eJournals ZNT – Zeitschrift für Neues Testament 16/31

ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
2013
1631 Dronsch Strecker Vogel

Das Gleichnis von Schalksknecht – eine Ökonomie der Generosität

2013
Jesper Tang Nielsen
Zeitschrift für Neues Testament_31 typoscript [AK] - 21.03.2013 - Seite 31 - 2. Korrektur ZNT 31 (16. Jg. 2013) 31 1. Einführung Ein Knecht ist einem anderen Knecht einen überschaubaren Betrag schuldig. Der Knecht verlangt, dass die Schulden bezahlt werden. Weil der Schuldner nicht im Stande ist, das Geschuldete zu bezahlen, wird er ins Gefängnis geworfen. Es gehört zu Recht und Gesetz, dass jeder seine Schulden tilgen muss. Trotzdem empören sich die Mitknechte, denn dem Geschädigten waren gerade selbst unüberschaubare Schulden erlassen worden. Die Reaktion der Mitknechte erscheint intuitiv und kontraintuitiv zugleich. Auf der einen Seite wirkt es einleuchtend und folgerichtig, dass das Glück des Knechts auch dem Mitknecht zugute kommen soll. Es mutet ausnehmend undankbar an, dass der Knecht den Schuldenerlass verweigert, wo ihm doch seine eigenen Schulden erlassen worden sind. Auf der anderen Seite ist der Knecht fraglos im Recht. Dass gewöhnliche Regeln und Gesetze in einem bestimmten Fall aufgehoben worden sind, heißt ja nicht, dass sie in jedem Fall aufgehoben werden müssen. Es wäre in der Tat eine chaotische und anarchische Welt, in der Schulden nicht getilgt werden müssen und säumige Zahler nicht bestraft werden. Wie kann Jesus nach Matthäus diese Situation mit dem Himmelreich vergleichen? Offensichtlich ist von einer ganz anderen Ökonomie die Rede als in der gegenwärtigen Welt. Nichtsdestoweniger ist die Reaktion der Mitknechte unmittelbar verständlich. Es muss deswegen einen Zusammenhang zwischen der Ökonomie des Himmelreichs und der Ökonomie der Welt geben, sonst verstünde man wohl nicht die Mitknechte. Gerade diese Verbindung macht aus dem Gleichnis eine politische Herausforderung. Im Folgenden wird das Gleichnis zunächst exegetisch analysiert. Als Teil des Matthäusevangeliums ist es in die matthäische Theologie eingebunden und dient seiner Verkündigung. Sodann wird die grundlegende phänomenologische Struktur innerhalb des Gleichnisses dargestellt. Erkennbar spielen Gaben und das Geben eine Hauptrolle für die Logik des Gleichnisses. Gerade diese Phänomene sind seit einigen Jahrzehnten ein heißes Thema der Sozial- und Geisteswissenschaften. Zunächst waren Gaben Gegenstand anthropologischer Untersuchungen, aber in den letzten zwanzig Jahren taucht dieses Thema verstärkt in philosophischen und soziologischen Diskussionen auf. Besonders über die so genannte »reine Gabe« hat man sich lebhaft gestritten. Einige der charakteristischsten Positionen dieser Debatte werden im Folgenden referiert, um dann die »Gabe«-Auffassung des Gleichnisses zu präsentieren. Die Ausführungen münden in eine Diskussion der politischen Aspekte des Gleichnisses. Gefragt werden soll, ob und gegebenenfalls wie das Gleichnis eine politische Herausforderung sein kann. 2. Exegese: Mt 18,23-35 Das Gleichnis vom Schalksknecht schließt eine der großen Reden des Matthäusevangeliums ab. Die Worte »Da Jesus diese Reden vollendet hatte« (19,1) markieren das Ende der sog. »Gemeinderede«, die sich über das ganze achtzehnte Kapitel erstreckt. Die Rede wird von einer Jüngerfrage eingeleitet. Die Jünger kommen zu Jesus und fragen, wer der Größte im Himmelreich sei (V. 1). Das veranlasst einen längeren Monolog (V. 2-20), der aber nicht nur eine Antwort auf die gestellte Frage ist, sondern auch andere Themen aufgreift (u. a. Ärgernis, Exkommunikation und Gebet). Als Jesus das Thema der Sünden innerhalb der Gemeinde anspricht (V. 15), stellt Petrus die Frage »Herr, wie oft soll ich meinem Bruder, der gegen mich sündigt, vergeben? Bis siebenmal? « (V. 21). Die Antwort Jesu lautet: »Ich sage dir: Nicht bis siebenmal, sondern bis siebenundsiebzigmal«, nach einer anderen Übersetzung »sieben mal siebzig« (V. 22). Ungeachtet welche Übersetzung vorgezogen wird, stellt die Antwort eine Entgrenzung von Petrus’ Vorschlag ins Unendliche dar. Die Vergebungsbereitschaft soll, so will es Jesus, unbegrenzt sein. Auf diese Antwort folgt das Gleichnis vom Schalksknecht, das als eine erläuternde Erklärung der Auffassung Jesu verstanden werden muss. In Form eines Himmelreichsgleichnisses begründet Jesus, warum ein Gemeindemitglied seinem Gemeindebruder die Vergebung niemals verweigern darf. Das Gleichnis kann mit Bezug auf die auftretenden Personen in vier Teile zergliedert werden. (a) V. 22-27: Der Knecht und sein Herr. (b) V. 28-30: Der Knecht und sein Schuldner. (c) V. 31: Die Mitknechte. (d) V. 32-34: Der Knecht und sein Herr. V. 35 ist die ab- JesperTang Nielsen Das Gleichnis von Schalksknecht-- eine Ökonomie der Generosität Zum Thema Zeitschrift für Neues Testament_31 typoscript [AK] - 21.03.2013 - Seite 32 - 2. Korrektur 32 ZNT 31 (16. Jg. 2013) Zum Thema schließende Applizierung auf die Situation der Jünger und auf das Thema der Vergebung. 