eJournals ZNT – Zeitschrift für Neues Testament 15/30

ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
2012
1530 Dronsch Strecker Vogel

Sex – m/Macht – Text

2012
Kristina Dronsch
Zeitschrift für Neues Testament typoscript [FP] - 12.10.2012 - Seite 57 - 4. Korrektur ZNT 30 (15. Jg. 2012) 57 »Das Machtverhältnis ist immer schon da, wo das Begehren ist: es in einer nachträglich wirkenden Repression zu suchen ist daher ebenso illusionär wie die Suche nach einem Begehren außerhalb der Macht.« (M. Foucault) 1 1. Hinführungen in erotischer Absicht Das Verhältnis zwischen Sex und Macht wurde in der jüngeren medialen Vergangenheit besonders aufgenommen als Frage nach der Macht der mächtigen Männer im Staate und ihrem anmaßenden Umgang mit eben dieser Macht, die in einer Liaison von Sex und Macht mündete und sich konkretisierte in einem der letzten gesellschaftlich noch verbliebenen (Alt-)Herrenbiotope: der Politik. Was die mediale Präsentation all dieser Berlusconis und Strauss-Kahns für einige Wochen vor allem offenbarte, war eine gesellschaftlich plausibilisierte Auffassung zum Thema »Sex«. Auf einer ganz elementaren Stufe kann »Sex« demnach als eine Interaktion zwischen Personen verstanden werden, die solange unproblematisch bleibt, wie die Heterogenität der Personen nicht zu einem Problem wird, weil die Frage der Macht außen vor bleibt und qua Beziehung keine Rolle zu spielen hat. Dies kann nur gelingen, weil Intersubjektivität unter den Bedingungen von Individualität nach dieser Auffassung sich einem »erotischen Prinzip« verdankt, das auf »Vereinigung« gründet. Im Zentrum dieses »erotischen Prinzips« steht der Gedanke, dass Subjekte beim Sex eine Verbindung zueinander suchen, deren Telos darin besteht, Differenzen und Verschiedenheiten zwischen den Subjekten im Akt der Vereinigung zu überwinden. »Sex« ist dann verstanden als die Verschmelzung, das Einswerden von verschiedenen Subjekten. Da es sich hierbei um ein völlig symmetrisches Verhältnis handelt, bedarf es nicht der Klärung der Machtfrage in diesem Verhältnis. Nur wenn in das symmetrische Verhältnis eine Asymmetrie eingeführt wird, tritt erst nachträglich die Frage nach der Macht auf. Solange die Idee der Gleichheit und Reziprozität im Rahmen des »erotischen Prinzips« gewahrt bleibt, kann die Machtfrage unbeachtet bleiben. Erst wenn dieses auf Gleichheit und Reziprozität basierende Verhältnis zerstört wird, ist nachträglich beim Thema »Sex« auch die Machtfrage präsent. Von daher entwickeln sich die Verbote von Vergewaltigung, Nötigung, Manipulation und Instrumentalisierung, die als negative Verbote gesetzlich erzwingbar sind. Die Idee des Sexes, die auf Symmetrie und Reziprozität gründet, erscheint als von der Macht bedrohte Instanz und erlaubt es einzig, Macht als das Hinzutretende zu denken, welches als Verbot erscheint. Was hat dieser kleine Ausflug zum gegenwärtigen Verständnisses von Sex nun mit Texten und LeserInnen zu tun? Viel, denn es ist gerade dieses »erotische Prinzip«, das bei unserem Umgang mit Texten als Pate zur Anwendung gelangt. In der jüngeren Tradition der (bibelwissenschaftlichen) Hermeneutik wird mit einem Lesermodell gearbeitet, das nach eben diesem »erotischen Prinzip« funktioniert. An die Stelle des Liebesaktes ist der Akt der Interpretation getreten. Szenen des Lesens von Texten-- verstanden als Szenen des Interpretierens von Texten-- werden beschrieben als das Verbindung-Suchen zweier Größen mit dem Telos, Differenzen und Verschiedenheiten zu überwinden. Textualität manifestiert sich in dieser Auffassung in dem Moment, wo eine interpretierende Instanz in Verbindung zum Text tritt. Der Textkontakt im Akt des Lesens dient dazu, Distanzen und Differenzen zu überwinden. Mit den Worten Roland Barthes: »[D]er Text verlangt, dass man versucht, die Distanz zwischen Schreiben und Lesen aufzuheben (oder zumindest zu verringern), und zwar keineswegs durch eine verstärkte Projektion des Lesers in das Werk, sondern durch eine Verbindung in ein und dieselbe Bedeutungspraxis.« 2 Einem Dialog gleich antworten die LeserInnen auf den Text oder die den Text auktorial verbürgende Instanz, wobei-- eingebettet in das reziproke Geschehen der Lektüre-- der Text im Akt der Interpretation wieder zum Leben erweckt wird: »[Im] Dreieck von Autor, Werk und Publikum ist das letztere nicht nur der passive Teil, keine Kette bloßer Reaktionen, sondern selbst wieder eine geschichtsbildende Energie. […] Die Geschichtlichkeit der Literatur wie ihr kommunikativer Charakter setzen ein dialogisches und zugleich prozeßhaftes Verhältnis von Werk, Publikum und neuem Werk voraus.« 3 Die Verbindung zwischen der interpretierenden Instanz und dem Text gilt dann als erfolgreich, wenn es gelingt, eine Verbindung herzustellen, bei der sämtliche externen »Störfälle« ferngehalten werden. Und nicht umsonst wird in dieser leserbezogenen Sichtweise viel Akribie Kristina Dronsch Sex-- m/ Macht-- Text Die Ohnmacht der Geschlechter im Akt des Lesens Hermeneutik und Vermittlung Zeitschrift für Neues Testament typoscript [FP] - 12.10.2012 - Seite 58 - 4. Korrektur 58 ZNT 30 (15. Jg. 2012) Hermeneutik und Vermittlung darauf verwendet, dass der gelingende Dialog zwischen Text und Leser/ in über terminologische Einfassungen der lesenden Instanz auch interpretationstheoretisch sichergestellt wird: So ist die Rede vom »impliziten Leser«, vom »ideal reader«, vom »informierten Leser« oder vom »Modell-Leser«. Ihnen allen gemein ist, dass sie terminologische Einfassungen bieten wollen, die die kommunikativen Störfälle im Dialog zwischen Text und LeserInnen minimieren sollen. Es soll eine Verbindung zwischen den beiden Größen hergestellt werden, eine Verbindung ohne Rauschen. Denn »im Gelesenwerden geschieht die für jedes literarische Werk zentrale Interaktion zwischen seiner Struktur und seinem Empfänger« 4 . So kann der von Wolfgang Iser favorisierte »implizite Leser« 5 bzw. das Konzept des »impliziten Lesers« als der im Text vorgezeichnete »Aktcharakter des Lesens« 6 verstanden werden, der vor allem dazu dient, die Verbindung im dialogischen Naheverhältnis zwischen Text und LeserInnen zu ermöglichen, welche für das »erotische Prinzip« grundlegend ist. Umberto Eco’s »Modell-Leser« 7 bietet ebenfalls eine sehr ausgearbeitete leserbezogene Sicht des Textes, bei dem die Worte »Verbindung« und »Dialog« vermieden werden und stattdessen das Phänomen der Interpretation angesehen wird »als kooperative Erfüllung einer Verstehensstrategie« 8 , durch die der Modell-Leser einen »Lesepakt« mit dem Text schließt. 