eJournals ZNT – Zeitschrift für Neues Testament 15/30

ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
2012
1530 Dronsch Strecker Vogel

Sexualizing with the New Testament?

2012
Lukas Bormann
Zeitschrift für Neues Testament typoscript [AK] - 12.10.2012 - Seite 46 - 4. Korrektur 46 ZNT 30 (15. Jg. 2012) Die Freiheit, Gleichheit und Würde eines Menschen dürfen nicht wegen seiner sexuellen Orientierung eingeschränkt werden. Die sexuelle Orientierung darf keine Ursache für Benachteiligungen und Diskriminierungen sein. Freiwillige sexuelle Beziehungen unter Erwachsenen sind strafrechtlich irrelevant. In diesen drei Sätzen lässt sich in Anlehnung an die Charta der Grundrechte der Europäischen Union das zusammenfassen, was in westlichen Gesellschaften unter zeitgemäßer Sexualethik verstanden wird: Menschenwürde, Diskriminierungsverbot und Freiwilligkeit. Kann das Neue Testament die Grundlage für eine solche Sexualethik sein? Wohl kaum, denn die drei genannten Prinzipien lagen jenseits des Horizonts der vormodernen Gesellschaften der Antike, in denen die Texte des Neuen Testaments entstanden sind. Statt die Menschenwürde zu schützen, betrieb man bewusst grausame Hinrichtungsarten wie Pfählung, Erdrosselung, Steinigung und Kreuzigung (von der Skalpierung nach Skythenart und ähnlichen Exzessen ganz zu schweigen). Man kannte kein Diskriminierungsverbot, sondern bevorzugte abwertende Stereotypisierungen »der Barbaren«, »der Skythen«, »der Juden«, »der alten Weiber«, »der Sklaven« und aller anderen Menschengruppen, die aus der eigenen Perspektive als »übel« angesehen wurden. Selbst ein gebildeter Wissenschaftler wie Ptolemäus unterschied Völker, die er nicht näher kannte, einfach nach Essgewohnheiten und nannte sie »Menschenfresser« (1,17,11,gr.: anthrōpophagoi), oder »Elephantenfresser« (4,7,28, gr.: elephantophagoi). Statt Freiwilligkeit in der Sexualität zu gewährleisten, schilderte man in der antiken Literatur mit großer Detailverliebtheit Vergewaltigungen, inszenierte sie zudem seit der mittleren Komödie auf der Theaterbühne und weihte die Vorstellungen dem Gott Dionysos. Waren die Menschen, die die biblischen Texte schrieben anders oder gar besser als ihre Umwelt? Wohl kaum. Die grausamen Hinrichtungsarten, die Stereotypisierungen anderer Menschengruppen, die Vergewaltigungsmetaphorik, all das findet sich auch in der Heiligen Schrift des Christentums von der Genesis bis zur Johannesoffenbarung und oft genug sollen diese Aussagen vom »Volk Gottes« als richtig angesehen werden-- ich verzichte darauf, diese Büchse der Pandora weiter zu öffnen. Wenn man nach der Grundlage für eine »zeitgemäße Sexualethik« fragt, dann kann man nicht einfach die Bibel oder das Neue Testament zugrunde legen. Viele Fragen, die die Sexualethik in modernen, ausdifferenzierten und am Individuum orientierten Gesellschaften zu beantworten hat, wurden in den Gesellschaften, aus denen die Texte des Neuen Testaments stammen, gar nicht gestellt. Um das Neue Testament in Beziehung zu einer zeitgemäßen Sexualethik zu setzen, bedarf es eines Perspektivwechsels. Es ist vielmehr zu fragen, ob das Neue Testament etwas dazu beitragen kann, dass auch diejenigen, die diese problematischen Texte als heilige Schrift verstehen, die Menschenwürde, das Diskriminierungsverbot und das Prinzip der Freiwilligkeit in der Sexualität achten können. Ist es möglich, die Akzente im Umgang mit diesen Texten so zu setzen, dass nicht der Eindruck bleibt, dass das »wörtlich« verstandene Neue Testament kollektive Strafen