2.1. Erster Teil: V. 22-27: Der bodenlos überschuldete Knecht und sein grenzenlos reicher Herr. Mit dem Wort »deswegen« ist das Gleichnis mit dem vorstehenden Dialog verbunden. Weiterhin begegnet eine im Matthäusevangelium geläufige Formulierung: »das Himmelreich ist einem König ähnlich« (V. 23). Im griechischen Text wird hervorgehoben, dass der König ein Mensch ist. Das ist auffallend, denn der Sinn der Gleichniseinleitung ist natürlich nicht, dass das Himmelreich wie ein menschlicher König ist. Mit dem Satz ist gemeint, dass die Regeln, die im Gleichnis dargestellt werden, für das Himmelreich gelten. Im Vergleich mit den übrigen matthäischen Himmelreichsgleichnissen ist es ferner auffallend, dass weder der narrative Anlass noch das rhetorische Ziel des Gleichnisses das Himmelreich betreffen. Thema ist vielmehr das ethische Verhalten in der irdischen Gemeinde. Dieses Verhalten wird von den Verhältnissen im Himmelreich her begründet. Weil Gott sich mit Bezug auf das Himmelreich in der angegebenen Weise verhält, müssen die Gemeindemitglieder sich ebenfalls in einer bestimmten Weise verhalten. Und gerade deshalb ist es wichtig, dass das Himmelreich einem menschlichen König ähnelt. Das zeigt nämlich, dass die Regeln des Himmelreichs nach Matthäus nicht völlig von erkennbaren Regeln des zwischenmenschlichen Lebens getrennt sind, und deswegen können und müssen sie auch im Leben der Gemeinde realisiert werden. Matthäus zufolge ist das Himmelreich keine rein transzendente Größe, die die Christen erwarten, sondern eine irdische Realität in Gestalt von Menschen, die zu diesem Reich gehören. Das Himmelreich ist die soziale Wirklichkeit, die durch den Glauben an Christus entstanden ist. Nur so macht es Sinn, dass das Gleichnis vom Himmelreich handelt, aber eine erläuternde Erklärung der Antwort Jesu auf die Frage des Petrus ist. Der erste Teil des Gleichnisses handelt von der Abrechnung des Königs mit seinen Knechten. Einer von ihnen ist ihm zehntausend Talente schuldig (V. 24). Der Betrag ist astronomisch hoch. Zum Vergleich: Die Steuererträge der Tetrarchien des Philippus, des Herodes Antipas und des Archelaos betrugen nach Josephus insgesamt weniger als tausend Talente pro Jahr. 1 Zehntausend Talente sind eine derart riesige Summe, dass einige Manuskripte statt »zehntausend« »viele« oder »hunderte« lesen. Das trifft natürlich nicht den Sinn. Es ist unerlässlich für das Anliegen des Gleichnisses, dass die Schulden unüberschaubar sind. Das griechische Wort myrioi ist die höchst mögliche Zahl und ein »Talent« die höchst mögliche Münzeinheit. So wird klar, dass der Knecht derart überschuldet ist, dass sein Herr Anspruch auf seine ganze Existenz hat. Er nimmt diesen Anspruch wahr, wenn er fordert, dass der Knecht, seine Frau, seine Kinder und aller Besitz verkauft werden sollen (V. 25). Der genaue rechtsgeschichtliche Hintergrund dieser Androhung ist nicht recht klar. Jedenfalls hätte der Schuldner auf diese Weise seine Schuldenlast so gut wie gar nicht verringert, da Sklaven für einen Preis zwischen 500 und 2000 Dinaren verkauft wurden. 2 Wahrscheinlich soll dieser Vers einfach verdeutlichen, dass die ganze Existenz des Knechts in der Gewalt des Herrn ist. In der Forschung wurde diskutiert, wie ein Knecht Schulden in dieser Höhe abarbeiten konnte. Man hat vermutet, dass er den höheren Schichten der Gesellschaft angehörte und eine einflussreiche Stellung im finanziellen Sektor inne hatte. Die Schulden wären dann auf Grund von Unterschlagung entstanden. 3 Eher selten wird die Höhe der Schulden zum Reichtum des Königs Prof. mso. Dr. Jesper Tang Nielsen, geb. 1971 in Aarhus, Dänemark, 1991-1998 Studium der Theologie in Aarhus, Tübingen und Kopenhagen, 2003 Promotion in Aarhus, 2003-2007 Assistenz-Professor für Neues Testament an der theologischen Fakultät, Universität Kopenhagen, 2007-2011 Associate Professor in Kopenhagen, seit 2012 Professor mso (mit besonderen Aufgaben) in Kopenhagen, seit 2010 Head of Studies an der theologischen Fakultät, Universität Kopenhagen. Veröffentlichungen zum Johannesevangelium, Paulus, apokryphen Evanglien u. a. Jesper Tang Nielsen »Matthäus zufolge ist das Himmelreich keine rein transzendente Größe, die die Christen erwarten, sondern eine irdische Realität in Gestalt von Menschen, die zu diesem Reich gehören. Das Himmelreich ist die soziale Wirklichkeit, die durch den Glauben an Christus entstanden ist.« Zeitschrift für Neues Testament_31 typoscript [AK] - 21.03.2013 - Seite 33 - 2. Korrektur ZNT 31 (16. Jg. 2013) 33 Jesper Tang Nielsen Das Gleichnis von Schalksknecht-- eine Ökonomie der Generosität in Beziehung gebracht: Dass ihm zehntausend Talente fehlen und er dann die ganze Summe erlassen kann, zeugt von einem unfassbar großen Wohlstand. Oder aber die absurden ökonomischen Verhältnisse zeigen, dass das Gleichnis gar nicht von Ökonomie handelt. Es dreht sich dann einfach um einen König, der alles hat, und einen Knecht, der alles schuldet. Dass das griechische Wort für Schulden auch für Schuld (z. B. 6,12) benutzt wird, unterstützt diese Auslegung. Als er mit der Forderung nach Schuldentilgung mit der Aussicht, alles zu verlieren, konfrontiert wird, wirft der Knecht sich vor seinem Herrn nieder und bittet um Stundung (V. 26). Das Niederwerfen ist erkennbar eine religiöse Geste und bezeichnet das Anbeten einer Gottheit. Auf diese Weise erkennt der Knecht seine absolute Abhängigkeit von dem König an. Die Abhängigkeit wird durch die Reaktion des Königs nicht geschmälert. Der König bekommt Mitleid mit dem Knecht und erlässt seine Schulden (V. 27), aber der Knecht steht unvermindert in der Schuld des Königs, denn jetzt hat er tatsachlich seine ganze Existenz von ihm bekommen. Das wird aber erst in dem letzten Teil des Gleichnisses thematisiert. 