9 Trotz des gewählten technischen Vokabulars ist auch der »Modell-Leser« von Eco dem »erotischen Prinzip« verpflichtet, denn der Akt der Interpretation ist ebenfalls als beständiger Dialog mit Textmerkmalen und textuellen Strategien zu begreifen. Diese leserbezogene Sicht des Textes ist die in gegenwärtigen bibelwissenschaftlichen Zusammenhängen maßgebliche. Ganz im Sinne des »erotischen Prinzips« geht es um die Überwindung von Distanz und Differenz zwischen dem Text und der lesenden Instanz, um zu einer Verständigung zu kommen über das, was der biblische Text sagt. Dies gelingt im Akt der Interpretation, der die Distanz zwischen Text und LeserInnen reduziert. So führt Christof Hardmeier in Übereinstimmung mit den Überlegungen von Iser aus, dass biblische »Texte […] keine direkt an ihrer Zeichengestalt ablesbare Bedeutung [haben], sondern […] ihren Sinn nur in einem speziellen Vollzug des Lesens [… gewinnen]. D. h. eine sachgemäße Sinnerschließung von Texten kann nur gelingen, wenn wir Texte als eine Art Partituren der Sinnbildung verstehen, die allein im Vollzug von rezeptiven Kommunikationshandlungen Sinn machen [sic! ] und eine Bedeutung gewinnen, so wie die in der Notenschrift aufgezeichnete Musik nur in ihrer Aufführung Sinn und ihre bewegende Wirkung entfaltet« 10 . Der biblische Text darf demnach nicht verstanden werden als starres Momentum, das monologisch seine gewissermaßen zeitlose Bedeutung im Kleid seiner Materialität offenbart, sondern der biblische Text ist wie eine Partitur auf eine immer neue Resonanz der Lektüre angelegt, die den Text gleichsam aus seiner Materie erlöst und im Akt der Interpretation zu seinem aktuellen Dasein verhilft. In dieser leserbezogenen Sicht auf biblische Texte stehen Text und LeserInnen in einem dialektischen Verhältnis: »The relationship of reader and text is dialectical, so meaning should not be viewed as something a reader creates out of the text rather as a dynamic product of the reader’s interaction with the text« 11 . Diese Interaktion ist ein Verbindung-Suchen zwischen dem Text und den LeserInnen, mit dem Ziel, die bestehenden Distanzen durch den je individuellen »response« im Akt des Lesens zu verringern. Denn der biblische Text sei, wie McKnight im Anschluss an Jurij Lotmann darstellt, »[…] like the artistic text in general, […] so filled with meaning that it ›transmits different information to different readers in proportion to each one’s comprehension.‹ This ability of the artistic text to correlate with the reader and provide him with just the Dr. Kristina Dronsch, Jahrgang 1971, studierte Evangelische Theologie in Bonn, Göttingen, Zürich, Neuchâtel und Hamburg. Von 2001 bis 2010 war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin für Neues Testament und Geschichte der Alten Kirche am Fachbereich Ev. Theologie an der Goethe-Universität in Frankfurt und wurde dort 2006 promoviert. 2010-2012 Projektkoordinatorin für die Encyclopedia of the Bible and its Reception beim De Gruyter Verlag. Seit Juli 2012 Referentin für Frauen und Reformationsdekade angesiedelt beim Verband Evangelischer Frauen in Deutschland. Forschungsschwerpunkte: Heiliger Geist, Markusevangelium, Gleichnisse, Bedeutungstheorien. Kristina Dronsch Zeitschrift für Neues Testament typoscript [FP] - 12.10.2012 - Seite 59 - 4. Korrektur ZNT 30 (15. Jg. 2012) 59 Kristina Dronsch Sex-- m/ Macht-- Text information he needs and is prepared to receive is a notable characteristic of the biblical text« 12 . Das »erotische Prinzip« wird in diesem Fall saturiert durch eine gewisse affirmative Haltung der lesenden Instanz gegenüber dem biblischen Text im Akt des Lesens. Im Sinne einer prästabilisierten Harmonie zwischen dem biblischen Text und den LeserInnen erlaubt das »erotische Prinzip«, zwischen den kontemporären Ansprüchen der LeserInnen und dem biblischen Text für eine Vereinigung zu sorgen. Nun könnte eingewandt werden, dass die Bibelwissenschaft ja auch eine lange Tradition der historisch-kritischen Exegese kennt, die nicht im Verdacht steht, eine leserbezogene Sichtweise zu unterstützen, weil sie doch gar keine Lesetheorie bietet. Aber auch in der historisch-kritischen Exegese ist das eben skizzierte »erotische Prinzip« wirksam, freilich ohne explizite Fokussierung auf eine ausgearbeitete Lesetheorie. In der historisch-kritischen Exegese geraten die biblischen Texte ebenso wie bei den soeben skizzierten leserbezogenen Interpretationstheorien in eine gewissermaßen ambivalente Beschreibung, die die Notwendigkeit des »erotischen Prinzips« setzt. Während die Ambivalenz bei den literaturwissenschaftlichen Ansätzen in der Exegese sich an der einerseits festgehaltenen Materialität des Textes und seiner andererseits postulierten Unvollkommenheit ohne eine lesende Instanz manifestiert, zeigt sich die Ambivalenz in der historisch-kritischen Exegese in der Materialität des Textes und seiner Unvollkommenheit hinsichtlich der Lebendigkeit der Überlieferung. Um somit ihre Lebendigkeit wiederzuerlangen, müssen die biblischen Texte im Akt der Interpretation daraufhin befragt werden, was »der frühchristliche Autor […] gemeint und im Blick auf seine Adressaten, Hörer und Leser gewollt hat« 13 . Die biblischen Texte sind einmalig, sie sind »Wort« in dessen Selbstpräsenz und deshalb uneinholbar, und sie sind als Schrift defizitär, weil sich in ihnen der lebendige Anteil der Geschichte, der Tradition, des Autors oder des historischen Jesus nicht mehr sichtbar überliefert. Daher sind sie aber gerade in doppelter Weise des Aktes des