eJournals ZNT – Zeitschrift für Neues Testament 15/30

ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
2012
1530 Dronsch Strecker Vogel

Androgyne Gleichheit – sexuelle Hierarchie

2012
Matthias Klinghardt
Zeitschrift für Neues Testament typoscript [AK] - 12.10.2012 - Seite 3 - 4. Korrektur ZNT 30 (15. Jg. 2012) 3 Die Kernfrage der Geschlechterforschung nach der kulturellen, sozialen und biologischen Konstruktion der Geschlechter, mithin die Frage nach der Wahrnehmung der Sexualität und den damit verbundenen Machtaspekten, ist eine zutiefst religiöse Frage. Denn sie ist ein unverzichtbarer Bestandteil der weiteren Fragestellung nach dem Wesen des Menschen, die in der abendländischen Tradition immer als religiöses Problem verhandelt wurde. Das frühe Christentum hat diese Frage durchaus kontrovers diskutiert und mit einem erstaunlichen Aufwand an Schriftgelehrsamkeit theologisch reflektiert: Was »männlich« oder »weiblich« eigentlich ist, war also genauso wenig selbstverständlich wie die Tatsache, dass es zwei unterschiedliche Geschlechter gibt. 1 Die Bestimmung des Wesens des Menschen und seiner Sexualität ist eine Transzendenzkonstruktion: Sein »Wesen« liegt dem Menschen immer voraus und ist ihm unverfügbar, und doch dienen die Konstruktionen dieses Wesens immer zur normativen Reglementierung des sozialen, politischen und kulturellen Miteinanders, werden also genutzt und instrumentalisiert: Diese Transzendenzkonstruktion ist mithin ein Instrument der Macht, wie sich gerade an der Bestimmung der Sexualität zeigt: Die Antike hat Sexualität nicht als eigenständiges Thema wahrgenommen, sondern die damit verbundenen Fragen durchweg in sozialen und politischen Diskursen behandelt. Aus diesem Grund wäre ein objektiver Zugang zur »richtigen« Konstruktion von großer Bedeutung. Aber Objektivität ist hier nicht zu erreichen: Das Wesen des Menschen ist unverfügbar. Darum ist es sinnvoll, die Frage in einem möglichst breiten kulturellen Horizont anzugehen, zu dem eben nicht nur die religiösen Bestimmungen seiner »Geschöpflichkeit« gehören, sondern auch die philosophischen und (natur-)wissenschaftlichen seiner »Natur«. Um diesen kulturellen Horizont wenigstens anzudeuten, sind im Folgenden die im engeren Sinn »religiösen« Konzepte wenigstens andeutungsweise durch philosophische und medizinische Stimmen ergänzt. I. Androgyne Anthropogonie Der Leittext und die wichtigste Grundlage für die Diskussion über menschliche »Natur« und Geschlechtlichkeit im hellenistischen Judentum und frühen Christentum sind die biblischen Schöpfungsberichte. Nach Gen 1,27 erschuf »Gott den Menschen, nach dem Abbild Gottes schuf er ihn, männlich und weiblich schuf er sie«. Nach diesem Grundtext der imago-Dei-Lehre gehört es zum Wesen des Menschen, dass er von Anfang an »männlich und weiblich« (gr.: arsen kai thēly), also als geschlechtlich distinktes Wesen, existiert. Daneben steht die Schöpfungserzählung in Gen 2, der zufolge ein (zunächst geschlechtsloser) Mensch aus dem Ackerboden erschaffen wird (Gen 2,7), der später eine Gefährtin erhält: »Gott, der Herr, baute aus der Seite, die er vom Menschen genommen hatte, eine Frau (gr.: gynē) und führte sie dem Menschen zu« (Gen 2,22); erst dadurch wird der »Mensch« (gr.: anthrōpos) zum »Mann« (gr.: anēr, Gen 2,23). Das Nebeneinander dieser beiden in mancherlei Hinsicht sehr unterschiedlichen Texte eröffnete den Spielraum für eine breite Palette verschiedener Interpretationen. Eine im Blick auf die christlich-abendländische Wirkungsgeschichte eher ungewöhnliche Verbindung dieser Texte findet sich in einer rabbinischen Auslegung: »Als der Heilige, Er sei gepriesen, Adam erschuf, erschuf er ihn als Androgyn, denn es heißt: Als der Herr Adam erschuf, erschuf Er ihn mit einem Doppelgesicht, dann spaltete er ihn und machte ihm zwei Rücken, einen Rücken auf der einen Seite und einen Rücken auf der anderen Seite.« 2 Dies ist eine höchst eigenartige Deutung von Gen 2,22. Sie wird verständlich als Rezeption der religionsgeschichtlich weit verbreiteten Vorstellung einer androgynen Anthropogonie, wie sie vor allem aus der karikierenden Darstellung in Platos »Gastmahl« bekannt ist. 3 Dort lässt Plato den Komödiendichter Aristophanes erzählen, dass die Menschen ursprünglich zweigeschlechtliche Kugelwesen gewesen seien, mit zwei Gesichtern, vier Armen, vier Beinen und auch doppelten Geschlechtsteilen. Matthias Klinghardt Androgyne Gleichheit-- sexuelle Hierarchie Die Kultur der Geschlechtskörper im frühen Christentum* Neues Testament aktuell * Eine kürzere Fassung dieses Beitrags erschien unter dem Titel »Männlich- - Weiblich- - Mannweiblich- - weder männlich noch weiblich: Geschlechterkonstruktionen im frühen Christentum« in: Wissenschaftliche Zeitschrift der TU Dresden 52/ 3 (2003), 51-56. Abbildungen © Frieder Klinghardt. Zeitschrift für Neues Testament typoscript [AK] - 12.10.2012 - Seite 4 - 4. Korrektur 4 ZNT 30 (15. Jg. 2012) Neues Testament aktuell Mensch ständig seine eigene Teilung vor Augen habe und anständiger würde.« Allerdings liefen die Menschen nun Gefahr auszusterben, denn sie konnten nicht mehr miteinander verkehren: Ihre Augen waren vorn, ihre Geschlechtsteile hinten. Daher erbarmte sich Zeus und verlegte den halbierten Menschen die Geschlechtsteile nach vorne, damit sie sich auf diese Weise gezielt vermehren könnten. »Von so langem her« folgert der platonische Aristophanes, »ist also der Eros zueinander den Menschen angeboren, um die ursprüngliche Natur wiederherzustellen; der Eros versucht, aus zweien eins zu machen und die menschliche Natur zu heilen.