eJournals ZNT – Zeitschrift für Neues Testament 16/31

ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
2013
1631 Dronsch Strecker Vogel

Ist eine politische Auslegung des Neuen Testaments legitim?

2013
Jan Dochhorn
Zeitschrift für Neues Testament_31 typoscript [AK] - 21.03.2013 - Seite 47 - 2. Korrektur ZNT 31 (16. Jg. 2013) 47 1. Einleitung Die Frage, was von einer politischen Exegese des Neuen Testaments zu halten sei, kann ich zunächst einmal nur mit einer Gegenfrage beantworten, und die lautet: Was ist gemeint? Ich kann mir zwei unterschiedliche Antworten vorstellen: 1) Politische Exegese ist der Versuch, historische Quellen, im gegebenen Falle Quellen zur Frühgeschichte des Christentums, mit Hinblick auf die politischen Verhältnisse ihrer Zeit auszuwerten, sei es, dass die Texte eine Stellungnahme enthalten, sei es, dass sich politische Verhältnisse in ihnen widerspiegeln, ohne wirklich Thema zu werden. So verstanden ist politische Exegese schlicht eine der vielen Fragerichtungen historisch-kritischer Arbeit. Der Gegenwartsbezug besteht dabei unter anderem in der Suche nach brauchbaren Analogien im politischen Gegenwartsleben (nicht zuletzt in außereuropäischen Kontexten). Genauso aber sind auch Projektionen zu neutralisieren, die sich aus der Parteinahme der Exegeten in aktuellen Auseinandersetzungen ergeben. Politische Gegenwart hat damit ihren Ort auch im Rahmen exegetischer Selbstkritik. 2) Politische Exegese ist bestrebt, anhand kanonischer Texte Aussagen politischen Inhalts zu gewinnen, die für gegenwärtige Fragen der Gesellschaftsgestaltung relevant sind. Auch ein solches Unterfangen ist wissenschaftlich möglich, gehört jedoch meines Erachtens nicht zur Exegese, sondern zur Hermeneutik. Akteure einer solchen Hermeneutik können gewiss außertheologisch arbeitende und nichtchristliche Forscher sein, denn prinzipiell können biblische Texte genauso wie auch Texte anderer Kulturen für das Verstehen und Bewältigen von Welt erschlossen werden, ohne dass Text und Ausleger einen gemeinsamen weltanschaulichen oder institutionellen Referenzrahmen haben müssten. Ausgangspunkt soll hier aber die vielfach gelebte Konstellation sein, der zufolge der biblische Text kanonischen Rang hat und im Rahmen eines christlichen Diskurses zur Geltung kommt. In diesem Falle sind meines Erachtens zwei Aufgaben für eine politische Hermeneutik biblischer Texte zu unterscheiden, zum ersten eine dogmatische und zum zweiten eine existentialtheologische. Dogmatisch ist zu fragen, was die Kirche aufgrund des ihr aufgetragenen Evangeliums verbindlich über politische Fragestellungen zu sagen hat (bis hin zur Definition häretischer Aussagen, die auch dienstrechtlich von Bedeutung wäre). Existentialtheologisch ist zu fragen, was biblischen Texten auch unterhalb dieses Niveaus und ohne die gleiche Verbindlichkeit an theologischer Lebensorientierung in politischen Fragen zu entnehmen ist, auch diesmal freilich unter Berücksichtigung des Kerngehalts der kirchlichen Botschaft. Zum Potential einer politischen Hermeneutik mit dogmatischer Fragestellung ist zu konstatieren, dass die dogmatischen Überlieferungen der Kirchen, allen voran die drei altkirchlichen Symbole als die primären Bekenntnisschriften 1 , in der Hauptsache die trinitarische Gotteslehre als eine Geschichte von der Erlösung des Gottesvolkes explizieren und abgesehen davon nur wenig Verpflichtendes über die unerlöste Welt aussagen, dem