eJournals ZNT – Zeitschrift für Neues Testament 16/31

ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
2013
1631 Dronsch Strecker Vogel

Ist eine politische Auslegung des Neuen Testaments legitim?

2013
Wolfgang Stegemann
Zeitschrift für Neues Testament_31 typoscript [AK] - 21.03.2013 - Seite 41 - 2. Korrektur ZNT 31 (16. Jg. 2013) 41 »Seitdem die Bibel als Textkanon vorliegt, ist sie als Argument in der politischen Debatte benutzt worden«, so schreiben Andreas Pecar und Kai Trampedach in der Einleitung zu einem Aufsatzband über die Inanspruchnahme der »Bibel als politisches Argument«, den sie auch gemeinsam herausgegeben haben. 1 Die einzelnen Beiträge des Sammelbands decken einen Zeitraum ab, der von den Propheten Israels bis zur Entstehung der modernen Bibelkritik reicht. Die Herausgeber rechnen nämlich damit, dass diese Form des (politischen) »Biblizismus«, wie sie sagen, typisch für die sog. »Vormoderne« war und im Zuge der Aufklärung und der Entstehung der kritischen Bibelwissenschaft an Überzeugungskraft verlor. Sie konstatieren, »daß eine politische Argumentation, die sich wesentlich aus der Bibel speiste und in der Vormoderne häufig anzutreffen war, in der Moderne ihre Legitimität verloren hat, wenn man von gesamtgesellschaftlichen Randgruppen oder Sekten […] einmal absieht. Die Bibel hat an politischer Autorität spürbar eingebüßt, als sie Gegenstand wissenschaftlicher Betrachtung wurde und die historische Bibelkritik im 18. und verstärkt dann im 19. Jahrhundert die verschiedenen Textschichten, Entstehungsphasen und Überlieferungen der einzelnen Schriften zu untersuchen begann.« 2 Nicht nur die Historisierung und damit verbunden die Relativierung der biblischen Schriften führten dazu, dass sie in der Moderne ihre vormalige Bedeutung als »fundierende Texte« 3 in politischen Angelegenheiten weitgehend eingebüßt haben. Es kommt hinzu, dass die vor-kritischen Lektüren der biblischen Texte einer Auffassung weichen mussten, in der die Bibel nicht mehr den erklärenden Referenzrahmen für die Erfahrungen der Menschen in der außerbiblischen Welt ihrer Gegenwart darstellte. Jetzt wurde der Spieß umgedreht und nicht mehr von der Bibel auf die Erfahrung der Wirklichkeit geschlossen, sondern die Erfahrung der Welt bzw. ihre Versprachlichung in rationalen wissenschaftlichen Diskursen wurde analog auch auf die Bibellektüre angewendet. Der Sinn der biblischen Texte, auch in Bezug auf politische Topoi, wird seitdem nicht mehr durch außertextliche Autoritäten (Gott, die Heiligkeit der Schrift, das Papstamt o. ä.) fundiert, sondern kann nur aus ihnen selbst begründet werden. Es gibt-- seit der Entstehung der kritischen Bibelwissenschaft- - nichts außerhalb der heiligen Texte. Das heißt: Der Textsinn hängt nicht nur vom Text selbst (was immer das ist), sondern von seinen Lektoren und Lektüren ab; anders formuliert: Er ist das Ergebnis von wissenschaftlich reflektierter Konstruktion. Ich will dies kurz an einem aktuellen Beispiel demonstrieren. Christian Strecker referiert in seinem differenzierten Aufsatz, in dem es um »politische Implikationen der paulinischen Botschaft im Kontext der römischen imperialen Wirklichkeit« geht, drei exegetische Positionen zum Thema, die sich seit den 1990er Jahren entwickelt haben. 4 Da gibt es einerseits Exegetinnen und Exegeten, die Paulus »eine dezidiert antiimperiale Haltung« zuschreiben. Dafür steht insbesondere Neil Elliotts Artikel Paul and the Politics of Empire bzw. sein Buch zum Römerbrief The Arrogance of Nations, das auf große Resonanz gestoßen ist. 5 Doch gibt es andererseits »zahlreiche jüngere exegetische Studien«, die »in den Protopaulinen statt einer dezidiert antiimperialen eine lediglich gemäßigt bzw. bedingt romkritische Haltung« diagnostizieren. Hierfür verweist Strecker zumal auf John D. Crossan und Jonathan L. Reed, die in ihrem Buch In Search of Paul diesen Standpunkt repräsentieren. 