bevorzugt (Jesus in Mt 11,21-24), Menschen mit homosexueller Praxis den Tod wünscht (Paulus in Röm 1,26 f.32, gr.: axioi thanatou), Menschen mit unangemessenen Partnerschaften dem Satan überantwortet (Paulus in 1Kor 5,5, gr.: paradounai ton toiouton tō Satana) und die bedingungslose Unterordnung von Sklavinnen und Sklaven, Frauen und Kindern »in allen Dingen« (Pseudopaulus in Kol 3,18-4,1, gr.: kata panta) fordert? Das ist möglich, aber es ist nicht die Leistung »des Neuen Testaments«, sondern derjenigen Frauen und Männer, die mit diesen Texten leben und mit ihnen ringen, die mit Paulus gesprochen dem Geist folgen, der lebendig macht, und nicht dem Buchstaben, der tötet (2Kor 3,6). Es gibt weder »die« Sexualethik noch »die« Theologie des Neuen Testaments, sondern Menschen und Gemeinschaften, die diese Texte für ihre Lebensorientierung in Anspruch nehmen. Das gilt auch und besonders für jene, die mit einem vermeintlich »wörtlichen« oder »sachgemäßen« Verständnis »der« Heiligen Schrift menschenfeindliche Einstellungen gegen »unbiblische« Sexualpraktiken rechtfertigen und dann scheinbar persönlich unbeteiligt darauf verweisen, dies sei ja nicht ihre eigene, menschlich authentische Ansicht, die sie aus den emphatischen Lukas Bormann Sexualizing with the New Testament? Das Neue Testament kann keine Grundlage einer zeitgemäßen Sexualethik sein. Kontroverse Zeitschrift für Neues Testament typoscript [AK] - 12.10.2012 - Seite 47 - 4. Korrektur ZNT 30 (15. Jg. 2012) 47 Lukas Bormann Sexualizing with the New Testament? Begegnungen mit ihren Mitmenschen gewonnen hätten, sondern das »klare Zeugnis« der Schrift und göttliches Gebot, dem sie sich nur beugen würden. 1 Nehmen wir also die Texte des Neuen Testaments in Anspruch für sexualethische Überlegungen der Gegenwart. Dunn spricht hinsichtlich der Theologie des Neuen Testaments von »theologizing«. 2 Das ist für ihn die Bereitschaft, die lebendigen und bewegenden Erfahrungen, Gedanken und Handlungsweisen der ersten Christen freizulegen. Also betreiben wir »sexualizing« und legen die Erfahrungen, Gedanken und Handlungsweisen der ersten Christen zur Sexualität frei. Wir stoßen dabei im Gegensatz zur inspirierenden Theologie des Neuen Testaments auf viele abwegige und ungewöhnliche Vorstellungen zur Sexualität, die nicht als Endpunkte der dogmatischen oder ethischen Debatten gelten dürfen. Menschen, die heute eine menschliche, schöpfungsgerechte und befreiende Sexualität leben wollen, werden dabei vom Neuen Testament kaum unterstützt. Sexualizing with the New Testament Welche Themen rund um Sexualität werden heute diskutiert? (Zwangs-)Heterosexualität, Homosexualität, Autosexualität, Non-Sexualität, Sexualität und Alter, Normalität und Perversion, Pornografie, Frauen- und Kinderhandel, Pädophilie, sexualisierte Körperinszenierungen, sexuell aufgeladener Rassismus, sexuelle Belästigung, Vergewaltigung, Begehren, Begierde, Sexualität und Gesundheit, Sexualität und Behinderung, das Verhältnis von biologischem und sozialem Geschlecht (sex/ gender), Sexualität und Fortpflanzung und vieles andere mehr. Sexualität gehört heute zu einem Bereich des menschlichen Lebens, der intensiv erforscht und kontrovers bewertet wird. Wer möchte, kann heute sehr viel über Sexualität wissen. Aber auch wer nicht möchte, wird mit einer durch und durch sexualisierten Gesellschaft konfrontiert: sex sells. Die kritische Sexualwissenschaft kommt zu folgender ambivalenter Situationsbeschreibung: »Gegenwärtig ist unser Alltag von sexuellen Reizen ebenso