2.2. Zweiter Teil: V. 28-30: Der entschuldete, unerbittliche Knecht Nachdem ihm die riesige Summe erlassen worden ist, trifft der Knecht einen Mitknecht, der ihm hundert Dinare schuldig ist, d. h. ein Sechshunderttausendstel des soeben erlassenen Betrages. Des ungeachtet fordert er sofort die Rückzahlung (V. 28), und obwohl der Mitsklave genau wie der erste Knecht reagiert, sich nieder wirft und um Stundung bittet (V. 29), bekommt er kein Mitleid (V. 30). Obwohl die Reaktion des Knechts gegensätzlich zu der des Königs ausfällt, verfährt er in derselben Souveränität mit der Existenz des Mitknechts. Das aber hat vernichtende Konsequenzen für den Mitknecht wie auch für den Knecht selbst. 2.3. Dritter Teil: V. 31: Die empörten Mitknechte Wie schon erwähnt ist dieser Vers interessant. Die Mitknechte empören sich über die Mitleidslosigkeit des Knechts (V. 31). So übernehmen sie die Reaktion der Leser auf das Verhalten des Knechts. Es geht nicht aus dem Gleichnis hervor, ob sie von der Erlassung der riesigen Schulden Kenntnis haben, aber sofern sie die Position der Leser einnehmen, muss ihre Empörung gerade vor diesem Hintergrund verstanden werden. Jedenfalls markiert sie die Reaktion auf das verwerfliche Verhalten dem Mitknecht gegenüber. Das ist bemerkenswert, denn das Recht steht offensichtlich auf seiner Seite. Ganz gleich, welche juridischen Traditionen hinter der Schuldhaft stehen, war es eine legitime Möglichkeit. Aber innerhalb der Erzählung wirkt es unmoralisch, von diesem Recht Gebrauch zu machen. Später wird es sich ergeben, dass das Unmoralische eigentlich die Verleugnung der eigenen Gabe ist. Die Mitknechte melden die Episode an den König. 2.4. Vierter Teil: V. 32-34: Der unerbittliche Herr Der König greift sofort ein und lässt den Knecht holen. Unversehens übernimmt er die moralische Wertung der Erzählung und spricht den Knecht mit »böser Knecht« an (V. 32). Sodann erklärt er die Logik, die die Leser schon für das Urteil über den Knecht zugrunde gelegt haben. Er hätte dieselbe Barmherzigkeit erweisen sollen, die ihm erwiesen wurde (V. 32-33). Die Freiheit, die die Erlassung der Schulden brachte, ist nicht eine Freiheit außerhalb des Machtbereichs des Königs. Im Gegenteil ist der Knecht bleibend dem König unterstellt, weil dieser die Gabe jederzeit zurücknehmen kann. Das tut er und übergibt ihn den Henkern (V. 34). Damit bringt er den Knecht zurück in die Existenz als Schuldner und überlässt ihn dem Geschick, das daraus folgt. Schon anhand der Wortwahl wird deutlich, dass das Gleichnis in eine theologische Deutung mündet. An die Stelle des Mitleids tritt die Barmherzigkeit. Statt von Schuldsklaverei ist von Henkern die Rede. Offensichtlich ist das Urteil des Königs Ausdruck einer eschatologischen Verdammnis. Die Grundlage des Urteils ist die Reaktion des Knechts auf die Barmherzigkeit, die ihm zu Teil wurde. Weil er sie nicht in Barmherzigkeit für seine Mitknechte umsetzte, wird sie ihm entzogen. Das Geschenk, das er vom König erhielt, wird ihm wieder weggenommen, weil er es nicht weitergab. Auf diese Weise wird das Verhältnis zum König im Verhältnis zu den Mitknechten entschieden. Seine Unbarmherzigkeit zeigt sich als eine Verleugnung der Barmherzigkeit, die ihm erwiesen wurde. 2. 5. Schluss: V. 35: Vergebung in der Gemeinde Im letzten Vers überträgt Jesus den Ertrag des Gleichnisses auf die Jünger. Sein himmlischer Vater wird wie der menschliche König tun, wenn sie nicht ihren Brüdern vergeben (V. 35). Damit ist die erläuternde Erklärung für Jesu Antwort auf die Frage des Petrus gegeben. Die unbegrenzte Vergebung unter den Brüdern ist in der unbegrenzten Vergebung Gottes begründet. Sie ist es, Zeitschrift für Neues Testament_31 typoscript [AK] - 21.03.2013 - Seite 34 - 2. Korrektur 34 ZNT 31 (16. Jg. 2013) Zum Thema die in zwischenmenschlichen Relationen umgesetzt werden muss, und die sich in einer besonderen Sozialität auswirkt. Andernfalls verschwindet die Gnade Gottes geradezu. Einige Exegeten meinen, dass der Vers eine Begrenzung der eigentlich universalen Sicht des Gleichnisses sei. 4 Das Gleichnis stamme von Jesus selbst und sei sekundär in den matthäischen Kontext eingefügt, wo es auf interne Gemeindeverhältnisse begrenzt worden sei. Diese Exegese ist m. E. nicht zwingend. Erstens basieren solche literarkritischen Thesen immer auf Spekulation, und zweitens spielt sich schon das Gleichnis selbst innerhalb einer antiken Familie ab. Die Welt außerhalb des Königshauses existiert nicht. Weiterhin entspricht das Gleichnis dem matthäischen Versuch, die Gemeinde als eine ethisch qualifizierte Einheit darzustellen. Im jetzigen Zusammenhang ist jedenfalls deutlich, dass die Gemeindemitglieder ein Miteinander verwirklichen sollen, das die unmittelbare Konsequenz ihres Gottesverhältnisses ist. Das Gottesverhältnis initiiert die soziale Form und die soziale Form determiniert das Gottesverhältnis. Wird es nicht in menschlichen Relationen umgesetzt, existiert es gar nicht. 