eJournals ZNT – Zeitschrift für Neues Testament 16/31

ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
2013
1631 Dronsch Strecker Vogel

Gottesgerechtigkeit und politische Kritik

2013
Werner Kahl
Zeitschrift für Neues Testament_31 typoscript [AK] - 21.03.2013 - Seite 2 - 2. Korrektur 2 ZNT 31 (16. Jg. 2013) 1. Einführung In der deutschsprachigen neutestamentlichen Wissenschaft vollziehen sich seit etwa zwei Jahrzehnten tiefgreifende Perspektivwechsel und Positionsverschiebungen in nahezu allen ihren Teilbereichen. Darin schlägt sich die Rezeption von Impulsen sowohl der internationalen exegetischen Forschung als auch anderer kulturwissenschaftlicher Fachgebiete nieder. Das trifft auch zu auf die Thematik des Politischen, die im vorliegenden Heft verhandelt wird. Es geht dabei nicht nur um die Identifizierung politisch prägnanter oder relevanter Begriffe und Äußerungen in den Schriften des Neuen Testaments, sondern auch um die Reflexion der Vorentscheidungen und Selbstverständlichkeiten neutestamentlicher Exegese in ihrem jeweiligen sozialen Kontext. Im Folgenden werde ich zunächst markante Schlaglichter der Forschungsgeschichte bis in die Gegenwart benennen. Ein besonderes Augenmerk werde ich dann der Bedeutung des Politischen im Neuen Testament widmen, wie sie in großer Variabilität in Exegesen von Kollegen und Kolleginnen aus dem globalen Süden erhoben wird. Zum Schluss werde ich in einem Ausblick neutestamentliche Texte, Themen und Begriffe benennen, deren Analyse mir für ein angemessenes Verständnis sowohl des Politischen im Neuen Testament als auch des gesellschaftsgestaltenden Potenzials des Evangeliums in der Gegenwart vielversprechend erscheinen. 2. Von Rechtfertigung zu Gerechtigkeit In dem gerade erschienenen Sammelband zum Philemonbrief aus afro-amerikanischer Perspektive, Onesimus our Brother, kritisieren die Herausgeber Matthew V. Johnson, James A. Noel und Demetrius K. Williams eine grundsätzliche Fehlentscheidung insbesondere protestantischer Bibelauslegung: »Die paulinischen Ausführungen zur Rechtfertigung aus Glauben im Galater- und Römerbrief sind überbetont worden, um den Mangel an Gerechtigkeit zu überdecken.« 1 Dagegen machen die Herausgeber wie auch alle sonstigen Autoren des Bandes auf die konkrete materiale Dimension von Gerechtigkeit, welche die Christusbezogenheit verbürgt und einfordert, bei Paulus aufmerksam. Für den Philemonbrief erweist sich diese Feststellung insbesondere darin, dass Paulus hier dem Adressaten ein Verhalten in Bezug auf seinen Sklaven Onesimus nahelegt, das der Gemeinschaft (gr. koinonia) »im Herrn« gerecht wird. Onesimus ist durch seine Taufe »mehr als ein Sklave geworden«, nämlich ein »geliebter Bruder« (Philemon 16a). Eine etwaige Spiritualisierung seiner Zugehörigkeit zu Christus verbietet sich. Paulus erwartet, dass der zurückkehrende Onesimus »sowohl im Fleisch [gr. en sarki] als auch im Herrn« angenommen wird (16b). Mit diesem Wunsch unterläuft Paulus in diesem konkreten Fall Machtkonstellationen einer Sklavenhaltergesellschaft. Dies stellt ein Erfordernis christlicher Identität dar. Die Unmöglichkeit der Verwirklichung seiner Forderung zeigt die Radikalität des paulinischen Evangeliumsverständnisses an. 2 Die Auslegungsgeschichte zum Philemonbrief wurde aber Jahrhunderte lang dominiert von einem Vorverständnis, wonach Sklaven zu ihren Herren zurückzuschicken seien, um sich dort schicksalsergeben in die vorgegebene Ordnung einzufügen. Eine Exegese, die solche dem Evangelium