6 Schließlich unterscheidet Strecker eine »dritte Grundposition«, deren Vertreter in den Paulusbriefen »weder einen expliziten noch einen impliziten Gegenentwurf zum römischen Imperium […] erkennen.« Wichtigster Vertreter ist Seyoon Kim mit seiner Monographie Christ and Caesar. 7 Diese zum Teil gegensätzlichen Auslegungen neutestamentlicher Texte machen natürlich den Rückgriff auf biblische als fundierende Texte für politische Argumente zusätzlich problematisch. Die Frage nach der Legitimität politischer Auslegungen des Neuen Testaments, die hier pro und contra diskutiert werden soll, ist also in den in der Tradition der modernen Bibelkritik verankerten kritisch-wissenschaftlichen Bibeldiskursen durchaus angebracht. Als in der sog. »Vormoderne« der politische Rückgriff auf die Bibel von christlichen Herrschern wie auch von Klerikern häufig praktiziert wurde, war man sich dessen si- Kontroverse Wolfgang Stegemann Ist eine politische Auslegung des Neuen Testaments legitim? Zeitschrift für Neues Testament_31 typoscript [AK] - 21.03.2013 - Seite 42 - 2. Korrektur 42 ZNT 31 (16. Jg. 2013) Kontroverse cher, dass die biblischen Texte eine »transzendentale« Begründung politischer Positionen leisten, ungeachtet dessen, dass durchaus kontroverse politische Interessen mit denselben biblischen Texten begründet werden konnten. Dazu kommt, und darauf weisen auch Pecar und Trampedach hin, dass sich erst im Zuge der Aufklärung der religiöse vom politischen Erfahrungs- und Wirklichkeitsbereich unterscheiden lässt. 8 Religion war zuvor »eingebettet« in Politik. 9 Doch in dem Maße, in dem in der Moderne Religion als Privatsache von der öffentlichen Politik unterschieden wird und die Texte der Bibel zum Bereich des Religiösen gezählt und damit immer schon vom Bereich des Politischen separiert werden, muss die erneute Vermischung von religiösen Texten und Politik in politischen Exegesen problematisch erscheinen und bedarf also der Legitimation. Diese Rechtfertigung sollte allerdings für solche Formen von »politischer« Auslegung des Neuen Testaments nicht schwer fallen, die von ihrem leitenden Interesse her historisch ausgerichtet sind. Ihnen geht es darum, biblische Texte in ihren damaligen politischen oder gesellschaftlichen Kontexten zu lesen. Die Erforschung von sozialen und politischen bzw. kulturellen Verhältnissen und Besonderheiten jener antiken mediterranen Gesellschaften, in denen (über einen längeren historischen Zeitraum hinweg) die biblischen Schriften entstanden sind und in denen ihre Autoren wie auch textlichen Charaktere beheimatet waren oder verortet werden können, ist unschwer als Ausweitung oder Vertiefung der anfangs eher literarisch und theologisch bzw. religionsgeschichtlich ausgerichteten Bibelkritik zu erkennen. Dieser Horizonterweiterung der historischen Bibellektüren durch die Einbeziehung politischer, gesellschaftlicher oder kultureller Erfahrungsbereiche lässt sich also kaum aus Gründen der Vernunft widersprechen. Dass sie dennoch nach wie vor selbst in akademischen Diskursen nicht selten ausgeblendet und verpönt werden kann, ist noch kein vernünftiges Argument. Um ein einfaches Beispiel zu nennen: Wenn nicht wahrgenommen wird, dass der Apostel Paulus einen Körper hatte, der der Nahrung und der Kleidung bedurfte, den Krankheiten plagten und in den auch politische Herrschaft unterschiedlicher institutioneller Gestalt und Gewalt sich sichtbar und schmerzhaft eingeschrieben hat, ist dies noch lange kein Argument gegen die Legitimität einer politischen Exegese (etwa) der Paulustexte. 