der Bereich des Politischen wohl angehört. Vermutlich wird eine dogmatische Hermeneutik also wenig einbringen, was die Gewissen der Gläubigen, auch das der Amtsträger und Amtsträgerinnen, in Fragen der Politik binden kann. Daher wird von dieser Fragerichtung hier Abstand genommen. Eher schon wird man anhand biblischer Texte zu Aussagen dogmatisch unverbindlicher Art kommen, die der oben erwähnten existentialtheologischen Aufgabe zuzuordnen sind. Diese wird man gewinnen können, indem man fragt, welche Anregungen politischen Gehalts biblischen Texten anhand politischer Herausforderungen der Gegenwart zu entnehmen sind. Diese Anregungen können sowohl auf eine Analyse von politischer Wirklichkeit hinauslaufen als auch Handlungsoptionen eröffnen. Im letztgenannten Fall werden sie eine christliche Individual- oder Sozialethik betreffen, im erstgenannten wäre ein Beitrag zur Analyse von Politik und Gesellschaft geleistet. Über Politik darf also geredet werden, auch in der Bibelwissenschaft, und zwar sowohl exegetisch wie hermeneutisch. Für eine inszenierte Kontroverse, bei der die Kontroverse Jan Dochhorn Ist eine politische Auslegung des Neuen Testaments legitim? Zeitschrift für Neues Testament_31 typoscript [AK] - 21.03.2013 - Seite 48 - 2. Korrektur 48 ZNT 31 (16. Jg. 2013) Kontroverse Pro-Position schon vergeben ist, erscheint eine solche Stellungnahme wenig hilfreich, aber ich hoffe, dennoch für Dissens sorgen zu können. Dies mag durch die materialen Aussagen erreicht werden, die ich im Folgenden zur politischen Exegese (§ 2) und dann zur politischen Hermeneutik (§ 3) skizzieren werde. Unter § 2 werde ich mich exemplarisch mit der Forschung zum historischen Jesus befassen, und unter § 3 werde ich mit Röm 13,1-7 einen prominenten Text des Neuen Testaments auf die Frage hin untersuchen, welche Anregungen ihm im Sinne einer politischen Hermeneutik existentialtheologischen Charakters zu entnehmen sind. 2. Politische Exegese Das Christentum nimmt seinen Anfang mit dem Wirken Jesu von Nazareth, und damit sind wir schon bei der Politik: Jemand, der vom römischen Präfekten Pontius Pilatus nicht ohne Mitwirken jüdischer Eliten ans Kreuz gebracht wurde-- soviel wird man den Quellen entnehmen dürfen--, ist sicher auch in Kategorien des Politischen zu beschreiben, und dies gilt erst recht dann, wenn der Tempel zu Jerusalem betroffen war, oder wenn Jesus von Nazareth tatsächlich, wie im Rahmen der Third Quest wieder verstärkt angenommen wird, ein messianisches Selbstverständnis hatte. 2 Wie der Rebell Athronges, der nach dem Tod des Herodes die Königswürde beanspruchte (vgl. Josephus, Ant 17,278-284), müsste auch ein sich messianisch gebender Jesus zumindest partiell als ein religiös-politischer Akteur gesehen werden. Doch es reicht schon, wenn das Reich Gottes ein elementarer Bestandteil seiner Botschaft war, wie man ja seit längerem annimmt: In der Assumptio Mosis etwa ist der Beginn der Gottesherrschaft das Ende des Römerreiches (vgl. Ass Mos 10,1), und so haben wir einigen Anlass zu der Annahme, dass eine Rede Jesu vom Königreich Gottes, wie auch immer sie näher zu spezifizieren ist, nicht ohne politische Konnotationen blieb-- problematische Konnotationen, wenn man die Sache mit den Augen eines römischen Politikers oder eines Angehörigen der jüdischen Aristokratie ansieht. Damit sind wir an einem für die Voraussetzungen von Exegese entscheidenden Punkt: Jesus evoziert Reminiszenzen an