eJournals ZNT – Zeitschrift für Neues Testament 15/30

ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
2012
1530 Dronsch Strecker Vogel

Kontroverse: Kann das Neue Testament Grundlage einer zeitgemäßen Sexualethik sein?

2012
Eckart Reinmuth
Zeitschrift für Neues Testament typoscript [AK] - 12.10.2012 - Seite 52 - 4. Korrektur 52 ZNT 30 (15. Jg. 2012) Ja, weil Sex verbindet-- er verbindet Menschen mit ihren Geschichten und Erwartungen, er verbindet sie mit Haut und Haar. Anders lassen sich die neutestamentlichen Bezüge auf den biblischen Schöpfungsbericht kaum lesen: Die zwei werden ein Fleisch sein (Gen 2,24). Markus und Matthäus zitieren die Stelle, um die Unkündbarkeit der ehelichen Gemeinschaft zu begründen (Mt 19,5; Mk 10,8); Paulus zitiert sie, weil aus seiner Sicht Sex auch mit Prostituierten verbindet (1Kor 6,16), und der nachpaulinische Epheserbrief zitiert sie ebenfalls (Eph 5,31): So körperlich, ausschließlich und umfassend wie eine eheliche Gemeinschaft ist auch die Beziehung zwischen Christus und seiner Gemeinde. Offensichtlich-- so lese ich 1Kor 6,16-- gilt die Verwendung dieses biblischen Grundsatzes, wie er in Gen 2,24 formuliert wird, auch für entfremdete, unverbindliche oder gewalttätige Formen sexueller Kontakte und Begegnungen. Sex ist Kommunikation: Ich kann nicht nicht-kommunizieren, ich kann nicht nicht-begegnen, ich kann nicht nicht-verantwortlich sein. Sex verbindet-- ob in der gemeinsamen Ekstase, im Schuldigwerden gegeneinander, im Wunsch nach einem Kind oder Kindern, in Verrat und Vertrauen, in emotionaler Verbundenheit, Angst oder Scham, in Befreiung und Entschuldung: Immer geht es um ein vielleicht noch so kleines Stück gemeinsamer Geschichte, um die Verbindung zweier Lebensgeschichten, und damit um eine begonnene Zukunft, um Verantwortung vor ihr und füreinander. Außerdem-- so verstehe ich Eph 5,31-- machen wir uns etwas vor, wenn wir den Sex begrifflich, sozial oder theologisch abstrahieren. Für das Neue Testament gibt es weder eine abstrakte Körperlichkeit noch eine abstrakte, rein geistige Personalität. Geschlechtlichkeit meint nie lediglich einen Teilbereich, sondern Menschen als ganze Personen. Sie lässt sich nicht als ›rein körperliches‹ Phänomen verharmlosen. Es geht dem Neuen Testament nicht um eine abstrakt gedachte ›bloße Leiblichkeit‹ der Sexualität, sondern um meine Personalität. Sie tangiert die Gesamtheit meines Ich-Bezugs wie meiner sozialen Bezüge. Deshalb verweist die theologische Interpretation der Sexualität in Eph 5,31 auf einen grundlegenden Zusammenhang: Der Autor, der hier vom »Geheimnis« der liebenden Verbundenheit zwischen Christus und seiner Gemeinde spricht (V. 32), erkennt in dessen Geschichte die Verbundenheit Gottes mit seinem Volk und aller Welt wieder. Diese Verbundenheit wurde in den Metaphern einer leidenschaftlichen Liebe erzählt, als eine Geschichte, die all die Facetten begehrender Liebe-- Erwählung, Enttäuschung, Eifersucht, nachgehende, verzweifelte, unbedingte Liebe-- kannte. Die biblischen Schriften Israels sind voll von Beziehungsmetaphern, die das Verhältnis zwischen Gott, seinem Volk und allen Menschen in Bildern des Begehrens, einer stürmischen Liebe, von Enttäuschung, ersehnter Erfüllung zum Ausdruck bringen, von Beispielen, die einen spontanen Gott zeigen, der mit keiner ›Regel‹ zu bannen ist, der Risiken eingeht, Hingabe kennt und nur über seine absolute Subjektivität zu begreifen ist (vgl. z. B. Ex 34,15 f.; Dtn 31,16; Ri 2,17; 8,33; Hos 1-3; Jes 54,5 f.; 61,10; 62,4 f.; Jer 2-3; 33,10 f.; Ez 16,4-14; 23,1-4). Paulus hat eindringlich darauf hingewiesen (vgl. z. B. Röm 9,9-13.25 f.; 10,19-21; 11,1 f.5 f.28 ff.), und es sind vielleicht gerade manche befremdenden Elemente seiner Theologie-- das Insistieren auf dem unbedingten Gottsein Gottes, auf seiner Subjektivität, auf der steten Vorgängigkeit seines Erwählungshandelns- - mit denen der Apostel versucht, die Unbedingtheit und Grundlosigkeit dieses Liebens zu wahren. Wer wollte nicht gerade das unableitbare Moment der ›Erwählung‹ auch als sexualethische Metapher verstehen? Geht es doch mit ihr um eine Anrede, die Menschen als geliebte Menschen adressiert und sie dazu befreit, ihrerseits zu lieben, ohne sich rechtfertigen zu müssen. Der Gott Israels, von dem das Neue Testament spricht, ist von Anfang an ein begehrender Gott, der nicht das Begehren der Menschen verurteilt, sondern es Eckart Reinmuth Kontroverse: Kann das Neue Testament Grundlage einer zeitgemäßen Sexualethik sein? Kontroverse »Der Gott Israels, von dem das Neue Testament spricht, ist von Anfang an ein begehrender Gott, der nicht das Begehren der Menschen verurteilt, sondern es würdigt und ihrem Leben integriert sehen will.« Zeitschrift für Neues Testament typoscript [AK] - 12.10.2012 - Seite 53 - 4. Korrektur ZNT 30 (15. Jg. 2012) 53 Eckart Reinmuth Kontroverse: Kann das Neue Testament Grundlage einer zeitgemäßen Sexualethik sein? würdigt und ihrem Leben integriert sehen will. Nicht umsonst haben seine Autoren diesen Gott im Tun Jesu wiedererkannt, seine Geschichte und Zukunft als Ausdruck dieser leidenschaftlichen Liebe Gottes verstanden und von derselben Metaphorik Gebrauch gemacht (vgl. z. B. Mk 2,18-20 par.; Mt 22,1-14; Joh 3,29; 2Kor 11,2; Eph 5,25-32; Offb 19,7-9; 21,2.9 f.-- nachneutestamentliche Autoren haben wie vor ihnen jüdische Theologen diese Liebe zwischen Gott bzw. Christus und seinem Volk bzw. seiner Gemeinde am Hohelied Salomos illustriert). Hat sich die moderne, aufgeklärte Theologie daran abgearbeitet, die sogenannten Anthropomorphismen wie Kinderkrankheiten eines erhabenen, durchgeistigten und jenseitsgewissen Gottesbildes abzutun, so hat sie im gleichen Atemzug diesen Gott und seine Liebe zum Prinzip werden lassen. Aber Liebe ist kein Prinzip, und sie beginnt nicht bei ihrer Normierung, sondern beim Begehren, beim Hingezogensein und Angerührtwerden-- und weit davor und geht darüber hinaus. Sie benötigt Gemeinschaft und sie braucht Zeit, und das kann Dauer, manchmal ein Leben lang, bedeuten. Und sie schließt Verantwortung ein. Eine Verantwortung, die weit mehr umfasst, als wir tatsächlich einlösen können. Ihr werden wir nur als Liebende gerecht. Was in der Perspektive des Neuen Testaments über Sexualethik zu sagen wäre, wird verfehlt, wenn es als normierende, regulierende, einschränkende, bestimmte Lehrmeinungen legitimierende Sammlung von Vorschriften verstanden würde. Hier scheiden sich die Geister hinsichtlich dessen, was Grundlage einer Sexualethik sein kann. Wer das Neue Testament als sexualethisches Normierungs-, pädagogisches Sanierungs- oder religiöses Legitimierungsprojekt versteht, sitzt