« 4 Auch wenn es auf den ersten Blick schwierig erscheint: Die erwähnte rabbinische Auslegung von Gen 1 f. impliziert eine protologische Geschlechteridentität im Sinn dieser Überlegung. Das erforderte eine Zuordnung der beiden Schöpfungsberichte, die aus Gen 1,27 eine androgyne Anthropogonie herauslas, aus Gen 2,22 dagegen die Entstehung geschlechtlich distinkter Menschen. Es ist nur konsequent, wenn in spätantiken Beispielen für diese Auslegungstradition das Objekt des göttlichen Schöpfungshandelns in Gen 1,27c nicht im (kanonisch gewordenen und daher vertrauten) Plural erscheint, sondern im Singular: »… männlich und weib- Diese androgynen Kugelmenschen, in jeder Hinsicht starke Gestalten, waren Hybride im Sinn des Wortes: Weil sie sich in ihrer Stärke den olympischen Göttern ebenbürtig wähnten und sich gegen sie empörten, ließ Zeus sie zur Strafe in einer komplizierten Operation in zwei sexuell distinkte Hälften zerlegen (»so, wie man Eier mit einem Haar zerschneidet«), die Haut über den Bauch zusammenziehen und über dem Nabel zusammenbinden (»wie einen geschnürten Geldbeutel«). Das Ganze wird geglättet, nur wenige Falten blieben übrig (»um den Bauch und den Nabel selbst herum- - als Mahnmal für das einst Erlittene«). Das pädagogische Interesse dieser Operation zeigt sich auch darin, dass Zeus diesen Kugelhälften das Gesicht und den halben Hals nach dem Schnitt herumdrehen ließ, »damit der Prof. Dr. Matthias Klinghardt, Jahrgang 1957, 1986 Promotion und 1993 Habilitation (Neues Testament) in Heidelberg, 1988/ 89 Rice University, Houston (Tx), 1989 bis 1998 Assistent an der Universität Augsburg, seit 1998 Professor für Biblische Theologie an der TU Dresden. Matthias Klinghardt Zeitschrift für Neues Testament typoscript [AK] - 12.10.2012 - Seite 5 - 4. Korrektur ZNT 30 (15. Jg. 2012) 5 Matthias Klinghardt Androgyne Gleichheit-- sexuelle Hierarchie lich schuf er ihn.« 5 Was auf den ersten Blick wie eine textkritische Haarspalterei erscheint, ist in Wahrheit Teil einer grundlegenden Diskussion über das Wesen des Menschen und seine geschöpfliche Bestimmung: Ist der Mensch in erster Linie Mensch und nur in zweiter Linie ein Geschlechtswesen, oder macht die geschlechtliche Distinktion von Mann und Frau den Kern der Gottebenbildlichkeit aus? Dass diese Alternative weit reichende soziale Implikationen besaß, wird gleich zu zeigen sein. Wie sich die Einheit dieser beiden Schöpfungsakte trotz ihrer Unterscheidung denken ließ, hat exemplarisch Philo von Alexandrien gezeigt, der die beiden Schöpfungstexte in eine umfangreiche Erklärung über die Herkunft des Bösen und der Sündhaftigkeit des Menschen einbezog: Angesichts der behaupteten Gottebenbildlichkeit des Menschen lag darin in der Tat ein grundlegendes Problem. Philo nahm eine graduelle Entfernung der Menschenschöpfung von Gottes ursprünglichem Plan an. 6 Er sah in Gen 1,27 die Erschaffung der »Gattung Mensch« und verstand die Aussage als eine Art göttlichen Bauplan: Dieser gottebenbildliche Mensch war eine nur noëtisch erfassbare Idee, ein gedachter Begriff, war »unkörperlich, weder männlich noch weiblich, von Natur aus unvergänglich« 7 . Dagegen bezog Philo die Schöpfungsaussage Gen 2,22 auf die Erschaffung der konkreten Einzelwesen, die aus Staub gemacht (Gen 2,7) und der Veränderung unterworfen waren: Diese sinnlich wahrnehmbaren (und nicht nur »gedachten«) Menschen waren dann geschlechtlich distinkt: Mann und Frau. Diese Überlegungen zur ursprünglichen Androgynie des Menschen sind Teil einer umfassenden kulturellen Prägung, zu der ganz selbstverständlich auch die wissenschaftlichen Erkenntnisse der Medizin und der Geschlechtsbiologie gehören. Für uns ist die Differenz der Geschlechter aufgrund der biologischen Konstitution gleichsam objektiv festgelegt: Die fundamentale Unterscheidung von Mann und Frau ergibt sich primär aus den unterschiedlichen Körpern, die Differenz erweist sich an den Geschlechtsorganen und den unterschiedlichen physiologischen Funktionen der Geschlechter bei der Fortpflanzung. Für die gesamte Antike (und weit darüber hinaus, mit gravierenden Auswirkungen bis ins 18. Jh.) 8 war dagegen klar, dass Männer und Frauen einen identischen Körper besitzen. Der berühmteste Anatom der Antike, Galen von Pergamon, fand nichts einleuchtender, als die grundlegende physiologische Identität von Männern und Frauen gerade anhand der Geschlechtsorgane zu demonstrieren: »Alle Organe, die Männer haben, haben Frauen auch; der Unterschied liegt in einem einzigen Sachverhalt, dessen man sich immer vollständig bewusst sein muss, nämlich: Bei Frauen liegen diese Organe im Inneren des Körpers, während sie bei Männern außen liegen. Stell dir vor, was immer du zuerst willst: Wende die (Organe) der Frau nach außen oder wende die (Organe) des Mannes sozusagen nach innen und falte sie doppelt-- du wirst in beiden die in jeder Hinsicht identischen Organe finden.« 9 Männer sind demzufolge nach außen gewendete Frauen bzw. Frauen sind nach innen gewendete Männer: Beide haben dieselben Organe, nur an unterschiedlichen Orten. Die antike Medizin hat dementsprechend für die unterschiedlichen Sexualorgane auch keine eigenen, geschlechtsspezifischen Bezeichnungen entwickelt-- sowenig, wie für Augen, Nase, Mund. 10 Die organische Gleichheit setzt sich in den physiologischen Vorstellungen zur Fortpflanzung fort: Auch Frauen haben wie Männer Samen, die Zeugung geschieht durch die Mischung von männlichem und weiblichem Samen. 