eJournals ZNT – Zeitschrift für Neues Testament 15/30

ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
2012
1530 Dronsch Strecker Vogel

Konstruktionen von Geschlecht und Sexualität im Neuen Testament

2012
Anders Klostergaard Petersen
Zeitschrift für Neues Testament typoscript [AK] - 12.10.2012 - Seite 12 - 4. Korrektur 12 ZNT 30 (15. Jg. 2012) Zum Einstieg in das Thema Konstruktionen von Geschlecht und Sexualität im Neuen Testament möchte ich einige hermeneutische Überlegungen anstellen. Diese sind notwendig, weil die Erörterung sozial-moralischer Fragen im Neuen Testament häufig-- explizit oder implizit-- einer Hermeneutik der Applikation folgen. Es geht nicht ausschließlich um sozial-moralische Fragen, aber in diesem Kontext ist das Verhältnis besonders deutlich. Man interessiert sich für eine bestimmte Problemstellung in der Annahme, dass die Texte im Blick auf die eigene Gegenwart etwas Wesentliches zu sagen haben. Das gilt positiv in Bezug auf Elemente, denen man über ihre Anwendbarkeit hinaus einen normativen Gehalt zubilligt, und negativ von Elementen, die als unübertragbar gelten und einer fernen Vergangenheit zugewiesen werden. Dieser Zugang zum Neuen Testament ist legitim und hat eine lange Tradition. Je nach theologischer Herkunft und Temperament liegt er in mehr oder weniger anspruchsvollen Varianten vor. In der ausgereiftesten Form wird üblicherweise unterschieden zwischen solchen Elementen in den neutestamentlichen Schriften, die aufgrund ihrer Verankerung in einem vergangenen kultur- und sozialgeschichtlichen Kontext für die Gegenwart nicht übernommen werden können, und anderen, die einen mehr zeitlosen Charakter besitzen und sich daher an anderen Orten und zu anderen Zeiten zur Anwendung bringen lassen. Das war etwa eine Grundannahme hinter R. Bultmanns Entmythologisierungsprogramm. Überkommene mythologische Elemente mussten entmythologisiert werden, um die Texte für moderne Hörer zugänglich zu machen, die nicht länger ein mythologisches Weltbild teilten, die aber-- durchaus konform mit der Daseinsauffassung des mythischen Weltbilds-- den gleichen objektivierenden Zugang zur Welt hatten. Hinter der mythischen, objektivierenden Vorstellung von der Wirklichkeit der Welt liegt, so Bultmann und mit ihm eine lange Tradition innerhalb der dialektischen Theologie, ein gemeinsames menschlich-schöpfungsfundiertes Fragen und eine entsprechende (sündhafte) Neigung, objektivierend auf diese Fragen zu antworten. Die Absicht der Entmythologisierung und der daran geknüpften existenzialen Interpretation war es, den Menschen die Möglichkeit zu eröffnen, Gottes Offenbarung jenseits der selbstdiktierten, objektivierenden Antwort des Menschen auf sie zu empfangen. 1 Ich sehe hier von einer Reihe wissenschaftsphilosophischer Probleme ab, die mit Bultmanns Entmythologisierungsprogramm verknüpft sind und die generell einer dialektisch-theologischen Tradition anhaften. 2 Mir geht es hier lediglich darum, beispielhaft einen Zugang zum Neuen Testament vorzuführen, der einen der radikalsten und anspruchsvollsten Versuche darstellt, das Neue Testament als Phänomen der Vergangenheit ernst zu nehmen, der aber nach meiner Ansicht dem Abstand zwischen Gegenwart und Vergangenheit nicht hinreichend Rechnung trägt. Dass dieser Ansatz das Vergangensein der Vergangenheit nicht angemessen in Betracht zieht, rührt daher, dass er nicht in der Lage ist, sein gegenwartsbezogenes Erkenntnisinteresse zurückzustellen. 3 Im Unterschied dazu halte ich den Umstand für hermeneutisch grundlegend wichtig, dass die neutestamentlichen Texte in einem Zusammenhang entstanden sind, der sich kultur-, mentalitäts- und sozialhistorisch radikal von der modernen Welt unterscheidet. Ich bin an der Vergangenheit um ihrer selbst willen interessiert. Die Vergangenheit ist keine Ressource, die Licht auf eine mängelbehaftete Gegenwart werfen kann, und von der aus es möglich ist, diesen Mangel zu kompensieren, indem man jene Elemente der Vergangenheit reaktiviert, von denen man glaubt, dass sie einen Weg von der mängelbehafteten Gegenwart in eine bessere Zukunft weisen. 4 Ich stehe einem solchen Zugang kritisch gegenüber, weil ich meine, dass er sich nicht konsequent genug von den eigenen Denkgewohnheiten und unreflektierten Vorannahmen zu befreien vermag. Wenn die Vergangenheit als Ressource der Gegenwart aufgefasst wird, wird man sich der Vergangenheit-- bewusst oder unbewusst-- mit dem Ziel zuwenden, durch den Gebrauch der Vergangenheit Elemente der Gegenwart (positiv oder negativ) zu legitimieren. Die Vergangenheit wird nicht im Anders Klostergaard Petersen Konstruktionen von Geschlecht und Sexualität im Neuen Testament Zum Thema »Wenn die Arbeit mit der Vergangenheit das übergeordnete Ziel hat, bestimmte Traditionen der Vergangenheit im Verhältnis zur Gegenwart normativ zur Geltung zu bringen, so weiß man am Ende nicht mehr als das, was man vorher auch schon wusste.« Zeitschrift für Neues Testament typoscript [AK] - 12.10.2012 - Seite 13 - 4. Korrektur ZNT 30 (15. Jg. 2012) 13 Anders Klostergaard Petersen Konstruktionen von Geschlecht und Sexualität im Neuen Testament erforderlichen Maß als die Andersheit der Gegenwart ernst genommen, die kraft ihrer Andersartigkeit und Fremdartigkeit ein Bewusstsein für das eigene Gebundensein an gegenwartsbezogene Interpretationsmuster schaffen kann. Oder provozierender gesagt: Wenn die Arbeit mit der Vergangenheit das übergeordnete Ziel hat, bestimmte Traditionen der Vergangenheit im Verhältnis zur Gegenwart normativ zur Geltung zu bringen, so weiß man am Ende nicht mehr als das, was man vorher auch schon wusste. In Abgrenzung zu solchen Zugängen verstehe ich die Erforschung antiker Texte als Projekt einer vertikalen Anthropologie, die in kritischer Ergänzung zur horizontalen Anthropologie (das, was wir unter Anthropologie zu verstehen pflegen) das Gewicht auf das Andere in seiner Andersartigkeit legt. Gewiss kann man einwenden, dass es bei diesem Fokus auf der Andersartigkeit der Vergangenheit zwei augenfällige Probleme gibt. Zum ersten, dass man auch unter dieser Voraussetzung der eigenen Bindung an bestimmte Interpretationsmuster nicht entkommt und sich der unrealistischen Vorstellung hingibt, es sei möglich, Raum für die Vergangenheit in ihrer radikalen Andersheit zu schaffen. Zum zweiten, dass man sich selbst zur Geisel einer romantischen Begeisterung für das Exotische und Fremdartige macht. Als Antwort auf den ersten Einwand ist zu konzedieren, dass sich jede Interpretation der Vergangenheit aus gegenwärtigen Erkenntnisinteressen speist. Die gilt für die Interpretation von Texten wie auch für ihren Gebrauch. 5 Gleichwohl gibt es einen erkenntnistheoretischen Ertrag: Durch die Pointierung der nicht applizierbaren Andersheit der Vergangenheit wird die Möglichkeit eröffnet, sich von der Andersartigkeit herausfordern zu lassen und dadurch das Bewusstsein von der eigenen kulturellen Gebundenheit zu schärfen. Ich behaupte außerdem, dass eine stärkere Besinnung auf die Andersheit der Vergangenheit auch einen weiteren Spielraum der Interpretation für diese Andersartigkeit schafft, und zwar ungeachtet der Tatsache, dass der Gegenwartsbezug in jeder Erforschung der Vergangenheit unhintergehbar ist. Als Reaktion auf den zweiten Einwand ist das Risiko des ›Primitivismus‹ zu beachten. Gemeint ist, dass man durch Betonung der Andersartigkeit dazu beiträgt, die Vergangenheit fremder zu machen als sie in Wirklichkeit war. Die Hervorhebung der Andersartigkeit muss daher analytisch in Schach gehalten werden von einem Verständnis dafür, dass auch die Menschen der Vergangenheit Menschen waren und als solche nicht kategorial verschieden von modernen Menschen. Gerade in diesem Zusammenhang sprechen die in den letzten Jahren in der Kognitionswissenschaft erzielten Ergebnisse dafür, dass die Menschen aller Zeiten und Räume eine Reihe präkultureller, kognitiv fundierter Dispositionen teilen. 