10 Im Gegenteil-- die entschiedene Nichtbeachtung konkreter sozialer, gesellschaftlicher und institutioneller Bedingungen und Einwirkungen auf Menschen, die uns in den biblischen Texten begegnen, ist nicht selten mit ihrer bewussten Ideologisierung oder Metaphorisierung verbunden. Kurz: Die Berücksichtigung sozialer, politischer und kultureller Dimensionen im Zuge der kritisch-wissenschaftlichen Exegese neutestamentlicher Texte ist als Ergänzung der traditionellen Erkenntnisinteressen der Bibelkritik Teil derselben und bedarf keiner eigenen Rechtfertigung. Anders verhält es sich allerdings mit den gezielt gegenwartsorientierten politischen Exegeseformaten. Sie möchten durch die Auslegung bzw. Anwendung von biblischen Texten im Kontext der eigenen gegenwärtigen Gesellschaft auch politisch Einfluss nehmen (in welcher Form auch immer). Doch räume ich sofort ein, dass beide »politischen« Zugänge zum Neuen Testament eng miteinander verbunden sein können. So war die sog. »Sozialgeschichte der Bibel«, die Ende der 1970er Jahr begründet wurde, durch befreiungstheologische Ansätze motiviert und knüpfte im Neuen Testament u. a. an entsprechende Texte an, etwa an die Verkündigung des »Evangeliums der Armen« Prof. em. Dr. Wolfgang Stegemann, geb. 1945 in Porta Westfalica/ Barkhausen, Studium der Ev. Theologie in Heidelberg, 1973-1977 Wissenschaftlicher Mitarbeiter Mainz, 1975 Promotion in Heidelberg; Vikar und Pfarrer der Badischen Landeskirche 1975-1979; Hochschulassistent Heidelberg 1979-1984; Habilitation 1983 Heidelberg, von 1984 bis 2010 Prof. für Neues Testament an der Augustana Hochschule Neuendettelsau. Veröffentlichungen zur ntl. Sozialgeschichte, Jesusforschung, Paulusforschung, zum jüdisch-christlichen Dialog. Wolfgang Stegemann »Die entschiedene Nichtbeachtung konkreter sozialer, gesellschaftlicher und institutioneller Bedingungen und Einwirkungen auf Menschen, die uns in den biblischen Texten begegnen, ist nicht selten mit ihrer bewussten Ideologisierung oder Metaphorisierung verbunden.« Zeitschrift für Neues Testament_31 typoscript [AK] - 21.03.2013 - Seite 43 - 2. Korrektur ZNT 31 (16. Jg. 2013) 43 Wolfgang Stegemann Ist eine politische Auslegung des Neuen Testaments legitim? durch den historischen Jesus. 11 Nicht zufällig hat sich u. a. aus diesem Ansatz auch eine feministische Bibellektüre und Theologie entwickelt. Besonders markant hat der sog. Postcolonial Biblical Criticism »sich als radikale Überbietung befreiungstheologischer und feministischer Konzepte inszeniert«. 12 Im Unterschied dazu ist die soziologische bzw. vor allem auch die (durch die sog. context group ins Leben gerufene) sozialwissenschaftliche Bibelexegese (social scientific critique), die neben der Soziologie auch andere Sozialwissenschaften (wie Kulturanthropologie oder Ritualforschung) für die Interpretation biblischer Texte heranzieht, nicht direkt an der aktuellen politischen Umsetzung ihrer Bibellektüre interessiert. Sie bleibt stärker auf der wissenschaftlichen Diskursebene des Politischen bzw. Gesellschaftlichen und versteht ihre Rekonstruktion der historischen Kontexte biblischer Texte zumal als kritische Infragestellung von deren »anachronistischen« Rezeptionen durch unsere gegenwärtigen Lektüren, worunter sie die (meist unbewusste) Deutung biblischer Texte im Referenzrahmen der modernen westlichen Gesellschaften und Kulturen meint. In diesem Zusammenhang werden die aus der Ethnologie (bzw. ihrer USamerikanischen Version, der Kulturanthropologie) geliehenen