sozial- und nationalrevolutionäres Vorstellungsgut unserer Tage. Nun gibt es Exegeten, denen derlei Reminiszenzen behagen. Damit steht die Gefahr von Projektionen im Raum, die hier im Sinne der oben genannten exegetischen Selbstkritik zu stören sind-- anhand der Quellen. Es gibt auch andere Projektionen, aber hier soll es um die genannten gehen: --Was das Verhältnis zu Rom betrifft, so lässt Jesus der synoptischen Überlieferung zufolge zelotische Eindeutigkeit vermissen. Die Perikope zur Zinsgroschenfrage ist hierfür geradezu ein Paradebeispiel und wird von den Synoptikern auch entsprechend inszeniert (vgl. Mk 12,13-17 par). 3 Zu beachten ist auch, dass Jesus laut Lk 13,1-5 eine Gewalttat des Pilatus genauso wie einen einstürzenden Turm als Mittel des Strafhandelns Gottes ansehen konnte. War eine Theologie, die obrigkeitliche Gewalt derart in ein religiöses Weltbild einordnet, darauf angelegt, aktiven oder passiven Widerstand zu legitimieren? Und wenn beide Texte mit dem historischen Jesus nicht viel zu tun gehabt haben sollten, weil er in Wirklichkeit viel mehr den jüdischen Rebellen seiner Zeit geglichen hätte, wie kommt es dann, dass eine von Jesus ausgehende Bewegung sie ihm hätte zuschreiben können? --Seit der Arbeiterfrage des 19. Jahrhunderts sehen wir Fragen der Verteilung volkswirtschaftlicher Ressourcen oder näherhin »die soziale Frage« als Teil des Politischen. Sozialkritik wird dementsprechend als eine Form politischen Verhaltens verstanden. Setzen wir diese Kategorisierungen einmal voraus und suchen wir in unseren Texten nach Aussagen, die moderner Sozialkritik ähneln, so stoßen wir beispielsweise auf Jak 5,4, wo reiche Grundbesitzer als Ausbeuter ihrer Erntearbeiter angesprochen werden. Hier zeigt sich: Das frühe Chris- Prof. Dr. Jan Dochhorn, dr. theol., geboren 1968 in Hannover, arbeitet seit 2007 als Lektor / Associate Professor für Neues Testament an der Universität Aarhus (Dänemark). Zuvor war er u. a. Mitarbeiter am Septuaginta-Unternehmen der Göttinger Akademie der Wissenschaften (2005-2007). Er hat über die Apokalypse des Mose promoviert und eine Disputats über die Johannesoffenbarung abgelegt. Seine nächsten Buchprojekte betreffen das koptische Testament Jakobs sowie den Teufel in der Religion Israels und im frühen Christentum. Jan Dochhorn Zeitschrift für Neues Testament_31 typoscript [AK] - 21.03.2013 - Seite 49 - 2. Korrektur ZNT 31 (16. Jg. 2013) 49 Jan Dochhorn Ist eine politische Auslegung des Neuen Testaments legitim? tentum hat »sozialkritisches« Potential. Aber man wird es wohl nicht überschätzen dürfen. Vieles nämlich von dem, was ausgerechnet in der synoptischen Jesusüberlieferung über die Reichen verlautet, trägt nicht ohne weiteres sozialkritische Züge. So besteht beispielsweise die Begründung für Jesu Weheruf gegen die Reichen gerade nicht darin, dass diese die Armen ausgebeutet hätten; Ausgangspunkt ist eher die Vorstellung, dass gegenwärtiges Glück durch künftiges Unglück ausgeglichen werde und umgekehrt (vgl. Lk 6,24). Auch im Gleichnis vom reichen Mann und dem armen Lazarus ist nicht mehr als dies zu erkennen (vgl. Lk 16,25). Und beim Gleichnis vom reichen Kornbauern geht es eben auch nicht darum, dass des Bauern volle Scheuern unrechtmäßig so voll geworden sein könnten oder dass Reichtum an sich auf Unrecht beruhen würde, sondern um die angesichts des Todes absurde Idee, dass Reichtum auch schon Sicherheit bedeute (vgl. Lk 12,20). --Noch