6 Dazu kommt die wichtige hermeneutische Pointe, dass die Positionierung der Vergangenheit als Andersheit der Gegenwart eine Vergleichbarkeit voraussetzt, die uns überhaupt erst in die Lage versetzt, die Vergangenheit als ein Andersartiges zu identifizieren. Zum kulturtheoretischen Kontext Zu diesen Überlegungen zum hermeneutischen Diskussionsrahmen kommt ein weiterer Punkt, der der Diskussion bedarf, weil es auch hier Anlass zu Missverständnissen gegeben hat. Es geht um das Verhältnis zwischen verschiedenen kulturellen Traditionen in der antiken Mittelmeerwelt, namentlich darum, wie man den Unterschied zwischen ihnen konzeptualisieren soll. In weiten Teilen der Bibelwissenschaft hat man-- zumal seit dem Aufkommen der Religionsgeschichtlichen Schule Ende der 1880er Jahre in Göttingen-- das frühe Chris- Prof. Dr. Anders Klostergaard Petersen 1969 in Aalborg geboren. 1989-1994: Theologische Studien Aarhus Universität. 1994 Goldmedailleabhandlung über die Bedeutung und Funktion der Taufe bei Paulus, die im selben Jahr mit einer Dissertation verbunden wurde. 1994 Studienaufhalt Jerusalem. 1995-1998: Carlsberg-finanzierter Stipendiat am Institut für Antikes Judentum und hellenistische Religionsgeschichte, Eberhard-Karls Universität, Tübingen. 1998-2002: Assistent Professor für Neues Testament an der Theologischen Fakultät, Aarhus Universität. 2002-2011: Associate Professor für Antikes Judentum und frühes Christentum am Institut für Religionswissenschaft, Aarhus Universität. Seit 2012- Professor für -Antikes Judentum und frühes Christentum am Institut für Religionswissenschaft, Aarhus Universität. Gegenwärtig 330 Publikationen zum antiken Judentum, frühen Christentum, wissenschaftstheoretischen und wissenschaftsphilosophischen Problemstellungen der Rekonstruktion antiker Welten. Anders Klostergaard Petersen Zeitschrift für Neues Testament typoscript [AK] - 12.10.2012 - Seite 14 - 4. Korrektur 14 ZNT 30 (15. Jg. 2012) Zum Thema tentum aus seinem Verhältnis zu anderen Kulturkreisen der hellenistischen Welt rekonstruiert. Dabei formierte sich auch die Religionsgeschichtliche Schule selbst oder vielmehr der Freundeskreis, der sie eigentlich war, 7 in den kulturtheoretischen und -politischen Kontroversen ihrer Zeit. In Auseinandersetzung mit den Lehrern der Schule, die einseitig das Alte Testament als Hintergrund für die Entstehung der neutestamentlichen Schriften hervorgehoben hatten, ging man dazu über, zunächst einmal das antike Judentum als »die Retorte« anzusehen, »in der die neutestamentlichen Stoffe gesammelt und gebraut wurden« 8 . In dem Maße, wie der ursprüngliche Freundeskreis auch um mehrere klassische Philologen erweitert wurde, verschob sich der Akzent zunehmend auf die hellenistische Welt als Hintergrund für das Neue Testament. Durchweg prägend war im Laufe dieser Entwicklung der Schule ein bestimmtes Grundmuster der Positionierung gegenüber anderen Kulturkreisen. Die Eigenart der Christusbewegung wurde häufig dadurch näher bestimmt, dass man sie gegen andere Traditionen ausspielte, etwa wenn man im Verhältnis zur griechisch-römischen Umwelt auf die Abhängigkeit vom antiken Judentum hingewiesen hat, während man in anderen Punkten die Übernahme von Elementen der griechisch-römischen Umwelt (nicht zuletzt im Bereich des Rituals) durch die Christusbewegung betont hat. Hinter diesen Rekonstruktionen stehen aber nun, wie Jonathan Z. Smith eingängig und überzeugend dokumentiert hat, 9 vielfach Rückprojektionen von Streitigkeiten der Reformationszeit auf das frühe Christentum. Der auf dem Felde der Antike geführte Diskurs diente dazu, moderne konfessionelle Schranken zu reifizieren und zu legitimieren. Was man als kulturelle Fremdkörper im frühen Christentum ansah, war häufig identisch mit dem eigenen konfessionellen Unbehagen gegenüber scheinbar analogen Traditionsbildungen in anderen Konfessionen. Auf diese Weise geriet die Erforschung des frühen Christentums allmählich zur Spiegelfläche von Gegensätzen zwischen dem römisch-katholischen und dem protestantischen Lager. Nur selten hat man Forscher sich theoretische Rechenschaft darüber geben sehen, wie sie grundlegend das Verhältnis zwischen verschiedenen kulturellen Größen auffassen sollen. Diese Frage ist indes entscheidend wichtig, wenn man nicht den eigenen Denkgewohnheiten verhaftet bleiben will, die die antike Welt zur bloßen Projektionsfläche verzerren. Mit Martin Hengel können wir die antike Mittelmeerwelt als einen gemeinsamen Kulturraum auffassen, oder, in Anlehnung an den griechischen Begriff koinē (die in weiten Teilen der Mittelmeerwelt etwa von 300 v. Chr. bis 300 n. Chr. gesprochene griechische Gemeinsprache), als eine »kulturelle Koinē«. 10 Von der mediterranen Antike gilt, mit Goethe im Faust gesprochen: »Wie alles sich zum Ganzen webt, Eins in dem andern wirkt und lebt«. 11 d. h. dass die antike Mittelmeerwelt, abhängig davon, worauf man räumlich und zeitlich den Fokus richtet, als Summe verschiedener Manifestationen paralleler Kulturmuster verstanden werden kann. Das bedeutet nicht, dass eine direkte historisch-genetische Verbindung zwischen den verschiedenen kulturellen Größen besteht. Eine solche kann existieren, aber häufig wird man von gleichartigen Kulturmustern sprechen, die in vergleichbaren Kontexten entstanden sind. Hier kann man auf Phänomene wie komplexere Formen der Urbanisierung, Ausbreitung der Schriftlichkeit und verstärkte Ausdifferenzierung sozialer Klassen als Hintergrund für eine gemeinsame Kultur verweisen. 12 Wie Henrik Tronier gezeigt hat, besteht ein enger Zusammenhang zwischen der basalen Struktur in jüdischer und früher christlicher Apokalyptik und der grundlegenden Erkenntnisstruktur des Platonismus und, so füge ich hinzu, der griechisch-hellenistischen Transzendentalphilosophie im Allgemeinen. 13 Andere haben für eine direkte historisch-genetische Verbindung beispielsweise zwischen Paulus und dem Stoizismus argumentiert. 14 Anstatt solche direkte Verbindungen anzunehmen, kann man aber genauso gut und mit höherer Erklärungsleistung von Manifestationen verwandter kultureller Phänomene ausgehen. Vorausgesetzt ist vorliegend ein weiter Kulturbegriff, der auch diejenigen Größen umfasst, die wir als Religion und Politik bezeichnen. In der antiken Welt bildeten Kultur und Politik einen gemeinsamen Lebenszusammenhang, dessen Teilbereiche wie Sport, Theater, Essen, Sexualität etc. in größerem oder kleinerem Umfang in eine religiöse Weltdeutung eingesponnen waren. Die Pointe ist, dass man, statt einen kategorialen Keil zwischen kulturelle Größen der antiken Mittelmeerwelt zu treiben, sie plausibel als verwandte Phänomene mit größeren oder kleineren Schnittmengen erfassen kann, d. h. als ein Venn-Diagramm. 15 Das bedeutet nicht, dass die Unterschiede verschwimmen, sondern vielmehr dass hinter den Unterschieden fundamentale Ähnlichkeiten sichtbar werden, die in der Forschung bisher wenn nicht ignoriert, so doch tendenziell übersehen wurden. Hinzu kommt eine zweite Pointe, die eng mit der Frage verknüpft ist, wie man Kultur denken soll, und in diesem Zusammenhang auch mit der Frage nach kultureller Innovation. 