einem krassen Anachronismus auf und hat seine Texte in historischer wie hermeneutischer Hinsicht verfehlt. Wer behauptet, aus den normativen Vorstellungen, Verurteilungen und Ausgrenzungen neutestamentlicher Texte sexualethische Regulative ableiten zu können, tut diesen Texten Unrecht und sieht sich schließlich gezwungen, ihre antikpatriarchale Prägung des Geschlechterverständnisses, die ihnen eingeschriebene Machtsymbolik, ihre Imprägniertheit durch Vorstellungen von Ehre und Schande, ihre uns fremde Auffassung von Körperlichkeit und weitere grundlegend andere Prägungen entweder ausblenden oder übernehmen zu müssen. Und wer meint, nur einige ›positive‹ Spitzensätze wie Gal 3,28; 1Kor 7,4; 11,11 ausschneiden und als zeitlos reklamieren zu dürfen, tut den Texten nicht weniger Unrecht. Paulus stellt in 1Kor 11,11 im Blick auf heterosexuelle Beziehungen fest: In dem Herrn ist weder die Frau ohne den Mann noch der Mann ohne die Frau etwas. Gemeint ist damit die konstitutive und unersetzliche Aufeinandergewiesenheit von Männern und Frauen. Paulus überbietet mit diesem Satz auf denkwürdige Weise seine eigene Argumentation im Abschnitt der VV.3- 16. Ohne diesen problematischen Kontext jedoch verliert der Satz seine Grundlage und verwandelt sich zu einer unverbindlichen Überlegung. Im gleichen Brief hebt Paulus die gleichrangige Wechselseitigkeit der geschlechtlichen Beziehungen zwischen verheirateten Männern und Frauen hervor (7,3-4). Der Kontext jedoch (7,1 f.5) gibt eine merkwürdig angstbesetzte und zugleich ›mechanische‹ Sicht auf die sexuelle Praxis zu erkennen, die in sexualethischer Hinsicht untauglich ist. Paulus sieht in Gal 3,28 die machtbesetzte, asymmetrische Unterschiedenheit von »männlich« und »weiblich« aufgehoben in Christus. Auch hier zeigt er sich als Mensch seiner Zeit, für den die patriarchale Perspektive selbstverständlich ist: Juden und Griechen, Sklaven und Freie, männlich und weiblich werden nicht »eins« in Christus, sondern »einer«. Paulus formuliert nicht neutrisch, sondern maskulinisch. Das Neue Testament ist trotz solcher Spitzensätze als Lehrbuch einer normenorientierten Sexualethik gänzlich ungeeignet. Geht es um Verbote, Erlaubnisse, Ausgrenzungen oder Legitimierungen, so ist die Kultur einer Gesellschaft gefragt, ihre Geschichte und Ir-/ Rationalität, also der jeweilige Diskurs der Begründbarkeit Prof. Dr. Eckart Reinmuth, 1951 in Rostock geboren, studierte Evangelische Theologie in Greifswald, wurde 1981 in Halle promoviert und habilitierte sich 1992 in Jena. Er war Gemeindepastor in Mecklenburg und Professor für Neues Testament an der Kirchlichen Hochschule Naumburg und der Universität Erfurt. Seit dem Sommersemester 1995 lehrt er an der Theologischen Fakultät der Universität Rostock. Eckart Reinmuth Zeitschrift für Neues Testament typoscript [AK] - 12.10.2012 - Seite 54 - 4. Korrektur 54 ZNT 30 (15. Jg. 2012) Kontroverse bzw. Nichtbegründbarkeit sexualethischer Normen. Ethische Orientierung ergibt sich nach neutestamentlichem Verständnis demgegenüber exklusiv aus der Jesus- Christus-Geschichte, nicht aus universalen Prinzipien wie Natur, Moral, Vernunft, gesellschaftlichen Erfordernissen. Das frühe Christentum artikulierte sich in den Kontexten seiner Zeit, indem es seine Interpretationen der Jesus-Christus-Geschichte in diese Kontexte