2.6. Hermeneutische Überlegungen: Zwei Überraschungen und zwei Reiche Das Gleichnis lebt von seinen Überraschungen. Erstens die Überraschung, dass die riesigen Schulden des Knechtes erlassen werden. Zweitens die Überraschung, dass er nicht in derselben Weise an seinem eigenen Schuldner handelt. Die Überraschungen entstehen, weil der Leser gegensätzliche Erwartungen hat. Die erste Überraschung gehört der gewöhnlichen Welt an, in der jemand allen Verpflichtungen nachkommen muss, sonst riskiert er Repressalien. In der gewöhnlichen Welt will niemand große Schulden erlassen. Das ist ein Reich der Gerechtigkeit, in dem gewöhnliche Regeln gelten und Debitoren ihren Kreditoren zahlen müssen. Die Logik dieses Reichs gründet auf Mangel. Wer ausgeliehen hat, hat zeitweilig einen Verlust, deshalb müssen die Schulden zurückgezahlt werden. Wenn das nicht geschieht, wird der Verlust permanent. Deshalb hat der Kreditor Anspruch auf Rückzahlung. Die erste Überraschung ist ein Verstoß gegen diese Logik. Als das Reich der Gerechtigkeit Forderungen stellt, bricht im Gleichnis ein anderes Reich mit einer anderen Logik ein. Es zeigt sich, dass der Kreditor die Schulden erlassen kann, ohne einen Verlust zu erleiden. Für das Reich der Gerechtigkeit ist das natürlich undenkbar. In diesem Reich führt Freigiebigkeit zu Verlust. Aber gerade diese Logik wird gebrochen. An die Stelle von Gerechtigkeit stellt das Gleichnis Generosität. Von seinem überaus großen Überfluss verschenkt der Herr eine unbegreiflich große Summe und erleidet keinen Verlust. Damit ist eine andere Logik eingeführt, denn der Geber gibt, ohne zu verlieren. Das Reich, in dem diese Logik herrscht, ist ein Reich der Generosität. In diesem Reich ist die Mangellogik durch eine Überflusslogik ersetzt. Schuldner brauchen nicht zurückzuzahlen, Kreditoren haben keinen Anspruch an Debitoren, weil Erlassung keinen Verlust mit sich führt. Im Gegenteil werden das Reich der Generosität und die entsprechende Logik von einer außerordentlichen Gabe gestiftet, die die Schuldner aus ihren unzahlbaren Schulden erlöst. Natürlich streitet dies gegen die Logik der Welt und passt nicht zu dem Reich der Gerechtigkeit, aber es ist nicht so fremdartig, dass es nicht verstehbar ist. In der Tat bereitet die Einführung dieser Logik die zweite Überraschung. Auch wenn diese Logik gegen die Logik der gewöhnlichen Welt streitet, ist sie die Begründung für die Empörung der Mitknechte und Leser. Beide erwarten, dass der Knecht die Barmherzigkeit weitergibt. Obwohl es nicht ausdrücklich gesagt wird, ist es offensichtlich, dass er sich gegen die Überflusslogik vergeht, der er wegen seiner eigenen Entschuldung verpflichtet ist. Als adäquate Reaktion auf die unerwartete Gabe hätte er sich in das Reich der Generosität hineinziehen lassen und sich deswegen seinem Schuldner verpflichtet gefühlt. Auch insofern ist das Gleichnis eine Illustration des Vaterunsers (6,12). Die zweite Überraschung des Gleichnisses ist die fehlende Erkenntnis des Knechts, dass er der Logik der Generosität gehorchen muss. Die Mitknechte bringen ihr Überraschtsein zum Ausdruck und stehen damit für die Leser. Die Gabe des Herrn ruft die Erwartung hervor, dass die Generosität weitergegeben werden muss. Die Erwartung wird enttäuscht und löst in den Lesern dieselbe Empörung aus wie in den Mitknechten. Obwohl der Herr seinen Charakter ändert und plötzlich Generosität gegen Gerechtigkeit vertauscht, ist es keine Überraschung. Eigentlich erwartet der Leser, dass der Herr jetzt unerbittlich sein muss. Folgerichtig führt der früher generöse Herr jetzt wieder das Reich »Im jetzigen Zusammenhang ist jedenfalls deutlich, dass die Gemeindemitglieder ein Miteinander verwirklichen sollen, das die unmittelbare Konsequenz ihres Gottesverhältnisses ist. […] Wird es nicht in menschlichen Relationen umgesetzt, existiert es gar nicht.« Zeitschrift für Neues Testament_31 typoscript [AK] - 21.03.2013 - Seite 35 - 2. Korrektur ZNT 31 (16. Jg. 2013) 35 Jesper Tang Nielsen Das Gleichnis von Schalksknecht-- eine Ökonomie der Generosität der Gerechtigkeit ein und nimmt sein Geschenk zurück. Jetzt ist er nicht mehr der barmherzige und freigiebige Herr. Im Gegenteil entspricht seinem Verhalten die Unbarmherzigkeit des Knechts. Für den unbarmherzigen Knecht ist der Herr unbarmherzig; für den Knecht, der der Logik der Gerechtigkeit folgt, gilt die Logik der Gerechtigkeit. Wenn der Knecht im Reich der Gerechtigkeit lebt, wird ihm das Reich der Generosität entzogen. Der letzte Vers appliziert die Logik auf die Situation in der Gemeinde. Die Vergebung unter den Brüdern muss der Vergebung entsprechen, die ihnen selbst zuteil geworden ist, sonst werden sie aus dem Reich der Generosität, das der himmlische Vater Jesu gestiftet hat, ausgewiesen. Wenn sie unerbittlich sind, wird er der unerbittliche Herr sein, der die Logik der Gerechtigkeit gelten lässt. Nun sieht man, wie das Himmelreich einem König ähnlich sein kann, denn die Handlungen des Königs zeigen, dass er über ein Reich mit einer außergewöhnlichen Logik herrscht. Das Himmelreich wird von dem himmlischen Vater Jesu gestiftet, wenn er die Logik der Generosität einführt. Barmherzigkeit, Freigiebigkeit und Vergebung sind den Glaubenden zuteil geworden, und das Himmelreich besteht, wenn diese Generosität überfließt in die Gemeinschaft der Glaubenden im Reich der Generosität. Wenn das nicht geschieht, gibt es die Logik der Generosität nicht, und führen die Glaubenden die Logik der Gerechtigkeit ein, gibt es das Reich der Generosität nicht. Deswegen widerspricht die abschließende Unbarmherzigkeit eigentlich nicht der anfänglichen Barmherzigkeit des Herrn, sondern sie ist eine Konsequenz des Verstoßes gegen die Generosität. Vor diesem Hintergrund ist die Applikation auf die Situation der Gemeinde keine Warnung, sondern eher eine Vorwarnung. Sie gibt an, was passiert, wenn das Fließen der Generosität aufhört und die Ökonomie der Gerechtigkeit eingeführt wird. Dann bricht das Himmelreich zusammen. Es ist unschwer zu erkennen, dass das Gleichnis eine besondere Logik der Gabe darstellt, die mit gewöhnlichen Vorstellungen von Gaben bricht. Unten wird ausgeführt, dass die Gabe eine Forderung in sich schließt, dem Geber die Gabe in irgendeiner Weise zu erwidern. In dem Gleichnis gibt es eine Gabe von solcher Größe, dass sie dem Geber nicht zurückgegeben werden kann. Sie ist aber nicht weniger verpflichtend. Bloß muss es nicht dem Geber zurück-, sondern dem Schuldner weitergegeben werden. So fließt Gabe und Gegenleistung über in das Reich der Generosität, das im Matthäusevangelium das Himmelreich genannt wird und das dem Reich der Gerechtigkeit widersteht. 