gesättigt wie entleert. […] Offenbar wird sexuelle Lust durch deren übertriebene kulturelle Inszenierung, durch deren beinahe lückenlose Kommerzialisierung und elektronische Zerstreuung wirksamer ausgetrieben, als es die alte Unterdrückung durch Verbote vermocht hat« 3 . In der öffentlichen Diskussion über Sexualität wird zwischen der sozialen Dimension sexualethischer Konflikte und der auf Freiwilligkeit beruhenden individuellen sexuellen Praxis unterschieden. Einvernehmlicher Sex zwischen selbstbestimmten und mündigen Menschen gilt als sittlich, wenn er die »personale Würde« respektiert. 4 Das, was die Grenzen der Menschenwürde, des Diskriminierungsverbots und der Freiheit des einzelnen nicht berührt, entzieht sich der Regelung durch die Gesellschaft. Die Grenzziehung zwischen der individuellen sexuellen Praxis und der sozialen Dimension von Sexualität kennen die Schriften des Neuen Testaments nicht. Zudem werden viele der oben aufgelisteten Fragen gar nicht erörtert. Inwiefern kann dann das Neue Testament Grundlage sexualethischer Orientierung sein, wenn es nur auf einige wenige Aspekte der Sexualität eingeht? Ich greife deswegen im Folgenden drei Bereiche heraus, zu denen sich Autorinnen und Autoren des Neuen Testaments äußern und die es überhaupt ermöglichen, mit Texten des Neuen Testaments Fragen der Sexualität zu erörtern: 1. Sexueller Missbrauch und sexualisierte Gewalt, 2. Ehe und Ehescheidung, 3. Homosexualität. 1. Sexueller Missbrauch und sexualisierte Gewalt Wir wissen aus Neh 7,66, dass mit den 42 360 freien Israeliten auch 7337 Sklavinnen und Sklaven aus dem Exil zurückkehrten. 5 Auch in den neutestamentlichen Prof. Dr. Lukas Bormann, seit 2009 Inhaber des Lehrstuhls für Neues Testament II (Geschichte und Literatur des Urchristentums)-an der Universität-Erlangen. Zuvor-Lehrstuhlinhaber-an der Universität-Bayreuth und- Professor an der TU- Braunschweig, akademischer Rat in Hildesheim und wissenschaftlicher Mitarbeiter in Frankfurt am Main. Sein Kommentar zum Kolosserbrief (ThHK 10/ 1) wird Ende 2012 erscheinen. Forschungsinteressen: Sozial- und Religionsgeschichte des Neuen Testaments,-das Politische im Neuen Testament und in der neutestamentlichen Forschungsgeschichte. Lukas Bormann Zeitschrift für Neues Testament typoscript [AK] - 12.10.2012 - Seite 48 - 4. Korrektur 48 ZNT 30 (15. Jg. 2012) Kontroverse Gemeinden gab es Sklavenbesitzer und SklavInnen (Phlm). 6 Die so genannte »Haustafel« in Kol 3,18-4,1 verlangt von Kindern und SklavInnen, ihren »Eltern«, »Herren« und SklavenbesitzerInnen in »allen Dingen« (gr.: kata panta) zu gehorchen (gr.: hypakouete), weil »dies dem Herrn [= Gott oder Christus] wohlgefällig ist« (gr.: touto gar euareston estin en kyriō). Noch konservativer argumentiert der erste Brief an Timotheus, der in 1Tim 6,1 f. von den SklavInnen, die »christliche« SklavenbesitzerInnen haben, einen besonders bedingungslosen Gehorsam fordert (vgl. 1Petr 2,18). 7 In der neuesten Forschung wird diskutiert, wie sich die neutestamentlichen Ansichten zum Gehorsam von SklavInnen und Kindern zu sexueller Gewalt und sexuellem Missbrauch verhielten. Was passierte in den christlichen Hausgemeinden? Wie erging es den Frauen und den Kindern dort? 8 Aus der biblischen und aus der antiken Literatur wissen wir, dass SklavenbesitzerInnen ihre SklavInnen und deren Kinder für sexuelle Dienste in Anspruch nahmen (Gen 16,2; Lev 19,20; 25,44-46). Der Sklavenbesitzer Seneca, ein Zeitgenosse von Paulus, (ep. 5,47,8) schildert eine typische Szene während eines Symposiums in einem römischen Haushalt: »Ein anderer [Sklave] als Mundschenk nach Frauenweise bekleidet, […] von glatter Haut, da die Körperhaare abgeschabt und völlig ausgerissen sind, wacht er die ganze Nacht, die er zwischen der Trunkenheit des Herrn und dessen Geschlechtslust (libido) teilt.