eintrug und ein neues Verständnis des Menschseins einschließlich grundsätzlich neuer Orientierungen kommunizierte. Hinsichtlich unseres Kontroversthemas müssen wir nach diesen fragen. Das schließt ein, ›Sexualität‹ primär als diskursives Konstrukt zu begreifen: Es gibt keinen ›natürlichen‹, von den kulturell und gesellschaftlich gegebenen Bedingtheiten und ihrer Geschichte losgelösten Punkt, von dem aus sie ›objektiv‹ zu diskutieren wäre. Essentialistische Lesarten von Sexualität, die diese primär als biologisches bzw. innerpsychisches Triebphänomen und nicht in ihrer kulturellen Diversität begreifen, gehören demgegenüber zu einer bestimmten Etappe der Diskursgeschichte. Schließlich ist das Stichwort Sexualethik wie Sexualität ein modernes Wort mit einer eigenen Geschichte, und die gegenwärtigen Fragestellungen auf diesem Feld sind es auch. So ist beispielsweise die alternierende Definition von Hetero- und Homosexualität als diskursives Konstrukt (konkret des 19. Jh.) zu verstehen. Auch essentialistische Definitionen von Sexualität basieren auf konstruktiven Zuschreibungsprozessen, die jedoch unsichtbar bleiben-- oder gar invisibilisiert werden, um unsichtbar bleiben und das Definierte als natürliche Gegebenheit wahrnehmen zu können. Hier sind machtförmige Geltungsansprüche aufzuspüren, die-- etwa mit Blick auf religiöse Gemeinschaften-- identitätsstiftende und -garantierende Funktion haben. Sie führen jedoch in eine exklusive und potentiell gewalthaltige Alternative zwischen wahr und unwahr. Wo diese Alternative auf Gott projiziert wird, meinen Menschen sich ihr unentrinnbar ausgesetzt zu sehen und Gott mit verbaler oder körperlicher Gewalt zu dienen (vgl. Joh 16,2). Die Wahrnehmungen, Erfahrungen, Optionen und Regulative des Sexuellen beziehen sich folglich stets auf jeweilige Standards kultureller, gesellschaftlicher, religiöser und politischer Entwicklungen. Diejenigen, die bestimmte sexuelle Praktiken für natürlich und somit exklusiv legitimiert sehen, meinen zwar im neutestamentlichen Kontext Philo von Alexandrien oder Paulus von Tarsus auf ihrer Seite zu haben, sie verfallen jedoch einem vielleicht verführerischen, aber nicht zu tolerierenden Anachronismus: Was antike Autoren als ›natürlich‹ bzw. von natürlichen Gegebenheiten (gr.: physis) ableitbar ansahen, war die kulturelle Ordnung ihrer Zeit. ›Natürlich‹ war z. B. die Überlegenheit des Mannes und die Minderwertigkeit der Frau. Der gesellschaftlich universal wirksame anthropologische Maßstab für alle geschlechtlichen Spielarten orientierte sich am Ideal der Maskulinität. Der männliche Mann wurde an der Spitze einer anthropologisch basierten gesellschaftlichen Skala gedacht, der ›verweichlichte‹ oder unterlegene Mann darunter. Gerade der explizite Verweis auf die ›Natur‹ (gr.: physis) ist als normierender Hinweis auf einen kulturell etablierten Geltungsanspruch zu verstehen. So fragt Paulus, um die Unziemlichkeit einer langen Haartracht bei Männern herauszustellen: »Lehrt euch nicht auch die Natur, dass es sich für Männer nicht gehört, lange Haare zu tragen? « (1Kor 11,14). Hinsichtlich jeweils geltender sexualethischer Normen beziehen sich neutestamentliche Texte also bestätigend auf konkrete kulturelle Voraussetzungen ihrer Zeit. Mit Blick auf die Begründung von Normen einer christlichen Sexualethik