Adjektive »etisch« (aus der Sicht des ethnologischen Beobachters) und »emisch« (die Sicht der beobachteten Angehörigen einer fremden Kultur) verwendet, um das eigene Interpretationsziel zu bezeichnen. Freilich ist in den methodologischen Diskursen der sozialwissenschaftlichen Exegese auch erkannt worden, dass die die biblischen Texte interpretierenden Fachleute nicht in die Haut der biblischen Autoren und Charaktere schlüpfen können, sondern sich mit einem gewissen Mischungsverhältnis von emischen und etischen Perspektiven zufrieden geben müssen. Kurz: Es gelingt eben auch mit Hilfe der besten sozialwissenschaftlichen Methoden und Modelle nicht, die irritierende Instanz des Interpreten/ der Interpretin aus dem Prozess der Interpretation herauszufiltern. Wichtig ist mir: Beide »politischen« Zugänge zu biblischen Texten sind an deren historischen Kontexten interessiert, beide kommen nicht darum herum, politische, grundsätzlicher: gesellschaftliche Umstände und Verhältnisse, in denen die biblischen Texte entstanden sind bzw. auf die sie sich beziehen oder eben auch gegenwärtig bezogen werden sollen, wahrzunehmen. Eine unpolitische Auslegung biblischer Texte-- sei es, dass ihr die politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse der Entstehung bzw. Adressierung dieser Texte egal sind; sei es, dass sie irgendeine politische Bedeutung dieser Texte für die eigene Gegenwart leugnet-- blendet für die Vergangenheit der Texte wie für die Gegenwart ihrer Interpretation entscheidende Wirklichkeitsbereiche aus. Ob dies bewusst, d. h. etwa aus politischen Gründen, oder naiv geschieht, ist am Ende nicht entscheidend. Ich könnte auch sagen: Der politischen Dimension der Texte und auch ihrer eigenen Ergebnisse kann keine Bibelexegese entgehen. Wenn man diese Erkenntnis einmal auf die o. g. drei unterschiedlichen Interpretationen der Haltung des Paulus zur imperialen Herrschaft Roms bezieht, die ich eben skizziert habe, dann ist festzuhalten: Selbst jene Auslegung der einschlägigen Paulustexte, die dem historischen Autor Paulus keinerlei Positionierung in dieser politischen Frage zuschreibt, ist weder für die Einschätzung des Apostels Paulus selbst noch für gegenwärtige politische Herrschaftsdiskurse politisch irrelevant. Für Paulus könnte sie bedeuten, dass ihm eine un-politische Haltung zugewiesen wird, die faktisch auf die Anerkennung des Status quo hinauslief; und eben diese quietistische Haltung ließe sich dann mit Verweis auf Paulus auch für die Gegenwart begründen. Doch Quietismus ist auch eine politische Haltung, die mal weniger und mal mehr Bedeutung besitzen kann im Leben des Einzelnen wie seiner Gesellschaft. Damit spreche ich freilich schon einen neueren politik-theoretischen Diskurs an, der in einem gewissen Sinne die bisher als modern gekennzeichnete Trennung von einzelnen Erfahrungsbereichen hinter sich lässt. Inzwischen hat sich die Definition des Politischen und gerade auch die im Zuge der Aufklärung entstandene Konzeption von der Trennung der Bereiche des Politischen und des Religiösen gravierend verändert. Es ließe sich von einer postmodernen Konzeption des Politischen sprechen, die nicht mehr von separaten Objektbereichen der Erfahrung ausgeht (hier der politische, dort der wirtschaftliche oder religiöse oder sonstige Bereich), sondern die Subjekte und ihre Wahrnehmung für die Einschätzung und Differenzierung der unterschiedlich benannten Bereiche mit ins Spiel bringt. Bei »Eine unpolitische Auslegung biblischer Texte […] blendet für die Vergangenheit der Texte wie für die Gegenwart ihrer Interpretation entscheidende Wirklichkeitsbereiche aus.