eJournals ZNT – Zeitschrift für Neues Testament 15/30

ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
2012
1530 Dronsch Strecker Vogel

Marcella Althaus-Reid Indecent theology: theological perversions in sex, gender and politics London [u. a.]: Routledge 2000 VI + 217 Seiten; 37,54 € (englisch)

2012
Christof Viktor Meißner
Zeitschrift für Neues Testament typoscript [AK] - 12.10.2012 - Seite 67 - 4. Korrektur ZNT 30 (15. Jg. 2012) 67 Buchreport Marcella Althaus-Reid Indecent theology: theological perversions in sex, gender and politics London [u. a.]: Routledge 2000 VI + 217 Seiten; 37,54 € (englisch) Wer mit wem wie Sex haben darf, das wollte die Kirche schon des Öfteren reglementieren. Heutzutage halten sich zumindest die westlichen protestantischen Kirchen mit allzu starken Normierungen (meistens) zurück-- solange es nicht um ihre eigenen Pastorinnen und Pastoren geht! Solche Sexualfragen gehören zu den umstrittensten, wie man an der Frage von Homosexualität im Pfarramt sehen kann. Es ist eine allgemein präsente Annahme, nicht nur in der Kirche, sondern auch in der Gesellschaft, dass Ehe und Christentum zusammengehören und Ehe die Norm ist, an der sich Christinnen und Christen zu orientieren haben. Bestenfalls wird seit kurzem eine homosexuelle Partnerschaft geduldet, aber auch nur dann, wenn sie verbindlich und auf Dauer eingerichtet ist. ChristInnen sehen sich entweder als treue Partner bzw. Familienmenschen oder alleinstehend der Keuschheit verpflichtet-- so sieht zumindest das gängige Idealbild aus. Die aus Argentinien stammende, 2009 in Edinburgh verstorbene Befreiungstheologin, Feministin und Queer- Theologin Marcella Althaus-Reid versucht diese-- wie sie meint verhängnisvolle-- Allianz von »Heteronormativität« und Theologie mithilfe ihrer »unanständigen Theologie« aufzubrechen. Die Grundthese des Buches ist, dass Sexualität, Theologie und Ökonomie untrennbar miteinander verbunden sind. Theologie ist, explizit oder implizit, sexuelle Theologie (»All theology is sexual theology«). Althaus- Reid verwendet diesbezüglich die Metapher der Theologin ohne Unterwäsche (»to do theology without underwear«; 1-4.23-26 u. a.). Sie will zeigen, dass die etablierten Theologinnen und Theologen mit ihrer Unterwäsche stets ihre Sexualität versteckt und so »anständige« (»decent«) Theologien produziert haben. Solche »anständige« Theologie vermag es jedoch nicht, unterdrückerische Mechanismen sowohl in Gender- Fragen als auch in der Ökonomie zu durchbrechen. Als Beispiele für »anständige« Theologen, die ihre eigene Sexualität aus ihrem Theologisieren herausgehalten haben, nennt die Autorin Karl Barth und Paul Tillich. So preist Barth in seiner Kirchlichen Dogmatik die eheliche Gemeinschaft als einziges Modell der erotischen Liebe, lebte aber selbst in einer ménage à trois (49.1 120). Und Tillich, der sadomasochistische Praktiken liebte und auslebte, klammert diese Leidenschaft völlig aus seiner Theologie aus (88-89.1 146). Diese Doppelmoral und das Ausblenden der eigenen Sexualität in der Theologie möchte die Autorin beenden. Sie plädiert daher für eine »unanständige« Theologie »without underwear«. Althaus-Reid nimmt dabei nicht Anstoß am devianten Sexualverhalten der beiden Theologen, sondern an der mangelnden Integrität der beiden, ihre sexuellen Vorlieben theologisch zu verarbeiten. Als Grundproblem sieht sie, dass Theologie und Kirche sich mit einer oktroyierenden »Heteronormativität« verbündet haben, die jegliche Abweichung von der »Norm« unmöglich macht. Das heteronormative Muster