Lesens bedürftig, um eben das »Wort« und damit den dialogischen Charakter zu installieren. Mit Bezug auf den historischen Jesus betont Jeremias deshalb emphatisch: »Welch großes Geschenk, wenn es gelingt, hier und da hinter dem Schleier das Antlitz des Menschensohnes wiederzufinden. Auf sein Wort kommt alles an! Erst die Begegnung mit ihm gibt unserer Verkündigung Vollmacht« 14 . Im Akt der Interpretation soll das, was die AutorInnen, was Jesus, was die Tradition den lesenden Subjekten sagen will, herausgearbeitet werden. Zwischen diesen Instanzen und der lesenden Instanz soll eine auf Verständigung (und Vereinigung) zielende Begegnung entstehen. In der historisch-kritischen Exegese ist somit ebenfalls der Fokus auf den Akt des Lesens gerichtet, wobei es nun um die Verlebendigung des geschriebenen Wortes geht. Im Hintergrund auch der historischen Ansätze der Bibelinterpretation können wir genauso wieder das »erotische Prinzip« ausmachen, welches auf Überwindung von Differenzen und dialogische Naheverhältnisse im Akt der Interpretation setzt. Egal, ob mehr die AutorInnen, der Text oder die LeserInnen im Fokus des Interesses stehen, immer tritt im Akt des Lesens ein Subjekt über eine zeitliche, räumliche oder kulturell bestimmte Distanz mit einer textuellen Entität in Kontakt, mit dem erklärten Ziel, die Distanz durch den Akt der Interpretation zu überwinden. Mit der Brille des »erotischen Prinzips« gesehen, ist die sonst immer so viel beschworene Kluft zwischen den historisch-kritischen »Fakten«- und »Ursprünglichkeits«-ExegetInnen und jenen literaturwissenschaftlich arbeitenden »Einsichts«-ExegetInnen in den Bibelwissenschaften nicht mehr groß. Es geht hier wie dort im Akt des Lesens um die reziproke Zugänglichkeit zu der anderen, der interpretierenden Instanz gegenüberliegenden textuellen Entität. Akte des Lesens (sowohl in literaturwissenschaftlichen als auch in historischkritischen Bibelinterpretationen) leisten dabei etwas Wesentliches: Sie überführen die Materialität des Textes im Akt der Interpretation in etwas Immaterielles. Der Akt der Interpretation gründet auf der Annahme, dass Interpretationen die Fähigkeit haben, Ideen und Bedeutungen aus der Welt der textuellen Materialität herauszudestillieren. Und genau deshalb ist auch das »erotische Prinzip« von tragender Bedeutung: Akte des Lesens, die das Bedeutsame hinter dem Materiellen aufsuchen wollen, gelingen nur, wenn es zu einer symmetrischen Verbindung zwischen lesender Instanz und textueller Entität kommt. »Im Sinne einer prästabilisierten Harmonie zwischen dem biblischen Text und den LeserInnen erlaubt das ›erotische Prinzip‹, zwischen den kontemporären Ansprüchen der LeserInnen und dem biblischen Text für eine Vereinigung zu sorgen.« Zeitschrift für Neues Testament typoscript [FP] - 12.10.2012 - Seite 60 - 4. Korrektur 60 ZNT 30 (15. Jg. 2012) Hermeneutik und Vermittlung 2. Ein sexualethischer Störfall Die Fokussierung auf den Akt des Lesens unter Anwendung des »erotischen Prinzips« macht es den Bibelwissenschaften leicht, sich der Frage der Macht zu entziehen. Die Frage nach der Macht stellt sich sowohl für die literaturwissenschaftlichen Zugänge als auch für die historischen Zugänge zur Bibel immer erst nachträglich, wenn konstatiert wird, dass sich eine Asymmetrie im Akt der Interpretation ausweisen lässt. Sei es, im Sinne einer gesetzten Unterscheidung zwischen »Interpretation« und »Gebrauch«-- wobei jeder Gebrauch als Verletzung der bedeutungsgenerierenden Interpretation (die dem Gebrauch als Prae ja immer vorgeordnet sein muss, um diese Trennung überhaupt vornehmen zu können) verstanden wird 15 --, oder sei es im Rahmen einer »Hermeneutik des Verdachts«, wie sie besonders in der feministischen Bibellektüre verbreitet ist. Auch hier geht dem Verdacht immer schon eine Interpretation voraus, auf die die Hermeneutik des Verdachts angewendet werden kann. Die machtförmige Praktik zur Autorisierung biblischer Texte gelangt immer nur als das additiv Hinzutretende in den Blick, das die auf Symmetrie und Reziprozität angelegten Akte der Interpretation von außen stört. Die Nichtthematisierung der Machtfrage im Akt des Lesens fördert eine interpretationsethische Unverbindlichkeit, da die Interpretation aus dem Bereich der Macht herausgehoben erscheint. Diese Unverbindlichkeit wird besonders dann gravierend, wenn die Interpretation biblischer Texte dazu dient, zu zeigen, was gelten soll. Dies soll im Folgenden am Thema der Homosexualität gezeigt werden. Kaum ein anderes Thema hat für soviel Zünd- und Gesprächsstoff in gegenwärtigen christlichen Kontexten gesorgt wie die Frage nach dem Umgang mit Homosexualität vor dem Hintergrund des Lesens der Bibel. Und wohl kaum eine Frage hat jemals so sehr offenbart, was Interpretation der Bibel heißt: Interpretation der Bibel ist als Interpretation immer schon praktische Anwendung. Die folgenden drei Positionen-- die Positionen der queeren Theologie, der Ex-Gay-Bewegung sowie des Papiers »Mit Spannungen leben« vom Rat der EKD-- zur Frage der Homosexualität sollen exemplarisch herangezogen werden. Kurz sei in die (wenigen) Übereinstimmungen der unterschiedlichen interpretativ gewonnen Haltungen zur Frage der Homosexualität eingeführt: Grundsätzlich kommt bei allen drei Positionen die Bibel als das lesend erschlossene Gegenüber für die sexualethische Positionierung in der Frage der Homosexualität zur Anwendung. Zur Diskussion um die interpretative Erschließung einer sexualethischen Positionierung auf der Grundlage des Bibeltextes stehen Gen 19; Lev 18,22 und 20,13; Röm 1,26-27, 1Kor 6,9 und 1Tim 1,10 als relevante Bibelstellen zum Thema Homosexualität. Die dargelegten Positionen sind alle der Überzeugung, dass sie in ihrer interpretativ gewonnenen Haltung zur Homosexualität nach dem Willen Gottes leben bzw. eine Praxis empfehlen, die dem Willen Gottes entspricht. Die queere Theologie hat ihren Vorläufer in der lesbisch-schwulen Theologie. Gegenüber der lesbischschwulen Theologie, deren wesentlicher Schwerpunkt auf argumentativer