kann das eine entlastende Funktion haben: Christliche Ethik steht immer im kritischen Dialog mit den Normen und Geltungsansprüchen ihrer Zeit. Aber vergessen wir nicht: Mit ihrem wiederholenden Handeln bestätigen und grundieren neutestamentliche Texte auf ihre Weise die kulturellgesellschaftlichen Voraussetzungen einer anderen Zeit und Kultur. Wir sind aufgefordert, diese Prozesse kritisch wahrzunehmen. So sind gerade explizit frauenfeindliche Passagen neutestamentlicher Schriften zu analysieren, um Frauenverachtung und geschlechtliche Diffamierung in unserer Gegenwartskultur zu erkennen (vgl. z. B. Offb 2,20 ff.; 18,3 ff.; 2Pt 2,2 f.14; Jud 7 f.). Das Zusammenspiel von Denunziation und sexueller Diskriminierung hat eine bereits vorchristliche und bis in unsere Gegenwart reichende Geschichte. Demgegenüber gilt es, Ansatzpunkte neutestamentlicher Ethik da zu suchen, wo die Geschichte Jesu Christi auf die Wirklichkeit neu erschlossenen Lebens und die mit ihr gegebenen neuen Lebensmöglichkeiten be- »Ich schlage vor, die ethische Performativität neutestamentlicher Texte, also ihr Frei-Sprechen und Neu-Orientieren, auch in sexualethischer Perspektive zu interpretieren. Dabei geht es um die Grundorientierung menschlichen Verhaltens an dem, was das Neue Testament agapē nennt« Zeitschrift für Neues Testament typoscript [AK] - 12.10.2012 - Seite 55 - 4. Korrektur ZNT 30 (15. Jg. 2012) 55 Eckart Reinmuth Kontroverse: Kann das Neue Testament Grundlage einer zeitgemäßen Sexualethik sein? zogen wird. Es handelt sich um Interpretationsakte, mit denen Menschen die Zuwendung Gottes zugesprochen und sie von ihren Lasten freigesprochen werden. Solche Interpretationsakte finden sich in allen Teilen des Neuen Testaments; wir können sie als die ethische Performativität neutestamentlicher Texte bezeichnen. Ich schlage vor, die ethische Performativität neutestamentlicher Texte, also ihr Frei-Sprechen und Neu- Orientieren, auch in sexualethischer Perspektive zu interpretieren. Dabei geht es um die Grundorientierung menschlichen Verhaltens an dem, was das Neue Testament agapē nennt: Liebe im Sinne von Menschenliebe, die sich der Liebe Gottes zu den Menschen verdankt. Das Neue Testament erklärt das Liebesgebot zur Mitte, zum Zentrum und Kriterium der Lebensweisung Gottes und beansprucht damit, seine Identität zutreffend erfasst zu haben (1Joh 4,16). Entziehen wir dieser Liebe das Begehren, die Angewiesenheit auf ein antwortendes Gegenüber, die Leidenschaft für das Leben, wie die biblischen Schriften sie bezeugen (s. o.), so spalten wir Sexualität wie Erotik als Eigen-Bereiche mit anderen Spielregeln ab. Mit der agapē vertraut das Neue Testament einer integrierenden Kraft, die als bestimmendes Ferment aller Spielformen der Liebe gilt. Das bedeutet nicht, dass alles ›Nächstenliebe‹ sein muss, sein darf oder sein kann, was im Feld geschlechtlicher Kommunikation geschieht, wohl aber, dass unsere menschliche Lebenswirklichkeit sich grundlegend durch die agapē konstituiert und bestimmt sieht. Röm 13,8 oder Gal 5,14, die beiden sachlich einander gleichenden Stellen, die das Gesetz (Tora), also die Lebensweisung Gottes, als in der Liebe erfüllt sehen, klammern die Sexualität gerade nicht aus, auch wenn das in wirkungsgeschichtlicher Perspektive so scheinen mag; sie schließen vielmehr unsere