weniger sozialkritisch erscheinen Gleichnisse Jesu, in denen für Gott ein reicher Großgrundbesitzer figuriert, der uneingeschränkt über seine Untergebenen verfügt. Dies gilt für das Gleichnis von den anvertrauten Pfunden (vgl. Lk 19,11-27 par) und noch mehr für das Gleichnis vom unnützen Knecht (Lk 17,7-10), das sich als Rede an Sklavenhalter gibt und deren gebieterischen Umgang mit ihren Knechten mit der Autorität der an »uns« ergangenen Gebote vergleicht. Auch das Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg lässt eine solche Struktur erkennen: Die Begründung für die offenkundig ungerechte Entlohnungspraxis liegt hier eben nicht, wie in Sonntagspredigten immer wieder zu hören, darin, dass Gott über Leistung »ganz anders« denke (also wie ein evangelischer Pfarrer? ), sondern in seiner absoluten Vollmacht: »Habe ich nicht das Recht, in meinem Bereich zu tun was ich will? « (Mt 20,15). So ist es mit Gott, und mit einem Weinbergbesitzer ist es auch so, ohne dass die Verhältnisse auf der Bildebene auch nur andeutungsweise der Kritik unterzogen würden. --Man wird für die Rekonstruktion der Politik Jesu berücksichtigen müssen, dass schon kurze Zeit nach Jesu Tod ein wesentlicher Akteur des frühen Christentums, nämlich Paulus, eine dem Römerreich gegenüber submissive Tendenz an den Tag legte (s. u.). Ist das denkbar in einer religiös-politischen Bewegung, die wesentlich durch eine antiimperiale oder antielitäre Tendenz gekennzeichnet gewesen sein soll? Ich schreibe hier nicht ein Alterswerk zur Geschichte des frühen Christentums, aber ich wage die Vermutung, dass die Synoptiker-- historisch zutreffend-- auf einen Messias Jesu hindeuten, der ein theologisch stärker differenziertes und politisch weniger operationalisierbares Programm verfolgte als andere Messiasprätendenten: zu kompliziert, um als Machtfaktor bei Josephus auch nur annähernd so viel Eindruck zu hinterlassen wie der wohl unmessianische Täufer Johannes (vgl. Ant 18,116-119), aber immerhin verdächtig genug für eine politisch bedingte Todesart. Vielleicht hat Pilatus ihn aus Mangel an Überblick ans Kreuz gebracht. Die synoptischen Evangelien scheinen Pilatus so zu schildern, und bei Josephus gewinnt man nicht den Eindruck, dass dieser Mann seinem Amt gewachsen war (vgl. etwa Ant 18,15-62; Bellum 2,169-177). 3. Politische Hermeneutik Der Obrigkeitstext in Röm 13,1-7 nimmt mehr als die meisten neutestamentlichen Texte explizit auf den Bereich des Politischen Bezug, und zugleich werden politisch interessierte Theologen ihm heute wenig Positives abgewinnen können. Hier deutet sich eine Spannung an, die im Sinne einer für das hermeneutische Gespräch fruchtbaren Dissensgewinnung genutzt werden kann, wenn ich nun einen affirmativen Zugang zum Text unternehme. Meine Ausführungen sind, wie unter § 1 angedeutet, nicht im dogmatischen Sinne zu verstehen, sondern als praktischer Vollzug theologischer Existenz. Zentrale Momente des Textes sollen als Anstoß für die Analyse gesellschaftlicher Gegenwart genommen werden. Mögliche Mängel des Textes sollen dabei nicht diskutiert werden, zum einen aus Platzgründen und zum anderen, weil die theologische Praxis eher profitiert, wenn die Stärken des Textes genutzt werden. Ich werde versuchen, dem Text ein politisches, ein im engeren Sinne theologisches und ein dekonstruktives Potential zu entnehmen. 