16 Keine kulturelle Größe entsteht ab ovo, sondern in Verlängerung existierender Traditionen, Zeitschrift für Neues Testament typoscript [AK] - 12.10.2012 - Seite 15 - 4. Korrektur ZNT 30 (15. Jg. 2012) 15 Anders Klostergaard Petersen Konstruktionen von Geschlecht und Sexualität im Neuen Testament die sie auf verschiedene Weise modifiziert. Wir können uns eine These zu eigen machen, die Marshall Sahlins in anderem Zusammenhang formuliert hat: »Kultur geht überwiegend auf einen fremden Ursprung zurück, und sie bildet lokal unterscheidbare Formen aus.« 17 Man kann an ein modernes Phänomen wie McDonalds denken, bei dem es vielleicht auf der Hand liegt, es als Ausdruck von amerikanischem Fastfood-Imperialismus aufzufassen. Vergleicht man jedoch oberflächlich Mc- Donalds in Italien, Deutschland, Dänemark und den USA, wird man sich sowohl am Interieur als auch an der Speisekarte von der Berechtigung von Sahlins’ These überzeugen können. McDonalds-Lokale in Dänemark unterscheiden sich von denjenigen in Deutschland, wenn hier auch größere Ähnlichkeiten bestehen als zwischen derselben Größe in den USA und in Europa. Ich meine nun, dass analog dazu auch die Phänomene Geschlecht und Sexualität im Neuen Testament verstanden werden können. Auch hier kann man von distinkten lokalen Ausprägungen eines der antiken mediterranen Welt gemeinsamen kulturellen Musters ausgehen, das freilich zusätzlich diachron zu differenzieren ist. Ich versuche zunächst, ein gemeinsames antikes Grundmuster von Geschlecht und Sexualität zu skizzieren, um dann die distinkten Ausprägungen dieses Musters in den neutestamentlichen Schriften darzustellen. Auch hierbei sind selbstredend Generalisierungen nicht zu umgehen, da die neutestamentliche Zeit wesentliche zeitliche wie auch räumliche Verschiebungen aufweist. Konzepte von Geschlecht und Sexualität divergieren innerhalb des römischen Imperiums. 18 Chronologisch bildet das zweite Jh. n. Chr. einen Einschnitt. 19 Ebenso sind Unterschiede zwischen römischer und griechischer Kultur zu verzeichnen. Das ändert aber nichts daran, dass generalisierend über die antike mediterrane Welt gesprochen werden kann, sobald man sich auf einem entsprechend hohen Abstraktionsniveau bewegt. Geschlecht und Sexualität in der antiken mediterranen Welt Es gibt einen maßgeblichen Punkt, an dem sich die antike mediterrane Welt von modernen abendländischen Auffassungen von Geschlecht und Sexualität unterscheidet. Während wir den Unterschied zwischen Mann und Frau als ein natürliches, biologisches Verhältnis auffassen, sah es in der Antike anders aus. Thomas Laqueur hat den Unterschied zwischen modernen und vormodernen Auffassungen von Geschlecht und Sexualität auf der Grundlage zweier Modelle dargestellt 20 und damit die These verbunden, dass erst mit dem Zeitalter der Aufklärung das antike Modell von Geschlecht und Sexualität abgelöst wird. 21 Dieses bezeichnet er als ›Ein- Geschlecht-Modell‹, weil es voraussetzt, dass Mann und Frau nicht als Gegensätze verstanden werden, sondern als Abstufungen desselben Phänomens. Statt Mann und Frau als Gegenpole zueinander zu begreifen, wird die Frau als ein unvollständiger Mann aufgefasst. Obwohl man in der Antike schon früh Sektionen vornahm, dauerte es bis zum Ende des 18. Jahrhunderts, bis man die tatsächlichen anatomischen Unterschiede zwischen Mann und Frau erkannt hat. Bis dahin verstand man die weibliche Anatomie weitgehend von der des Mannes her. Die Vagina etwa wurde als ein Penis aufgefasst, der sich in die falsche Richtung entwickelt hatte, die Eierstöcke der Frau wurden als innere Hoden angesehen, während die Schamlippen als die Vorhaut der Frau gedeutet wurden. 22 In der Schrift Die Natur des Menschen aus dem vierten Jahrhundert schrieb Bischof Nemesios von Emesa in Syrien über die Organe der Frau, dass »ihre innerhalb des Körpers sind und nicht Zeitschrift für Neues Testament typoscript [AK] - 12.10.2012 - Seite 16 - 4. Korrektur 16 ZNT 30 (15. Jg. 2012) Zum Thema außerhalb von ihm.« Dieses Verständnis findet sich überall in der griechisch-römischen Literatur. Hier liegt der Einwand nahe, dass man in der mediterranen Antike doch wohl kaum so naiv war, dass man biologische Unterschiede zwischen Männer und Frauen nicht sehen konnte. An diesem Punkt ist auch Kritik an Laqueurs Verständnis der Antike auf der Grundlage des ›Ein-Geschlecht‹-Modells formuliert worden. Die Kritik wurde primär von zwei Forschern vorgebracht, die auf dem Spezialgebiet der antiken medizinischen Literatur forschen. Helen King hat eingewendet, dass »die Hippokratische Gynäkologie das unterscheidend Weibliche in strukturellen und funktionalen Kategorien beschreibt. Die Beschaffenheit des weiblichen Körpers ist feucht, weich und schwammig und damit strukturell von der des männlichen völlig verschieden. Diese Beschaffenheit führt zur Ansammlung von Blut und dies wiederum zur Notwendigkeit der Menstruation in unerbittlicher Regelmäßigkeit, um Krankheiten in Folge eines Blutstaus zu verhindern. Auch gibt es vitale Verbindungen zwischen Brüsten und Gebärmutter wie überhaupt zwischen oberer und unterer Körperregion« 23 . Insbesondere eine Passage bei Galen, dem römischen Arzt aus dem zweiten Jahrhundert n. Chr., hat King und Fleming dazu bewogen, Laqueurs Modell in Zweifel zu ziehen. Im Blick auf die Galen-Passage (CMG V. 4. 1. 556.28-37) hat ihre Kritik begrenztes Recht, nur muss man in Rechnung stellen, dass es dort um den Unterschied zwischen Männern und Frauen speziell hinsichtlich der Rolle der Frauen als Gebärende geht. Grundlegend ändert sich aber nichts an der Tragfähigkeit von Laqueurs Modell. 24 Zur kategorialen Nichtunterscheidung von Mann und Frau kommt ein weiterer wichtiger Differenzpunkt hinzu, der das antike vom modernen Verständnis von Geschlecht und Sexualität trennt. Die antike Auffassung enthält einen wesentlichen kosmologischen Aspekt. Jedes antike mediterrane Denken über Geschlecht und Sexualität war eingewoben in einen Mensch, Tier und Kosmos umgreifenden Vorstellungszusammenhang. Wie der Kosmos aus den vier Elementen Luft, Feuer, Erde und Wasser zusammengesetzt ist, sind es auch die Bewohner des Kosmos. Die Menschen bestehen aus vier Elementen, aber es gibt einen erheblichen Unterschied zwischen Männern und Frauen. Grundlegend wird die Physiologie des Mannes von Feuer und Luft gebildet, während die Frau überwiegend aus Erde und Wasser zusammengesetzt ist. Dass einige Frauen männlich auftreten, liegt daran, dass sie einen größeren Anteil an Feuer und Luft erhalten haben, als Frauen normal zukommt. Treten entsprechend Männer weiblich auf, ist die Erklärung deren größerer Anteil an den besonders weiblichen Elementen, Erde und Wasser. Solche Überlegungen hatten Bedeutung für die medizinische und physiognomische Literatur, wie Dale Martin am Beispiel der Kinderzeugung ausführt: »Nach der Hippokratischen Theorie bestimmt der Zustand der Gebärmutter während der Schwangerschaft die geschlechtliche Konstitution des Kindes. Eine warme, trockene Gebärmutter wird ein männliches Kind »Jedes antike mediterrane Denken über Geschlecht und Sexualität war eingewoben in einen Mensch, Tier und Kosmos umgreifenden Vorstellungszusammenhang.« Tiere Gefallene Engel/ Dämonen Gott/ Götter Engel/ Mediatoren Ideelle Christus-Gläubige Männer Jungen Frauen Nicht-Sexualität Sexualität Kinderzeugung Männlich/ Männer : : Feminin/ Frauen Ein-Geschlecht-Modell: Ein-Geschlechter-Modell: Hypersexualität Sexuelle Enthaltsamkeit Trockenheit Luft Feuer Wasser Erde Feuchtigkeit/ Nässe Passiv Aktiv Zeitschrift für Neues Testament typoscript [AK] - 12.10.2012 - Seite 17 - 4. Korrektur ZNT 30 (15. Jg. 2012) 17 Anders Klostergaard Petersen Konstruktionen von Geschlecht und Sexualität im Neuen Testament hervorbringen, wenn die Mutter eine ›warme‹ und ›trockene‹ Diät einhält, jedoch ein weibliches bei ›kalter‹ und ›feuchter‹ Diät.