3. Gaben und Austausch Seit Jahren sind Gaben ein umstrittenes Thema der Geisteswissenschaften. Diskutiert wird nicht nur, welche sozialen Handlungen und welche phänomenologischen Strukturen einer Gabe zugrunde liegen, sondern auch die Möglichkeit bzw. Unmöglichkeit eine Schenkökonomie zu umgehen, d. h. ob es eine sog. »reine Gabe« gibt, die den Empfänger nicht zu einer Gegenleistung verpflichtet. Diese Diskussion ist exegetisch relevant, denn offenbar gibt es im Gleichnis vom Schalksknecht eine Gabelogik, die auf der einen Seite mit gewöhnlichen Vorstellungen bricht (vgl. die erste Überraschung) und auf der anderen Seite einen Bezug zu menschlichen Erwartungen aufweist (vgl. die zweite Überraschung). Gleichzeitig bildet die Gabediskussion die Grundlage für mögliche politische Implikationen, da eben die besondere Gabe die außergewöhnliche Logik des Reichs der Generosität stiftet. Die Debatte über Gaben gründet auf Untersuchungen von Gaben in archaischen Gesellschaften, die der Anthropologe Marcel Mauss im ersten Viertel des 20. Jh.s durchgeführt hat. In seinem berühmten Buch »Essai sur le don« 5 zeigt er, dass Gaben die Struktur einer Gesellschaft aufrechterhalten als auch bedrohen können. In seiner Darstellung ist eine Gabe Ausdruck von Überlegenheit. Gaben zeigen die überlegene Situation des Gebers. Um eine ebenbürtige Relation aufrecht zu erhalten, ist der Empfänger deswegen verpflichtet, eine Gabe zurückzugeben. Aber natürlich kann der Geschenkaustausch nicht unmittelbar nach einander folgen, denn dann handelte es sich nicht um Gaben, sondern eher um einen reinen Tausch. Etwas Zeit muss zwischen den Gaben verstreichen, damit die ökonomische Struktur des Tausches nicht zu deutlich wird. Um die Ausgeglichenheit in der Relation zu bewahren, müssen die Geschenke auch von ungefähr demselben Wert sein. Sonst wird der Austausch zu einer Konkurrenz, bei der die Teilnehmer versuchen, einander zu übertreffen. Mauss zeigt, dass solche Austauschsituationen tatsächlich destabilisierend wirken können, wenn die Geber bei dem Versuch, immer größere Geschenke zu schenken, sich selbst ruinieren. »Gaben zeigen die überlegene Situation des Gebers. Um eine ebenbürtige Relation aufrecht zu erhalten, ist der Empfänger deswegen verpflichtet, eine Gabe zurückzugeben.« Zeitschrift für Neues Testament_31 typoscript [AK] - 25.03.2013 - Seite 36 - 2. Korrektur 36 ZNT 31 (16. Jg. 2013) Zum Thema »Die Schenkökonomie besteht in einem verpflichtenden Austausch. Ein Empfänger wird immer dem Geber verpflichtet, wenn auch nur zu Dankbarkeit, deshalb spielen Hierarchie und Machtrelationen immer eine Rolle.« Aber auch in ungleichen Relationen haben Gaben einen verpflichtenden Charakter. Der Untertan kann natürlich nicht die Gabe erwidern, er muss aber durch Dankbarkeit und andere Formen der Anerkennung seinen untergeordneten Status ausdrücken, so beispielsweise im antiken Patronatssystem. Der Patron war dem Klient überlegen und unterstützte ihn. Auf der anderen Seite war der Klient dem Patron unterlegen und ihm verpflichtet. Ökonomische Gaben des Patrons verpflichten den Klienten zur Loyalität gegenüber dem Patron. Natürlich ist die Beziehung zwischen Patron und Klient nicht ebenbürtig, weil der Austausch sich überhaupt auf eine ungleiche Relation stützt. Zwischen Freunden hingegen darf die Ebenbürtigkeit nicht angetastet werden, deshalb müssen die Gaben auch in etwa gleich sein. In diesem Zusammenhang sind aber die spezifischen kulturellen Ausformungen des Geschenkaustauschs und die sozialen Konsequenzen von geringerer Bedeutung. Sehr bedeutsam ist dagegen die generelle Struktur der Gaben, die Mauss untersucht. Im Phänomen der Gabe liegt eine verpflichtende Beziehung. Die Gabe drückt die Überlegenheit des Gebers aus und versetzt den Empfänger in eine unterlegene Position. Dieses Ungleichgewicht kann nur ausgeglichen werden, wenn der Empfänger die Rolle des Gebers übernimmt und dem ersten Geber eine Gabe schenkt. Kurzum: Die Schenkökonomie besteht in einem verpflichtenden Austausch. Ein Empfänger wird immer dem Geber verpflichtet sein, wenn auch nur zu Dankbarkeit, deshalb spielen Hierarchie und Machtrelationen immer eine Rolle. Die Untersuchungen von Mauss haben eine Reihe von Diskussionen ausgelöst, weil die Gabe aus seiner Perspektive eigentlich unmöglich wird. Wenn schon in der Struktur der Gabe eine Ökonomie liegt, die den Empfänger zu einer Gegenleistung verpflichtet, gibt es keine uneigennützigen, d. h. »reinen« Gaben. Freigiebigkeit ist eine Unmöglichkeit, weil Gaben, so scheint es, immer einem eigennützigen Zweck dienen. Sie demonstrieren Überlegenheit und verpflichten den Empfänger zu Dankbarkeit und Gegenleistungen. Eine selbstlose Gabe gibt es gar nicht. Ein Denker, der diese Fragestellung besonders konsequent durchgedacht hat, ist Jacques Derrida. 