« »Der politischen Dimension der Texte und auch ihrer eigenen Ergebnisse kann keine Bibelexegese entgehen.« Zeitschrift für Neues Testament_31 typoscript [AK] - 21.03.2013 - Seite 44 - 2. Korrektur 44 ZNT 31 (16. Jg. 2013) Kontroverse aller Anerkennung und Berücksichtigung institutioneller Ausübung von politischer Steuerungsmacht lässt sich kein Bereich der Lebenserfahrung als intrinsisch politisch oder un-politisch ausgrenzen. Marcus Llanque und Herfried Münkler formulieren es so: »Das Politische ist kein Bereich der sozialen Wirklichkeit, der auf Grund seiner Gegenständlichkeit von anderen Bereichen abgegrenzt werden kann. Im Laufe der Theoriebildung ist kaum ein Gegenstand nicht für politisch relevant erachtet worden. Das Eigentümliche der Politik liegt in der Art und Weise des Umgangs mit den Gegenständen.« 13 Lukas Bormann, der sich u. a. auf dieses Zitat stützt, macht deutlich, dass »Politikdefinitionen, die einen bestimmten Bereich der gesellschaftlichen Wirklichkeit als politisch gegenüber anderen Bereichen, die als nichtpolitisch gelten, abgrenzen, […] in der Politikwissenschaft weitgehend aufgegeben« sind. 14 Dieses Verständnis des Politischen wendet sich also ab von dem im 18./ 19. Jahrhundert entstandenen Konzept unterschiedlicher, voneinander separierter Wirklichkeitsbereiche, die sozusagen ohne die sie wahrnehmenden Subjekte existieren; es macht umgekehrt die subjektive, die deutende oder-- wie man auch mit Ernst Vollrath sagen könnte-- »hermeneutische« Seite der Wirklichkeit stark. 15 So gesehen stellt sich die grundsätzliche Frage, ob eine politische Auslegung des Neuen Testaments legitim ist, trotz Aufklärung und Entstehung der wissenschaftlichen Bibelauslegung meiner Meinung nach nicht mehr wirklich. Mich beschäftigt vielmehr, wie sie argumentiert, also: welche politischen Lektüren ich für legitim halte. Wo sehe ich Grenzen der politischen Auslegung neutestamentlicher Texte? Welche Formen politischer Auslegungen kann ich akzeptieren? Welche politischen Auslegungen finde ich aus ethischen Gründen bedenklich, wenn nicht gar verwerflich? Das klingt nicht nur subjektiv-- es ist auch so gemeint. Denn wie für alle anderen Lektürearten biblischer Texte besitzen wir auch für die politische keine objektiven Maßstäbe. Und dies ist umso tragischer, als es manchmal um keine geringere Alternative geht als die, ob wir mit unserer Auslegung »on the right side« oder »on the wrong side of history« stehen. Das hört sich etwas dramatisch an, doch ein Blick in die Auslegungsgeschichte des Neuen Testaments zeigt, dass es immer wieder einen so offenkundigen Missbrauch der politischen Bibellektüre gegeben hat, dass darüber ethisch schon gar nicht mehr gestritten werden muss, jedenfalls post festum. Ich verweise nur auf die menschenverachtende Theologie der sog. Deutschen Christen, die den rassischen Antisemitismus Nazideutschlands auch in das Neue Testament hineingelesen hat. Die entsprechende politische Exegese des Neuen Testaments machte Jesus zu einem Arier 16 und beglaubigte durch ihren Rückgriff auf neutestamentliche Texte die Mischung aus rassebiologischen und kulturellen Diffamierungen des jüdischen Volkes, die die Entrechtung, Verfolgung und Ermordung der europäischen Jüdinnen und Juden ideologisch begründete. Ein vergleichbares aktuelles Beispiel findet sich- - nicht nur nach meiner Interpretation 17 -- in einem Vortrag des lutherischen Pfarrers von Bethlehem, Dr. Mitri Raheb: »Christ at the Checkpoint« (gehalten 2010 in Bethlehem). 