« 25 Es kann nicht überraschen, dass in der medizinischen Literatur die Frage ausführlich behandelt wurde, wie bei jungen Männern eine maskuline Disposition günstig beeinflusst werden konnte, und welches die idealen Umstände für Befruchtung und Gravidität sind, um gesunden männlichen Nachwuchs zu erhalten. Martin zeigt weiter, dass die Unterscheidung zwischen warm und kalt, trocken und feucht und zwischen hart und weich nicht nur in Bezug auf die Auffassung von Mann und Frau maßgeblich waren, sondern auch innerhalb des einzelnen Geschlechts galten, ebenso in Bezug auf das Lebensalter: »Das ganze Spektrum ist in jedem Menschen angelegt. Die Kindererziehung aber zielt darauf, den höherrangigen maskulinen Bereich dieses Spektrums zu entwickeln. Der Körper des Kindes ist tendenziell feuchter, der alter Menschen trockener. Ein gesunder Körper zeichnet sich dadurch aus, dass er das dem jeweiligen Lebensalter entsprechende Gleichgewicht bewahrt.« 26 Das Aktiv-Passiv-Prinzip Während Feuer und Luft als aktive Elemente verstanden werden, werden Erde und Wasser als passive oder rezeptive aufgefasst. Diese Eigenschaftszuschreibungen haben entscheidende Bedeutung für das Verhältnis zwischen Mann und Frau. Der Mann wird als aktiv und extrovertiert verstanden, während die ideale Frau passiv und zurückhaltend ist. In den Quaestiones in Exodum des jüdischen Denkers Philon heißt es beispielsweise: »Denn Fortschritt ist natürlich nichts anderes als eine Aufgabe des weiblichen Geschlechts durch eine Verwandlung zum männlichen, weil das Frauengeschlecht materiell, passiv, körperlich ist und mit den Sinnen begreift, während das männliche aktiv, rational, unkörperlich und mehr mit Verstand und Gedanke verwandt ist« (QE I.8). Während die Domäne des Mannes außerhalb des Hauses liegt, ist der Bereich der Frau das Haus und hier insbesondere der Herd, dessen ›Beschützerin‹ sie ist. Diese Unterscheidung gilt auch für den sexuellen Bereich: Die Frau soll in der Sexualbeziehung rezeptiv und passiv sein, während der Mann aktiv und spendend agiert. Nicht zufällig ist eine geläufige Metapher für den Geschlechtsverkehr zwischen Mann und Frau, dass der Mann »sein Feld pflügen« soll. 27 Dieses Aktiv-Passiv- Modell gilt auch in allen anderen sexuellen Verhältnissen. Jedes sexuelle Verhältnis wurde von einer Relation zwischen Dominanz und Unterwerfung her gedacht. 28 Der freie, mündige Bürger sollte beim Geschlechtsverkehr die Rolle des Penetrators übernehmen, während die Frau, der Junge oder der männliche Sklave sich auf einen weiblichen, passiven ›Container‹ für das Eindringen des Mannes reduziert sehen mussten. 29 Diana Swancutt hat gezeigt, »dass es dem römischen Mann (vir) zufiel, das ideologische Symbol der römischen Unbesiegbarkeit zu verkörpern, den unpenetrierbaren Penetrator, der jede Invasion abwehrte«. 30 In diesem Sinne war der römische Mann eine mikrokosmische Spiegelung des Imperiums. Diese Beobachtungen werfen die Frage nach dem Verhältnis zwischen Biologie und Kultur hinsichtlich Geschlecht und Sexualität auf. Wieviel ist biologisch bestimmt und in welchem Maß sind unsere kulturellen Konstruktionen entscheidend für Auffassungen von Geschlecht und Sexualität? David Halperin hat am Beispiel des römischen Arztes Caelius Aurelianus (Mitte 5. Jh. n. Chr.) gezeigt, dass »antike Typologien des Sexuellen ihre Kriterien zur Kategorisierung von Menschen nicht aus dem biologischen (sex), sondern aus dem sozialen Geschlecht (gender) gewannen. Sexuelles Begehren war normgerecht oder normwidrig je nachdem, ob es die sozialen Akteure zu rollenkonformem oder abweichendem Verhalten entsprechend ihres sozialen Geschlechts motiviert hat«. 31 Das zweite Prinzip: Selbstkontrolle Zum Aktiv-Passiv-Gegensatz kommt ein zweites Prinzip hinzu, das für antike Auffassungen von Geschlecht und Sexualität ebenfalls eine wichtige Rolle spielt. Es handelte sich um die Notwendigkeit, Selbstkontrolle zu üben. Das galt allen, aber wieder war die Aufmerksamkeit primär auf den freien Mann als den höchsten Punkt auf der Skala des Geschlechts gerichtet. Wenn Männlichkeit jedoch keine stabile Größe ist, sondern etwas, das kontinuierlich aufrechterhalten werden muss, weil man dem Risiko ausgesetzt ist, es zu verlieren, spielt Selbstkontrolle eine wichtige Rolle. Um sich dagegen zu schützen, auf der Skala des Geschlechts herabzusinken, muss der freie Mann seine Leidenschaften, die seine Männlichkeit gefährden und ihn ins Unglück stürzen können, kontrollieren. Als Frau konnte man sich durch männliches Auftreten auf der Skala nach oben bewegen. Entsprechend können Männer durch weibliches Gebaren an ihr herabsinken. Man musste Selbstbeherrschung und Mäßigung beim Essen und Trinken üben, so wie man sich gegen die stets lauernde, weibliche Gefahr, ein Opfer des Luxus zu werden, schützen musste. Es heißt z. B. in Adamantius’ Physiognomie (ca. 3. Jh. n. Chr.): Zeitschrift für Neues Testament typoscript [AK] - 12.10.2012 - Seite 18 - 4. Korrektur 18 ZNT 30 (15. Jg. 2012) Zum Thema »Die aber ein ausgeprägt feminines Aussehen der Augen und anderer Körpermerkmale aufweisen, sind auch in Bezug auf Luxus und Sex weiblich. Sie sind aber auch keck und dreist und begrüßen Machenschaften, Betrug und Untreue. Auch dies sind nämlich weibliche Eigenschaften« (1,4) 32 . Selbstkontrolle forderte Kontrolle über Leidenschaften, Begierden und Lüste, die als besondere Bedrohung der Männlichkeit verstanden wurden. Martha Nussbaum fasst dies unter der Überschrift »Therapie des Begehrens« zusammen. 33 Es war eine kulturelle Erwartung an den ehrbaren Mann, dass er seine Leidenschaften beherrschte und seine Gefühle kontrollierte. 34 Ein Mann musste imstande sein, vom Zorn abzusehen, weil dieser als Ausdruck mangelnder Selbstkontrolle aufgefasst wurde. Es ist nicht überraschend, dass der Affekt des Zorns als besonders charakteristisch für Frauen aufgefasst wurde. Seneca schreibt etwa in seinem Werk De Ira: »So ist der Zorn am ehesten eine weibische und kindische Schwäche« (I-xx 3, vgl. Marcus Aurelius Meditationes II 18 35 ). Nach Cicero wird der Mann, der nicht imstande ist, Selbstbeherrschung bei Schmerzen zu üben, unumgänglich auf der Skala herabsinken, mit sowohl geschlechtlichen als auch sozialen Konsequenzen: »Doch gerade darauf muss man beim Schmerz vor allem achten, dass man nichts verächtlich, ängstlich, feig, sklavisch und weibisch tue, und vor allem muss jenes Geschrei des Philoktetes abgelehnt und verworfen werden« (Tusc. II xxiii 55) 36 . Er riskiert sowohl sklavisch (lat. serviliter) als auch weibisch zu werden, wodurch er seinen Status als freier Mann verliert. Die enge Beziehung zwischen der Fähigkeit, Selbstkontrolle zu üben, und dem Mannsein hat umgekehrt zur Folge, dass Frau zu sein damit gleichgesetzt wird, seinen Leidenschaften und Lüsten unterworfen zu sein und der Begierde und mangelnder Selbstbeherrschung zu verfallen (Medea ist ein Prototyp dieses Verhältnisses, etwa in Röm 7, wo Paulus das unglückliche Ich durch den Gebrauch der Medea- Tradition zur Sprache bringt. 