltung zu üben, wurzelt nicht in einer weisheitlichen Kosten- Nutzen Abwägung, sondern in der apokalyptisch beeinflussten Vorstellung, durch Tun des Bösen selbst am Bösen teilzuhaben.« Zeitschrift für Neues Testament typoscript [AK] - 04.10.2011 - Seite 11 - 3. Korrektur ZNT 28 (14. Jg. 2011) 11 Jutta Leonhardt-Balzer Kontexte zum ›Bösen‹ im Neuen Testament 5. Historische Kontexte So zeigt sich, dass die neutestamentlichen Schriften in allen Details ihrer Vorstellung von dem Bösen auf traditionellem Boden stehen. Sie verarbeiten eine Mischung weisheitlicher und apokalyptischer Motive, die sich alle aus dem Judentum herleiten lassen. Die ethischen Konzeptionen sind durchweg konventionell und beruhen auf einer Übertragung der Gottesvolksvorstellung auf die Gemeinde. Das ›Böse‹ kennzeichnet den Bereich außerhalb der Wertvorstellungen der Gemeinde. Der grundlegende Unterschied zum frühjüdischen Umfeld ist die Verschmelzung der verschiedenen Traditionen, insbesondere der Feindesliebe und der apokalyptischen Vorstellung von Mächten und Äonen. Durch diese Verschmelzung erhält die Feindesliebe eine grundlegend andere Motivation: Es geht nicht mehr um ein Eigeninteresse, sondern es geht darum, in Wort und Tat mit dem Gottesreich übereinzustimmen. Diese Motivation findet sich bei Paulus, einem Diasporajuden aus Tarsus, dessen Briefe Mitte des 1. Jh. n. Chr. geschrieben worden sind, in der Logienquelle Q, die Mitte des 1. Jh. n. Chr. im Norden Palästinas zusammengestellt worden ist, und im ersten Petrusbrief, der auf kleinasiatische, hellenistisch geprägte Gemeinden Ende des 1. Jh. n. Chr. zurückgeht. 23 Alle drei Traditionen haben einen deutlich unterschiedlichen sozialen Hintergrund. Alle drei neutestamentlichen Vertreter gehören nicht der Oberschicht an (im Gegensatz zu z. B. Philo und Aristeas mit ihrem Vergeltungsverzicht). Alle drei Traditionen haben Erfahrungen mit Verfolgung. Wenn sie alle Feindesliebe predigen und Vergeltung verbieten, lässt das darauf schließen, dass es sich hier um eine grundlegende sehr frühe christliche Tradition handelt. Auf die Frage, wo diese Tradition ihren Ursprung hat, ist behauptet worden, dass die Feindesliebe durch Jesus in das Christentum eingetreten sein muss. 24 Im Blick auf die weisheitlichen Parallelen hat sie sicher nicht ihren Ursprung in Jesus, jedoch ist ihre Motivation eine Neuerung gegenüber den Traditionen, die auf Jesus zurückgehen kann. Es gibt nichts in dem, was wir von der Lehre Jesu als apokalyptischer Weisheitslehre wissen, das dieser Schlussfolgerung widerspricht. 25 Bei der großen Bedeutung, die der Vergeltungsverzicht und die Feindesliebe im frühen Christentum haben, könnte es sich dabei jedoch auch um eine grundlegende Reaktion auf seinen Tod handeln, in der sich die Weigerung der Bekämpfung des Bösen mit gewaltsamen Mitteln in besonderer Weise verwirklicht. Gerade in Verfolgungssituationen dient diese Haltung dazu, Kraft zu geben. In einer Lage, in der die Gemeinde machtlos ist, sich der Aggression zu widersetzen, wird die Verweigerung der Aggression eine Handlungsoption, die die nicht zu ändernde Realität der eigenen Machtlosigkeit umdeutet. 