1. Politik Theologen sind seit geraumer Zeit bemüht, das politische Potential dieses Textes so eng einzugrenzen wie nur irgend möglich. Beispielhaft hierfür ist die-- exegetisch zweifellos ertragreiche-- Abhandlung von Stefan Krauter, die mit der Feststellung endet, dass von Röm 13,1- 7 »zu einer theologisch verantworteten politischen Ethik kein Weg führt«. 4 Damit sind dem Text die Zähne gezogen, und wir brauchen uns nicht weiter beunruhigen »Das frühe Christentum hat ›sozialkritisches‹ Potential. Aber man wird es wohl nicht überschätzen dürfen.« Zeitschrift für Neues Testament_31 typoscript [AK] - 21.03.2013 - Seite 50 - 2. Korrektur 50 ZNT 31 (16. Jg. 2013) Kontroverse »Mit Röm 13,1-7 in der Hand kann man darauf insistieren, dass politische Macht eben auch wirklich beim Staat und nicht im politischen Irgendwo verortet sein sollte.« zu lassen. Aber ist ein solcher Ertrag hermeneutischer Arbeit eigentlich- - interessant? Kann man mit Röm 13,1-7 wirklich so wenig anfangen? Meines Erachtens wird hier zumindest ein Punkt übersehen, der für den gegenwärtigen politischen Diskurs außerordentlich produktiv sein kann. Es ist in Röm 13,1-7 überhaupt erst einmal-- bestätigend-- von staatlicher Gewalt die Rede! Damit ist der Anarchie gewehrt, die kaum jemandem, von reichen Gaunern abgesehen, wirklich von Nutzen sein wird. Doch aktueller ist ein anderer Zusammenhang: Mit Röm 13,1-7 in der Hand kann man darauf insistieren, dass politische Macht eben auch wirklich beim Staat und nicht im politischen Irgendwo verortet sein sollte. Das ist wichtig in einer zunehmend staatenlosen (Welt-)Gesellschaft, in der Macht auf nichtstaatliche Akteure übergeht, die politisch nicht hinreichend kontrolliert werden. Ist Europa heute eine politische Idee oder eine Reaktion auf unkontrollierte Finanzmärkte? Was ist die Volkszählung zu Beginn der Ära Kohl, vor der so viele sich fürchteten, gegen die Veröffentlichung der Privatsphäre durch Facebook und Google? Kaum je ist die Rede von privaten Sicherheitsdiensten, die-- politisch diskret-- in den Kriegen des Westens Aufgaben übernehmen, welche man den politisch domestizierten Armeen lieber vorenthält. Wäre eine offen mit robusten militärischen Handlungsmöglichkeiten ausgestattete Armee nicht demokratischer? Und was ist von einem Staat zu halten, der formal zwar die Wissenschaftsfreiheit unangetastet lässt, zugleich aber gestattet oder sogar dafür sorgt, dass halbstaatliche Bürokratien wie die (durchaus nicht transparente) DFG, eine sich verselbständigende Universitätsbürokratie oder von Wirtschaftslobbyisten frequentierte Hochschulräte das Forschen und Lehren in geordnete Bahnen lenken? Wie gerecht ist ein Staat, dessen Polizeiapparat rechtsfreie Räume zulässt, ob es sich nun um national befreite Zonen handelt, die Hafenstraße in Hamburg oder von Rockerbanden kontrollierte Wirtschaftsbereiche? Und der Mangel an Sicherheit gereicht wohl vor allem den Unterschichten zum Nachteil, die ihr Leben in graffitiverschmierten Stadtvierteln verbringen, relativ klaglos zwar, aber politisch zunehmend abstinent, mit gelegentlichem Interesse für Rechts- und Linkspopulisten. Der Staat verzichtet auf Macht-- zu Lasten der unteren Schichten, er versteckt Macht bei privaten Akteuren, weil auf diese Weise prekäre Politikerkarrieren besser vor dem Zugriff der Öffentlichkeit geschützt werden können, und er überlässt die eigentlichen Entscheidungen demokratisch kaum legitimierten internationalen Strukturen wie der EU, der OECD oder dem GATS, während man sich auf der politischen, und das heißt eben immer noch: der nationalen Ebene über das Betreuungsgeld oder die Entfernungspauschale streitet. Ich bin der Meinung, dass es für ein von Röm 13,1-7 angeregtes Denken heute mehr als früher ein Betätigungsfeld gibt, oder anders ausgedrückt: Etwas mehr Staatsmetaphysik steht heute auch Demokraten gut, und dafür ist Röm 13,1-7 ein Ausgangspunkt, nicht nur mit problematischen Folgen. 