37 Weibisch zu sein ist derart der Ausdruck für mangelnde Fähigkeit zur Selbstbeherrschung, womit wir wieder beim Aktiv- Passiv-Gegensatz angelangt sind. Dieser Mangel an Stabilität in Bezug auf geschlechtliche Identität bedeutete auch, dass in der Antike viel Energie auf das »Lesen« des Körpers verwendet wurde: Stand man einem richtigen Mann, einer Heulsuse oder einem Angsthasen gegenüber? Es hat sich eine reichhaltige antike Literatur erhalten, die gerade die Decodierung geschlechtlicher Zeichen behandelt. Sie wird die physiognomische Literatur genannt, weil sie bei den Zügen verweilt, vor denen man besonders auf der Hut sein muss, damit man nicht als freier Mann riskiert, an der Skala herabzurutschen: »Du kannst physiognomische Zeichen der Männlichkeit und Weiblichkeit aus Blick, Bewegung und Stimme deiner ausgewählten Person gewinnen und darauf, von diesen Zeichen ausgehend, sie miteinander vergleichen, bis du hinreichend in der Lage bist zu entscheiden, welches der beiden Geschlechter die Oberhand hat. Denn es findet sich im Männlichen etwas Weibliches und im Weiblichen etwas Männliches; den Namen männlich oder weiblich aber verleiht man entsprechend dem Umstand, welches von ihnen die Oberhand hat« (Phys. 2. 1. 192F) 38 . Diese Diskussion wird häufig mit einer ethnischen Dimension verknüpft, von der wir auch im Neuen Testament Spuren finden. Man verwendet das Aktiv-Passiv- Schema und die Hervorhebung der Selbstbeherrschung als Elemente in ethnischen Selbstinszenierungen. 39 Die Griechen kreideten ihren Feinden an, weibisch zu sein. Sie schwelgten im Luxus und ermangelten der Fähigkeit zur Selbstkontrolle. Der sagenumwobene assyrische Prinz Sardanopoulos wird in der griechischen Literatur zum Inbegriff des epikureischen, manierierten, weibischen Mannes. 40 Hier wird der Keim für das spätere Konzept »des Orientalen« als des Gegensatzes gelegt, der dem europäischen Mann seine Identität verleiht. Was die Griechen im Verhältnis zu den Persern tun konnten, taten die Römer später im Verhältnis zu den Griechen. Nun waren es die Griechen, die die wenig schmeichelhafte Rolle als weibische, manierierte Schwelger im Luxus einnahmen. Wenn der Aktiv-Passiv-Kontrast und die Betonung der Selbstbeherrschung zur Identitätsbildung zwischen Mann und Frau gebraucht werden konnten, so konnten sie auch auf einem kollektiven Niveau angewendet werden, um ethnische Schranken aufzurichten. Das war eine rhetorische Waffe, die auf »Selbstkontrolle forderte Kontrolle über Leidenschaften, Begierden und Lüste, die als besondere Bedrohung der Männlichkeit verstanden wurden.« »Wenn der Aktiv-Passiv-Kontrast und die Betonung der Selbstbeherrschung zur Identitätsbildung zwischen Mann und Frau gebraucht werden konnten, so konnten sie auch auf einem kollektiven Niveau angewendet werden, um ethnische Schranken aufzurichten.« Zeitschrift für Neues Testament typoscript [AK] - 12.10.2012 - Seite 19 - 4. Korrektur ZNT 30 (15. Jg. 2012) 19 Anders Klostergaard Petersen Konstruktionen von Geschlecht und Sexualität im Neuen Testament der Hand lag, weil der Kontrast eine Unterscheidung zwischen Dominanz und Unterwerfung voraussetzte. Der Diskurs eröffnet so die Möglichkeit zu einer höchst einfachen Gegenüberstellung, die vielen anderen Formen des vom Dominanz-Unterwerfungs-Schema abgeleiteten Kontrastdenkens in der Antike entspricht, wie z. B. Mann-Frau, Freier-Sklave, Penetrator-Penetrierter, Grieche-Perser/ Römer-Grieche. Neues Testament Eigentlich wäre es nun am Platz, die frühen neutestamentlichen Texte innerhalb des größeren kultur-, religions- und sozialgeschichtlichen Kontexts des Judentums, dessen Teil sie sind, zu erörtern, doch ist es aus konventionellen Gründen angezeigt, sie ohne besondere Rücksicht auf ihren jüdischen Kontext zu behandeln. Zweifellos nehmen diese Texte Sonderstandpunkte innerhalb der übergeordneten Größe Judentum ein, auch sind sie unabweisbar ein Teil derselben. Entsprechend gilt aber auch, dass die neutestamentlichen Texte-- trotz einer Reihe von Unterschieden innerhalb der übergeordneten Größe antike mediterrane Welt-- zugleich unabweisbar Teil derselben sind. Ich werde drei Beispiele ausführen, behaupte aber, dass sie repräsentativ für das Neue Testament im Allgemeinen sind. In der Einleitung des Römerbriefes, den ich als exklusiv an Adressaten mit einem heidnischen Hintergrund gerichtet auffasse, 41 schildert Paulus den Verfall der nichtjüdischen Menschheit in eskalierender Sünde: »Darum hat sie Gott dahingegeben in schändliche Leidenschaften (eis pathē atimias); denn ihre Frauen haben den natürlichen Verkehr (tēn physikēn chrēsin) vertauscht mit dem widernatürlichen (eis tēn para physin); desgleichen haben auch die Männer den natürlichen Verkehr (tēn physikēn chrēsin) mit der Frau verlassen und sind in Begierde (en tē oreksei autōn) zueinander entbrannt (exekauthēsan) und haben Mann mit Mann Schande getrieben (tēn aschēmosynēn katergazomenoi) und den Lohn ihrer Verirrung, wie es ja sein musste, an sich selbst empfangen« (Röm 1,26 f.). Diese Schilderung ist in der augustinisch-lutherischen Tradition häufig als eine Beschreibung des vollständigen Verfalls der Menschheit seit Adam bis hin zu Christus in Anspruch genommen worden; aber es ist zweifelhaft, ob der Text auf diese Art zu verstehen ist. Es ist vermutlich angemessener, den Text als eine Kritik an Heiden (d. h. Nichtjuden) aus Paulus’ aktueller christusgläubiger Perspektive aufzufassen. 42 Das liegt auch auf einer Linie mit anderen Stellen, wo er in gleicher Weise über Heiden als moralisch Verfallene und religiös Depravierte spricht (vgl. 1Thess 4,3-5; 1Kor 5,1; 12,2; Gal 4,8). Paulus’ rhetorische Geißelung von Heiden ist ein Beispiel für othering, das sich nicht wesentlich von den Angriffen anderer antiker Gruppen auf andere Ethnien unterscheidet, die der komplementären Konstituierung der eigenen Identität dienen. Eigene Identität entsteht in der Entgegensetzung zu anderen Gruppen. 43 Dazu kommt, wie Stanley Stowers gezeigt hat, dass Paulus’ Vorwurf mangelnder Selbstkontrolle an die Adresse von Heiden im Kontext anderer gleichartiger antiker Narrative gesehen werden muss. 44 Aber inwiefern besteht hier ein Zusammenhang zu Auffassungen von Geschlecht und Sexualität im frühen Christentum? Zeigen nicht gerade diese Verse die Unvereinbarkeit von griechischrömischen und christlichen Vorstellungen? Es besteht kein Zweifel, dass jüdische Texte (inklusive der frühen christlichen) unzweideutig Menschen verdammen, die sexuellen Verkehr mit dem gleichen Geschlecht praktizieren. Dennoch bewegt sich dieses Denken kategorial innerhalb des griechisch-römischen Zusammenhangs. Wenn es heißt, dass Gott die Heiden »entehrenden Leidenschaften« (eis pathē atimias) übergab, ist das eine Feststellung in Übereinstimmung mit dem antik-mediterranen Ehre-Schande-Kodex, hier angewendet auf Männer, die nicht über die nötige Selbstkontrolle verfügten. Dasselbe gilt von den Männern, »die schamlos mit Männern verkehren«. Wir können nicht genau sehen, worin die Schamlosigkeit (aschēmosynē) besteht; aber man wird mit der Annahme nicht fehl gehen, dass es sich um Männer handelt, die sich auf Verhältnisse eingelassen haben, bei denen der eine männliche Part die weibliche Rolle übernommen hat, d. h. als einer, der sich hat penetrieren lassen. Es sind solche Männer, die »den Lohn« für ihre Schamlosigkeit »erhalten haben« (antimisthian apolambanontes). Von ihnen gilt, was Philon in seiner Schrift De vita contemplativa behauptet: »Der größte Teil dieser Schrift [d. i. Platons Symposion] wurde nämlich der Darstellung der gewöhnlichen und gemeinen Liebe (ho koinos kai pandēmos erōs) gewidmet, welche die Tapferkeit beseitigt, eine Tugend, die von größtem Nutzen für das Leben ist (tēn andreian biōphelestaten) in Krieg »Wenn es heißt, dass Gott die Heiden ›entehrenden Leidenschaften‹ (eis pathē atimias) übergab, ist das eine Feststellung in Übereinstimmung mit dem antik-mediterranen Ehre-Schande-Kodex, hier angewendet auf Männer, die nicht über die nötige Selbstkontrolle verfügten.