11 Noch weiter geht die humoralpathologische Vorstellung, dass Männer und Frauen sowohl männlichen als auch weiblichen Samen produzieren. 12 Dies ist eine geradezu bestürzende Vorstellung: Wozu bedarf es noch des Mannes, wenn die Frau alle notwendigen Voraussetzungen für die Zeugung besitzt- - und darüber hinaus in der Lage ist, ein Kind auszutragen? Gerade angesichts dieser Implikationen ist die These der biologischen Gleichheit der Geschlechter frappierend und nur als Teil einer gesamtkulturellen Wahrnehmung verständlich: Die Vorstellung der ursprünglichen Androgynie ist nicht eine kontingente kulturelle Zuschreibung, sondern ein integratives Element der antiken Geschlechterkultur. II. Protologisch-eschatologische Geschlechteridentität Die Vorstellung von der androgynen Bestimmung der menschlichen Natur ist auch im frühen Christentum verschiedentlich bezeugt. Am bekanntesten ist die paulinische Aussage, dass diejenigen, die auf Christus getauft sind, ihn angezogen haben: »Da ist weder Jude noch Grieche, da ist weder Sklave noch Freier, da ist nicht männlich und weiblich, denn ihr seid alle einer in Christus Jesus« (Gal 3,27 f.). 13 Die Formulierung des dritten Gegensatzpaares »nicht männlich und weiblich (gr.: arsen kai thēly)«, die von den beiden ersten formal abweicht, ist ein direktes Zitat aus Gen 1,27 (LXX); Paulus kennt die Auslegungstradition, auch wenn er in diesem Zusammenhang kein Gewicht darauf legt: Er will begründen, warum die heilsgeschichtliche Unter- Zeitschrift für Neues Testament typoscript [AK] - 12.10.2012 - Seite 6 - 4. Korrektur 6 ZNT 30 (15. Jg. 2012) Neues Testament aktuell scheidung von »Jude und Grieche« irrelevant ist, und führt zur Begründung die analoge Aufhebung der sozialen und geschlechtlichen Unterschiede an; deren Überwindung setzt er bei seinen Adressaten also ohne weiteres voraus. 14 Ausweislich des Zitats aus Gen 1 argumentiert Paulus hier schöpfungstheologisch und postuliert die Entsprechung zwischen der protologischen Einheit der Geschlechter und ihrer eschatologischen Restitution: Die Unterscheidungen von Sklave und Freier, von Jude und Grieche, von männlich und weiblich sind daher Kennzeichen einer Einheit, die in der Schöpfung grundgelegt, danach zwischenzeitlich verloren war, jetzt aber »in Christus« eschatologisch wiederhergestellt ist: Christen befinden sich im Zustand der endzeitlichen restitutio ad integrum. Das Bild, das auf diese Weise hinsichtlich der Geschlechtlichkeit des Menschen entsteht, ist nur auf den ersten Blick ungewohnt; tatsächlich ist es durch eine ansehnliche Zahl frühchristlicher Texte gestützt und ergibt zusammen mit den jüdischen Belegen (Philo, GenR u. a.) und der argumentativen Verwendung des Urmensch-Mythos bei Plato einen kohärenten Vorstellungszusammenhang, der sich etwa folgendermaßen zusammenfassen lässt: 1) Am Anfang war der Mensch ungeteilt und androgyn: das ist seine grundlegende geschöpfliche Bestimmung, und darin ist er Ebenbild Gottes. Die geschlechtliche Existenz des Menschen als Mann und als Frau ist demgegenüber Depravation und Entfremdung von dieser ursprünglichen Schöpfung. Sexualität - Plato und Philo sprechen vom Eros - gehört demnach nicht zu dem von Gott intendierten Wesen des Menschen, sondern ist Ausdruck seiner konkreten, entfremdeten Existenzweise. 2) Dabei erscheint Sexualität mit Sünde verbunden. Die platonische Karikatur des Urmensch-Mythos lässt noch erkennen, dass die geschlechtliche Distinktion eine Strafe und Folge seiner Hybris ist. Bei Philo dagegen ist die Geschlechtlichkeit die Voraussetzung und das Einfallstor für die Sünde. Denn nachdem die beiden konkreten, sinnlich wahrnehmbaren Einzelmenschen geschaffen waren, da »trat der Eros hinzu, der sie wie zwei getrennte Hälften eines Wesens vereinigte und zusammenfügte, indem er den beiden das Verlangen nach inniger Gemeinschaft einflößte zur Erzeugung eines ähnlichen Wesens. Dieses Verlangen aber erzeugte auch jene Begierde [gr.: epithymia] des Körpers, die der Anfang ungerechter und ungesetzlicher Handlungen ist, um derentwillen die Menschen das unsterbliche und glückselige Leben gegen das sterbliche und unglückliche vertauschen« (opif. 152). 3) Zugleich mit Sexualität und Sünde ist also auch der Tod ein Kennzeichen der geschlechtlichen Existenz des Menschen: In der platonischen Karikatur ist diese Konsequenz durch die Lächerlichkeit der gnädigen Verlegung der Geschlechtsteile fast verdeckt. Immerhin ist deutlich, dass die primäre Bestimmung dieser Operation darin besteht, einerseits die Hybris des Menschengeschlechts zu bestrafen, andererseits sein Aussterben zu verhindern. Bei Philo ist der Zusammenhang von geschlechtlicher Distinktion und Tod durch die Begierde vermittelt: Sie ist die Folge des Eros und der Anfang des »sterblichen und unglücklichen Lebens«. 4) Umgekehrt bedeutet die Aufhebung der Trennung und die Wiederherstellung der ursprünglichen Einheit Leben und Heil. Das Philippusevangelium bringt diesen Gedanken auf den Punkt: »Als Eva [noch] Adam war, gab es keinen Tod. Als sie sich von ihm trennte, da trat der Tod ins Dasein. Erst wenn sie wiederum in ihn hineingeht und er sie in sich aufnimmt, da wird kein Tod mehr sein.