18 Er deutet u. a. in diesem Vortrag den heutigen Nahostkonflikt auf dem Hintergrund der sich in der Bibel reflektierenden geopolitischen Situation Israels, vertauscht dann allerdings die Rollen: Das heutige Israel repräsentiert das damalige Rom, die Palästinenser identifiziert er mit der Rolle des damaligen Israel. Mehr noch-- er setzt sich bzw. die Palästinenser überhaupt auch an die Stelle des biblischen Israel: Denn nicht auf Angehörige des Volkes Israel (etwa die Propheten), sondern auf die Vorfahren der Palästinenser gehen die Offenbarungen und die Abfassung der Bibel zurück. Meißner sieht darin zu Recht ein aktuelles Beispiel der sattsam bekannten »Enterbungstheorie«. 19 Ja, selbst in genetischer Hinsicht trägt er, Raheb, stellvertretend für die Palästinenser, angeblich DNA-Spuren von König David und Jesus in sich. Raheb stellt weitere Analogien her: etwa zwischen den Zöllnern und heutigen palästinensischen »Kollaborateuren«, zwischen den Pharisäern und den an der Aufrichtung der Scharia interessierten »Muslimbrüdern« (und wenn man Rahebs Projektionen ausdehnt: sind die Zeloten dann heute die »Hamas«, die Sikarier die »Selbstmordattentäter«? Doch diese Übertragungen passen natürlich nicht zum politischen Interesse Rahebs). Hier nur ein kurzes Zitat: »And let me start with 3 assumptions which are important for you to understand the whole concept that I’m going to present to you today. The first is: the Bible could not have been written anywhere else but in Palestine. This is, for me, an assumption. It could not have been written in Egypt, it could not have been written in Persia, it could not have been written in Rome, although maybe some small parts, but it IS connected to this land. So, this is the first assumption. And the second assumption is that the Palestinian people and part of the Jewish people are the continuation of the peoples of the land. It’s not Israel, according to what I am going to present to you. You will see why. Actually, Israel represents Rome of the Bible, not the people of the land. And this is not only because I’m a Palestinian. I’m sure if we were to do a DNA test bet- Zeitschrift für Neues Testament_31 typoscript [AK] - 21.03.2013 - Seite 45 - 2. Korrektur ZNT 31 (16. Jg. 2013) 45 Wolfgang Stegemann Ist eine politische Auslegung des Neuen Testaments legitim? ween David, who was a Bethlehemite, and Jesus, born in Bethlehem, and Mitri, born just across the street from where Jesus was born, I’m sure the DNA will show that there is a trace. While, if you put King David, Jesus and Netanyahu, you will get nothing, because Netanyahu comes from an East European tribe who converted to Judaism in the Middle Ages […] So understand that it was really our forefathers who wrote the Bible. It was our forefathers to whom the revelation was given, and, believe it or not, the Bible, if you live it as a Palestinian and read it as a Palestinian, you think it has been written just yesterday because it deals, not with some spiritual issues up there. It deals with the real issues of this region and it gives a very interesting answer.« 20 Nun ist zu vermuten, dass Raheb keine DNA-Proben von König David oder Jesus besitzt, so wenig wie von einem »osteuropäischen Stamm, der im Mittelalter zum Judentum übertrat« (er meint vermutlich die sog. Chasaren), bzw. von dem gegenwärtigen Ministerpräsidenten Israels. Doch darum geht es ihm auch nicht wirklich. Es geht ihm um die Substitution des real existierenden jüdischen Volkes in Israel durch die Palästinenser und die Delegitimierung des jüdischen Staates- - und zwar unter Rückgriff auf die Bibel in Verbindung mit biologischen Imaginationen und Projektionen. 