6 Ihm zufolge ist die Gabe tatsächlich eine Unmöglichkeit. Sobald sie als Gabe erkannt ist, ist sie Teil der Schenkökonomie, und dann ist sie nach Derrida als Gabe bereits aufhoben. Der Geber beansprucht, Dankbarkeit zu empfangen, sobald er weiß, dass er eine Gabe gegeben hat. Der Empfänger versteht sich zu Dankbarkeit verpflichtet, sobald er weiß, dass er eine Gabe bekommen hat. In beiden Fällen vernichtet die Ökonomie die Gabe als Gabe. Von einer Gabe kann dann nur unter der Bedingung die Rede sein, dass der Geber nicht weiß, dass er gibt, und der Empfänger nicht weiß, dass er empfängt. Das aber widerstreitet Mauss’ Auffassung und konsequenterweise behauptet Derrida, dass Mauss sich eigentlich nicht mit Gaben beschäftigt, sondern mit allem, was Gaben aufhebt, z. B. Austausch, Verträge, Vereinbarungen. 7 Für Derrida bleibt die Gabe eine transzendente Idee, die nicht verwirklicht werden kann. Die Gabe wird als Gabe aufgehoben, wenn sie gegeben oder empfangen wird. Derrida vernachlässigt aber eine Ebene, die für den Begriff der Gabe konstitutiv ist: 8 Die Gabe etabliert eine Beziehung zwischen Geber und Empfänger. Dass diese Beziehung hierarchisch strukturiert ist, hebt nicht die Tatsache auf, dass der Gabe ein Beziehungsaspekt inhärent ist. Derrida zufolge ist es gerade die Beziehung zwischen Geber und Empfänger, die die Gabe unmöglich macht, deshalb muss eine Gabe ohne Beziehung gegeben werden. Das ist aber gegen die Natur der Gabe, insofern die Gabe eben eine Beziehung etabliert. Die Reziprozität ist deswegen unumgänglich. Die Frage ist aber, welchen Charakter diese Reziprozität hat. Innerhalb der Mangellogik als der anthropologischen Grundlage der Gabe muss die Beziehung hierarchisch sein. Der Geber erleidet einen Verlust, wenn er gibt, deswegen muss der Empfänger eine Gegenleistung geben, um einen Ausgleich zu schaffen. Aber wenn die ökonomische Logik nicht von Mangel bestimmt ist, ist die Situation völlig anders. Wenn der Geber geben kann, ohne Verlust zu leiden, hat die Beziehung einen ganz anderen Charakter. In seinem Journal schreibt Søren Kierkegaard: »Nur die Allmacht kann sich selbst zurücknehmen während sie sich hingibt, und in diesem Verhältnis besteht gerade die Unabhängigkeit des Empfängers. Die Allmacht Gottes ist deswegen seine Güte. Denn Güte besteht darin, ganz hinzugeben, aber in der Weise, dass man, wenn man sich allmächtig zurücknimmt, den Empfänger unabhängig macht. Jede endliche Macht macht abhängig, nur die Allmacht kann unabhängig machen, aus Nichts etwas hervorbringen, das Beständigkeit in sich selbst bekommt, weil die Allmacht ständig sich selbst zurücknimmt. Die Allmacht bleibt nicht Zeitschrift für Neues Testament_31 typoscript [AK] - 21.03.2013 - Seite 37 - 2. Korrektur ZNT 31 (16. Jg. 2013) 37 Jesper Tang Nielsen Das Gleichnis von Schalksknecht-- eine Ökonomie der Generosität in einem Verhältnis zu einem Anderen, denn es gibt nichts Anderes, zu dem sie sich verhält, nein sie kann geben ohne auch ein Bisschen von ihrer Macht aufzugeben, d. h. sie macht unabhängig.« 9 Das Geben der Allmacht zeitigt keinen Verlust. Der Allmächtige verliert nichts, wenn er gibt. Der Empfänger hingegen bekommt alles und ist deswegen der Allmacht alles schuldig. Aber Kierkegaard zufolge machen diese Schulden den Menschen nicht abhängig. Vielmehr wird er unabhängig, indem er dem Allmächtigen alles schuldig ist. »Der, dem ich absolut alles schuldig bin, weil er aber genauso absolut alles behalten hat, er hat mich eben unabhängig gemacht.« 10 Weil der Allmächtige geben kann, ohne zu verlieren, wird der Empfänger unabhängig, da er dem Allmächtigen nichts zurückgeben kann, denn der Allmächtige hat schon alles. Aber dieser Modus der Gabe ist nicht ohne Beziehung. Der Empfänger wird eben in eine Beziehung zu der Allmacht gebracht, die ihm alles gegeben hat. Er ist der Allmacht alles schuldig, aber gleichzeitig ist er ihr gegenüber unabhängig, weil die Allmacht nichts verloren hat und nichts braucht, das der Empfänger ihr geben kann. Diese Beziehung ist unter Menschen nicht möglich, meint Kierkegaard. In zwischenmenschlichen Beziehungen bringen Gaben immer Abhängigkeit mit sich, weil die Überlegenheit, die in der Gabe zum Ausdruck kommt, sich immer auf das Verhältnis zu anderen Menschen auswirkt. Aber die Überlegenheit der Allmacht ist absolut. Deswegen kann die Allmacht den Menschen unabhängig machen, indem sie ihm alles schenkt. Die Überlegungen Kierkegaards zur Gabe sind in ihrem literarischen Kontext nur ein Nebengedanke. Deswegen beschäftigt er sich nicht ausführlich mit der Beziehung, die zwischen dem allmächtigen Geber und dem ohnmächtigen Empfänger zustande kommt. Entscheidend ist allein, dass die Gabe Unabhängigkeit etabliert, weil der Allmächtige nicht verliert, was er gibt. Aber die Unabhängigkeit ist nicht beziehungslos, insofern die Schulden absolut sind. Der Empfänger steht in absoluter Schuld des Allmächtigen, aber ist gleichzeitig unabhängig von ihm, weil die Allmacht geben kann, ohne zu verlieren, und deswegen keine Gegenleistung braucht. Umgekehrt ist der ohnmächtige Empfänger unabhängig vom allmächtigen Geber und steht zugleich in absoluter Schuld, weil er keine Gegenleistung erbringen kann. Wie der Empfänger seine Schulden verwalten soll, wird von Kierkegaard in diesem Zusammenhang nicht thematisiert. 