Widerlegung homophober Aussagen auf Grundlage der Bibel sowie auf das Aufspüren von biblischen Identifikationsfiguren gerichtet war, versteht sich queere Theologie im wesentlichen als Theologie der Befreiung aus einer Heteronormativität, welche nicht-heterosexuelle Menschen als Abweichung von der geschöpflichen Norm oder als sündig betrachtet. Während in lesbisch-schwulen Theologien, die sexuelle Identität zum Ausgangspunkt des Lesens der Bibel gemacht wird, werden Sexualität und Gender in der queeren Theologie als kulturell bedingte Konstruktionen verstanden, so dass von daher die gesamte auf Heteronormativität aufbauende christliche Sexualethik in Frage zu stellen sei, die als eigentlicher Grund für die unversöhnlich gegenüberstehenden christlichen Haltungen zur Homosexualität angesehen wird. Unter Anwendung einer Hermeneutik des Verdachts wird die kulturelle Geprägtheit der biblischen Texte zum Thema Homosexualität in Anschlag gebracht, die zugleich betont, dass die biblischen Texte nicht das moderne Verständnis einer feststehenden sexuellen Orientierung kennen, so dass die abwertende Haltung zur Homosexualität sich nicht bruchlos in der gegenwärtigen Kultur Geltung verschaffen könne. Mit Blick auf Röm 1,26-27 wird aufgezeigt, dass die Sexualethik mit ihrem Verbot gleichgeschlechtlicher Praxis nicht ausschließlich christologisch zu begründen sei, sondern sich der antiken jüdischen und römisch-hellenistischen Kultur ver- »Die Nichtthematisierung der Machtfrage im Akt des Lesens fördert eine interpretationsethische Unverbindlichkeit, da die Interpretation aus dem Bereich der Macht herausgehoben erscheint.« Zeitschrift für Neues Testament typoscript [FP] - 12.10.2012 - Seite 61 - 4. Korrektur ZNT 30 (15. Jg. 2012) 61 Kristina Dronsch Sex-- m/ Macht-- Text dankt. 16 Aus diesem Grund ist eine Lesehaltung gegenüber der Bibel notwendig, die die jeweilige Kontextualität der biblischen Schriften, aber auch die in der Geschichte geleisteten Interpretationen zur Homosexualität berücksichtigt, denn eine »biblische-- ob nun jüdische oder christliche- - Sexualethik kann nie etwas anderes als ein ›Redigieren‹ sein. Im Nachzeichnen dieser von jüdischen und christlichen Theologen reichlich praktizierten Redigiertätigkeit, deren Ziel weder das neutestamentliche Zeitalter noch die Gegenwart ist, gewinnt historische Forschung geradezu einen theologischen Sinn: Sie macht aufmerksam auf die Freiheit der Kinder Gottes (Gal 5,1), sich gegenüber vermeintlich sakrosankten symbolischen Ordnungen, dem ›Gesetz in den Gliedern‹ (Röm 7,23), kritisch zu verhalten« 17 . Deshalb geht es beim »queer reading of the Bible« um eine bestimmte Art der Lektüre, die »eine produktive ›Rezeption‹ inmitten der eigenen Welt in Treue zu dem Text, aber zugleich auch fähig zu veränderter Betonung, zur Entdeckung nicht zur Darstellung gekommener (Neben-)Züge der Erzählung, zu Neuformulierungen inmitten einer anderen Sprachwelt« 18 ermöglicht. Vor dem Hintergrund der bejahten Subjektivität aller Bibelinterpretationen darf keine gegenüber der anderen die Vorherrschaft beanspruchen, sondern die Pluralität der Interpretationen soll in einen freien (Interpretations-) Diskurs überführt werden. Die begrüßte Pluralität der Interpretationen darf sich dabei als auf dem je einzelnen individuellen Lesakt des Subjektes und dem biblischen Text gegründet verstanden wissen, der sich je individuell der Übereinstimmung und Reziprozität mit dem biblischen Text verdankt. Unter der Ex-Gay-Bewegung werden all jene VertreterInnen gefasst, die zwar eine homosexuelle Orientierung kennen, diese aber nicht leben, weil aufgrund ihrer Lektüre der Bibel jedes nicht-heterosexuelle Verhalten als unmoralisch zu bewerten sei. In der Heranziehung der Literatur der Ex-Gay-Bewegung wird im Folgenden nur diejenige angeführt, die für sich selbst den Begriff »Ex-Gay« in Anspruch nimmt als Bezeichnung für alle nicht praktizierenden homosexuell empfindenden Menschen oder für solche, die vormals homosexuell gelebt haben, dies aber gegenwärtig nicht mehr tun, wobei im Hintergrund meistens die Überzeugung steht, dass eine sexuelle Orientierung verändert werden kann durch die Kraft Jesu Christi. 19 Auf Grundlage der Interpretation der genannten Bibelstellen gibt es für Ex-Gays keine biblische Begründung, dass Gott homosexuelle Beziehungen billigen würde. Damit gilt für jede andere Interpretation: »Jeder Versuch, die Schrift […] zu verdrehen, um die eigenen homosexuellen Beziehungen zu untermauern, muß als absolut verkehrt beurteilt werden. Er entsteht aus der Sündhaftigkeit und der Irrtumsverhaftetheit des Geschöpfes« 20 . Mehrheitlich ist ein unmittelbarer applikationsorientierter Ansatz der Bibellektüre zu finden. Die Bibel spricht als Wort Gottes in eindeutiger Weise; die Verschmelzung von LeserInnen und biblischem Text ist dann gewährleistet, wenn die LeserInnen dieses Wort als Gottes Wort anerkennen, welches eineindeutig und luzide sich ohne methodischen Umweg verständlich und im Akt der Lektüre für die LeserInnen erschließbar erweist. Die Interpretation erfolgt mehrheitlich ohne eine vorher konstatierte Distanz des biblischen Textes zu den LeserInnen, vielmehr erschließt sich der Text in einem ungebrochenen Naheverhältnis. Aber auch wenn VertreterInnen der Ex-Gay- Bewegung sich eines methodischen Zugangs zu dem biblischen Text bedienen, um diesen zu interpretieren, gelangen sie zu der identischen Interpretation des biblischen Textes hinsichtlich des Verständnisses zur Homosexualität als in der Bibel verurteilte Praxis unabhängig von sexueller Orientierung oder kultureller Prägung. In der Ex-Gay-Bewegung ist somit die Distanz, die es im Akt der Lektüre zu überwinden gilt, nicht im biblischen Text zu verorten, sondern in der Sündhaftigkeit der lesenden Instanz, die sich durch ihre Sündenverfallenheit, zu der eine homosexuelle Orientierung zählt, einem reziproken Verhältnis zum biblischen Text verschließt. Von daher legt die Ex-Gay-Bewegung viel Energie auf »Heilungskurse« zur Überwindung der Homosexualität, mit dem