« 15 Heil ist die eschatologische Wiederherstellung der protologischen Gleichheit der Geschlechter. In der platonischen Karikatur leistet der Eros diese Restitution: Er hilft, »die ursprüngliche Natur wiederherzustellen, und versucht, aus zweien eins zu machen und die menschliche Natur zu heilen« (symp. 191d). Im Philippusevangelium heißt es ein Stück weiter: »Hätte die Frau sich nicht vom Mann getrennt, wären sie und der Mann nicht gestorben. Die Trennung von ihm ist zum Ursprung des Todes geworden. Deswegen ist Christus gekommen, um die Trennung, die von Anfang an bestand, zu beseitigen und sie beide wieder zu vereinigen, und um denjenigen, die in der Trennung gestorben sind, Leben zu geben« 16 . 5) Nun ist die Restitution der androgynen Einheit nicht nur einfach eine unanschauliche Chiffre für transzendentes Heil, sondern auch eine Beschreibung von konkreter Erfahrung. Die Frage ist natürlich: Wie sieht das konkret aus, wenn »aus zweien eins« wird? Der platonische Aristophanes weist die- »Sexualität-- Plato und Philo sprechen vom Eros-- gehört demnach nicht zu dem von Gott intendierten Wesen des Menschen, sondern ist Ausdruck seiner konkreten, entfremdeten Existenzweise.« Zeitschrift für Neues Testament typoscript [AK] - 12.10.2012 - Seite 7 - 4. Korrektur ZNT 30 (15. Jg. 2012) 7 Matthias Klinghardt Androgyne Gleichheit-- sexuelle Hierarchie se Funktion dem Eros zu und hat damit die Lacher auf seiner Seite, wenn er die complexio oppositorum als Symplegma von Mann und Frau vorstellt. Damit karikiert Aristophanes offenkundig die gegenläufige Lösung, wie sie auch die frühchristlichen Texte vertreten: Sie verwenden dieselbe, längst technisch gebrauchte Terminologie, 17 sehen die Einheit der Geschlechter aber gerade im asketischen Verzicht auf Sexualität. So heißt es in einem Text aus dem 2. Jh., dass das Reich kommen werde, »wenn die Zwei eins werden […] und das Männliche eins mit dem Weiblichen, weder Männliches noch Weibliches [gr.: oute arsen oute thēly]. […] Mit ›Und das Männliche wie das Weibliche, weder Männliches noch Weibliches‹ meint er folgendes: Ein Bruder soll beim Anblick einer Schwester in keiner Weise an sie als Frau denken, noch soll sie an ihn als Mann denken.« 18 Die asketische Realisierung der Geschlechteridentität ist im frühen Christentum weit verbreitet, 19 auch Paulus hat sie vor Augen, wenn er empfiehlt »Es ist gut, eine Frau nicht zu berühren! « (1Kor 7,1), und sich wünscht, dass alle so wären, wie er-- nämlich ehelos (7,7). 20 Wenn Paulus Christen als »neue Schöpfung« (2Kor 5,17) bezeichnet, denkt er wohl an geschlechtslose Asketen: Im neuen Äon »heiraten sie nicht und werden sie nicht geheiratet, sondern sie sind wie die Engel« (Mk 12,28 par.)-- also geschlechtslos. Das ist die wesentliche Konsequenz, die sich aus der Annahme einer ursprünglichen Androgynie ergibt: Männer und Frauen sind prinzipiell gleich. Wie die frühchristlichen Texte zeigen, konnte die (weit verbreitete) Sexualaskese in einen weiten kulturellen Horizont eingezeichnet werden, der eine Identität der Geschlechter vertrat und als konkrete Umsetzung der »geschöpflichen Bestimmung« des Menschen erscheinen. Das hatte die Folge, dass die üblicherweise durch Sexualität konstituierten Machtverhältnisse nivelliert werden-- oder zumindest so erscheinen. III. Sexualität und Hierarchie: Ursprüngliche Geschlechtlichkeit Tatsächlich war die Sexualaskese der konkrete Punkt, an dem sich die Diskussionen und der heftige theologische Widerstand gegen die Androgynievorstellung entzündeten. Dabei richtete sich die Kritik an den allgemeinen Vorstellungen wie ihren sozialen Konkretionen fast ausschließlich auf Frauen. Diese Einseitigkeit ist verständlich, da sexuelle Askese gerade für Frauen in besonderer Weise attraktiv und höchst folgenreich war. 21 Frauen, die sexuell asketisch lebten, entzogen sich dadurch demjenigen Bereich, der ihre bisherige soziale Rolle am nachhaltigsten geprägt hatte: Sie waren plötzlich nicht mehr Frau und Gattin, Mutter und Erzieherin der Kinder, Vorsteherin des Hauswesens. Es ist daher nicht überraschend, dass die christliche, primär von Frauen geübte Sexualaskese weithin als Gefährdung der sozialen Ordnung und ihrer Grundlagen empfunden wurde. 22 Das lässt sich exemplarisch an Thecla zeigen, von der berichtet wird, dass sie nach ihrer Konversion ihrem Bräutigam die Ehe verweigerte und dann Apostelin wurde. 23 Ihre seit dem 2. Jh. breit rezipierte, typologische Geschichte macht deutlich, dass und warum Sexualaskese für Frauen durchaus erstrebenswert und folgenreich sein konnte: Thecla verließ den angestammten, eng begrenzten Frauenbereich des Hauses und wirkte in der Öffentlichkeit, war ökonomisch von der Gunst und Großzügigkeit eines Ehemannes unabhängig und besaß als Missionarin und Lehrerin Autorität und soziale Anerkennung-- kurz gesagt: Ohne die als Einschränkung wahrgenommene, reproduktive Sexualität drangen Frauen wie Thecla in Männerdomänen ein und übernahmen männliche Rollenmodelle. Dass sie damit durchweg Kritik hervorgerufen haben, liegt auf der Hand. Aufschlussreich ist bereits das früheste Zeugnis dafür im NT: Der 1Tim kritisiert den Zusammenhang von (weiblicher) Sexualaskese und dem Anspruch auf Lehrautorität (»Zu lehren erlaube ich der »Wie die frühchristlichen Texte zeigen, konnte die (weit verbreitete) Sexualaskese in einen weiten kulturellen Horizont eingezeichnet werden, der eine Identität der Geschlechter vertrat und als konkrete Umsetzung der ›geschöpflichen Bestimmung‹ des Menschen erscheinen.