widersprechenden Lektüren generiert, wird hier entlarvt als interessengeleitet und systemstabilisierend. Sie aktualisiert Werte »dieser« Welt und negiert Werte des »Reiches Gottes«. Aspekte des Evangeliums werden aus dieser Perspektive auch weiterhin verschleiert in gegenwärtigen Exegesen, wenn deren Akteure die »materiale Humanität des Anderen« 3 in globalen wie lokalen Bezügen nicht als das eigentliche Anliegen Gottes im Blick behielten. Dieser Band ist in der 2008 in den USA ins Leben gerufenen Reihe »Paul in critical contexts« (Fortress Press) erschienen. Die Reihe verspricht kritische Relektüren von Paulus unter den Perspektiven von »Macht, Gender und Ideologie«. Damit werden Begriffe aufgerufen, die für den gegenwärtigen Politikdiskurs in der neutestamentlichen Wissenschaft von zentraler Bedeutung sind. Dies gilt in dreifacher Hinsicht: 1.) bezüglich der Analyse neutestamentlicher Texte nach offenen und verdeckten Machtdiskursen bzw. nach Impulsen zur Unterminierung repressiver Strukturen, 2.) bezüglich einer kritischen Reflexion bewusster wie unbewusster ideologischer Vorentscheidungen im exegetischen Geschäft, die andere Stimmen ausgrenzen, und 3.) bezüglich der Veränderung gegenwärtiger ungerechter Lebens- Neues Testament aktuell Werner Kahl Gottesgerechtigkeit und politische Kritik neutestamentliche Exegese angesichts der gesellschaftlichen Relevanz des Evangeliums Zeitschrift für Neues Testament_31 typoscript [AK] - 21.03.2013 - Seite 3 - 2. Korrektur ZNT 31 (16. Jg. 2013) 3 Werner Kahl Gottesgerechtigkeit und politische Kritik verhältnisse durch Interpretationen neutestamentlicher Texte. Insbesondere die ersten beiden Punkte sind der internationalen Bibelexegese 1988 durch Elisabeth Schüssler Fiorenza als wesentliche Aufgaben ins Stammbuch geschrieben worden. 4 Es ging ihr um die Etablierung einer Ethik der Bibelinterpretation, die es erlaubt, dass bisher vernachlässigte Stimmen von Frauen, von Schwarzen, von Armen, von Menschen im globalen Süden mit ihren je besonderen und wichtigen Perspektiven auf den biblischen Text gehört und ernst genommen werden. Diese Perspektiven hatten bis dato in der deutschsprachigen Exegese keine Rolle gespielt. Die wenigen exegetischen Publikationen, die auf das gesellschaftskritische Potenzial neutestamentlicher Texte abhoben, wurden von der Zunft diskreditiert. 5 Dabei hatte es in der deutschsprachigen Forschung in den sechziger Jahren durchaus vereinzelt vielversprechende Ansätze gegeben, die den theologischen Diskurs um die politische Dimension neutestamentlicher Texte und Begriffe hätten befördern können-- dagegen aber stand im protestantischen Bereich die mächtige Tradition einer individualistisch gefassten Rechtfertigungslehre, wie sie in der Exegese insbesondere durch Vertreter der Bultmannschule an jüngere Generationen weitergegeben wurde. Ernst Käsemann hatte bereits 1961 eine Neubestimmung der »Gottesgerechtigkeit bei Paulus« vorgelegt, und zwar insbesondere in Abgrenzung zu Rudolf Bultmanns individualistischem Verständnis des Begriffs. 6 Käsemann negiert den Rechtfertigungsgedanken bei Paulus nicht. Er ordnet ihn aber dem weiteren Zusammenhang der »Gottesgerechtigkeit als heilsetzender Macht« unter: »Gottes Macht greift nach der Welt, und Heil der Welt ist es, daß sie unter Gottes Herrschaft zurückgeführt wird.