Ziel, so das ungebrochene Naheverhältnis zwischen den Ex-Gay und dem biblischen Text wieder herzustellen. »Geheilt« wird hier nicht nur das homosexuelle, sondern auch das lesende Subjekt, indem der Eineindeutigkeit der Bibel im Akt der Lektüre Evidenz geschaffen wird. Innerhalb der EKD wird die Vielfalt der Interpretationsmöglichkeiten begrüßt. Denn nur so würde man der Vielfalt der Bibel gerecht werden: »Die Bibel sperrt sich gegen eine Auslegung, die die Mehrdimensionalität ihrer Texte einer religiösen Rechthaberei oder einem theologischen Fundamentalismus opfert. Ohne Neugier, ohne genaues Hinhören und ohne intensives Bemühen wird das Buch der Bücher immer nur bestätigen, was die Leser selbst schon gewusst haben« 21 . Die Begrüßung der Vielfalt der Interpretationen verdankt sich der Überzeugung, dass Gottes Wort in der Bibel im Menschenwort zugänglich ist, welches jeweils die Signatur eines bestimmten historischen, religiösen, sozialen und kulturellen Kontextes trägt. Wobei gleichzeitig der lutherische hermeneutische Ansatz von dem, »was Christum treibet«, einen Vexierspiegel für das Ver- Zeitschrift für Neues Testament typoscript [FP] - 12.10.2012 - Seite 62 - 4. Korrektur 62 ZNT 30 (15. Jg. 2012) Hermeneutik und Vermittlung ständnis der Bibel darstellt. Von diesem aus wird festgehalten, dass das Thema der »Homosexualität« in dem, »was Christum treibet« nicht präsent ist, so dass die Thematik der Homosexualität nicht als ein Kernthema protestantischer Überzeugung auszuweisen sei. Innerhalb der verschiedenen Bibelstellen zur Frage nach der Homosexualität kommt Röm 1,26-27 das größte Gewicht zu. Nach Ansicht des Rates der EKD könne nicht eindeutig festgestellt werden, dass die Erkenntnis einer anlagebedingten sexuellen Prägung, die Paulus vermutlich nicht kannte, das Gewicht dieser biblischen Aussage zur Homosexualität inhaltlich modifizieren würde. Denn eine homosexuelle Praktik ist generell nach Paulus ein Verhalten, das eine Verfehlung des Gottesverhältnisses bzw. eine Rebellion gegen Gott zum Ausdruck bringt. 22 Diese inhaltliche Profilierung als verfehltes Gottesverhältnis, in das der Mensch durch seine Verstricktheit mit der Sünde gelangt, steht im Zentrum von Röm 1-3 und nicht das alleinige Verbot von homosexuellen Handlungen. Unentschieden bleibt, ob die Berücksichtigung des jeweiligen zeitbedingten biblischen Kontextes und die Kenntnis der gesellschaftlichen Realität von gleichgeschlechtlichen Lebensformen, die ihr Leben unter das Liebesgebot Christi stellen wollen, das biblische Verbot jeglicher homosexueller Praxis aufheben kann. Diese Spannung wird nicht aufgehoben in der Orientierungshilfe, sondern verlagert auf eine individuelle Ebene: Im Rahmen des persönlichen Gewissens soll diese Spannung aufgelöst werden, wobei das individuelle Gewissen sich wieder durch den geleisteten Akt der Lektüre in der Bibel selbst zu vergewissern hat. Der individuelle Leseakt, der zwar von einem intensiven Befragen des Textes ausdrücklich ausgeht, wird der Garant, um in Übereinstimmung mit dem biblischen Text aufgrund der Interpretation der Bibel die je individuelle Gewissensentscheidung hinsichtlich der Haltung zur Homosexualität zu begründen. Mit diesem sexualethischen Störfall sind wir im Zentrum der Frage nach dem Zusammenhang von Macht und dem Akt der Interpretation. Auf diesen Zusammenhang hat bereits Lewis Carroll hingewiesen und das Problem in »Alice hinter den Spiegeln« ironisch pointiert zugespitzt, indem er Humpty Dumpty (bzw. Goggelmoggel in der deutschen Übersetzung von Christian Enzensberger) in einem Streitgespräch mit Alice sagen lässt: »›Wenn ich ein Wort gebrauche‹, sagt Goggelmoggel in recht hochmütigem Ton, ›dann heißt es genau das, was ich für richtig halte-- nicht mehr und nicht weniger.‹ ›Es fragt sich nur‹, sagt Alice, ›ob man Wörter einfach etwas anderes heißen lassen kann.‹ ›Es fragt sich nur‹, sagt Goggelmoggel, ›wer der Stärkere ist, weiter nichts.‹ 23 « Gerade bei dem Testfall »Homosexualität« wird deutlich, dass die Akte der Interpretation, auf dem »erotischen Prinzip« der Vereinigung mit dem biblischen Text gründend, durch ihr Schweigen zur Frage der Macht in der jeweiligen Interpretation, nicht mehr als ohnmächtige RezipientInnen hinterlassen können. Die Akte der Interpretation, die auf Symmetrie und Reziprozität zwischen lesendem Subjekt und biblischem Text aufbauen, gründen alle auf der Idee, die jeweilige subjektive Interpretation als von der Macht der abweichenden Interpretation bedrohte Instanz zu verstehen, und erlauben es einzig, Macht als das Hinzutretende zu denken. Das die eigene Lektüre Hinterfragende und Beunruhigende wird vermittels des »erotischen Prinzips« ausgeschlossen. Indem die eigene Interpretation als verständlich und in Einklang mit dem biblischen Text dargestellt wird, können alternative Interpretationen jeder Zeit ausgeschlossen werden. Das tröstliche und sich selbst vergewissernde Spiel der lesend geleisteten Akte der Interpretation kann sich ganz selbstgewiss zurücklehnen. Es ist das »erotische Prinzip«-- aufbauend auf Einheit und Verschmelzung--, das es ermöglicht, sich einerseits der Machtfrage im Akt der eigenen Interpretation nicht zu stellen und gleichzeitig die anderen Interpretationen als unverständlich darzustellen. Und so hinterlassen die unter der Fahne der Freiheit des individuellen Lektüreaktes stehenden Interpretationen doch nicht mehr als ohnmächtige LeserInnen. Das Schweigen zur Macht im Akt der Interpretation lässt machtlos werden, spätestens dann, wenn einer das Sagen hat. Die Idee der Interpretation, die auf Symmetrie und Reziprozität zwischen lesender Instanz und textueller Materialität gründet, um herauszulesen, was der Text sagen will, inszeniert sich gerade auch bei der Frage zur Homosexualität immer nur als von der Macht (externer interpretatorischer Ansprüche) bedrohte Instanz. Wenn wir nun aber noch einmal diesen Zusammenhang zwischen Sex, Text und Interpretation ganz wörtlich nehmen, eröffnet sich jedoch auch eine andere »Gerade bei dem Testfall »Homosexualität« wird deutlich, dass die Akte der Interpretation, auf dem ›erotischen Prinzip‹ der Vereinigung mit dem biblischen Text gründend, durch ihr Schweigen zur Frage der Macht in der jeweiligen Interpretation, nicht mehr als ohnmächtige RezipientInnen hinterlassen können.