« Zeitschrift für Neues Testament typoscript [AK] - 12.10.2012 - Seite 8 - 4. Korrektur 8 ZNT 30 (15. Jg. 2012) Neues Testament aktuell Frau nicht, auch nicht, über den Mann zu herrschen«, 1Tim 2,12), der sich als Konsequenz der androgynen Schöpfungsvorstellung ergibt. Statt dessen setzt er eine alternative Interpretation von Gen 2 f. dagegen, die eben nicht von einer ursprünglichen Androgynie des Menschen ausgeht: Mann und Frau sind von Anfang als geschlechtlich distinkte Wesen geschaffen; die zeitliche und sachliche Vorordnung der Erschaffung des Mannes vor der Frau (Gen 2,22 f.) begründet deren Subordination und den Verzicht auf Lehrautorität (»Denn Adam wurde zuerst geschaffen, dann erst Eva«, 1Tim 2,13). Dementsprechend liegt die christliche Realisierung der geschöpflichen Bestimmung von Frauen auch nicht in sexueller Askese, vielmehr werden sie »durch das Kindergebären gerettet« (1Tim 2,15). Zu dieser Argumentation passt nahtlos die Warnung vor »heillosen Altweiberfabeln« und vor »körperlichen Übungen«, also vor Askese: Der Bezug auf die mythische Androgynietradition ist mit Händen zu greifen. 24 Es ist diese Deutung von Gen 1-3, die sich in der Alten Kirche durchsetzte, diese Auffassung von der »Natur« des Menschen und seiner Sexualität, 25 diese soziale Rollenverteilung, 26 die sich zum Ausgang der christlichen Antike durchgesetzt 27 und ihren reflektiertesten Ausdruck in der Theologie Augustins gefunden hat. IV. Hierarchisch strukturierte Einheit So stehen bereits im NT zwei unterschiedliche Auffassungen über die geschöpfliche Bestimmung des Menschen bzw. der Geschlechter unmittelbar nebeneinander, die zwar auf dieselben Grundtexte rekurrieren (Gen 1-3), aber auf verschiedene Weise auf die conditio humana reagieren und zu unterschiedlichen sozialen Konkretisierungen führen (Sexualaskese; Kindergebären). Trotz dieses Widerspruchs sind beide Modelle Teil desselben kulturellen Umfelds und auch konzeptuell eng aufeinander bezogen. Dies lässt sich wiederum sehr leicht anhand der medizinischen Literatur zeigen. Denn trotz der Einsicht in den Ein-Geschlechtskörper und die reproduktionsphysiologische Parität der Geschlechter blieben Naturphilosophen und Ärzte den kulturellen und sozialen Rahmenbedingungen ihrer Zeit unterworfen, und diese erforderten ganz eindeutig, die dominante soziale Stellung des Mannes (bzw. die inferiore der Frau) auch in Anatomie und Physiologie sichtbar zu machen. Diesem Nachweis dienen ganz verschiedene Begründungen. Am anschaulichsten ist das anatomische Argument: Die Lage der weiblichen Sexualorgane der Frau im Inneren des Körpers ist Ausweis ihrer geringeren Vollkommenheit, weil sie sich noch nicht nach außen entwickelt haben und darin den berühmten »Augen des Maulwurfs« gleichen: Der Maulwurf hat Augen, ist also vollkommener als etwa die niederen Arten der Schalentiere, die keine Augen haben; aber da seine Lider zusammengewachsen und die Augen blind sind, ist er weniger vollkommen als die höheren Tiere. 28 Dementsprechend sind die innen liegenden Sexualorgane der Frau ein Zeichen ihrer mangelnden Vollkommenheit: Die Vagina ist ein ungeborener Penis, die Gebärmutter ein unterentwickeltes Scrotum, die Eierstöcke sind Hoden, die auf dem Weg zur Entfaltung nach außen verkümmert sind usw. Galen hat dieses anatomische Argument humoralpathologisch untersetzt: »Das Weibliche ist unvollkommener als das Männliche aus dem vorrangigen Grund, dass es kälter ist. Denn wenn ja unter den Lebewesen das wärmere das aktivere ist, dann ist das kältere Lebewesen unvollkommener [psychroteron-- atelesteron] als das wärmere.« 29 Die größere Wärme des männlichen Körpers ist natürlich nicht experimentell (etwa durch Messung) nachgewiesen: Sie ergibt sich aus der Übertragung des kosmologischen Modells der Vier- Elemente-Lehre auf die Geschlechtsbiologie und beruht auf der Einzeichnung der Geschlechtskörper in die Elementarkoordinaten (warm-kalt; trocken-feucht), deren Richtigkeit nicht begründet wird, sondern vorausgesetzt ist. Am kompliziertesten gestaltete sich der Nachweis der größeren Vollkommenheit des Mannes im Zusammenhang der physiologischen Vorstellungen zur Fortpflanzung, wie vor allem die Samentheorien zeigen-- insbesondere mit Blick auf die Ansicht, dass Männer und Frauen einen bisexuellen Samen produzieren: Hier musste die Theoriebildung endgültig den Bereich des biologisch Plausibilisierbaren verlassen. Ein Beispiel dafür ist Aristoteles’ Unterscheidung der Anteile beim Zeugungsvorgang in eine Wirkursache (lat.: causa efficiens) und eine Stoffursache (lat.: causa materialis): Das Männliche ist Ursprung der Bewegung, das Weibliche Ursprung des Stoffes. 30 »Weil nun die erste Quelle der Bewegung in »Denn trotz der Einsicht in den Ein-Geschlechtskörper und die reproduktionsphysiologische Parität der Geschlechter blieben Naturphilosophen und Ärzte den kulturellen und sozialen Rahmenbedingungen ihrer Zeit unterworfen, und diese erforderten ganz eindeutig, die dominante soziale Stellung des Mannes (bzw. die inferiore der Frau) auch in Anatomie und Physiologie sichtbar zu machen.« Zeitschrift für Neues Testament typoscript [AK] - 12.10.2012 - Seite 9 - 4. Korrektur ZNT 30 (15. Jg. 2012) 9 Matthias Klinghardt Androgyne Gleichheit-- sexuelle Hierarchie ihrem Wesen immer höher steht und weil sie, die den Begriff und die Gestalt des Stoffes in sich enthält, göttlicher ist, und weil es sich außerdem empfiehlt, das Höhere von dem Niedrigeren zu trennen, deswegen ist überall, wo und wie es möglich ist, vom Weiblichen das Männliche getrennt. Denn ranghöher und göttlicher ist der Bewegungsursprung, der als das Männliche in allem Werdenden liegt, während der Stoff das Weibliche ist.