2. Theologie In Röm 13,1-7 ist von Gott die Rede, und auch hierin steckt ein Potential des Textes, könnte sich damit doch für Christen die Aufgabe erleichtern, angesichts des Politischen den Glauben an Gott zu leben. Paulus assoziiert in diesem Text ein gerechtes Strafhandeln der Obrigkeit mit Gottes Zorn. Damit erscheint der Staat mit einem Phänomen assoziiert, das im Römerbrief charakteristisch ist für die konflikthafte Beziehung zwischen Gott und der unerlösten Menschheit, die Christen inklusive, falls es diesen, etwa im Umgang mit der Obrigkeit, einfällt, wie unerlöste Menschen zu handeln (Röm 13,4). Gottes Zorn äußert sich im Endgericht angesichts böser Werke (Röm 2,5), aber er ist auch in der Jetztzeit aktiv, indem Gott die Menschen für ihren Götzendienst durch Auslieferung an ihre Begierden bestraft (Röm 1,18-32) und indem er Menschen wie Esau hervorbringt, die so sind wie sie sind, weil Gott sie zu »Gefäßen« (Manifestationen) seines Zorns erschafft (und schließlich für ihre schlechten Taten bestraft), vgl. Röm 9,13.19-23. 5 Den durch die Begierden hervorgerufenen Lastern soll der Leser nichts Positives abgewinnen (auch wenn er heute in puncto Homosexualität vielleicht nicht zustimmen mag), und an Esau soll er ebenfalls keine Freude haben, doch bei der Obrigkeit verhält es sich anders: Hier haben wir inmitten der misslungenen Geschichte zwischen Gott und den Menschen ein Ordnungsmoment, und daraus wird man folgern dürfen, dass eine rein hamartiologische Betrachtung der menschlichen Gesellschaft und der Menschheitsgeschichte eben auch nicht den Realitäten entspricht. Es findet sich ein Moment des Gott Entsprechenden in der Art, wie Menschen ihr Zusammenleben organisieren; menschliche Macht als Ordnungsfaktor soll es nach Gottes Willen Zeitschrift für Neues Testament_31 typoscript [AK] - 21.03.2013 - Seite 51 - 2. Korrektur ZNT 31 (16. Jg. 2013) 51 Jan Dochhorn Ist eine politische Auslegung des Neuen Testaments legitim? geben; inmitten der Geschichte des Zornes, die Gott mit den Menschen hat, existiert eine Form der Gewaltausübung, deren Ziel Gerechtigkeit durch Bestrafung ist. Seien es die orientalischen Bewässerungskulturen, die attische Demokratie oder Metternichs Heilige Allianz, es gibt in der Geschichte der Menschheit zentralisierte Macht, und wir sind mit dem Apostel nicht genötigt, dieses Phänomen ausschließlich im Sinne einer Kriminalgeschichte zu beschreiben. Wir können die damit verbundenen zivilisatorischen Vorteile unbefangen als solche benennen, und Gott darf im Hintergrund geahnt werden; es darf aber auch geahnt werden, dass es der zornige Gott ist. Für einen aufgeschlossenen Umgang mit Geschichte hält Röm 13,1-7 Chancen bereit. Damit ist über den Staat und insbesondere seine Perversionen nicht alles gesagt, aber wir haben ja auch noch andere Texte. 