« Zeitschrift für Neues Testament typoscript [FP] - 12.10.2012 - Seite 63 - 4. Korrektur ZNT 30 (15. Jg. 2012) 63 Kristina Dronsch Sex-- m/ Macht-- Text Lesart dieses Verhältnisses, die Jerome J. McGann treffend beschreibt: »Diese Wahlverwandtschaft zwischen Liebe und Textualität gibt es, weil Liebe und Texte zwei unserer grundlegendsten gesellschaftlichen Handlungen sind. Wir machen Liebe und wir machen Texte, und wir machen beides in einer scheinbar endlosen Folge imaginärer Variationen« 24 . Während die leserbezogene Sicht des Textes festhielt, dass Texte nicht etwas sind, was wir machen, sondern einzig was wir interpretieren, lohnt es sich diese Mc- Gannsche Brille ein wenig länger aufzubehalten. Denn so eingängig die Vorstellung ist, dass Texte und von Texten gemachte Interpretationen etwas Gemachtes sind, so wenig wird sie gegenwärtig thematisiert. Aber gerade für die Frage nach der »Macht« zeigt die Fokussierung auf das »Machen« Erstaunliches, wenn wir Texte und Interpretationen als Szenen des Machens anstatt als Szenen des Lesens begreifen. Doch hier muss gleich eine Klarstellung vorangestellt werden: Es soll keineswegs darum gehen, nun einfach dahin zurückzukehren, wo die bibelwissenschaftliche Forschung her kommt, nämlich zur Wiederbelebung einer reinen Produktions- und Darstellungsästhetik, die ausklammert, dass Texte auch gelesen werden. Nein, es gilt voll und umfänglich die Überzeugung, dass Texte nur deshalb zu einem kulturellen Zeugnis werden können, weil sie ein Publikum gefunden haben, weil sie gelesen werden. Gemeint ist mit der Fokussierung auf die »Szenen des Machens« ein anderer Blick auf die biblischen Texte und die geleisteten Akte der Interpretation. Während in der leserbezogenen Sicht das Ziel im Akt der Interpretation war, aus der Materialität des Textes etwas Immaterielles herauszukristallisieren, was als die Idee oder Bedeutung des Textes bestimmt wurde, geht es darum, nicht nur Texte hinsichtlich ihrer Materialität, die auf ein Machen aufbaut, sondern auch die Akte des Lesens und Interpretierens als Materialisierungen zu verstehen. Wenn-- wie oben bei den unterschiedlichen Haltungen zur Homosexualität festgehalten wurde- - die Interpretation als Interpretation immer auch schon praktische Anwendung ist, dann kann sie es nur sein, weil sie das Bedeutsame der je eigenen Interpretation verkörpert-- eben in der praktischen Anwendung. Damit gehört das Machen nicht nur zur Materialität des Textes, sondern auch das Lesen der Bibel dient der Verkörperung des Bedeutsamen. Die Materialität ist nicht lediglich als Informationsträger zu verstehen. Vielmehr wird im Gebrauch von biblischen Texten, wie dies im Verfassen der biblischen Texte selbst geschah, aber auch im Rahmen von Interpretationen geschieht, entscheidender Einfluss genommen-- und zwar auf die RezipientInnen. Mit der Frage nach dem Machen der Texte und der auf Texten basierenden Interpretationen ist die Frage nach der Macht also immer zugleich mit zu bedenken und nicht als erst etwas nachträglich Hinzukommendes zu verstehen. Doch wo soll begonnen werden, wenn über die Frage des Machens nachgedacht werden soll? Am Anfang natürlich! Unter den Konstitutionsbedingungen antiker griechisch-römischer Texte, zu denen ja auch die biblischen Texte zählen, wo sich die Szenen des Schreibens eingeschrieben haben. 3. Das päderastische Paradigma der Schrift in der griechisch-römischen Antike Die folgenden Ausführungen zu den Akten des Schreibens in der griechisch-römischen Antike sollen der veränderten Sichtweise auf das Machen Rechnung tragen und zugleich ausweisen, dass auch historisch gesehen, die Frage nach dem Machen und der Macht eng verknüpft sind in der Geschichte der Schrift. Es ist das Verdienst von Jesper Svenbro, dass er auf jene Szenen des Schreibens in der Antike hinsichtlich ihrer Frage nach dem ihr innewohnenden Verhältnis von Macht aufmerksam gemacht hat. Hierfür möchte ich im Folgenden kurz in die Überlegungen von Jesper Svenbro einführen. In der griechisch-römischen Antike wurde laut gelesen. Schreiben wurde als ein Mittel gesehen, um Laute zu produzieren, die auf eine Verlautlichung warteten. Für die griechisch-römische Antike galt daher, dass die Schrift, »ohne das dies ein Widerspruch wäre, das Epitheton ›mündlich‹ für sich beanspruchen kann, denn die griechische Schrift ist […] vor allem ein Werkzeug der Klangerzeugung« 25 . Schreiben wurde verstanden als eine aktive Tätigkeit-- als ein Machen, während das Lesen als eine passive Tätigkeit verstanden wurde. Passiv war der Lesende deshalb, weil er sich dem Geschriebenen auslieferte, indem er dem Geschriebenen seine Stimme lieh. »Der Leser ist das Werkzeug, dessen der Text bedarf, um sich zu verwirklichen. Seine Stimme ist instrumentell. Entweder er weigert sich zu lesen, was ihm ohne weiteres möglich ist, oder er willigt ein-- doch wenn er einwilligt, hat er sich auch schon als Sprachrohr des Geschriebenen definiert« 26 . Der Leser dient somit dem Geschriebenen und auch dem Schreibenden als Instrument. Das heißt nicht nur, dass er über die nötige Kompetenz verfügt, um den Inhalt der geschriebenen Mitteilung an Zuhörende zu ›verteilen‹, die selbst An- Zeitschrift für Neues Testament typoscript [FP] - 12.10.2012 - Seite 64 - 4. Korrektur 64 ZNT 30 (15. Jg. 2012) Hermeneutik und Vermittlung alphabeten sein können. Es heißt vor allem, dass er im Dienst des geschriebenen Wortes steht. Nach Svenbro stellt nun die Verbindung zwischen dem Schreibenden und dem Lesenden sich analog zu der in der im antiken Griechenland praktizierten Institution der Päderastie dar, bei der erwachsene Männer sexuelle Beziehungen zu Knaben pflegten. Der aktive, dominante Liebhaber (Erastes) und der passive, dominierte Liebhaber (Eromenos) entsprechen