4. Matthäus über die Reziprozität der Gabe Matthäus überlegt, welche Gegenleistung eine Gabe verlangt, die von der Allmacht gegeben wird. Sein Gleichnis handelt eben von der Situation, dass der Knecht von seinen unermesslichen Schulden befreit worden ist und deswegen seinem Herrn seine ganze Existenz schuldig ist. Er ist unabhängig gemacht, steht aber zugleich in einer nicht aufkündbaren Beziehung zu dem Herrn. Denn die Reziprozität wird nicht aufgehoben, obwohl die Beziehung zwischen einem unabhängigen Empfänger und einem allmächtigen Geber besteht. Wie diese Beziehung verwaltet werden muss, geht aus dem Gleichnis hervor. Die etablierte Beziehung zerbricht in dem Augenblick, da sie nicht auf die Mitknechte übertragen wird. Wenn der Knecht seinem Mitknecht diejenige Freigiebigkeit und Barmherzigkeit verweigert, die ihm der Herr zeigte, wird die neu errichtete Beziehung außer Kraft gesetzt, und das alte Schuldenverhältnis wieder hergestellt. Auf diese Weise zeigt das Gleichnis, dass die verpflichtende Beziehung, die die Gabe etabliert, nicht nur zwischen dem Geber und dem Empfänger, sondern auch zwischen dem Empfänger und seinen Mitknechten besteht. Wenn der Knecht diese Beziehung verletzt, verletzt er auch die Beziehung zum Geber. Der Herr straft eigentlich nicht den Knecht, sondern vollstreckt den Beziehungsbruch, den der Knecht selbst begangen hat. Die Reziprozität der Gabe erklärt also die Überraschungen des Gleichnisses. Die erste Überraschung ist die Erlassung der riesigen Schulden. Die Überlegungen Kierkegaards zur Allmacht, die gibt, ohne zu verlieren, bzw. in derselben Bewegung gibt und zurücknimmt, führen vor, wie der Allmächtige absolute Schulden erlassen kann. Die erste Überraschung ist die neue Beziehung zwischen Kreditor und Debitor, die in der Erlassung der horrenden Schulden des Knechts gestiftet wird. Die zweite Überraschung folgt, wenn der Debitor sich konträr zu dieser neuen Beziehung verhält und sich unbarmherzig zeigt. Es wirkt spontan ungerecht, dass er kein Mitleid zeigt. Die Theorien der Gabe erklären diese intuitive Wertung. Gaben etablieren ein Abhängigkeitsverhältnis zum Geber, aber wegen der Allmächtigkeit des Gebers soll die Gegenleistung nicht an den Geber, sondern an die Mitknechte geleistet werden. Auf diese Weise kann der Knecht der Verpflichtung nachkommen, die in jeder Gabe involviert ist. Wenn er das nicht tut, ist es folgerichtig, dass der Herr die Beziehung abbricht. Wenn der Knecht nicht der in der Gabe implizierten Forderung nachkommt, geht das neu errichtete Verhältnis verloren. Weil die Gabe nicht dem allmächti- Zeitschrift für Neues Testament_31 typoscript [AK] - 25.03.2013 - Seite 38 - 2. Korrektur 38 ZNT 31 (16. Jg. 2013) Zum Thema gen Geber zurückgegeben werden kann, muss sie in eine entsprechende zwischenmenschliche Beziehung umgesetzt werden. Wenn der Geber allmächtig ist, zeigt sich die Reziprozität der Gabe als eine Verpflichtung den Mitmenschen gegenüber. Verstehen wir also die Ökonomie der Gabe mit Hilfe von Kierkegaards Betrachtungen über die Möglichkeit, der Allmacht, unabhängig zu machen, und verbinden wir dies mit dem matthäischen Gedanken der Zwischenmenschlichkeit der Verpflichtung, so ergibt sich folgendes Resultat: Eine gewöhnliche Schenkökonomie basiert auf einer Mangellogik, derzufolge eine Gabe einen Verlust nach sich zieht, der ausgeglichen werden muss. Deswegen steht der Empfänger in der Schuld des Gebers. Aber die matthäische Schenkökonomie gründet auf einer Überflusslogik. Der Überfluss ist im Begriff der Allmacht impliziert, deswegen kann die Allmacht alles geben, ohne zu verlieren, wodurch der Empfänger unabhängig wird. Aber diese Gabe aus dem Überfluss ist nicht weniger verpflichtend, nur nicht dem Geber gegenüber, sondern den Mitmenschen. Die Gabe soll nicht zurück-, sondern weitergegeben werden. Dies ist die Grundlage für die Überflusslogik, die im Reich der Generosität gilt. 5. Ökonomie der Generosität? Im Rahmen des Matthäusevangeliums ist das Gleichnis zweifelsohne auf die inneren Verhältnisse in der Gemeinde gerichtet. Im Kontext ist es als Antwort auf die Frage zu verstehen, wie oft man seinem Bruder vergeben muss. Dem Gleichnis zufolge hat Gott in seiner initialen Vergebung eine Beziehung zu jedem Bruder errichtet, die eine entsprechende Barmherzigkeit unter den Geschwistern impliziert. Wenn dieses Barmherzigkeitsverhältnis zwischen Gott und Mensch sich nicht in eine entsprechende zwischenmenschliche Relation umsetzt, existiert es gar nicht. So gesehen geht es im Gleichnis gar nicht um Ökonomie. Dennoch war es erforderlich, gabentheoretische Ausführungen mit einzubeziehen, um die Logik des Gleichnisses darzustellen. Denn die strukturelle Reziprozität, die in Gaben impliziert ist, ist Grundlage der unumgänglichen Verpflichtung, eine Gabe mit einer Gegenleistung zu erwidern. Auf dieser Verpflichtung basiert das Gleichnis. Bei Kierkegaard wird deutlich, dass gerade die Allmächtigkeit des Gebers der Grund ist, dass der Empfänger nicht ihm, sondern seinen Mitknechten verpflichtet ist. Diese göttlich initiierte Schenkökonomie stammt nämlich nicht aus Mangel, sondern aus Überfluss. Das Matthäusevangelium macht damit deutlich, dass die Gemeinde eine Ethik verwirklichen soll, die sich absolut von der Ethik der Welt unterscheidet. In der Tat muss die Gemeinde eine Gegenwelt darstellen. Im Unterschied zu einer gewöhnlichen menschlichen Gemeinschaft ist sie auf einer göttlichen Überflusshandlung gegründet. Deswegen gilt in der Gemeinde eine radikal andere Ethik. Wenn aber ökonomische