21 König David wird gar nicht erst mit Israel oder Judäa in Verbindung gebracht, er ist ein »Bethlehemite« (was immer das meint); Jesus ist keine Jude mehr, sondern ethnisch oder religiös offenbar ein unbeschriebenes Blatt, doch in Bethlehem geboren und jedenfalls genetisch ein Vorfahre Rahebs, des Palästinensers. Was übrigens voraussetzt, dass dessen Familie schon zu Zeiten von König David oder Jesus in Bethlehem gewohnt hat, vermutlich in derselben Straße, direkt gegenüber von Jesus und seiner Familie, wie man aus dem Vortrag erfährt. Der zeigt auf Schritt und Tritt eine Form der politischen Inanspruchnahme der Bibel, gerade auch des Neuen Testaments, die für meinen Geschmack ein klassisches negatives Muster politischer Bibellektüre repräsentiert: Die Bibel dient als Argument in einer politischen Auseinandersetzung und soll die Position des politischen Gegners diffamieren, indem sie diesen auf die Seite der »Bösen« in der Bibel verortet, der eigenen Position dagegen das höhere moralische Recht verleihen, insofern man sich auf der Seite der »Guten« in der Bibel wähnt. Der »Pharisäer« ist immer der andere, man selbst identifiziert sich mit dem »Zöllner« im berühmten Gleichnis. Doch das setzt wiederum voraus, dass der Signifikant »Zöllner« in diesem Fall nicht mit »Kollaborateur«, sondern mit »Demut« assoziiert wird. Das würde nun gar nicht passen zur politischen Exegese von Raheb. Raheb nimmt für seine Ausführungen eine »neues Denken« und einen »befreiungstheologischen Ansatz« in Anspruch. Meißner schreibt dazu, und ich kann es ihm letztlich nicht verdenken: »Wenn antijudaistische Denkfiguren wie diese heute unter palästinensischen Christen als ein ›neues Denken‹ angepriesen werden, wenn Juden aufgrund ihrer DNA ihr Recht auf die Bibel und das Land abgesprochen wird, frage ich mich: Wer befreit uns von einer solchen ›Befreiungs‹-Theologie.« 22 Gleichwohl halte ich, in diesem Falle mit einer gewissen Verzweiflung, daran fest: abusus non tollit usum-- d. h. die Legitimität politischer Bibellektüre wird auch durch die Deutschen Christen und ihre theologischen Protagonisten, die u. a. Jesus zu einem Arier gemacht haben und die jüdische Bibel gegen das jüdische Volk ausgespielt haben, wie auch durch Pfarrer Raheb, der ihn zu einem Palästinenser macht und den jüdischen Staat unter Rückgriff auf die jüdische Bibel delegitimieren will, nicht aufgehoben. Ich stimme vielmehr Stefan Alkier zu, der in einem anderen Zusammenhang schreibt: »Der berechtigte Verweis auf die unterdrückenden Effekte vieler Bibelinterpretationen widerlegt den ebenso berechtigten Hinweis auf die förderliche Kraft der Lektüre biblischer Texte nicht. Beides trifft zu und führt zum Interesse am Bibeltext selbst, sei es, um ihn sachlich zu kritisieren, sei es, um lebenstaugliche Wahrheit zu finden. Dazu bedarf es aber nicht nur plausibler Methoden der Interpretation, sondern auch der ethischen Prüfung ihrer Grundlagen und Anwendungen.« 23 Wenn wir uns darauf einigen können, dass politische Exegese des Neuen Testaments legitim ist, dann können wir uns an die Arbeit machen, ethische Kriterien zu formulieren, die ihre Methoden wie ihre Anwendungen begleiten und überprüfen. Für jetzt genügt mir als ein Leitkriterium Stefan Alkiers Formulierung, dass es darum geht, »lebenstaugliche Wahrheit zu finden«. Denn ich habe die Hoffnung, dass unter diesem konstruktiven hermeneutischen Prinzip politische Exegese zu einer lebensförderlichen Lektüre für alle Menschen werden kann. »Wenn wir uns darauf einigen können, dass politische Exegese des Neuen Testaments legitim ist, dann können wir uns an die Arbeit machen, ethische Kriterien zu formulieren, die ihre Methoden wie ihre Anwendungen begleiten und überprüfen.