« Auch wenn man nicht damit rechnet, dass es in »christlichen« Hausgemeinden zu derartigen Szenen kam, bleibt doch die Frage, welche Hilfen das Neue Testament Gemeindegliedern gab, die als SklavInnen mit nichtchristlichen Sklavenbesitzern zu tun hatten. War die absolute Gehorsams- und Unterordnungsforderung alles, was die Schriften des Neuen Testaments zum sexuellen Missbrauch von Kindern und Sklaven zu sagen hatten? Ist die Egalitätsformel in der Taufparänese nach Gal 3,28; 1Kor 12,13 und Kol 3,11, die den Unterschied zwischen personenrechtlich Freien (gr.: eleutheros) und SklavInnen (gr.: doulos) aufhob, auf diese Situationen bezogen worden? 9 Wir finden im Neuen Testament keine Aussagen, die hier Klarheit schaffen, und deswegen kann das Neue Testament keine Grundlage für sexualethische Orientierung bei sexuellem Missbrauch und sexueller Gewalt sein. 2. Ehe und Ehescheidung Wer über die Ehe spricht, der darf über die Scheidung nicht schweigen. Wer sich mit Partnerschaften befasst, hat auch Trennungen zu thematisieren. Das ist nicht erst eine Erfahrung der Moderne, sondern auch der vormodernen antiken Gesellschaften. Sie waren sich darüber im Klaren, dass die Institution Ehe nur denkbar ist, wenn ihr eine Institution Ehescheidung an die Seite gestellt wird. Patriarchale Gesellschaften regelten das Ehe- und Scheidungsrecht als ein Recht der freien und besitzenden Männer. Frauen galten in diesem Zusammenhang als Besitz der Väter bzw. Ehemänner. Die Ehe regelte den Besitzwechsel einer heiratsfähigen Frau aus einer Familie in die andere und die Scheidung die Rückgabe des erworbenen Besitzes wegen eines Mangels. Die Frauen hatten in diesem Zusammenhang keine Rechte, konnten aber Macht ausüben, wenn sie einer edlen und mächtigen Familie entstammten. In diesen Fällen waren sie gegen Willkür und einseitige Verfügung der Männer geschützt. Rechte der Frau, Ehevertrag, Mitgift, Brautpreis usw. setzen also einerseits Familienväter und Söhne mit Besitz und andererseits Bräute und Töchter aus vermögenden Familien voraus. Der Rechtshistoriker Daube geht davon aus, dass im römischen Reich nur 5 % der Partnerschaften als Rechtsinstitut Ehe mit Ehevertrag geschlossen wurden. 10 Die große Mehrheit der »Habenichtse« lebte ohne Vertrag zusammen und musste Streitigkeiten nach dem gesunden Menschenverstand regeln. Das Neue Testament spiegelt eher die Verhältnisse einfacher, oft besitzloser Männer und Frauen, nicht selten auch von Sklavinnen und Sklaven (1Kor 1,26-28). Wie wird der Ehevertrag des Petrus, der um der Nachfolge willen alles verlassen hatte, mit der »Schwester« als Ehefrau, die ihn auf seinen Missionsreisen begleitete, ausgesehen haben (1Kor 9,5)? Und: War das die gleiche Frau, deren Mutter im galiläischen Kapernaum lebte (Mk 1,30)? Vermutlich hatte auch Petrus mehrere Partnerschaften und sehr wahrscheinlich hat er keine von ihnen in einem schriftlichen Ehevertrag dokumentiert. Die Evangelienüberlieferung thematisiert die Ehe vor allem in Hinsicht auf Scheidung und Wiederheirat. Die Scheidungsregeln stimmen darin überein, dass sie den so genannten »Scheidebrief« ablehnen. Dieses Rechtsdokument regelte analog zur Freilassungsurkunde eines Sklaven die Rechtsfragen der Scheidung