« 31 Aus diesem Grund liefert die Frau bei der Fortpflanzung nur die stofflich gedachte »Nährseele«, wogegen der Mann dem Kind die Empfindungsseele (gr.: psychē aisthousa) vermittelt, wie sich bei Vögeln dann doch immerhin sehen lässt: Windeier (wir würden sagen: unbefruchtete Eier) sind Eier, die die Weibchen ohne Zutun der Männchen hervorbringen; sie haben zwar für eine kurze Zeit eine Art Leben (wie daran kenntlich ist, dass sie mit der Zeit verfaulen), bringen aber keine lebensfähigen Vögel hervor, weil sie rein stofflich sind und ihnen die lebensnotwendige Empfindungsseele fehlt. 32 All diese Überlegungen sind geprägt von dem Bestreben, die biologische Priorität des Männlichen vor dem Weiblichen zu erweisen. Dies konstituiert jedoch keinen Gegensatz zur Theorie der grundsätzlichen Gleichheit der Geschlechter, der sexuellen Körper und der Reproduktionsphysiologie. Im Gegenteil: Für Galen ist die anatomische Gleichheit der Geschlechtskörper der logische Ausgangspunkt und die Bedingung seiner Beweisführung für den Primat des Männlichen. Das Modell, das all diesen Überlegungen zugrunde liegt, ist die in sich hierarchisch strukturierte Einheit der Geschlechter. Dabei bedingen sich beide Aspekte gegenseitig: Die grundlegende Einheit der Geschlechter erfordert eine Unterscheidung, die nur quantitativ, nicht aber qualitativ konstituiert ist, wie umgekehrt die Geschlechterdifferenzen nur in einem einheitlich konzipierten Modell aufeinander bezogen werden können. Dieses Grundkonzept der hierarchisch gegliederten Einheit der Geschlechter erklärt dann beispielsweise, inwiefern Paulus auf der einen Seite die schöpfungstheologisch fundierte und eschatologisch restituierte Einheit von »männlich und weiblich« in Christus feststellen kann (Gal 3,27 f.), auf der anderen Seite aber ganz selbstverständlich davon ausgeht, dass der »Mann das Haupt der Frau« sei (1Kor 11,4) und »die Frau wegen des Mannes geschaffen« wurde (11,9)-- nur um unmittelbar im Anschluss daran wieder die prinzipielle Gleichheit von Mann und Frau »im Herrn« anzusprechen (11,11 f.). Diese scheinbaren Widersprüche von Einheit und Differenz der Geschlechter sind vollständig systemkonform. Die Geschlechtergrenzen sind nicht fix, sondern - zumindest: in gewissen Grenzen - fließend, weil das Modell der hierarchisch strukturierten Einheit der Geschlechtskörper quantitative Abstufungen und Übergänge erlaubt: Männer können »verweiblicht«, Frauen können »männlich« werden. Wenn, wie schon für Aristoteles angedeutet wurde, das Weibliche für das Stoffliche steht, ist klar, dass etwa geistiger Fortschritt »nichts anderes ist als das Verlassen des Weiblichen durch das Männlichwerden, da ja das Weibliche verbunden ist mit Materie, Passivität, Körperlichkeit, Sinnenhaftigkeit, während das Männliche das Aktive, Rationale, Unkörperliche darstellt und dem Geistigen ähnlicher ist.« 33 Dieses »Männlichwerden« geschieht bei einer Frau, wenn die »unedlen und unmännlichen Begierden, durch die sie verweiblicht wurde [gr.: ethēlyneto], wieder aus ihr beseitigt« werden. 34 Diese Annäherung der Geschlechterdifferenz soll natürlich nicht dadurch geschehen, dass »die männlichen Gedanken verweiblicht werden«, sondern dass »die Sinne, das weibliche Element, männlich gemacht werden, indem sie den männlichen Gedanken folgen, so dass sie Weisheit, Klugheit, Gerechtigkeit, Mut, mit einem Wort: Tugend empfangen.« 35 »Tugend« bezeichnet nicht allgemein moralisches Verhalten, sondern ist, ganz wörtlich, Männlichkeit oder Mannhaftigkeit: aretē/ virtus. Die Veränderbarkeit der Geschlechterdifferenz impliziert daher eine Dynamik. So kann Jesus über Maria sagen: »Ich werde sie ziehen, auf dass ich sie männlich mache, damit auch sie zu einem lebendigen Geist wird, der euch Männern gleicht. Jede Frau, die sich männlich macht, wird eingehen in das Königreich der Himmel« (EvThom 114). In der Antike ist »Vermännlichung« in erster Linie (wenn auch nicht ausschließlich) 36 auf sexuelle Triebkontrolle bezogen. Die Eindämmung der »weiblichen Begierden« war verständlicherweise ein Politikum ersten Ranges, und dementsprechend spiegeln sich die politischen und sozialen Veränderungen zwischen dem 4. Jh. v. Chr. und der frühen Kaiserzeit in den sexualdiätetischen Empfehlungen der Ärzte der jeweiligen Zeit: Aufs Ganze gesehen laufen sie in dieser »Diese scheinbaren Widersprüche von Einheit und Differenz der Geschlechter sind vollständig systemkonform. Die Geschlechtergrenzen sind nicht fix, sondern-- zumindest: in gewissen Grenzen-- fließend, weil das Modell der hierarchisch strukturierten Einheit der Geschlechtskörper quantitative Abstufungen und Übergänge erlaubt: Männer können ›verweiblicht‹, Frauen können »männlich« werden.« Zeitschrift für Neues Testament typoscript [AK] - 12.10.2012 - Seite 10 - 4. Korrektur 10 ZNT 30 (15. Jg. 2012) Neues Testament aktuell Periode auf den Rat zur Enthaltsamkeit zu-- zur Askese. 