gesamte Lebenswirklichkeit ein: Diese Perspektive sieht die erotische wie die sexuelle Kommunikation durchzogen und geprägt von der Menschenliebe Gottes. Sie ist »langmütig und freundlich, eifert nicht, treibt keinen Mutwillen, bläht sich nicht auf, verhält sich nicht ungehörig, sucht nicht das Ihre, lässt sich nicht erbittern, rechnet das Böse nicht zu« (1Kor 13,4 ff.). Ich plädiere dafür, die Orientierungen und Impulse neutestamentlicher Ethik in den Kontexten heutiger Sexualethik namhaft zu machen und dafür auch die Konsequenzen dieser Ethik in ihren damaligen, uns fremd gewordenen Kontexten aufzuspüren. Das schließt die Aufgabe ein, im Einzelnen danach zu fragen, wie die befreienden und lebenstiftenden Impulse der Jesus- Christus-Geschichte unter antiken Voraussetzungen interpretiert worden sind. Hier lassen sich Entdeckungen machen, die zu einem kritischen Dialog herausfordern und in den Dialog mit gegenwärtigen Fragen und Positionen führen. Das kann heißen, in Auseinandersetzung mit den grundlegend anderen kulturellen Voraussetzungen der neutestamentlichen Schriften die Voraussetzungen gegenwärtiger Sexualitätsdiskurse zu analysieren, um sie sichtbar zu machen und diskutieren zu können. Dazu gehören beispielsweise dualistische Voraussetzungen der Moderne, die sich als Phänomene einer Aufspaltung in Subjektsein und Körperlichkeit zeigen, und die die mediale Kommunikation von Sexualität weithin prägen. Die Interpretationsarbeit, die wir im Neuen Testament sehen, ist auch mit Blick auf ihre damaligen Kontexte aufschlussreich: Gegenüber der antik hegemonialen Geschlechterdefinition, die sich am Mannsein des Mannes orientierte und über diesen Maßstab alle Erscheinungsformen von sex und gender kategorisierte, bot das frühe Christentum im Einklang mit den Traditionen des frühen Judentums mit dem Schöpfungsmythos die fundamentale Zweigeschlechtlichkeit auf (vgl. Gen 1,27; 2,18-25; vgl. Gen 1,27 in Mt 19,4; Mk 10,6; Gen 2,24 in Mt 19,5; Mk 10,7; 1Kor 6,16; Eph 5,31; s. o.). Sie bildet in der biblischen Tradition eine Art Unhintergehbarkeit. Am Anfang steht in dieser Perspektive nicht die Eingeschlechtlichkeit, wie das in griechischen Traditionen gedacht werden konnte, sondern die Zweigeschlechtlichkeit. Sie wurde, wie die neutestamentlichen Stellen exemplarisch zeigen, zugleich als Norm verstanden. Aber die Sprache des Mythos muss nicht als sexualethische Norm interpretiert werden, sondern bietet eine anthropologische Perspektive auf die Gleichrangigkeit der Partner in ihren Geschlechterverhältnissen, die einen diskursiven Bezugspunkt für die Vielfalt der Möglichkeiten erotischer oder sexueller Begegnung bildet. Blicken wir auf antike Positionen, wie sie etwa von Plutarch (ca. 45-125 n. Chr.), dem Stoiker Antipater (ca. 180-120 v. Chr.) oder Musonius (ca. 30-100 n. Chr.) repräsentiert werden, so können wir sehen, dass neutestamentliche Autoren-- motiviert durch ihre theologische Interpretationsarbeit-- vergleichbare Anliegen verfolgten. Ging es den erwähnten hellenistisch-römischen Autoren darum, die Sexualität in den Anspruch des Eros und einer umgreifenden Liebe (gr.: Philia) zu integrieren, so können wir Vergleichbares in der frühjüdischen Literatur (z. B. Pseudo-Phokylides, Joseph und Aseneth) und im Neuen Testament entdecken: Die performative, also