Verhältnisse und Strukturen nicht nur die Oberfläche, sondern auch die Tiefenstruktur des Gleichnisses bestimmen, stellt sich die Frage, ob eine Auslegung ganz von ökonomischen Aspekten absehen kann. Wenn das Matthäusevangelium ein Gegenbild der Welt darstellt, gilt das doch wohl auch von der ökonomischen Sphäre. Wie kann das Gleichnis dann aber als eine Herausforderung der Ökonomie gelesen werden? Und hat diese Herausforderung überhaupt einen gegenwärtigen Anhaltspunkt? Zunächst lässt sich sagen, dass das Gleichnis überhaupt das ökonomische System herausfordert. Ökonomie basiert auf einer Mangellogik, insofern man immer davon ausgeht, dass eine Anleihe einen Verlust bringt, wenn sie nicht zurückbezahlt wird. Deswegen steht der Debitor immer in der Schuld des Kreditors und ist ihm folglich unterlegen. Im Gegensatz dazu behauptet das Gleichnis, dass eine Anleihe, die aus Überfluss stammt, nicht dem Kreditgeber gegenüber verpflichtet, sondern den Mitmenschen. Das gilt insbesondere, wenn Schulden erlassen werden. Dann ist der Schuldner schon dem Kreditor gegenüber frei, aber seinen eigenen Debitoren verpflichtet. Das ist ein radikaler Bruch mit gewöhnlichen finanziellen Betrachtungen. In der Weise wird im Gleichnis ein neues auf Überfluss basierendes ökonomisches System eingeführt. Die Herausforderung besteht in der offensichtlichen Utopie. Wenn Schuldner nicht zurückzahlen müssen und Debitoren nicht den Kreditoren verpflichtet sind, bricht die Gesellschaft in Anarchie und Chaos zusammen. Deshalb bleibt das Gleichnis eine Ermahnung, die eine absolut andere Gesellschaft darstellt und gerade deshalb die Mangellogik unserer Gesellschaft vor Augen führt. Diese Erkenntnis allein ist aber bereits eine politische Tat. »Ökonomie basiert auf einer Mangellogik, insofern man immer davon ausgeht, dass eine Anleihe einen Verlust bringt, wenn sie nicht zurückbezahlt wird. […] Im Gegensatz dazu behauptet das Gleichnis, dass eine Anleihe, die aus Überfluss stammt, nicht dem Kreditgeber gegenüber verpflichtet, sondern den Mitmenschen.« Zeitschrift für Neues Testament_31 typoscript [AK] - 21.03.2013 - Seite 39 - 2. Korrektur ZNT 31 (16. Jg. 2013) 39 Jesper Tang Nielsen Das Gleichnis von Schalksknecht-- eine Ökonomie der Generosität Sodann lässt die utopische Herausforderung aber darüber nachdenken, ob unser ökonomisches System teilweise anders sein könnte. Natürlich ist es keine Möglichkeit, alltägliche finanzielle Transaktionen aufgrund einer Logik des Überflusses durchzuführen, schon deshalb nicht, weil die Situation eine andere ist als im Gleichnis. Im Gleichnis ist der Debitor seine ganze Existenz dem Kreditor schuldigt. Noch ungewöhnlicher ist es, dass ein Kreditor, ohne Verlust zu erleiden, dem Debitor einen unüberschaubar großen Betrag erlassen kann. Aber die Situation ist nicht ganz undenkbar. In der Tat ähnelt das Verhältnis zwischen der westlichen und der dritten Welt dem Verhältnis zwischen dem Schalksknecht und seinem Herr. In diesem Fall ist das Gleichnis eine Herausforderung, zu überlegen, ob die Mangellogik die einzige mögliche ist. Es lässt sich kaum verleugnen, dass der globale finanzielle Markt nach einer Mangellogik funktioniert. Drittweltländer sind in dieser Situation dem Schalksknecht ähnlich, und den westlichen Ländern bzw. den Großbanken entspricht der Herr. Aber in der alltäglichen Welt besteht dieser Herr auf dem Reich der Gerechtigkeit, obwohl es eventuell möglich wäre, ganz anders über die Schulden zu denken. In diesem Fall gäbe es vielleicht die Möglichkeit, den Schuldner aus der Schuldhaft zu entlassen. Das wäre eine Tat des Überflusses, die möglicherweise eine neue Agenda für arme Länder in Geltung setzen könnte. Sicher ist diese Idee auch utopisch und lässt sich realistisch so nicht durchführen. Aber die Tatsache, dass das Gleichnis provoziert, über konkrete Verhältnisse nachzudenken, die man vorher als unveränderlich verstanden hat, ist auch eine politische Tat. Aus dieser exegetischen und gabentheoretischen Untersuchung des Gleichnisses von Schalksknecht lässt sich folgern, dass die politische Dimension des Matthäusevangeliums nicht in konkreten politischen Anweisungen besteht. Es spielt seine politische Rolle, wenn es eine Gegenwelt zu der normalen politisch-ökonomischen Welt imaginiert. In der Konfrontation mit einer radikal andersartigen Logik wird man provoziert, die Logik der gegenwärtigen Welt wahrzunehmen und-- hierhin liegt ein geradezu revolutionärer Aspekt des Evangeliums-- zu überlegen, ob nicht alles auch ganz anders sein kann. Anmerkungen 1 Jos Ant 17, 318-320, vgl. U. Luz, Das Evangelium nach Matthäus (Mt 18-25), EKK 1/ 3, Zürich/ Neukirchen- Vluyn 1997, 69 Anm. 32. 2 Ein Talent entspricht 6000 Dinaren. 3 So etwa Luz, Das Evangelium nach Matthäus (s. o. Anm. 1), 69. 4 Zur Diskussion Luz, Das Evangelium nach Matthäus (s. o. Anm. 1), 75 f. 5 Im französischen Original erschienen 1925. Deutsche Übersetzung: M. Mauss, Die Gabe. Form und Funktion des Austausches in archaischen Gesellschaften, Frankfurt a. M. 1968. 6 So etwa in J. Derrida, Given Time: I. Counterfeit Money, Chicago 1992. 7 J. Derrida, The Madness of Economic Reason: Gift without Present, in Derrida, Given Time (s. o. Anm. 6), 34-70. 8 Vgl. zum Folgenden N.H. Gregersen, »Generøsitetens teologi«, Dansk Teologisk Tidsskrift 71 (2008), 77-99. 9 Søren Kierkegaards Skrifter Band 20, København 2005, 58 (online Version: www.sks.dk) (eigene Übersetzung). 10 A. a. O.