37 Die grundsätzliche Durchlässigkeit der Grenze zwischen den Geschlechtern und die Veränderbarkeit der Kategorien »männlich« und »weiblich« macht dann auch nachvollziehbar, dass als erstrebenswertes Ideal der »vollkommene Mann« genannt werden kann (Eph 4,13)-- und zwar für Frauen wie für Männer: Beide können »männlich und vollkommen werden« 38 . Insgesamt zeigen diese Bemerkungen sehr deutlich, dass und warum die Geschlechterkategorien »männlich« und »weiblich« nicht in erster Linie körperlich definiert (und darin statisch) sind, sondern Haltungen bezeichnen, die durch Einsicht und Willen gesteuert und verändert werden können. In dieser Veränderbarkeit der Geschlechterdifferenz liegt der entscheidende Unterschied zu dem modernen Modell, das sich seit dem 19. Jh. durchgesetzt hat: Der Annahme einer antagonistischen Opposition der Geschlechter, die sich diametral gegenüberstehen, aber gerade darin ihre soziale, kulturelle und biologische Gleichrangigkeit erweisen. Aus dieser Perspektive müssen die antike (nicht nur die christliche) Geschlechterkonstruktion im Modell der hierarchischen Einheit als ärgerlich und ihre sozialen Implikationen als anstößig erscheinen: Auch die elitär-radikale Lösung der Sexualaskese gewährleistet keine vollkommene soziale Gleichheit, sondern bildet im Ideal des »vollkommenen Mannes« noch die Strukturen der Ungleichheit ab. Immerhin lässt der Vergleich erkennen, wie eng das moderne Oppositionsmodell konzipiert ist. Um die Gleichheit der Geschlechter gewährleisten zu können, müssen sie in statischer, antagonistischer Eindeutigkeit erfasst werden-- mit der Folge, dass dabei alle Phänomene, die sich diesem Modell nicht ohne weiteres fügen (z. B. Intersexualität), aus der kulturellen Wahrnehmung zu verschwinden und irrelevant zu werden drohen. Wichtiger ist wohl, dass diese Eindeutigkeit ausschließlich biologisch konstituiert ist. Die Konzentration auf das Geschlecht des Körpers suggeriert eine Objektivität, die sie nicht besitzt: Auch diese aufgeklärte Konstruktion bleibt in die Zusammenhänge der sozialen und kulturellen Kommunikation eingebettet. Anmerkungen 1 I. Stahlmann, Jenseits der Weiblichkeit. Geschlechtergeschichtliche Aspekte des frühchristlichen Askeseideals, in: C. Eifert u. a. (Hgg.), Was sind Frauen? Was sind Männer? Geschlechterkonstruktion im historischen Wandel, Frankfurt/ M. 1996, 51-75. 2 GenR 8,1, nach H. Freedmann/ M. Simon (Hgg.), Midrash Rabba. Translated into English I, London 3 1961. Hier steht das griechische Lehnwort androginos. 3 Zum religionsgeschichtlichen Hintergrund vgl. E. L. Dietrich, Der Urmensch als Androgyn, ZKG 58 (1939), 297-345; W.A. Meeks, The Image of the Androgyne: Some Uses of a Symbol in Earliest Christianity, History of Religion 13 (1974), 165-208. 4 Plato, symp. (189d-)191d. 5 Z. B. bMeg 9a und ARN (Rez. B) 37; vgl. dazu die Listen mit Übersetzungsvarianten bei A. J. Saldarini, The Fathers According to Rabbi Nathan (Abot de Rabbi Nathan), Version B (SJLA 11), Leiden 1975, 21. 6 Philo, de opificio mundi 76-152. 7 Philo, opif. 134. Die Wendung »männlich und weiblich« (gr.: arsen kai thēly) greift erkennbar Gen 1,27 auf. 8 Vgl. Th. Laqueur, Auf den Leib geschrieben. Die Inszenierung der Geschlechter von der Antike bis Freud, Frankfurt/ a. M.-- New York 1992. 9 Galen, de usu partium XIV 6 (II 296 Helmreich). 10 So werden Hoden und Ovarien mit denselben Begriffen (orcheis = Hoden bzw. didymoi = Zwillinge) bezeichnet. Galen beschreibt z. B. die Eileiter der Frau als Samenleiter (gr.: angeia spermatika), die »von den Hoden (orcheis) ausgehen« und »in der gleichen Weise wie beim Mann Samen beinhalten« (de uteri dissect. 9,4; 48,17 ff. CMG V 2,1). 11 Vgl. z. B. W. Brunschön, Gleichheit der Geschlechter? Aspekte der Zweisamentheorie im Corpus Hippocraticum und ihrer Rezeption, in: Chr. Brockmann u. a. (Hgg.), Antike Medizin im Schnittpunkt von Geistes- und Naturwissenschaften (BzA 255), Berlin-- New York 2009, 173-190. 12 Z. B. Hippokrates, de genitura 6 (154 ff. Giorgianni): »Es gibt im Mann sowohl weiblichen Samen als auch männlichen [to thēly sperma kai to arsen]. Bei der Frau verhält es sich genauso. Das Männliche ist aber stärker als das Weibliche. Es besteht nun die Notwendigkeit, dass der stärkere Samen die Grundlage der Erzeugung ist. Das aber verhält sich folgendermaßen: Wenn von beiden der stärkere Samen kommt, wird es ein Mann; wenn aber der schwache Samen, eine Frau. Was von beiden sich aufgrund seiner Menge durchsetzt, das entsteht auch.« Die These vom bisexuellen Samen von Männern und Frauen auch in Hipp., de diaeta I 26-29 (142-146 CMG I 2,4). 13 Aus der uferlosen und kontroversen Literatur zu Gal 3,27 f. ist wichtig: G. Dautzenberg, »Da ist nicht männlich und weiblich«. Zur Interpretation von Gal 3,28, Kairos 24 (1982), 181-206; H. Paulsen, Einheit und Freiheit der Söhne Gottes-- Gal 3,26-28, ZNW 71 (1980), 74-95; W. Radl, »Männlich und weiblich, das gibt es nicht mehr« (Gal 3,28), in: K. Kienzler/ E. Reil (Hgg.), Als Mann und Frau schuf er sie. Theologische Grundlagen und Konsequenzen, Donauwörth 1995, 127-146; G. Röhser, Mann und Frau in Christus. Eine Verhältnisbestimmung von Gal 3,28 und 1Kor 11,2-16, SNTU 22 (1997), 57-78; H. Thyen, »…nicht mehr männlich und weiblich …«. Eine Studie zu Gal 3,28, in: F. Crüsemann/ H. Thyen, Als Mann und Frau geschaffen, Gelnhausen/ Berlin 1978, 107-201. 14 Die Einheit von »männlich und weiblich« ist also nicht eine programmatische Forderung (vgl. N. Baumert, Frau und Mann bei Paulus: Überwindung eines Mißverständnisses, Würzburg 1992, 264: »Magna Charta der Gleich- Zeitschrift für Neues Testament typoscript [AK] - 12.10.2012 - Seite 11 - 4. Korrektur ZNT 30 (15. Jg. 2012) 11 Matthias Klinghardt Androgyne Gleichheit-- sexuelle Hierarchie berechtigung«), die erst noch einzuholen wäre, sondern eine Zustandsbeschreibung-- anders wäre die rhetorische Funktion der Aussage auch unterlaufen. 15 EvPhil 71 (68,22-26 NHC II/ 3). 16 EvPhil 78 (70,9-17 NHC II/ 3). 17 Vgl. dazu M. Bouttier, Complexio Oppositorum: Sur les Formules de I Cor. xii. 13; Gal. iii. 26-8, Col. iii. 10,11, NTS 23 (1976/ 77), 1-19; P. Brown, »When You Make the Two One«: Valentinus and Gnostic Spiritual Guidance, in: ders., The Body and Society. Men, Women, and Sexual Renunciation in Early Christianity, New York 1988, 101-121. 