wie »War die absolute Gehorsams- und Unterordnungsforderung alles, was die Schriften des Neuen Testaments zum sexuellen Missbrauch von Kindern und Sklaven zu sagen hatten? « Zeitschrift für Neues Testament typoscript [AK] - 12.10.2012 - Seite 49 - 4. Korrektur ZNT 30 (15. Jg. 2012) 49 Lukas Bormann Sexualizing with the New Testament? Datum, Übergabe der Frau an die Herkunftsfamilie, Rückgabe des Brautpreises. Es eröffnete vor allem der Frau die Möglichkeit zur Wiederheirat, da es auch die Formel enthielt: »Du bist nun jedermann erlaubt« (bGit 85b). 11 Die Ablehnung des Scheidebriefes durch Jesus und seine Nachfolgegemeinschaft ist wohl in erster Linie der Ablehnung einer Wiederheirat geschuldet (Mt 5,31 f.; 19,9). Jesus wählte für dieses Verbot eine drastische Formulierung: Der geschiedene Mann und der Mann, der eine entlassene Frau heiratet, begehen »Ehebruch«, ein Tatbestand, auf den die Todesstrafe stand. 12 Die Ehe oder auch nur die Loyalität zur Familie und zu deren Erbbesitz wird hingegen nicht besonders hoch geschätzt (Mt 19,29): »Und ein jeder, der Häuser oder Brüder oder Schwestern oder Vater oder Mutter oder Frau oder Kinder oder Äcker um meines Namens willen verlassen hat, wird hundertfach empfangen und ewiges Leben erben.« Wie irrelevant die Ehe angesehen wurde, zeigt auch noch die Antwort Jesu auf die Frage nach den ehelichen Verhältnissen in der Auferstehung der Toten (Mt 22,30): »denn in der Auferstehung heiraten sie nicht, noch werden sie verheiratet, sondern sie sind wie Engel Gottes im Himmel«. Hat Jesus die Ehe grundsätzlich abgelehnt? »The true meaning of Jesus’ prohibition of divorce and remarriage is to supersede traditional marriage and substitute for it the eschatological family. Jesus forbade divorce in order to destroy marriage.« 13 Wer die Scheidung ablehnt, möchte die Institution der Ehe zerstören, und genau das sei das Ziel Jesu gewesen. Die Antwort der Jünger auf Jesu Wiederverheiratungsverbot weist ebenfalls in diese Richtung (Mt 19,10): »Wenn die Sache des Mannes mit der Frau so steht, so ist es nicht ratsam zu heiraten.« So ähnlich sah das wohl auch Paulus. Er äußert in 1Kor 7,1 die Überzeugung, es sei für den Mann besser, eine Frau nicht zu »berühren«. Er zitiert zudem in 1Kor 7,10 f. das Scheidungsverbot und hält Heirat und Ehelosigkeit für gleichwertig (1Kor 7,27 f.). 14 Das Neue Testament thematisiert die rechtlichen Aspekte der Ehe und lehnt die Wiederheirat kategorisch ab. Es kennt keine Partnerschaften, in denen Menschen ihre Sexualität leben und sich aufgrund freier Entscheidung vertrauensvoll und loyal beistehen, deswegen kann das Neue Testament keine Grundlage für sexualethische Orientierung für Fragen der Ehe, der Scheidung und der Wiederheirat sein. 3. Homosexualität Es kann kaum Zweifel daran geben, dass Paulus homosexuelle Sexualpraktiken ablehnte. In Röm 1,24-32 schildert er, wie Gott die nichtjüdischen Menschen einem selbstzerstörerischen Tun als Strafe »dahingegeben« habe. Exzessive und willentliche Begierde sind Teil dieses selbstvernichtenden Handelns der gottfeindlichen Welt. Die nichtjüdischen Menschen erwirken durch ihr Tun ihr eigenes Verderben. Als Beispiel für eine solche Selbstzerstörung nennt Paulus Sexualpraktiken »wider die Natur« (gr.: para physin), zu denen er homoerotische sexuelle Praktiken unter Frauen und unter Männern zählt. Sie gelten ihm als Zeichen der Feindschaft der Geschöpfe gegen ihren Schöpfer. Diejenigen, die solches tun, haben nach Röm 1,32 die Todesstrafe verdient (gr.: hoi ta toiauta prassontes axioi thanatou eisin). Es gibt viele Argumente, die es erlauben, diese Aussagen zu relativieren. Zu Recht wird vorgebracht, dass das paulinische Verständnis von »Natur« nicht auf Kenntnissen über biologische Abläufe beruhe, sondern sozial und kulturell bestimmt sei und z. B. auch die Unterordnung der Frau unter den Mann umfasse. 