erschöpft sich in einer Entweder-Oder-Struktur (115- 116): entweder heterosexuell oder homosexuell, entweder männlich oder weiblich. Die von der Queer-Theorie herausgestellten Mischformen, Undefiniertheiten und fließenden Übergänge haben hier keinen Platz. Dieses heteronormative Denken ist auch der Grund dafür, warum die lateinamerikanische Befreiungstheologie nicht wirksam sein konnte. Die traditionelle Befreiungstheologie hat existenzielle Unterdrückungsstrukturen nicht beseitigt, weil sie sich in den herkömmlichen heteronormativen Axiomen bewegte (27-33). So ist freilich das Thema Armut in den Blick geraten, doch die traditionellen Gender-Strukturen wurden nicht hinterfragt. Diese sind aber dafür verantwortlich, dass Frauen eine untergeordnete Rolle spielen und »Abweichler« wie Homo-, Bi-, Transsexuelle und viele andere ausgegrenzt werden. Es ist nicht thematisiert worden, dass gerade diese repressive Unterordnung Armut produziert. Althaus-Reid kritisiert die Befreiungstheologie also fundamental anhand von sexuellen Kategorien und schreibt sie zugleich auf neue Weise fort. Ökonomische Unterdrückungsmechanismen sind eng verwoben mit sexuellen Idealmodellen. Das versucht die Autorin in jedem der fünf Kapitel deutlich zu machen. Da Althaus-Reid die Konstruktion von Sexualität, Geschlecht und politischer Unterdrückung maßgeblich theologisch bestimmt sieht, muss zuerst die Theologie »pervertiert« werden, damit der Unterdrückung entgegengetreten werden kann. Den Begriff »Perversion« versteht die Autorin hierbei wie viele andere Begriffe in ihrem Buch mehrdeutig. So ist mit »Perversion« die Offenlegung von implizit-theologischer sexueller Gewalt gemeint. Die Erzählung von der Jungfrauenschwangerschaft Marias wird dementsprechend als Vergewaltigungsakt eines mächtigen männlichen Akteurs (Gott) und eines fügsamen Mädchens (Maria) interpretiert (109). Damit verbunden und in Anlehnung an die ursprüngliche Wortbedeutung von »pervertere« (87) steht der Begriff für die Dekonstruktion von bestehenden Zeichensystemen, die in Unterdrückungsstrukturen manifest werden. Die »Jungfrau Maria« muss in einem katholisch-lateinamerikanischen Kontext dekonstruiert werden, da ihr Bild Teil eines Unterdrückungssystems ist, das von der spanischen Conquista in Lateinamerika über die Militärdiktaturen bis in die heutige Zeit reicht. Das Symbol der »Jungfrau«, die eigentlich keine »Frau« ist (39), weil sie ohne Blut und Schweiß schwanger wird und selbst über den Akt der Geburt hinaus »rein« bleibt, wird als sexuelles Symbol entlarvt, das trotz und gerade wegen seiner fehlenden Sexualität und Weiblichkeit sexuell normierend repressiv wirkt. So vermag eine Marienstatue z. B. insofern Repression erzeugen, als sie ein Ideal der Zeitschrift für Neues Testament typoscript [AK] - 12.10.2012 - Seite 68 - 4. Korrektur 68 ZNT 30 (15. Jg. 2012) Buchreport Reinheit und Heiligkeit symbolisiert, das von den Frauen, die zu ihr beten, niemals erreicht werden kann. Frauen, die- - wie die Autorin selbst- - in den Slums von Buenos Aires aufwuchsen und sexueller Gewalt bzw. Diskriminierung von Kindesbeinen an ausgesetzt waren, werden schon aufgrund dieser von Armut und Gewalt geprägten Welt von früh an nicht jungfräulich sein. Eine so beschaffene Ikonographie erzeugt dauerhaft ein falsches Schuldbewusstsein und verfestigt Armuts- und fatale Gender-Strukturen (44). Ähnliche Dekonstruktionsversuche unternimmt die Autorin bezüglich Jesus Christus. Als »Drag Queen« (78-79) oder »Bi/ Christ« (112, man beachte die Mehrdeutigkeit unter phonetischem