dem aktiven Schreiber und dem passiven Leser. Dies war einer der Gründe, warum das Lesen in der Antike gerne den Sklaven, den Unfreien, überlassen wurde. Anhand von zahlreichen epigraphischen und textlichen Belegen aus der griechisch-römischen Zeit legt Svenbro dar, wie der laut Lesende mit dem Eromenos verglichen wird, weil er dem Geschriebenen seinen Sprachapparat leiht. Indem er dieses intime Organ zur Verfügung stellt, begibt er sich in eine passive Rolle wie in einer päderastischen Beziehung-- er wird durch den Macher der Schrift penetriert. Der Leser, indem er sich der Schriftspur des Schreibers unterwirft, verhält sich entsprechend dem Eromenos, der dominiert wird und die Position des Besiegten einnimmt. Jedoch bleibt der Schreiber genauso auf den Leser angewiesen, denn ohne ihn bleibt die Schrift stumm. Nach Svenbro ergreift das geschriebene Wort durch den Akt des Lesens von der Stimme des Lesers Besitz. Die Stimme des Lesers gehört während des Vorlesens dem geschriebenen Wort, sie wird während eines längeren oder kürzeren Zeitraums zum Besitz des geschriebenen Wortes mit dem Ziel, die Worte im Akt des Lesens zu materialisieren, indem sie hörbar werden. Gelesen werden heißt unter diesen Bedingungen: Macht über die Zunge des Lesers auszuüben, über seinen Sprechapparat, seinen Körper, auch über eine große zeitliche und räumliche Distanz. In dieser Perspektive ist also das Machtverhältnis schon mit der Materialität der Schrift gesetzt. Und was noch wichtiger ist: Svenbros Ausführungen machen deutlich, dass die Frage nach der Macht auch über eine große räumliche und zeitliche Distanz hinweg erhalten bleibt. Sie ist also keineswegs an die Präsenz des Schreibers gebunden. Zwar erscheint Svenbro in methodischer Hinsicht nicht unangreifbar, auch die antike Knabenliebe ist unter Umständen komplexer zu verstehen. Dennoch sind die Ausführungen weiterführend, weil Svenbro überzeugend ausweisen kann, dass in einer Phase, in der die Schrift bzw. die textuelle Materialität noch nicht Selbstverständlichkeiten in kultureller Hinsicht waren, die Frage nach der Macht eine grundlegende war, die an das Machen geknüpft war. Mit dem Machen der Texte ist die Frage der Macht eine direkt präsente. Die Spuren ihrer Anwesenheit schreiben sich auf der materiellen Ebene des Textes ein, Texte sind somit Manifestationen von sozialen Handlungen. Nach Svenbro muss Schrift verstanden werden in der Spannung von Steuerung und Selbststeuerung. Von der textuellen Materialität gehen Determinationen aus, die eben nicht mehr auf »Einsichten« der lesenden Instanzen in die textuelle Manifestation zurückgeführt werden können. Die Asymmetrie durch das Gravitationsfeld der Machtfrage zwischen Text und LeserInnen ist keine additiv hinzukommende, sondern schon im Akt des Schreibens, des Machens von Texten angelegt. Die Frage der Macht ist keine nachträgliche mehr, sondern sie ist in dem Moment schon da, wo sich hinsichtlich der gegebenen Materialität des Textes ein Gravitationsfeld des Begehrens konstituiert. Die Machtfrage ist nun direkt eingelassen in die Konstitutionsbedingungen des Materiellen. Es herrschen Machtrelationen vor, denen sich nicht entzogen werden kann, wenn der Text gelesen wird. Zugleich wird mit Svenbros Ausführungen zum Instrumentcharakter der lesenden Instanz hervorgehoben, dass Akte des Lesens selbst nur verstanden werden können, wenn sie eine bestimmte materielle Konstitution angenommen haben, die durch die Verlautlichung realisiert wird. Diese damit geleistete Materialisierung im Akt des Lesens spiegelt wiederum Machtrelationen. Dies ist gerade angesichts unserer heutigen Stille gegenüber dem Text zu betonen, bei der dieser Aspekt meistens vergessen wird, obwohl doch das stille Lesen auf gerade diesem Textmodell des lauten Lesens aufbaut. Was heißt die Fokussierung auf das Machen von Texten nun für das Machen von Interpretationen? 4. Telekommunikation der Macht Texte erscheinen in der Fokussierung auf das Machen immer auch als Teil einer »Telekommunikation der Macht« 27 , die allein durch ihre textuelle Materialität nicht nur das Lesen ermöglichen, sondern immer auch einen Herrschaftsraum sicherstellen bzw. ihn zu erweitern versuchen. Deshalb gilt: In der Materialität des »Mit dem Machen der Texte ist die Frage der Macht eine direkt präsente. Die Spuren ihrer Anwesenheit schreiben sich auf der materiellen Ebene des Textes ein, Texte sind somit Manifestationen von sozialen Handlungen.« Zeitschrift für Neues Testament typoscript [FP] - 12.10.2012 - Seite 65 - 4. Korrektur ZNT 30 (15. Jg. 2012) 65 Kristina Dronsch Sex-- m/ Macht-- Text Textes spricht sich die Autorität des Machers des Textes aus, die sich in Machtrelationen konkretisiert. Gleiches gilt nun auch für jede gemachte Interpretation zu einem biblischen Text: Jede Interpretation-- sei es eine theoretisch verankerte oder eine intuitiv gewonnene--, sofern sie zugänglich gemacht wird, sofern sie sich materialisiert, ist der Autorität ihres Machers verpflichtet und baut auf Machtrelationen auf. Dies gilt für jede Interpretation, gerade weil gilt, dass jede Interpretation als Interpretation immer auch schon praktische Anwendung ist. Damit ist die Frage der Macht im Akt der Interpretation immer zugleich mit zu bedenken. Die Macht im Akt der Interpretation spricht sich immer schon auf eine mittelbar-unmittelbare Weise aus, die durch jedes Machen der Interpretation bedingt ist. Vor dem Hintergrund der Feststellung, dass den Akten der Interpretation nicht eine Tendenz zur Immaterialisierung zu unterstellen ist, sondern dass Akte des Lesens immer auch Materialisierungsleistungen sind, bei denen im Akt der Interpretation Bedeutsames verkörpert wird im Rahmen von Worten, Gesten und Handlungen, wird deutlich, dass es für keine Interpretation einen »machtfreien« Rückzugsort gibt, sehr wohl aber viel Raum, Macht zu potenzieren. Sowohl Asymmetrie und Heterogenität gehören zu jeder gemachten materialisierten Interpretation dazu als auch die Feststellung, dass die Frage der Macht in Akten der Interpretation