15 Paulus formuliert zudem polemisch und rhetorisch überspitzt. Er thematisiert suggestive Vorstellungen von unbändiger Lust (gr.: eis pathē atimias: »schmähliche Leidenschaft«) und von asozialen und rücksichtslosen Leidenschaften (gr.: exekauthēsan en tē orexei: »sie brannten in der Begierde«). Für Paulus wie für große Teile seiner Umwelt galt homoerotische Liebe als Ausdruck extremer Leidenschaft, der diejenigen verfallen waren, die auf »natürliche« Weise (gr.: physikē) ihr Verlangen nicht mehr stillen konnten. Seine Ablehnung der homosexuellen Sexualpraxis folgt damit der gleichen Vorstellung wie die Empfehlung an diejenigen, die ihre sexuelle Begierde nicht zügeln konnten: Sie sollten eine Partnerschaft eingehen, weil es besser sei zu heiraten als vor Begehren zu »verbrennen« (1Kor 7,9 gr.: kreitton gar estin gamēsai ē pyrousthai). Der Kontext in 1Kor 7 unterstreicht, dass Paulus bei »heiraten« (gr.: gamein) nur an heterosexuelle Partnerschaften denkt. Er kannte keine homosexuellen Partnerschaften, die ihre sexuellen Praktiken sozial integrierten und ihr Zusammenleben auf Dauer anlegten. Seine Überlegungen zur Sexualität folgen den Anschauungen, die im Alten Testament vorherrschen. Wer als Mann »Das Neue Testament thematisiert die rechtlichen Aspekte der Ehe und lehnt die Wiederheirat kategorisch ab. Es kennt keine Partnerschaften, in denen Menschen ihre Sexualität leben und sich aufgrund freier Entscheidung vertrauensvoll und loyal beistehen« Zeitschrift für Neues Testament typoscript [AK] - 12.10.2012 - Seite 50 - 4. Korrektur 50 ZNT 30 (15. Jg. 2012) Kontroverse bei einem Mann »liegt wie bei einer Frau« (Lev 20,13), übt nach dieser Vorstellung eine Sexualpraxis aus, die einen aktiven (maskulinen) Part und einen (femininen) passiven Part voraussetzt. 16 Der aktive Partner degradiert den passiven auf eine Weise, die als schändlich empfunden wird. 17 Diese Rollen werden in den so genannten Lasterkatalogen benannt. Der »Mannbeschläfer« (1Kor 6,9; 1Tim 1,10, gr.: arsenokoitēs; vgl. Lev 20,13, gr.: kai hos an koimēthē meta arsenos koitēn gynaikos) meist fälschlich mit »Knabenschänder« übersetzt, bezeichnet mit einiger Wahrscheinlichkeit den penetrierenden Part im Sexualakt, während mit malakos (1Kor 6,9) ein feminin wirkender Mann vorgestellt ist, der sich dafür zur Verfügung stellt. Die Begriffe müssen nicht zwingend so eng wie eben formuliert auf den Sexualakt als solchen bezogen sein, sondern können auch ein entwürdigendes Ausbeutungsverhältnis zwischen Männern meinen, das auch sexuelle Ausbeutung einschließt, aber nicht darauf beschränkt ist. Dann wäre eher an Zuhälterei und männliche Prostitution zu denken, was auch sehr viel besser in den Kontext von 1Kor 6,9 f. passt. 18 Die Liste nennt in einer personalisierten Form kriminelle und asoziale Verhaltensweisen, die den Zugang zur Königsherrschaft Gottes ausschließen. Zwischen Räubern und Trinkern werden auch homosexuelle Männer, vermutlich aber Zuhälter und männliche Prostituierte genannt. Eine geschmacklose Kombination, die sich durch die satte Lebenserfahrung des Paulus und der Korinthergemeinde erklärt, denn Paulus deutet an, dass einige Gemeindemitglieder einstmals auch »solche« gewesen seien, ohne konkret zu werden. Paulus und die Bibel als Ganzes vertreten eine heterosexuelle Ideologie. 