« Zeitschrift für Neues Testament typoscript [AK] - 12.10.2012 - Seite 20 - 4. Korrektur 20 ZNT 30 (15. Jg. 2012) Zum Thema und Frieden. Statt dessen ruft diese Liebe die Krankheit der Verweichlichung in den Seelen hervor und macht diejenigen zu Halbweibern (androgynous), die in allen Betätigungen, welche den Mannesmut (alkēn) fördern, geübt werden müssten (synkroteisthai)« (60). Wie Stowers ausführt, ist dies keine Kritik dessen, was wir heute Homosexualität nennen. Eher passt der Begriff der Homoerotik, da die paulinische Aussage »keine permanente Präferenz desselben Geschlechts impliziert, wie sie der moderne Begriff der Homosexualität voraussetzt, sondern vielmehr den Mangel an Widerstandskraft, sich des Begehrens von Seiten desselben Geschlechts zu erwehren. In der Antike galt das auf das eigene Geschlecht gerichtete Begehren als natürliche Gegebenheit. Diskutiert wurde, ob man dieser Leidenschaft widerstehen soll oder nicht.« 45 Gleiches gilt in Bezug auf die Frauen in Vers 27a, »die den natürlichen Verkehr mit dem widernatürlichen vertauschten«. Diese Frauen sind dadurch gekennzeichnet, dass sie sexuell in der Rolle der Penetratoren auftraten und nicht, wie es der kulturelle Code forderte, als solche, die im Sexualakt im Verhältnis zu männlicher Dominanz untergeordnet agierten. 46 Den Beispielen ist gemeinsam, dass die Beteiligten keine Selbstkontrolle ausüben, sondern die ihrem Geschlecht kulturell vorgeschriebene Rolle überschreiten. Beispiele dieser Art finden sich auch in den Paulinischen Lasterkatalogen, wo es ebenfalls pointiert um das mangelnde Vermögen geht, als Mann innerhalb der sexuellen Domäne Selbstkontrolle zu üben. Man kann an 1Kor 6,9-11 denken, wo Paulus schreibt: »Oder wisst ihr nicht, dass die Ungerechten das Reich Gottes nicht ererben werden? Lasst euch nicht irreführen! Weder Unzüchtige (pornoi) noch Götzendiener, Ehebrecher (moichoi), Lustknaben (malakoi), Knabenschänder (arsenokoitai), Diebe, Geizige, Trunkenbolde, Lästerer oder Räuber werden das Reich Gottes ererben. Und solche sind einige von euch gewesen (tines ēte). Aber ihr seid rein gewaschen, ihr seid geheiligt, ihr seid gerecht geworden durch den Namen des Herrn Jesus Christus und durch den Geist unseres Gottes.« Einmal mehr ist in rhetorischer Zuspitzung von der heidnischen Vergangenheit der Adressaten die Rede, die Paulus im Rückblick deutlich anspricht: »Und solche sind einige von euch gewesen (tines ēte)« Interessant in diesem Zusammenhang sind die sexuellen Laster, die er anführt: ›Unzüchtige‹, ›Ehebrecher‹, ›Weichlinge‹ und ›Männer, die mit Männern Umgang haben‹(arsenokoitai). Wie aus diesem Lasterkatalog hervorgeht, handelt es sich ausschließlich um männliche Laster, was von eigenem Interesse ist, wenn man bedenkt, dass Paulus sich an eine Gemeinde wendet, die sowohl aus Frauen als auch aus Männern besteht. Paulus bedient sich auch hier bestimmter griechisch-römischer (einschließlich hellenistisch-jüdischer) Standardwendungen, um andere lächerlich zu machen und zur Schau zu stellen. Er konstruiert durch die Betonung der Laster eine out-group, durch die die in-group der Christusanhänger in einem Gegensatzverhältnis ihre Identität erhält. ›Unzüchtige‹ verweist auf Männer, die sich wie Prostituierte verhalten. James Davidson hebt zu Recht hervor, dass pornoi Personen bezeichnet, die »sich für Geld, gar zu bereitwillig oder aber aus Karrieregründen auf sexuelle Kontakte einlassen« 47 . Der ganze übergeordnete Kontext in 1Kor 5-7 handelt von Risiken, die mit der porneia verbunden sind und mit ungesetzlichem geschlechtlichen Verkehr zu tun haben. Von diesen ›Unzüchtigen‹ gilt in gleicher Weise wie in Röm 1,26 f., dass sie nicht imstande gewesen sind, Selbstkontrolle auszuüben, sondern sich im Sexualakt passiv wie Frauen verhalten haben. Gleiches gilt für ›Ehebrecher‹ (moichoi), die entsprechend in sexuell oder sozial ungesetzliche Verhältnisse involviert waren, entweder als Belästiger oder als Verführer von Frauen, die einem anderen Mann gehörten, etwa dem Vater oder einem Bruder. Die ›Weichlinge‹ (malakoi) bezeichnen umgekehrt die Männer, die sich frauenartig oder rezeptiv verhielten, indem sie sich penetrieren ließen. Wir kennen nicht die genaue Bedeutung von ›Männer, die mit Männern Umgang haben‹(arsenokoitai), aber im Zusammenhang bezeichnet es vermutlich eine weitere Variante sexuell dominierender Männer. 48 Paulus ist unzweideutig in seinem negativen Urteil und kann sich dementsprechend dieser Beispiele bedienen, um das Vorleben einiger Gemeindemitglieder und damit zugleich auch die heidnische Welt insgesamt zu verdammen. Gleichzeitig zeigen sie, wie die paulinische Kritik sich nahtlos in die allgemeine Auffassung von Geschlecht und Sexualität in der antiken mediterranen Kultur einfügt. Das setzt einen mentalitätsgeschichtlichen Kontext voraus, in dem Geschlecht und Sexualität von den beiden Prinzipien her bestimmt sind, die ich im vorherigen Abschnitt erörtert habe. Mein letztes Beispiel stammt aus den Evangelien, in denen ich kurz auf Jesu Worte am Kreuz hinweisen möchte. Hier sehen wir, wie die spätere Tradition, repräsentiert durch das Lukas- und das Johannesevangelium, das Jesus-Bild der früheren Tradition korrigiert. 49 Während Jesus im Markus- und Matthäusevangelium am Kreuz hängt und als seine einzigen Kreuzesworte-- mit einem Zitat aus Ps 22,2-- ruft: »Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen« (Mk 15,34; Matth 27,46), sieht es in den beiden späteren Evangelien anders aus. Nicht nur sagt Jesus in jedem der beiden Evangelien drei verschiedene Kreuzesworte, sondern die Kreuzes- Zeitschrift für Neues Testament typoscript [AK] - 12.10.2012 - Seite 21 - 4. Korrektur ZNT 30 (15. Jg. 2012) 21 Anders Klostergaard Petersen Konstruktionen von Geschlecht und Sexualität im Neuen Testament worte wirken auch auf die männlichen Züge des Jesusbildes ein. Jesus stirbt im Einklang mit den mit dem Tod edler Männer verknüpften Traditionen, den teleutai oder exitus illustrium virorum. 50 Wie Greg Sterling gezeigt hat, ersetzt Jesu letztes Wort im Lukasevangelium, »Vater, in deine Hände befehle ich meinen Geist« (Luk 23,46), nicht nur Ps 22,2 (so die ältere Tradition) durch Ps 31,6, sondern es überschreibt diesen Psalmvers auch im Lichte philosophischer Konventionen über einen edlen Tod. 51 Im Unterschied zu Markus und Matthäus, wo Jesus gottverlassen und verzweifelt stirbt, beschließt er bei Lukas sein Leben wie ein edler Mann, ganz abgeklärt hinsichtlich seines bevorstehenden Todes. Als solcher ähnelt er der Sokratesgestalt, die auch mit voller Selbstkontrolle über die Gefühle und Leidenschaften in den Tod ging. Jesu Selbstbeherrschung kommt auch im zweiten Kreuzeswort zum Ausdruck, wo er einen der beiden Räuber mit dem Bescheid trösten kann, »Wahrlich, ich sage dir: Heute wirst du mit mir im Paradies sein« (23,43). Jesu Kontrolle über die Situation wird auch im ersten Kreuzeswort zum Ausdruck gebracht, wo er im Gegensatz zu denen, die über ihn richteten, die Überlegenheit und die Generosität des edlen Mannes erkennen lässt: »Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun« (23,34). In gleicher Weise sehen wir Jesus bei Johannes in deutlichem Kontrast zur frühen synoptischen Tradition. Statt wie bei Markus und Matthäus Angst und Verzweiflung ausgeliefert zu sein, stirbt Jesus mit einem triumphierenden: »Es ist vollbracht« (Joh 19, 30). In der Johanneischen