6. Emotionale Kontexte Das Böse als Beschreibung dessen, was abgelehnt wird, löst Emotionen aus. Es fällt jedoch auf, dass die neutestamentlichen Texte selten Leidenschaften im Zusammenhang der Rede vom Bösen entwickeln, was dem Grundsatz entspricht, dass das Böse auf Tat-, Wort- und Werkebene wirkt und deswegen selbst in Worten und Gedanken zu meiden ist. Die Tat wird abgelehnt, aber der Mensch selten beschimpft, lediglich Paulus nennt die Lehrer der Beschneidung in Phil 3,2 »Hunde«, was die emotionale Beteiligung an dem Konflikt mit diesen ›Irrlehrern‹ aufzeigt, gegen die er auch im Galaterbrief emotional argumentiert, aber nie das Wort »böse« verwendet. Auch in Mt 12,33 werden die Gegner als »Schlangenbrut« beschimpft. Es fällt auf, dass sich diese Ausbrüche gerade bei den beiden Hauptvertretern der Feindesliebe und des Vergeltungsverzichts finden. Es scheint sich bei diesen Emotionen jedoch eher um Konflikte innerhalb der Gemeinde (oder mit ihr sehr Nahestehenden) zu handeln. In Am 5,14f. und vielen frühjüdischen Texten wird von Gottes Hass auf das Böse und seiner Liebe des Guten geredet. Das drückt keine emotionale Beteiligung, sondern eine grundlegende Ablehnung und Unvereinbarkeit aus, das vollzogene Gericht Gottes. 26 Im Neuen Testament finden sich solche Begriffe im Zusammenhang der Terminologie des Bösen nicht, eher heißt es umgekehrt, dass das Böse die Gemeinde hasst. Das bedeutet jedoch nicht, dass das Böse geduldet wird. So empfiehlt Paulus unzweideutig in 1Kor 5 den Gemeindeausschluss für Inzest, da er die frühjüdische Grundüberzeugung teilt, dass man anhand der Werke die Zugehörigkeit des Menschen zu Licht und Finsternis, Gut und Böse unterscheiden kann. Die Gemeinde ist der Raum, der unbedingt von dem Bösen frei gehalten werden muss. Indem etwas oder jemand als ›böse‹ charakteri- »Bei der großen Bedeutung, die der Vergeltungsverzicht und die Feindesliebe im frühen Christentum haben, könnte es sich dabei jedoch auch um eine grundlegende Reaktion auf seinen Tod handeln, in der sich die Weigerung der Bekämpfung des Bösen mit gewaltsamen Mitteln in besonderer Weise verwirklicht.« Zeitschrift für Neues Testament typoscript [AK] - 04.10.2011 - Seite 12 - 3. Korrektur 12 ZNT 28 (14. Jg. 2011) Neues Testament aktuell siert wird, wird die Möglichkeit der innergemeindlichen Disziplinierung ausgeschlossen und der so Bezeichnete der Umwelt zugeordnet. Die Texte, die das Leben vor der Bekehrung als ›böse‹ bezeichnen, lassen jedoch die Möglichkeit einer Umkehr und Wiederaufnahme in die Gemeinde offen. 7. Das Böse im Neuen Testament Somit zeigt sich, dass die grundlegenden Vorstellungen von dem Bösen im Neuen Testament sich nicht von dem frühjüdischen Umfeld unterscheiden: Weder das Verhalten, das verurteilt wird, noch die Vorstellung des Bösen als Machtbereich sind neu. Die Werte, die dem zugrunde liegen, stammen aus dem frühen Judentum, die Anwendung ist jedoch gänzlich von deren Auslegung durch die frühchristliche Erfahrung geprägt. Es wird mit dem Bösen anders umgegangen. Die Auseinandersetzung mit ihm geschieht nicht durch aggressive Mittel, meist nicht einmal durch aggressive Rhetorik, sondern durch die Anwendung grundsätzlich entgegengesetzter Verhaltensweisen. Der Gegensatz von Gut und Böse ist primär der von Gottlosigkeit und Gehorsam gegenüber dem Willen