19 Viele ihrer Ausleger nutzen diese Aussagen und steigern die Ideologie geradezu zur Idolatrie, zum Götzendienst an Ehe und Familie. 20 Diese Lebensform wird mit Christlichkeit verbunden, obwohl das Neue Testament mehr Aussagen gegen als für Ehe und Familie enthält: »Jesus of Nazareth was not a family man.« 21 Das Neue Testament setzt hier einige Akzente, die auch Beachtung verdienen. Jesus rühmt diejenigen, die sich um der Königsherrschaft willen kastrieren lassen (Mt 19,12). In der Korinthergemeinde vertritt man die Vorstellung, dass es für den Mann gut sei, auf Sexualität mit einer Frau zu verzichten (1Kor 7,1). Paulus deutet an, dass er selbst sehr wohl ohne Ehe und Partnerschaft auskommt und dass das ein erstrebenswerter Zustand sei (1Kor 7,7 f.40). Die Regelungen über Witwen und Jungfrauen erlauben diesen gemeindlichen Statusgruppen, ohne Mann zu leben (1Kor 7,8 f.), was aber nicht ohne Widerspruch bleibt (1Tim 5,3-16). Letztlich beschränkt sich das Neue Testament hinsichtlich der hingenommenen Praktiken der Sexualität auf heterosexuelle Partnerschaften und sexuelle Askese, und deswegen kann das Neue Testament keine Grundlage für sexualethische Orientierung für gleichgeschlechtliche Partnerschaften und für sexuelle Praktiken jenseits der Heterosexualität sein. 22 Fazit Weder in Fragen sexualisierter Gewalt noch hinsichtlich vertrauensvoller, loyaler und liebevoller Partnerschaft kann das Neue Testament die Grundlage für eine zeitgemäße sexualethische Orientierung sein. Noch viel weniger gilt das für die Aussagen zur Homosexualität, die auf einer einseitigen Bewertung menschlicher Sexualität als destruktive »Begierde« und selbstzerstörerisches »Brennen« beruhen. Es muss die Aufgabe der wissenschaftlichen Exegese sein, allen, die in diesen Aussagen nach wie vor theologisch legitimierte Argumente für menschenfeindliche Diskriminierungen finden, deutlich und unmissverständlich zu widersprechen. Anmerkungen 1 E. Berger u. a., Widernatürliche Lebensweise. Der Brief der acht Bischöfe gegen Homosexualität, in: Christ und Welt 3/ 2011; U. Wilckens, Die Bibel und Homosexualität, in: http: / / www.evangelisch.de, download 15. April 2012. 2 J. D. G. Dunn, New Testament Theology, Nashville 2009, 12; vgl. H. Taussig/ B. Kahl, Placing Meaning-Making at the Center of New Testament Studies, in: E. Schüssler- Fiorenza/ K.H. Richards (Hgg.), Transforming Graduate Biblical Education: Ethos and Discipline, Atlanta 2010, 307-318, hier: 313: »Theologizing with the New Testament«. 3 V. Sigusch, Auf der Suche nach der sexuellen Freiheit. Über Sexualforschung und Politik, Frankfurt/ New York 2011, 167. 4 M. Dannecker, Das Drama der Sexualität, Frankfurt 1987, 40: »Durchgesetzt hat sich dagegen eine neue Sittlichkeit, die es den Menschen erlaubt, den anderen als Lustobjekt zu gebrauchen, ohne dessen personale Würde zu verletzen. Ein solches sittliches Verhältnis ist dann gegeben, wenn die lustvolle Beziehung wechselseitig und jeder »Letztlich beschränkt sich das Neue Testament hinsichtlich der hingenommenen Praktiken der Sexualität auf heterosexuelle Partnerschaften und sexuelle Askese« Zeitschrift für Neues Testament typoscript [AK] - 12.10.2012 - Seite 51 - 4. Korrektur ZNT 30 (15. Jg. 2012) 51 Lukas Bormann Sexualizing with the New Testament? in der sexuellen Handlung zugleich Subjekt und Objekt ist. Als sittlich wird jetzt empfunden, die eigene Lust von der Lust des anderen begrenzen zu lassen, und umgekehrt, die eigene Lust entlang der des anderen zu entwickeln. Wo solche Voraussetzungen nicht gegeben sind, gleichgültig bei welcher Form der Sexualität, sprechen wir auch weiterhin von unsittlichen sexuellen Verhältnissen und fassen sie als eine Mahnung zur Veränderung auf«. 