Optik bezeichnet das Kreuz den Schlusspunkt, der den Abschluss des irdischen Wirkens des himmlischen Christus markiert; aber gerade aus diesem Grund ist das Kreuz nicht eindeutig negativ bestimmt. Es ist, so die johanneische Metapher für das Kreuz, geradezu eine ›Erhöhung‹ (hypsoun, vgl. 3,14; 8,28; 12,32). Wie bei Lukas stirbt Jesus bei Johannes nicht wie eine erbärmliche, unmännliche Figur, so wie man im Lichte antiker Geschlechts- und Sexualcodes seinen Tod bei Markus und Matthäus verstehen könnte. Ähnlich wie der lukanische, so verfügt auch der johanneische Jesus bzw. Christus sozusagen über die Souveränität, sich um seine Mutter zu kümmern. Als erstes Kreuzeswort bei Johannes übergibt er die Mutter in die Obhut des geliebten Jüngers, so wie er den geliebten Jünger zu Marias Adoptivsohn macht (19,26 f.). Wiederum kann man die Modifikation älterer Tradition von antiken Konstruktionen von Geschlecht und Sexualität her verstehen: Obwohl er gekreuzigt wird und derart den schändlichsten Tod erleidet, den man sich im Römischen Reich vorstellen konnte-- man wurde buchstäblich durchbohrt--, stirbt Jesus so, dass er kontrolliert und souverän mit der Situation des Sterbens umgeht, und er erleidet den Tod in einem Zustand größter Selbstbeherrschung. Für die Leser des Evangeliums ist damit klar, dass die Kreuzigung keine Erniedrigung darstellt, sondern vielmehr eine Erhöhung. Fazit Ungeachtet einiger deutlicher Unterschiede spiegeln frühe christliche Texte weitgehend die Sicht der antiken mediterranen Welt auf Geschlecht und Sexualität wider. Alles andere wäre erstaunlich. Wir werden einer von der unsrigen signifikant verschiedenen Welt ansichtig, in der die heute geläufigen Trennungen zwischen Hetero- und Homosexualität als widersinnig empfunden worden wären; eine Welt, in der Frauen und Männer als aus demselben Holz geschnitzt verstanden wurden, wenn auch mit der Frau in der Position des untergeordneten, unvollständigen Mannes. Zwei Prinzipien sind in der antiken mediterranen Weise, Geschlecht und Sexualität zu betrachten, tragend: Das Aktiv-Passiv-Prinzip sowie das Prinzip der Selbstkontrolle. Das erste Prinzip besteht darin, dass jedes Denken über Geschlecht und Sexualität in der Antike um die Frage kreiste, wer wen zu penetrieren das Recht hatte. Das zweite Prinzip formuliert die Fähigkeit zu Selbstkontrolle und Selbstbeherrschung als grundlegende sozio-kulturelle Anforderung. Man(n) war nur anerkannt, wenn man dieser Anforderung entsprach. Die skizzierte Diskussion ist zugleich, behaupte ich, paradigmatisch für ein Verständnis, das sich in der Erforschung der Antike zunehmend durchsetzt: Kulturelle Bereiche wie etwa der griechisch-römische, der jüdische und der christliche bilden in der Antike keine isolierten und unabhängigen Phänomene. Gewiss gab es Unterschiede, aber die Differenzen sind nicht so gravierend, dass man nicht an dem Gedanken einer gemeinsamen mediterranen Kultur in den Jahrhunderten vor und nach unserer Zeitrechnung oder, mit Hengels Worten, einer kulturellen und sozialen koinē festhalten könnte und müsste. Grafisch kann dieser Befund durch ein Venn-Diagramm mit gemeinsamen Schnittmengen und lokalen Manifestationen illustriert werden. Es gilt, was Sahlins als bleibende Einsicht formuliert hat: »Kultur geht überwiegend auf einen fremden Ursprung zurück, und sie bildet lokal unterscheidbare Formen aus.« In vorliegendem Beitrag haben wir diese Einsicht am antiken Verständnis von Geschlecht und Sexualität exemplifiziert, sie kann aber auch auf andere Gebiete angewendet werden. Schließlich habe ich den hermeneutischen Diskussionsrahmen skizziert. Statt zu versuchen, die neutesta- Zeitschrift für Neues Testament typoscript [AK] - 12.10.2012 - Seite 22 - 4. Korrektur 22 ZNT 30 (15. Jg. 2012) Zum Thema mentlichen Texte auf die Gegenwart anzuwenden, habe ich die Notwendigkeit betont, sie zunächst im Lichte ihrer Fremdartigkeit, Vergangenheit und Andersartigkeit zu lesen. Ich bestreite nicht, dass es Momente des Wiedererkennbaren zwischen der neutestamentlichen Welt und uns heute gibt. Das ist ja gerade eine Voraussetzung dafür, dass wir überhaupt zu Lektüren im Lichte einer radikalen Andersartigkeit imstande sind. Insofern plädiere ich für eine vertikale Anthropologie. Der Gewinn dieser Perspektive auf die Texte in ihrer Andersartigkeit besteht darin, dass moderne Denkgewohnheiten und undurchschaute Vorurteile herausgefordert und korrigiert werden können, wie ich dies beispielhaft auf dem Feld antiker Auffassungen von Geschlecht und Sexualität vorgeführt habe. Anmerkungen 1 Siehe R. Bultmann, »Zum Problem der Entmythologisierung«. In: Ders., Glauben und Verstehen, Bd. 4, Tübingen, Mohr-Siebeck 1965, 128-137. 2 Siehe A.K. Petersen, »Den protestantiske traditions ritualforståelse« [Das Ritualverständnis der protestantischen Tradition], Fønix 4/ 19 (1995), 2-23, 16 f. 3 Dieses Element wird in der modernen Wissenschaftsphilosophie hinsichtlich der Historiographie häufig als das Problem des »Präsentismus« bezeichnet, siehe dazu E.A. Clark, History, Theory, Text. Historians and the Linguistic Turn, Cambridge, Mass./ London 2004, 19-23. 4 Dies ist der leitende Gesichtspunkt bei M. de Certeau, The Writing of History, New York 1988, 19-55. 5 Umberto Ecos Unterscheidung zwischen dem »Gebrauch« und der »Interpretation« von Texten versucht Raum für eine Besinnung auf den semiautonomen Status von Texten, unabhängig von ihrer Anwendung durch spezifische Benutzer, zu schaffen. Die Interpretationskategorie bezeichnet das Bestreben, Texte im Licht der Codes auszulegen, die man plausibel als bedeutungsvoll in der Kommunikationssituation, in der die Texte entstanden, rekonstruieren kann. Selbstverständlich kann von nichts anderem als einer plausiblen Konstruktion die Rede sein, aber das unterscheidet sie nichtsdestoweniger von dem Bestreben, dessen Ziel darin besteht, die Texte für die Gegenwart übernehmbar zu machen. Siehe: A Theory of Semiotics, Bloomington 1979, 61 f.; Ders., The Limits of Interpretation, Bloomington 1990, 62. 6 Siehe P. Boyer, Religion Explained: The Human Instincts That Fashion Gods, Spirits and Ancestors, William Heinemann 2001. 7 M. Murrmann-Kahl, Die entzauberte Heilsgeschichte: der Historismus erobert die Theologie 1880-1920, Gütersloh Mohn 1992, 296 f.305 f. 8 W. Bousset, Die Religion des Judentums im späthellenistischen Zeitalter, hgg. von H. Gressmann, Tübingen ³1926, 524. 9 J.Z. Smith, Drudgery Divine. On the Comparison of Early Christianities and the Religions of Late Antiquity, London 1990. 10 Siehe z. B. M. Hengel (unter Mitarbeit von C. Markschies), »Das Problem der ›Hellenisierung‹ Judäas im 1. Jahrhundert nach Christus«, in: Ders., Judaica et Hellenistica. Kleine Schriften I, Tübingen, Mohr-Siebeck 1996, 1-90, hier: 82. 11 Johann Wolfgang von Goethe, Sämtliche Werke in 18 Bänden, Band 5: Die Faustdichtungen. Artemis, Zürich 1950, 157 f. 12 Siehe dazu R.N. Bellah, »Religious Evolution«, American Sociological Review 29 (1964), 358-374; »What Is Axial about the Axial Age? «, Archives of European Sociology XLVI (2005), 69-87; Religion in Human Evolution. From the Paleolithic to the Axial Age, Cambridge, Mass./ London 2011, 265-566. 13 Siehe z. B. H.Tronier, »The Corinthian Correspondence between Philosophical Idealism and Apocalypticism«, in: T. Engberg-Pedersen (ed.), Paul Beyond the Judaism/ Hellenism Divide, Louisville/ Westminster 2001, 165-196. Siehe auch A.K. Petersen, »Finding a Basis for Interpreting New Testament Ethos from a Greco-Roman Philosophical Perspective«, in: J.W. van Henten/ J. Verheyden (Hgg.), Early Christian Ethics in Jewish and Hellenistic Contexts, Leiden 2012-- im Erscheinen. 