eJournals ZNT – Zeitschrift für Neues Testament 15/30

ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
2012
1530 Dronsch Strecker Vogel

Kann das Neue Testament Grundlage einer zeitgemäßen Sexualethik sein?

2012
Manuel Vogel
Zeitschrift für Neues Testament typoscript [AK] - 12.10.2012 - Seite 45 - 4. Korrektur ZNT 30 (15. Jg. 2012) 45 Kann das Neue Testament Grundlage einer zeitgemäßen Sexualethik sein? Einleitung zur Kontroverse zwischen Lukas Bormann und Eckart Reinmuth Ein Lehramtsstudent der Evangelischen Religionslehre kommt in die Sprechstunde des Prodekans. Er will das Fach wechseln. Grund: Die Missbrauchsskandale in der katholischen Kirche. Etwa zeitgleich gehen die Missbrauchsfälle der Odenwaldschule durch die Presse. Als der Student aus der Tür ist, fällt mir die Frage ein, warum ihn das Fehlverhalten jener namhaften Reformpädagogen nicht in analoge Zweifel an den pädagogischen Anteilen seiner Lehramtsausbildung stürzt. Für meine mangelnde Schlagfertigkeit bin ich aber (wiederum nach einigem Nachdenken) nicht undankbar, denn das Verhältnis von Religion und Sexualität ist von eigener Qualität und Tragweite. Läuft hier etwas falsch, wird regelmäßig großes Leid angerichtet, Beziehungen und Biographien werden schwer beschädigt, der Glaube wird zur Geißel, und Fragen nach der Glaubwürdigkeit des Ganzen stellen sich unerbittlich: Ist man nicht am Ende doch besser beraten, wenn man Jugendliche für Brecht und Böll zu begeistern sucht und von der Bibel die Finger lässt? Das Verhältnis zwischen Religion und Sexualität ist, so scheint es, von maximaler Intensität und Intimität. Deshalb bedarf der Rekurs auf die Bibel auf diesem Feld jedenfalls besonderer Umsicht und Überlegung. Die Kontroverse dieses Heftes kann hierbei in beiden Teilen wichtige Anregungen und Hilfestellungen geben. Die Beiträge sind zeitgleich und unabhängig von einander entstanden und, dem Wunsch der Autoren entsprechend, nach gegenseitiger Kenntnisnahme auch nicht überarbeitet worden. So sind die Leserinnen und Leser gefordert, sich zwischen dem deutlichen »Nein« von Lukas Bormann und dem ebenso klaren »Ja« von Eckart Reinmuth zu positionieren. Lukas Bormann setzt bei der kulturellen Differenz zwischen den antiken neutestamentlichen Texten und den Fragestellungen heutiger Sexualethik an. Er konstatiert, dass die heute maßgeblichen Prinzipien der Menschenwürde, des Diskriminierungsverbotes und der Freiwilligkeit der Sexualbeziehungen jenseits des antiken Horizonts lagen, die Texte des NT inbegriffen. Er zeigt dies mit wichtigen und erhellenden Beobachtungen und Argumenten anhand der Bereiche des sexuellen Missbrauchs, der Ehe bzw. Ehescheidung und der Homosexualität: Stets bleiben die neutestamentlichen Texte entweder stumm oder sie gehen von Grundannahmen aus, die mit heutiger Sexualethik nicht vermittelbar sind und deshalb nicht zur Grundlage theologisch valider Aussagen gemacht werden dürfen. Freilich liegt auch das »Ja« Eckart Reinmuths nicht auf der Ebene sexualethischer Normenfindung oder religiöser Legitimation, und Reinmuth sieht ebenso klar wie Bormann, dass die neutestamentlichen Texte von der patriarchalen und machtförmigen Prägung antiker Geschlechterverhältnisse tiefgreifend bestimmt sind. Er hält es aber für möglich und geboten, von der Jesus-Christus-Geschichte her falsche Naturalisierungen gesellschaftlicher Verhältnisse, von denen auch das Neue Testament keineswegs frei ist, sachkritisch aufzuspüren und im sexualethischen Diskurs zu Orientierungen zu gelangen, die aus der in Jesus Christus erschlossenen neuen und befreienden Wirklichkeit gewonnen sind. Die Möglichkeit und Notwendigkeit solchen Fragens ist deshalb gegeben, weil Sexualität etwas mit Liebe zu tun hat und weil das Neue Testament und überhaupt die Bibel über Liebe eine Menge zu sagen weiß, bis dahin, dass die Liebe Gottes zu den Menschen auch in erotische Metaphern gefasst werden kann. Dann macht sich auch auf dem Feld der Sexualethik der »Geist, der lebendig macht« (Bormann) bemerkbar. Zu diskutieren wäre in Fortsetzung dieser Kontroverse, ob und in welchem Maße dieser Geist gegen die Texte durchgehalten werden muss oder sich auch in den Texten selbst finden lässt. Manuel Vogel Kontroverse