Gottes. Das Böse ist als Kategorie der soziologischen Abgrenzung gebraucht. Da Gott das Gegenteil von dem Bösen ist, darf die Gemeinde in keiner Weise an dem Bösen Teil haben. Durch das Verweigern aller bösen Mittel stellt sie sich vollkommen in den Machtbereich Gottes. Sie ermöglicht so eine Abgrenzung von dem, was sie als böse definiert, auch wenn sie objektiv nichts an der Aggression, die sie erfährt, ändert. Die Gemeinde hat jedoch die Möglichkeit, auf diese Aggression nicht nur zu reagieren, sondern eine neue Haltung einzunehmen. Diese aktive Haltung der Gewaltlosigkeit gegenüber dem als ›böse‹ Markierten und Ausgegrenzten unterscheidet das frühe Christentum grundlegend von seiner Umwelt. 27 Anmerkungen 1 Hier seien nur einige Beiträge zur Sünde genannt, die das Thema textübergreifend betrachten, z. B. I. H. Marshall, »Sins« and »Sin«, BS 159, 633 (2002), 3-20; X. Alegre, Die Sünde der Welt. Der Böse ist ein Lügner, Hehler und Mörder, Conc(D) 37,5 (2001), 574-581; U. Beuttler, Gestörte Gemeinschaft. Das biblische Verständnis der Sünde, Glaube und Denken 14 (2001), 43-54; H. Frankenmölle, Sünde und Erlösung im Neuen Testament (QD 161), Freiburg i. Br. 1996. 2 Vgl. U. Luck, Das Gute und das Böse in Römer 7, in: H. Merklein (Hg.), Neues Testament und Ethik. FS Rudolf Schnackenburg, Freiburg 1989, 220-236, bes.: 223-224. 3 Zu Personifikationen des Bösen, vgl. J. Leonhardt-Balzer, Gestalten des Bösen im frühen Christentum, in: J. Frey/ M. Becker (Hgg), Apokalyptik und Qumran (Einblicke 10), Paderborn 2007, 203-235. Ein Überblick über die Forschung zum Satan findet sich bei: D. R. Brown, The Devil in the Details. A Survey on Satan in Biblical Studies, Currents of Biblical Research 9.2 (2011), 200-227. 4 K. Berger, Das Böse als Thema biblisch-neutestamentlicher Ethik, in: K. Berger/ U. J. Niemann/ M. Wagner (Hgg.), Das Böse und die Sprachlosigkeit der Theologie, Regensburg 2007, 9-33, bes.: 9. 5 Z. B. H. Schürmann, Das »etablierte Böse« bedacht im Lichte der Apokalypse, in: E. Coreth/ W. Ernst/ E. Tiefensee (Hgg.), Von Gott Reden in säkularer Gesellschaft. Festschrift für Konrad Feiereis zum 65. Geburtstag (EThSt 71), Leipzig 1996, 43-59. 6 Vgl. z. B. H. Häring, Das Böse in der Welt. Gottes Macht oder Ohnmacht, Darmstadt 1999, 15-50; J. Laube, Das Böse in den Weltreligionen, Darmstadt 2003, 63-75; E.-Brandenburger, Das Böse. Eine biblisch-theologische Studie (ThSt(B) 132), Zürich 1986. 7 G. Harder, Ponēros, ponēria, THWNT 6, Stuttgart 1990, Nachdruck d. Ausgabe 1933-1979, 546-566. Im Neuen Testament finden sich alle drei Bedeutungen von ponēros, von schlimmen Geschwüren (Apk 16,2) bis zu schlechten Früchten (Mt 7,18). Doch besonders häufig bezeichnet das Adjektiv den moralisch bösen und verwerflichen Aspekt, sei es von Personen (Mt 7,11; Lk 11,13), sei es von Dingen (Lk 6,22; Jak 2,7) oder Taten (Joh 3,19). Als Substantiv bezeichnet es den bösen Menschen (Mt 22,10), den Teufel (Mt 13,19; Mk 13,19; 1Joh 2,13f.; 3,12; Joh 18,37) und eventuell auch das Böse als Abstraktum (Mt 13,38; Mt 6,13), wobei letztere Bedeutung umstritten ist. Vgl. G. Harder, ponēros, 554-562. 8 W. Grundmann, kakos, THWNT 3, Stuttgart 1990, Nachdruck d. Ausgabe 1933-1979, 470-485. 9 A. a. O., 480-482. 