zusprechende, orientierende und befreiende Ethik z. B. geschlechterbezogener Komponenten neutestamentlicher ›Haustafeln‹ (vgl. z. B. Eph 5,22-33; Kol 3,18 f.; 1Pt 3,1-7) lief ursprünglich darauf hinaus, sexu- Zeitschrift für Neues Testament typoscript [AK] - 12.10.2012 - Seite 56 - 4. Korrektur 56 ZNT 30 (15. Jg. 2012) Kontroverse elle Machtverhältnisse an einer neuen Wirklichkeit zu orientieren. Frauen wie Männer konnten wissen: Auch diese Machtverhältnisse sind von der Menschenliebe Gottes durchdrungen. Frauen wie Männer konnten in der befreienden Perspektive dieser Liebe verlässliche Beziehungen kommunizieren, die ihnen vor dem Horizont der tatsächlichen Verhältnisse einen neuen Subjektstatus sicherten. Neutestamentliche ›Haustafeln‹ sind Übernahmen aus der antiken Ökonomik. Mit ihnen wurden u. a. geltende sexualethische Voraussetzungen übernommen und erneut in Geltung gebracht. Die Leistung der Autoren besteht nicht darin, den bestehenden Systematiken weitere anzufügen, sondern zu zeigen, wie unter diesen konkreten Bedingungen das gesellschaftlich sanktionierte ›Gute‹ in die befreiende Dimension der Liebe gerät. Auch asketische Tendenzen des frühen Christentums sind-- entgegen ihrem wirkungsgeschichtlich entstandenen Eindruck-- in sexualethischer Hinsicht als aktiver Entzug, Selbstentzug gegenüber einer dominanten, maskulin geprägten Kultur zu verstehen. Ihre Attraktivität gewannen sie offenbar als Möglichkeit des passiven Widerstands. Er richtete sich gegen die sexuelle Symbolik der Macht. War die antike Sexualität als Realisierung von Machtverhältnissen verstanden worden, die das Verständnis jeder ihrer Ausdrucksformen prägten, so stimmen im Umfeld des frühen Christentums hellenistischrömische, jüdische und christliche Autoren in dem Versuch überein, diesen Aspekt zurückzudrängen und Sexualität diesem Dominanzverständnis zu entwenden, indem sie die Komplexität der Liebe betonen und in diese Komplexität die Sexualität integrieren. Das heißt für heute, also für die Frage nach einem Beitrag neutestamentlicher Textinterpretation zu einer »zeitgemäßen Sexualethik«, dass wir in analoger Weise verfahren und die befreiende und lebenstiftende Orientierung an der Menschliebe Gottes in die gegenwärtigen Diskussionen einzubringen haben. Wenn es stimmt, dass man Liebe in keiner ihrer Spielarten einfordern kann, dann hat das Auswirkungen auf die Frage, was sie normiert. Dem Neuen Testament geht es darum, Menschen von einer unableitbaren Liebe adressiert zu sehen, die sie befähigt, Subjekte ihres Lebens zu werden und in diese Liebe die Kommunikationsmöglichkeiten unseres Menschseins zu integrieren. »Die performative, also zusprechende, orientierende und befreiende Ethik z. B. geschlechterbezogener Komponenten neutestamentlicher ›Haustafeln‹ […] lief ursprünglich darauf hinaus, sexuelle Machtverhältnisse an einer neuen Wirklichkeit zu orientieren. Frauen wie Männer konnten wissen: Auch diese Machtverhältnisse sind von der Menschenliebe Gottes durchdrungen.« Attempto Verlag • Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen • info@attempto-verlag.de • www.attempto-verlag.de Att t V l Di Eve-Marie Engels/ Oliver Betz/ Heinz-R. Köhler/ Thomas Potthast (Hg.) Charles Darwin und seine Bedeutung für die Wissenschaften 2011, 291 Seiten, € (D) 29,90/ SFr 41,90; ISBN 978-3-89308-415-9