3. Dekonstruktion Gottes Zorn ist die Hintergrunderzählung zu der in Röm 13,1-7 bejahten politischen Macht. Das aber ist eine reichlich prosaische Erzählung. Wie schöne Geschichten aber kann man doch von politischer Herrschaft erzählen! Das salomonische Kaisertum in Äthiopien etwa umgab sich mit dem Glanz der gestohlenen Bundeslade 6 , und die Zivilreligion in Amerika schildert die amerikanische Nation in überwiegend alttestamentlichen Kategorien 7 , und man hat ja auch noch Freiheit und Demokratie, die sich so organisch mit den Interessen der United Fruit Company und der Ölindustrie verbinden. Über die herrschaftsbegründenden Erzählungen des Kommunismus brauche ich mich hier wohl gar nicht erst zu verbreiten (eine säkulare Apokalyptik mit materialistischen Doktrinen aus dem 19. Jahrhundert; 100 Millionen Leichname). Gegenüber all diesen Geschichten von erwählten Nationen oder- - noch schlimmer-- universaler Menschheitsbeglückung verhält sich Röm 13,1-7 indifferent; der Text erklärte den Herrschenden, wären sie auf ihn angewiesen und würden sie zuhören, gerade ins Gesicht, dass sie keine Geschichten erzählen sollen, sondern einfach Obrigkeit sind, der Christen sich fügen. Und die Herrschenden sollten wissen: Dieser Text lebt promisk, er sagt dasselbe auch zum nächsten Herrscher. Diese Eigenschaft mag anderenorts problematisiert werden; im Sinne der Distanzgewinnung zur Welt und zur politischen Macht erscheint sie ganz brauchbar. Ein Moment der Dekonstruktion kann mit Röm 13,1-7 als Ausgangspunkt auch in demokratischen Gesellschaften fruchtbar gemacht werden. Und hier komme ich zurück zu Stefan Krauters Diktum, dass die Obrigkeitsparänese des Römerbriefs in einer demokratischen Gesellschaft nicht zu gebrauchen sei. Zugrunde liegt dieser Sicht offenbar unter anderem die ebenfalls herrschaftsbegründende Erzählung, dass Demokratie etwas ganz anderes sei als Obrigkeit und dass wir seit Erfindung der Demokratie nicht mehr Untertanen seien. 8 Der Apostel aber-- nehmen wir ihn als jemanden, der heute noch redet- - hält sich nicht an diese Sprachregelung. Er klebt dem demokratischen Staat das Label »Obrigkeit« auf. Dies mag nachlässig erscheinen, aber es ist damit eine Chance verbunden: Man sieht den Kaiser-- mit Pickelhaube und ohne die demokratischen Kleider-- und wird einer Sache gewahr, die man zuvor verdrängt hat: Könnte es nicht sein, dass sich hinter der demokratischen Erzählung einiges verbirgt, das mit dem Begriff »Obrigkeit« viel klarer zur Sprache gebracht wird? Was etwa in unserer Politik beruht eigentlich auf demokratischer Entscheidungsfindung, und was auf dem Wirken quasi-autonomer Bürokratien, seien diese national oder international? Und wo »kommt« etwas einfach, ohne dass klar ist, wer es eigentlich wollte, z. B. die Bolognareform oder andere Freiheitsberaubungen? Und umgekehrt: Wo verhält es sich nicht auch notwendigerweise so, dass unsere Demokratie nicht einfach nur demokratisch ist? Die Grundordnung unserer Gesellschaft, bis vor kurzem sogar die Bundesbank, ist vor dem demokratischen Prozess weitgehend geschützt. Damit aber kommt neben dem Demokratischen auch ein Moment des Konstitutionellen zum Tragen, ein Phänomen, das sich gut begreifen lässt im Rahmen einer Staatsmetaphysik, die den Staat als eine Größe sui generis, als ein dem Volk Gegenüberstehendes begreift. Es ergibt sich damit zwischen dem paulinischen Text und unserer Herrschaftserzählung eine Spannung, die im Sinne einer Freisetzung des Demokratischen genutzt werden kann. Demokratie und gesellschaftliche Grundordnung werden allzu leicht verwechselt, und noch schlimmer wird es, wenn der Konsens der Demokraten in Wirklichkeit Fügsamkeit gegenüber demokratisch nur unzureichend legitimierten Akteuren ist, so heute »[Röm 13,1-7] erklärte den Herrschenden, wären sie auf [diesen Text] angewiesen und würden sie zuhören, gerade ins Gesicht, dass sie keine Geschichten erzählen sollen, sondern einfach Obrigkeit sind, der Christen sich fügen. Und die Herrschenden sollten wissen: Dieser Text lebt promisk, er sagt dasselbe auch zum nächsten Herrscher.