10 Das staatskritische Moment in dieser Aussage wird von L.-Schottroff betont, dies., »Give to Caesar What Belongs to Caesar and to God What Belongs to God«. A Theological Response of the Early Christian Church to its Social and Political Environment, in: W. M. Swartley, The Love of Enemy and Nonretaliation in the New Testament (Studies in Peace and Scripture), Louisville, KY 1992, 223- 257, bes.: 237-240. 11 Vgl. G. M. Zerbe, Paul’s Ethic of Nonretaliation and Peace, in: W. M. Swartley (Hg.), The Love of Enemy, 176-222. 12 Zur Auslegung der Texte vgl. G. M. Zerbe, Non-Retaliation in Early Jewish and New Testament Texts. Ethical Themes in Social Contexts (JSPE.S 13), Sheffield 1993, 176-210. 13 D. J. Weaver, Transforming Nonresistance. From Lex Talionis to »Do not Resist the Evil One«, in: W.M. Swartley (Hg.), The Love of Enemy, 32-71. 14 Vgl. G. M. Zerbe, Non-Retaliation, 270-290. 15 A. a. O., 209, 266-269, 289-290. 16 Vgl. U. Luck, Das Gute und das Böse, 225-226. 17 Vgl. O. Wischmeyer, Gut und Böse. Antithetisches Denken im Neuen Testament und bei Jesus Sirach, in: N.-Calduch-Benages/ J. Vermeylen (Hgg.), Treasures of Zeitschrift für Neues Testament typoscript [AK] - 04.10.2011 - Seite 13 - 3. Korrektur ZNT 28 (14. Jg. 2011) 13 Jutta Leonhardt-Balzer Kontexte zum ›Bösen‹ im Neuen Testament Wisdom. Studies in Ben Sira and the Book of Wisdom (BEThL 143), Leuven 1999, 129-136. 18 G. M. Zerbe, Non-Retaliation, 34-44. 19 A. a. O., 50-72. 20 A. a. O., 151-155. 21 E. Lohse, Die Texte aus Qumran. Hebräisch und Deutsch, München 1971, 11-17. Die Zweigeisterlehre ist zwar nur in der Gemeinderegel von Qumran erhalten, stellt jedoch ein vorgemeindliches Traditionsstück dar. 22 E. Lohse, Die Texte aus Qumran, 177-225. 23 Zu Paulus, vgl. U. Schnelle, Einleitung in das Neue Testament (UTB 1830), Göttingen 4 2002, 31-45; zur Logienquelle: a. a. O., 226-227; zu 1Petr: a. a. O., 447-451. 24 So z. B. J. Becker, Feindesliebe-- Nächstenliebe-- Bruderliebe. Exegetische Beobachtungen als Anfrage an ein ethisches Problemfeld, ZEE 25 (1981), 5-18; Zur älteren Forschungsdiskussion, s. W. Klassen, »Love Your Enemies«. Some Reflections on the Current Status of Research, in: W.M. Swartley (Hg.), The Love of Enemy, 1-31, bes.: 1-7. 25 Zur positiven Bedeutung der Apokalyptik für die Verkündigung Jesu, s. J. Frey, Die Apokalyptik als Herausforderung der neutestamentlichen Wissenschaft. Zum Problem: Jesus und die Apokalyptik, in: M. Becker/ M. Öhler (Hgg.), Apokalyptik als Herausforderung neutestamentlicher Theologie (WUNT II 214), Tübingen 2006. 26 P. Perkins, Apocalyptic Sectarianism and Love Commands. The Johannine Epistles and Revelation, in: W. M. Swartley (Hg.), The Love of Enemy, 287-296, bes.: 287-289. NEUERSCHEINUNG A. Francke Verlag • Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen Tel. +49 (07071) 9797-0 • Fax +49 (07071) 97 97-11 • info@francke.de • www.francke.de Stefan Gerlach Immanuel Kant UTB Pro€le 2011, 144 Seiten, € (D) 12,90/ SFr 18,90 ISBN 978-3-8252-3485-0 Eine elementare Einführung in das Denken Kants. Ausgehend von den zentralen Problemkonstellationen werden über die Erläuterung der Kernbegriffe die wichtigsten Themenfelder der Philosophie Kants konzentriert und komprimiert dargestellt.