Aspekt! ) wird der im Neuen Testament sexuell unterbestimmte Jesus (112-120) zur Identifikationsfigur für Menschen, die von der gesellschaftlich-kirchlichen Sexualnorm abweichen. Die intendierte Dekonstruktion vollzieht die Autorin nicht zuletzt vermittels ihrer Sprache und Metaphernauswahl. So wird der theologische Stoff durchgehend in einer sexualisiert-pornographischen Sprach- und Bildwelt aufbereitet (z. B. 93-94). Dergestalt deckt Althaus-Reid zum einen die implizite sexuelle Prägung der traditionellen systematischen Theologie auf und entlarvt diese als sexuelle Ideologie mit unterdrückerischen Zügen gegenüber Frauen, sexuell Devianten und Armen. Zum anderen arbeitet die Autorin durch Dekonstruktion (im Sinne von De-struktion und Re-Konstruktion) eine Queer-Theologie heraus, die den Marginalisierten (Frauen, sexuell Devianten und Armen) die Möglichkeit der Identifikation mit theologischem bzw. biblischem Stoff bietet. Im Gespräch mit namhaften SexualtheoretikerInnen (z. B. Eve Kosofsky Sedgwick), Queer-TheologInnen (z. B. Robert Goss, Mary Daly), MarxismusforscherInnen (z. B. Chantal Mouffe), der Postkolonialismusforschung (z. B. Edward W. Said) und der europäischen Philosophie (z. B. Jacques Derrida, Paul Ricoeur) spielt Althaus-Reid in der obersten Liga der gegenwärtigen Kulturwissenschaften. Dabei geht es der Autorin nicht darum, Gott »loszuwerden«. Im Gegenteil, sie beklagt bitter, dass es in der Theologie bis heute als weniger »unanständig« gilt, Gott selbst herauszufordern, als die sexuell-normativen Grundannahmen von Theologien anzutasten (22.1 124). Es geht ihr auch nicht darum, »Gott« in ein neues, nun womöglich »queeres« Konzept zu pressen. Sie stellt gerade die Unverfügbarkeit, Spontaneität, Diversität und Fluidität Gottes heraus und korreliert diese mit einem Verständnis von Sexualität, das ebenfalls unverfügbar, spontan, divers und ungreifbar ist. Eine Queer-Sexualität entspricht in dieser Denkbewegung-- und hier wirkt die Autorin dann doch etwas normierend-- viel eher einem unverfügbaren Gott als die traditionell-dogmatische Theologie. Und genau an dieser Stelle muss die Kritik einsetzen: Wird hier etwa die Heteronormativität ersetzt durch eine neue Norm- - die Norm der Queer- Theorie, die besagt, dass »alle« Sexualität »fließt«? Und wenn Sexualität völlig sporadisch und bindungslos ausgelebt wird, steht sie dann nicht schon in der unmittelbaren Gefahr, einem kapitalistischen Imperativ des sexuellen Wettbewerbs zu erliegen? Und- - bei aller theologischen Hingabe an Menschen, die sexuell von der traditionellen Norm abweichen: Müssen diese nicht auch vor Bindungslosigkeit und Beziehungsverlust bewahrt werden? Diesbezüglich könnten Aporien oder wenigstens doch Schwachstellen in Althaus-Reids Werk aufzuspüren sein. Des Weiteren muss die starke Kontextbezogenheit auf den lateinamerikanischen Kulturraum als große Stärke wie zugleich Schwäche des Buches gesehen werden. In einem protestantischen, mariologiearmen Umfeld wird die Dekonstruktion der Jungfrau Maria beispielsweise als weniger notwendig erscheinen. Nichtsdestotrotz ist der Versuch, Gott durch eine Dekonstruktion der traditionellen Theologie als repressive Sexualideologie neu und für viele bisher marginalisierte Menschengruppen in den Blick zu rücken, mehr als bemerkenswert. Marcella Althaus-Reids »Indecent theology« ist eine anregende Lektüre für alle, die gerne an die Grenzen von Theologie und Christentum gehen und sich in den aktuellen kulturwissenschaftlichen Diskursen heimisch fühlen. Christof Viktor Meißner