« Zeitschrift für Neues Testament_31 typoscript [AK] - 21.03.2013 - Seite 52 - 2. Korrektur 52 ZNT 31 (16. Jg. 2013) Kontroverse vor allem im europapolitischen Zusammenhang. Eine vergleichbare Struktur liegt vor, wenn Politik in Deutschland auf die Anpassung an internationale Standards reduziert wird (etwa an die bildungspolitischen Vorgaben der OECD). Zu fragen bleibt hierbei, wo das Wort »demokratisch« nicht einfach nur noch Wohlanständigkeit beschreibt. Vieles von dem, was heute als Demokratieerziehung gilt, ist wohl eher Erziehung zu angepasstem Verhalten. 9 Man wird leichter auf solche Schieflagen aufmerksam, wenn man den Begriff des Demokratischen nicht im Sinne der politischen Korrektheit transformiert, sondern seiner Tradition entsprechend auf politisch faire Entscheidungsfindung nach dem Mehrheitsprinzip unter Beteiligung aller bezieht. Dass man hierzu angeregt sein kann, wenn ein Text wie Röm 13,1-7 die Kreise des politischen Denkens stört, habe ich zu zeigen versucht. Anmerkungen 1 Zu dieser Differenzierung innerhalb der Bekenntnisschriften vgl. L. Hutter, Compendium Locorum Theologicorum, herausgegeben von W. Trillhaas (KlT 183), Berlin 1961 (nach der Ausgabe Wittenberg 1610), Locus I,12- 13, 3. 2 Vgl. C. A. Evans, Assessing Progress in the Third Quest of the Historical Jesus, Journal for the Study of the Historical Jesus 4 (2006), 35-54, speziell: 47-48. 3 Vgl. R. A. Horsley, Jesus and the Politics of Roman Palestine, Journal for the Study of the Historical Jesus 8 (2010), 99-145, für den sich die Sache eindeutiger verhält: »Jesus stated simply and bluntly that the people did not owe tribute to Caesar«. 4 Vgl. S. Krauter, Studien zu Römer 13,1-7. Paulus und der politische Diskurs der neronischen Zeit (WUNT 243), Tübingen 2009, 287. 5 Vgl. hierzu J. Dochhorn, Das Böse und Gott im Römerbrief-- eine Skizze (demnächst veröffentlicht von F. Wilk). 6 Grundlegend ist die Erzählung in Kebra Negast, vgl. C.-Bezold (Hg.), Kebra Negast. Die Herrlichkeit der Könige. Nach den Handschriften in Berlin, London, Oxford und Paris zum ersten Mal im äthiopischen Urtext herausgegeben und mit deutscher Übersetzung versehen (Abhandlungen der philosophisch-philologischen Klasse der königlich bayrischen Akademie der Wissenschaften 23), München 1909. 7 Vgl. R. N. Bellah, Zivilreligion in Amerika, in: H. Kleger/ A. Müller (Hgg.), Religion des Bürgers (RWK[M] 3), München 1986, 19-41. 8 Vgl. Krauter (wie Anm. 4), 285-286, wo m. E. die Partizipationsmöglichkeiten moderner Demokratien etwas überschätzt werden. 9 Kritisches zur Demokratiepädagogik s. bei A.B. Kunze, Selbst denken! Zur »zeitgemäß unzeitgemäßen« Bildungsaufgabe studentischer Korporationen, in: Die Schwarzburg. Mitteilungen des Schwarzburgbundes (SB) 120 (2011/ 2), S. 15-21 (dort Abschnitt 4). Vorschau auf Heft 32 »Sünde« Mit Beiträgen von: Hanna Roose, François Vouga, Matthias Konradt, Troels Engberg-Petersen, Carl- Friedrich Geyer, Stefan Schreiber, Günter Röhser und Gary Andersen.