5 K.-D. Schunck, Nehemia, Neukirchen-Vluyn 2009, 222.: »überraschend große Zahl«. 6 P. Müller, Der Brief an Philemon, Göttingen 2012, 160 f. 7 J. Roloff, Der erste Brief an Timotheus, Neukirchen- Vluyn 1988, 318-326, hier 325: . »der extrem konservative Ansatz der Sozialethik der Past[oralbriefe]«. 8 M.Y. MacDonald, Beyond Identification of the Topos of Household Management: Reading the Household Codes in Light of Recent Methodologies and Theoretical Perspectives in the Study of the New Testament, in: NTS 57 (2010), 65-90; dies., Slavery, Sexuality and House Churches: A Reassessment of Colossians 3.18-4.1 in Light of New Research on the Roman Family, in: NTS 53 (2007), 94-113; C. Osiek/ M.Y. MacDonald, A Woman‘s Place. House Churches in Earliest Christianity, Minneapolis, Minn. 2006, 95-117; C. Osiek/ D.L. Balch, Families in the New Testament World. Households and House Churches, Louisville 1997, 118-121. 9 S. Bieberstein, »Töchter Gottes in Christus Jesus« (Gal 3,26)? Überlegungen zum neutestamentlichen Befund, in: L. Bormann/ J. Kügler (Hgg.), Töchter (Gottes). Studien zum Verhältnis von Kultur, Religion und Geschlecht, Berlin 2008, 83-100. 10 Vgl. D. Daube, Roman Law. Linguistic, Social and Philosophical Aspects, Edinburgh 1969, 65-91. 11 Vgl. Dtn 24,1-4. 12 Lev 20,10; Dtn 22,22; bSanh 52b. 13 D.B. Martin, Sex and the Single Savior, Louisville/ London 2006, 147. 14 L. Sutter Rehmann, Konflikte zwischen ihm und ihr. Sozialgeschichtliche und exegetische Untersuchungen zur Nachfolgeproblematik von Ehepaaren, Gütersloh 2002, 234 f. 15 B. Brooten, Love between Women. Early Christian Response to Female Homoeroticism, Chicago/ London 1996, 2. 16 S.M. Olyan, Social Inequality in the World of the Text. The Significance of Ritual and Social Distinction in the Hebrew Bible, Göttingen 2011, 54. 17 Brooten, Love, 24. 18 Martin, Sex, S. 43-47 19 J. P. Burnside, God, Justice, and Society. Aspects of Law and Legality in the Bible, New York/ Oxford 2011, 317-387; H. Porsch, Queer-Theologie, in: W. Schürger, Schwule Theologie. Identität, Spiritualität, Kontexte, Stuttgart 2007, 85-108, hier 91. 20 Martin, Sex, 103 f. 21 Martin, Sex, 104. 22 H. Porsch, Sexualmoralische Verstehensbedingungen. Gleichgeschlechtliche PartnerInnenschaften im Diskurs, Stuttgart 2008, 420-428. A. Francke Verlag • Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen • info@francke.de • www.francke.de Stephan Hagenow Heilige Gemeinde - Sündige Christen Zum Umgang mit postkonversionaler Sünde bei Paulus und in weiteren Texten des Urchristentums Texte und Arbeiten zum Neutestamentlichen Zeitalter, Band 54 2011, 370 Seiten, € (D) 68,00/ SFr,00; ISBN 978-3-7720-8419-5 In der Gemeinde in Korinth sah sich der Apostel Paulus mit Fällen von Unzucht, dem Verkehr mit Prostituierten und einer tiefen sozialen Zerrissenheit beim Feiern des Abendmahls konfrontiert. Die Glaubwürdigkeit der ganzen Gemeinschaft und damit ihrer Botschaft stand auf dem Spiel. Zur theologischen und pragmatischen Bewältigung des Problems griff Paulus auf heiligkeitsethische, kultische und apokalyptische Deutehorizonte zurück. Diese Studie wagt den Blick hinter die oft konfessionell gefärbte Auslegung.