18 2Clem 12,2-6. 19 Als Beispiele, die ganz ähnliche Formulierungen verwenden, seien genannt: Ägypterevangelium bei Clemens Alex., strom. III 13,92 f. (O. Stählin/ L. Früchtel (Hgg.), GCS 52, Berlin 3 1960); TractTripart (136,16 ff. NHC I/ 5); EvThom 22 (»Wo ihr das Männliche und das Weibliche zu einem Einzigen macht, damit das Männliche nicht männlich ist noch das Weibliche weiblich […] da werdet ihr eingehen ins Reich! «); ActPhil 140 (74 f. ed. R. A. Lipsius/ M. Bonnet, Acta Apostolorum Apocryphal II/ 2, Leipzig 1903,) usw. Gegen P. Brown (a. a. O., Anm. 17) u. a. ist ganz eindeutig, dass die so begründete Sexualaskese nicht gnostisch, sondern gemeinchristlich ist. 20 Vgl. J. C. Poirier/ J. Frankovic, Celibacy and Charism in 1Cor 7: 5-7, HTR 89 (1996), 1-18, und die Kommentare. 21 Vgl. zum Problem V. Burrus, Chastity as Autonomy. Women in the Stories of the Apocryphal Acts (SWR 23), Lewiston 1987; E. Castelli, Virginity and its Meaning for Women’s Sexuality in Early Christianity, JFSR 2 (1986), 61-88; E.A. Clark, Ascetic Renunciation and Feminine Advancement: A Paradox of Late Ancient Christianity, in: dies., Ascetic Piety and Women’s Faith. Essays on Late Ancient Christianity, Lewiston/ Queenston 1986, 175- 208; R. Kraemer, The Conversion of Women to Ascetic Forms of Christianity, Signs 6 (1980/ 81), 298-307; R. Ruether, Mothers of the Church: Ascetic Women in the Late Patristic Age, in: dies., Women of Spirit. Female Leaders in the Jewish and Christian Tradition, New York 1979, 71-98. 22 Zur Auseinandersetzung um 1Tim 2 vgl. D. MacDonald, The Legend and the Apostle. The Battle for Paul in Story and Canon, Philadelphia 1983, 54-77; S.L. Davies, The Revolt of the Widows, Carbondale 1980. 23 Der griech. Text der Paulus-Thecla-Akten in: Lipsius/ Bonnet I, 235-269; die auf P. Heid. 1 (kopt.) basierende Übersetzung in: Henneke/ Schneemelcher, Neutestamentliche Apokryphen II, Tübingen 4 1971, 243-251. 24 1Tim 4,7 f. Interessanterweise verteidigt Philo seine »androgyne« Interpretation von Gen 1 f., indem er eine entsprechende Diskriminierung ausdrücklich zurückweist: »Dies sind aber keineswegs erfundene Mythen […] sondern typische Beispiele, die zu allegorischer Deutung nach ihrem verborgenen Sinn auffordern! « (opif. 156). 25 Sexualität ist nicht nur erlaubt, sondern gefordert, aber nur zur Fortpflanzung. Besonders eindrücklich ist diesbezüglich Clemens von Alexandrien: »Auch wer zum Zweck der Kindererzeugung geheiratet hat, muß Enthaltsamkeit üben, damit er nicht einmal sein eigenes Weib begehre, das er lieben sollte, indem er mit keuschen und sittsamem Willen Kinder zeugt« (strom. III 58). Ehelicher Verkehr ohne die Absicht der Kinderzeugung »heißt gegen die Natur freveln« (paed. II 95). »Man darf aber auch nachts nicht zuchtlos sein, weil es da dunkel ist; vielmehr muß man das Schamgefühl in die Seele gleichsam als das Licht des Verstandes hereinnehmen […] Denn selbst der durch das Gesetz erlaubte Geschlechtsverkehr bringt leicht zu Fall, soweit er nicht der Erzeugung von Kindern dient« (paed. II 97 f.) usw. 26 Dominant ist dabei die (Bestreitung der) Lehrautorität von Frauen, die in Texten aus asketischer Tradition anhand der besonderen Offenbarung des Auferstandenen an Frauen diskutiert wird: Neben Salome (z. B. Clemens Alex., strom. III 45.63) ist vor allem Maria (Magdalena) als Tradentin geheimer Unterweisung bekannt, vgl. EvThom 114; EvPhil 55b (63,33-64,5 NHC II/ 3); Epiphanius, Panar. XXVI 8,1 f. (exklusive Offenbarung an Maria); EvMariae 10,1 ff.; 17,7 ff. (BG 8502 ed. Till); Pistis Sophia 36; 96; 146 (BG 8502 ed. Till) usw. 27 Vgl. E. Dassmann, »Als Mann und Frau erschuf er sie«. Gen. 1,27c im Verständnis der Kirchenväter, in: M. Wacht (Hg.), Panchaia (FS K. Thraede), JAC.E 22, Münster 1995, 45-60; E.A. Clark, Heresy, Asceticism, Adam, and Eve: Interpretations of Genesis 1-3 in the Latin Fathers, in: dies., Ascetic Piety (o. Anm. 21), 175-208; E. Pagels, Adam, Eva und die Schlange, Hamburg 1991, 207 ff. 28 Galen, de usu partium XIV 6 (II 297,26-298,7 Helmreich). Vgl. Aristoteles, hist. anim. I 9 (491 b 26 ff.); IV 8 (533 a 1ff ). 29 Galen, de usu partium XIV 6 (II 296,8 ff. Helmreich). 30 Arist., generat. anim. I 2 (716 a 1 ff.). 31 Arist., generat. anim. II 1 (732 a 3 ff ). 32 Arist., generat. anim. II 5 (741 a 3 ff.). 33 Philo, quaest. in Ex 12,5. 34 Philo, cher. 50. 35 Philo, quaest. in Gen 2,49. 36 Wenn Perpetua in der Vision von ihrem bevorstehenden Martyrium sagen kann: »Ich wurde zum Mann« (Passio SS. Perpetuae et Felicitatis 10,7: facta sum masculus), dann ist darin ihre Bereitschaft zum Martyrium angezeigt: Sie hat sich, wie man noch vor nicht sehr langer Zeit gesagt hätte, »ermannt«. 37 Vgl. etwa Soranus von Ephesus, gynaec. I 32,1 (22,23ff CMG V): »Wir meinen nun, dass eine andauernde Jungfernschaft gesund ist [gr.: tēn diēnekē parthenian hygieinēn einai], zumal der Geschlechtsverkehr an sich schon schädlich ist […] (32,4). Daher ist eine andauernde [geschlechtliche] Unberührtheit gesund [hygieinē hē diēnekēs parthenia], und zwar sowohl für das Männliche als auch für das Weibliche.« Mit seiner generellen Empfehlung der Enthaltsamkeit avancierte Soranus zur wichtigsten medizinischen Autorität der Alten Kirche: Augustin nennt ihn den »edelsten medizinischen Schriftsteller [lat.: medicinae auctor nobilissimus]« (c. Iulian 5,14,51). 38 Clemens Alex., strom. VI 100,3.