14 Siehe T. Engberg-Pedersen, Paul and the Stoics, Edinburgh 2000, und Ders., Cosmology and Self in the Apostle Paul. The Material Spirit, Oxford 2010, und meine Kritik in »Jeg er pneuma, lysende og stoflig. En review-artikel af Troels Engberg-Pedersen, Cosmology & Self in the Apostle Paul. The Material Spirit«, RvT (56) 2011, 98-103, sowie in Petersen 2012 (s. Anm. 13). 15 Das Diagramm ist nicht als Abbildung des Größenverhältnisses zwischen antiken Kulturen gemeint. Um die theoretische Pointe anschaulich zu machen, enthält die Figur nur ausgewählte kulturelle Segmente und dies ohne grafische Entsprechung der jeweiligen Größenverhältnisse. 16 Siehe meinen Artikel »Invention« and »Maintenance« of Religious Traditions: Theoretical and Historical Perspectives«, in: J. Ulrich u. a. (Hgg.), Invention, Rewriting, Usurpation. Discursive Fights over Religious Traditions in Antiquity, Frankfurt/ Main 2011, 129-160, in dem ich auf Grundlage von Peirce ein semiotisch fundiertes Denken hinsichtlich des Verhältnisses zwischen Kontinuität, Transformation und Diskontinuität innerhalb kultureller Welten zu skizzieren suche. 17 M. Sahlins, »Two or Three Things That I Know about Culture«, The Journal of the Royal Anthropological Institute Incorporating Man 5/ 3 (1999), 391-421, 412. Siehe dazu meinen Artikel »Reconstructing Past (Jewish) Cultures«, in: K.D. Dobos/ M. Köszeghy (Hgg.), With Wisdom as a Robe. Qumran and Other Jewish Studies in Honour of Ida Fröhlich, Sheffield 2009, 367-383, in dem ich die kulturtheoretische Pointe im Hinblick auf die Antike vertiefe, und den Artikel 2011 (s. Anm. 16), in dem ich für eine Theorie kultureller ›Innovation‹ an Peirce anknüpfe. Zeitschrift für Neues Testament typoscript [AK] - 12.10.2012 - Seite 23 - 4. Korrektur ZNT 30 (15. Jg. 2012) 23 Anders Klostergaard Petersen Konstruktionen von Geschlecht und Sexualität im Neuen Testament 18 Siehe D.J. Mattingly, Imperialism, Power, and Identity. Experiencing the Roman Empire, Princeton 2011, 94- 121. 19 Siehe C.A. Williams, Roman Homosexuality. Second Edition, Oxford 2010, 51. 20 T.W. Laqueur, Making Sex: Body and Gender from the Greeks to Freud, Cambridge (Mass.) 1990, 5 f. 21 Zur Relevanz von Laqueurs Gedanken hinsichtlich etwa des Hochmittelalters vgl. J. A. McNamara, »The Herrenfrage: The Restructuring of the Gender System, 1050-1150«, in: C.A. Lees (Hg.), Medieval Masculinities. Regarding Men in the Middle Ages, Minneapolis/ London 1994, 3-29. 22 Laqueur 1990, 4. 23 H. King, Hippocrates‘ Women: Reading the Female Body in Ancient Greece, London und New York, Routledge 1997, 39. Grundlegend außerdem King 1997, 7-11, und R. Flemming, Medicine and the Making of Roman Woman: Gender, Nature, and Authority from Celsus to Galen, Oxford, 120 f., 357 f. 24 Siehe auch meine Artikel »Gender-bending in Early Jewish and Christian Martyr Texts«, in: J. Engberg, U.H. Eriksen/ A.K. Petersen (Hgg.), Contextualising Early Christian Martyrdom, Frankfurt/ Main 2010, 225-256, und »Auf der Suche nach einem Rahmen zum Verständnis der Konzeption von Geschlecht und Sexualität im frühen Christentum«, in: M. Morgenstern, C. Boudignon/ C. Tietz (Hgg.), Männlich und weiblich schuf Er sie: Studien zur Genderkonstruktion und zum Eherecht in Mittelmeerreligionen, Göttingen 2011, 33-66. 25 D.B. Martin, The Corinthian Body, New Haven 1995, 32. Vgl. B. D. Shaw, »Body/ Power/ Identity: Passions of the Martyrs«, JECL 4/ 3 (1996), 269-312, 284 f. 26 Martin 1995, 32 f. 27 Vgl. P. duBois, Sowing the Body. Psychoanalysis and Ancient Representations of Women, Chicago, 1988, 39-85. 28 Vgl. dazu H.N. Parker, »The Teratogenic Grid«, in: J.P. Hallett/ M.B. Skinner (Hgg.), Roman Sexualities, Princeton, 1997, 47-65, hier: 49. 29 K.J. Dover, Greek Homosexuality, Cambridge (Mass.) 1978, 100-109; D.M. Halperin, One Hundred Years of Greek Homosexuality and Other Essays on Greek Love, New York/ London 1990, 33; J. Walters. »Invading the Roman Body: Manliness and Impenetrability in Roman Thought«, in: J.P. Hallett/ M.B. Skinner (Hgg.), Roman Sexualities, Princeton 1997, 29-43, 30; Parker 1997, 48 f. 30 D.M. Swancutt, »Still Before Sexuality«: »Greek« Androgyny, the Roman Imperial Politics of Masculinity and the Roman Invention of the Tribas«, in: T. Penner/ C. van der Stichele (Hgg.), Mapping Gender in Ancient Religious Discourses, Leiden 2007, 11-61, hier: 31. 31 D. Halperin 1990, 25; Jf. M. Gleason, Making Men: Sophists and Self-Representation in Ancient Rome, Princeton 1995, xxvi, und C.A. Barton, Roman Honor. The Fire in the Bones 2001, 38. 32 Eigene Übersetzung. 33 M. Nussbaum, Therapy of Desire. Theory and Practice in Hellenistic Ethics, Princeton 1994, 50. 34 Vgl. S. K. Stowers, A Rereading of Romans. Justice, Jews & Gentiles, New Haven 1994, 46-50. 35 Übersetzung entnommen aus: L. Annaeus Seneca, Philosophische Schriften. Lateinisch und deutsch, hrsg. v. M. Rosenbach, Bd. 1, Darmstadt 1999, 143. 36 Übersetzung entnommen aus: Cicero, Gespräche in Tusculum. Übersetzt und mit einer Einführung und Erläuterungen versehen von O. Gigon, Zürich/ München 1991, 132. 37 Vgl. S. Krauter, »Is Romans 7: 7-13 about akrasia? «, in: C.K. Rothschild/ T.W. Thompson (Hgg.), Christian Body, Christian Self: Concepts of Early Christian Personhood, Tübingen 2011, 113-122, 113. 38 Eigene Übersetzung. 39 Siehe meinen Artikel »Othering in Paul. A Case-Study of 2 Corinthians«, in: M. Kahlos (Hg.), The Faces of the Other. Religions Rivaly and Ethnic Encounters in the later Roman World Turnhout 2012, 19-50. 40 Siehe A. J. Malherbe, Paul and the Popular Philosophers, Minneapolis 1989, 84 f. 41 Das schließt selbstredend nicht aus, dass es in der Gruppe von Christusanhängern in Rom sehr wohl Menschen gegeben haben kann, die von ihrem ethnischen Hintergrund her Juden waren, aber die Pointe ist, dass Paulus sich in seinem Brief explizit allein zu Adressaten verhält, die von ihrem ethnischen Herkommen her Heiden gewesen sind. Aus demselben Grund fasse ich den Konflikt zwischen ›Schwachen‹ und ›Starken‹ in Röm 14 als einen Konflikt zwischen verschiedenen Typen des Christusglaubens auf, die sich voneinander in der Frage unterscheiden, in wie hohem Maße der Christusglaube unter Heiden ein mehr oder weniger judaisierender sein soll. 42 Siehe hierzu die glänzende Diskussion in C. E. J. Hodge, If Sons, Then Heirs. A Study of Kinship and Ethnicity in the Letters of Paul, Oxford 2007, 44-58. 43 Für die theoretische Diskussion des othering siehe meinen in Anm. 39 genannten Artikel. 44 Vgl. Stowers 1994, 42-44. 89-93. 45 Stowers 1994, 342. 46 Vgl. Stowers 1994, 94. 47 J.N. Davidson, The Greeks & Greek Love. A Radical Reappraisal of Homosexuality in Ancient Greece, London 2007, 67. 48 F. Ivarson, »Vice Lists and Deviant Masculinity: The Rhetorical Function of 1 Corinthians 5: 10-11 and 6: 9-10«, in: T. Penner/ C. van der Stichele (Hgg.), Mapping Gender in Ancient Religious Discourses, Leiden 2007, 163-184, 182 f. 49 Siehe A.K. Petersen, »The Gospel of Judas: A Scriptural Amplification of Canonical Encroachment? «, in: G. Wurst/ E. Popkes (Hgg.), Judasevangelium und Codex Thachos, Tübingen 2012. 50 Siehe A.J. Droge/ J.D. Tabor, A Noble Death. Suicide & Martyrdom among Christians and Jews in Antiquity, San Francisco 1992, 17-51; D. Seeley, The Noble Death. Graeco-Roman Martyrlogy and Paul’s Concept of Salvation, Sheffield 1990, 113-141. 51 G. Sterling, »Mors Philosophi: The Death of Jesus in Luke«, HTR 94 (2001), 383-402, 396-398.