« Zeitschrift für Neues Testament_31 typoscript [AK] - 21.03.2013 - Seite 46 - 2. Korrektur 46 ZNT 31 (16. Jg. 2013) Kontroverse Anmerkungen 1 A. Pecar/ K. Trampedach, Der »Biblizismus«-- eine politische Sprache der Vormoderne, in: Dies. (Hgg.), Die Bibel als politisches Argument, München 2007, 1-18: 2. 2 Ebd., 2 f. 3 Diesen kennzeichnenden Begriff führen Pecar und Trampedach ein (a. a. O., 1). 4 Ch. Strecker, Taktiken der Aneignung. Politische Implikationen der paulinischen Botschaft im Kontext der römischen Wirklichkeit, in: E. Reinmuth (Hg.), Neues Testament und politische Theorie. Interdisziplinäre Beiträge zur Zukunft des Politischen, Stuttgart 2011, 114- 161: 116 ff. 5 Strecker, a. a. O., 116; N. Elliott, Paul and Politics of Empire. Problems and Prospects, in: R.A. Horsley (Hg.), Paul and Politics, Harrisburg 2000, 17-39; ders., The Arrogance of Nations. Reading Romans in the Shadow of Empire, Minneapolis 2010. 6 Strecker, a. a. O., 118; J.D. Crossan/ J.I. Reed, In Search of Paul. How Jesus’ Apostle Opposed Rome’s Empire with God’s Kingdom, London 2005. 7 Strecker, a. a. O., 120; S. Kim, Christ and Caesar. The Gospel and the Roman Empire in the Writings of Paul and Luke, Grand Rapids 2008. 8 A. Pecar/ K. Trampedach, a. a. O., 1; vgl. auch W. Stegemann, Jesus und seine Zeit, Stuttgart 2010, 213f. (dort weitere Literatur). 9 Grundlegend dazu: B.J. Malina, Religion in the World of Paul, Biblical Theology Bulletin 16 (1986), 92 ff. 10 S. auch die Ausführungen von L. Bormann, Befreiung und Rettung. Das Politische in der lukanischen Vorgeschichte (Lk 1-2), in: E. Reinmuth (Hg.), Neues Testament und politische Theorie. Interdisziplinäre Beiträge zur Zukunft des Politischen, Stuttgart 2011, 98-113, bes. 100-104. Er kritisiert in diesem Zusammenhang die von nicht wenigen exegetischen Fachleuten vorausgesetzte vermeintliche »Politikferne des Neuen Testaments.« 11 S. dazu L. Schottroff/ W. Stegemann, Jesus von Nazareth- - Hoffnung der Armen, Stuttgart 3 1990; W. Schottroff/ W. Stegemann, Traditionen der Befreiung. 2 Bände, München 1980. 12 So zu Recht S. Alkier, Bibel und Interesse, in: E. Reinmuth (Hg.), Neues Testament und Politische Theologie. Interdisziplinäre Beiträge zur Zukunft des Politischen, Stuttgart 2011, 215-228: 217. 13 M. Llanque/ H. Münkler (Hgg.), Politische Theorie und Ideengeschichte. Lehr- und Textbuch, Berlin 2007, 13 (Kursivierung von mir). 14 Bormann, a. a. O., 107. 15 Darauf macht Bormann, ebd., aufmerksam: E. Vollrath, Was ist das Politische? Eine Theorie des Politischen und seiner Wahrnehmung, Würzburg 2003. 16 Dazu nur W. Fenske, Wie Jesus zum ›Arier‹ wurde. Auswirkungen der Entjudaisierung Christi im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts, Darmstadt 2005. 17 S. auch S. Meißner, Sind die Palästinenser die wahren Juden? , in: Religionen in Israel 18 (2012), 73-80. 18 http: / / www.christatthecheckpoint.com/ lectures/ Mitri_ Raheb.pdf. 19 Meißner, a. a. O., 74. 20 Nachzulesen auf der genannten Internetseite. 21 Raheb steht übrigens mit dieser Inanspruchnahme der jüdischen Bibel bzw. des Neuen Testaments für das palästinensische Volk nicht alleine da. Sie ist Teil einer ideologischen Auseinandersetzung palästinensischer Autoritäten, die die historische, kulturelle und genetische Kontinuität zwischen den jüdischen Israelis der Gegenwart und der jüdischen Geschichte im Land Israel von ihren Anfängen an delegitimieren soll: dazu nur D. Bukay, Founding National Myths. Fabricating Palestinian History, in: Middle East Quarterly (19/ 3) 2012, 23-30; nachzulesen unter: http: / / www.meforum.org/ 3273/ palestinian-founding-national-myths. Weitere Hinweise in dem Aufsatz von Meißner. 22 Meißner a. a. O., 78. 23 Alkier, a. a.O, 218 f.