auch über eine große räumliche und zeitliche Distanz zu dem Macher der Interpretation hinweg erhalten bleibt aufgrund der geleisteten Materialisierung der Interpretation. Interpretationen der Bibel-- ob nun hinsichtlich der Frage zum Umgang mit Homosexualität oder in anderer Hinsicht-- sind immer schon in ein Kraftfeld der Macht involviert, in dem sich zugleich theologische Produktivität ereignet. In den Akten der Interpretation verkörpert sich Bedeutsames in produktiver Weise. Insofern kann eine Interpretation kein Garant oder Wegbereiter der eigenen Selbstgewissheit sein, sondern ist letztlich ein Verfahren der Vermittlung zwischen etwas. Interpretationen eröffnen sozusagen immer einen Raum des Dazwischen und zeigen gerade darin ihre Produktivität, indem sie im Akt der Interpretation etwas erzeugen, was als Bedeutsam angesehen wird. Bleibt ein vorläufiges Fazit auch für die Frage der Homosexualität: Interpretationen der Bibel sind sozusagen mit Haut und Haaren menschlicher Macht etwas Gemachtes. Wir können an den Interpretationen nicht ablesen, was Gott ursprünglich mit uns vorgehabt hätte. Von daher retten uns Interpretationen der Bibel nicht vor einer gewissen Haltlosigkeit. Gleichwohl eröffnet diese Haltlosigkeit uns gerade einen Freiraum: Weil unsere Interpretationen keine erotischen Verschmelzungen mit Immateriellem, sondern Materialisierungen von Bedeutsamen sind, gibt uns dies die Möglichkeit, uns in unserem Verhalten zu koordinieren. Denn alles, was wir von anderen Akten der Interpretationen wissen können, sehen wir an Worten und Handlungen, durch die sich diese Akte der Interpretation für eine Öffentlichkeit signifikant machen. Am interpretativ gewonnenen Zeigen zeigt sich, ob und wie wir respektvoll als Kinder Gottes miteinander durch unsere Worte und Handlungen umgehen. Das Thema Homosexualität wird in dieser Weise gewiss ein ernster Testfall sein. Anmerkungen 1 M. Foucault, Der Wille zum Wissen- - Sexualität und Wahrheit, Frankfurt a. M. 1983, 83. 2 R. Barthes, Vom Werk zum Text, in: R. Lüdeke/ S. Kammer (Hgg.), Texte zur Theorie des Textes, Stuttgart 2005, 48. 3 H. R. Jauß, Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaft, Konstanzer Universitätsreden 3, Konstanz 1967, 127. 4 W. Iser, Der Akt des Lesens, München 1990, 38. 5 Iser, Akt, bes. 50 ff. 6 R. Warning (Hg.), Rezeptionsästhetik, München 1988, 32. 7 U. Eco, Lector in fabula. Die Mitarbeit der Interpretation in erzählenden Texten, München 1990, bes. 61 ff. 8 So S. Pellegrini, Elija- - Wegbereiter des Gottessohnes. Eine textsemiotische Untersuchung im Markusevangelium, Freiburg i.Br. et al. 2000, 37. 9 Vgl. Eco, Lector, 76. 10 C. Hardmeier, Textwelten der Bibel entdecken. Grundlagen und Verfahren einer textpragmatischen Literaturwissenschaft der Bibel (Textpragmatische Studien zur Literatur- und Kulturgeschichte der Hebräischen Bibel Bd. 1/ 1) Gütersloh 2003, 48. 11 M.A. Powell, What is Narrative Criticism? A New Approach to the Bible, Minneapolis 1990, 17 f. 12 E.V. McKnight, Postmodern Use of the Bible. The Emergence of Reader-Oriented Criticism, Nashville 1990, 168. 13 M. Hengel, Die Aufgabe der neutestamentlichen Wissenschaft, NTS 40 (1994), 321-357: 351. 14 J. Jeremias, Die Gleichnisse Jesu, Göttingen 8 1970, 114. 15 So der Versuch vom U. Eco, Lector, 228, der z. B. von S. Pellegrini, Elija, 72, in den Bibelwissenschaften aufgegriffen wird. 16 Grundsätzlich dazu: B. Brooten, Darum lieferte Gott sie entehrenden Leidenschaften aus. Die weibliche Homoerotik bei Paulus, in: M. Barz et al. (Hgg.), Göttlich lesbisch. Facetten lesbischer Existenz in der Kirche, Gütersloh 1997, 113-138; H. Tiedemann, Paulus und das Begehren. Liebe, Lust und letzte Ziele. Oder: das Gesetz in den Gliedern, Stuttgart 2002. Zeitschrift für Neues Testament typoscript [FP] - 12.10.2012 - Seite 66 - 4. Korrektur 66 ZNT 30 (15. Jg. 2012) Hermeneutik und Vermittlung 17 Tiedemann, Paulus, 117. 18 W. Schürger, Bekenntnisse-- nach zehn Jahren ›schwule Theologie‹, in: Werkstatt Schwule Theologie 10 (2003), 149-159: 155-156. 19 Vgl. B. Davies, Portraits of Freedom. 14 People. Who came out of Homosexuality, Illinois 2001, 17-18. 20 A. Comiskey, Unterwegs zur Ganzheitlichkeit. Hilfen für Menschen mit homosexuellen Empfindungen, Wiesbaden 1989, 79. 21 Zitiert aus der Herbst-Kundgebung der EKD: Kundgebung zum Schwerpunktthema »Bibel im kulturellen Gedächtnis« (Trier 2003) (www.ekd.de/ synode2003 accessed 19. 7. 2012). 22 Paraphrasiert aus: Rat der EDK, Orientierungshilfe: »Mit Spannungen leben«, hrsg. v. Kirchenamt der EKD (Hannover 1996) (www.ekd.de/ EKDTexte/ 2091_spannungen_1996_vorwort.html accessed 19. 7. 2012). 23 L. Carroll, Alice im Wunderland. Alice hinter den Spiegeln, Frankfurt a. M. 1999, 210. 24 J. J. McGann, Texte und Textualitäten, in: S. Kammer/ R. Lüdeke (Hgg.), Texte zur Theorie des Textes, Stuttgart 2005, 136. 25 J. Svenbro, Phrasikleia. Anthropologie des Lesens im alten Griechenland, München 2005, 10. 26 J. Svenbro, Phrasikleia, 49. 27 P. Sloterdijk, Sphären I: Blasen, Mikrosphärologie, Frankfurt a. M. 1999, 668. Vorschau-auf Heft 31 Politik Mit Beiträgen von: Werner Kahl, Stefan Alkier, Martin Ebner, Jasper Tang Nielsen, Wolfgang Stegemann, Jan Dochorn, Tobias Nicklas. NEUERSCHEINUNG A. Francke Verlag • D-72070 Tübingen • info@francke.de • www.francke.de Albrecht Greule Sakralität Studien zu Sprachkultur und religiöser Sprache Herausgegeben von Sandra Reimann und Paul Rössler Mainzer Hymnologische Studien, Band 25 2012, XII, 233 Seiten, € (D) 58,00/ SFr 77,90 ISBN 978-3-7720-8442-3 Der Sammelband enthält Greules wichtigsten Schriften aus den Jahren 1990-2010 zu Sprachkultur und Sakralität, zur historischen Dimension der Sakralsprache, zur Sprachkultur der Liturgie der Gegenwart und zum geistlichen Lied. Dabei wird eine Fülle an sprachwissenschaftlichen Bereichen einbezogen, auch Emotionen in der Sakralsprache werden thematisiert. Der Verfasser stellt seine Analysen in einen größeren Kontext und bezieht Kommunikationssituationen und Textsortencharakteristika ein.