« 7 Damit aber nimmt der Begriff der Gottesgerechtigkeit nicht nur kosmische, sondern auch konkret politische Dimensionen an, auch wenn Käsemann letzteres in jenem Beitrag nicht ausführte. Was aber das von ihm herausgearbeitete Verständnis von Gottesgerechtigkeit bzw. von Evangelium gesellschaftlich zu bedeuten hätte, buchstabierte Käsemann in zahlreichen Aufsätzen und Vorträgen der 70er und 80er Jahre durch. 8 So insistierte Käsemann darauf, dass »Christliches Leben keine Privatsache« sei: »Unser Evangelium hat eine politische Dimension, welche, um mit Barmen zu sprechen, keinen irdischen Bereich autonom, der eigenen Gesetzlichkeit überläßt, sondern jeden unter Verheißung und Anspruch Jesu Christi stellt. Nun wurden die Götzen sichtbar, mit denen wir es heute zu tun haben […], nämlich jene Privilegien, welche der weiße Mann erbittert mit Wissenschaft, Technik, Waffen und Ausbeutung der Schöpfung wie Geschöpfe verteidigt, obgleich seine Vorherrschaft auf tönernen Füßen steht und dem Untergang geweiht ist.« 9 Bereits 1983 erkannte der Neutestamentler die Dimension dessen, was sich damals in Kreisen von Missionswissenschaftlern herumzusprechen begann, dass nämlich die westliche Christenheit nicht mehr »Mitte, sondern Peripherie« ist angesichts der zahlenmäßigen Verbreitung und eigenständigen Aneignung des christlichen Glaubens im globalen Süden. Dies erfordere eine Bezugnahme des Christentums »in all seinen Dimensionen« auf die Ökumene und von daher seine Neukonstituierung. 10 Die Nachfolge des gekreuzigten Nazareners befreit zur konkreten Bezeugung der göttlichen Weltherrschaft (gr. Prof. Dr. Werner Kahl, geb. 1962 in Essen, Studium der Evangelischen Theologie in Bochum, Göttingen und Atlanta. 1992 Promotion in Atlanta (Emory University), 1992-1999 Vikar und Pastor in Essen und Duisburg. 1999-2001 als DFG-Stipendiat in Ghana. 2002-2004 Vertretungsprofessur in Kassel. 2004 Habilitation in Frankfurt a.M. 2004 Pfarrer der Ev. Kirche von Kurhessen-Waldeck. Ab 2006 Studienleiter der Missionsakademie an der Universität Hamburg. Apl. Professor für Neues Testament an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt a.M. Veröffentlichungen u.a. zu antiken Wundererzählungen, afrikanischer Bibelinterpretation, interkultureller Hermeneutik und zum synoptischen Problem. Werner Kahl »Die Nachfolge des gekreuzigten Nazareners befreit zur konkreten Bezeugung der göttlichen Weltherrschaft (gr. basileia tou theou), d. h. sie manifestiert sich als bestimmter politischer Gestaltungswillen: ›Theologie, die nicht Befreiung auch der Leiber von dämonischer Sklaverei verkündet, ist ketzerische Ideologie.‹« Zeitschrift für Neues Testament_31 typoscript [AK] - 21.03.2013 - Seite 4 - 2. Korrektur 4 ZNT 31 (16. Jg. 2013) Neues Testament aktuell basileia tou theou), d. h. sie manifestiert sich als bestimmter politischer Gestaltungswillen: »Theologie, die nicht Befreiung auch der Leiber von dämonischer Sklaverei verkündet, ist ketzerische Ideologie.« 11 Nach Käsemann ist Gottes basileia »der Inhalt der paulinischen Rechtfertigunglehre«. Als solche greift sie »dort Platz, wo wir ganz menschlich sind und werden«. 12 Damit hatte Käsemann unter Rekurs auf den Begriff der Gottesgerechtigkeit eine politische Relevanz des Evangeliums akzentuiert, wie sie unabhängig und in erstaunlicher, auch begrifflicher, Übereinstimmung bei den oben genannten afro-amerikanischen Herausgebern des Onesimus- Buchs aufgerufen wurde. In der Exegese fast völlig-- und zu unrecht-- in Vergessenheit geraten ist ein Aufsatz des Neutestamentlers Markus Barth aus dem Jahr 1968, mit dessen Thesen der Autor seiner Zeit weit voraus gewesen ist: Jews and Gentiles: The Social Character of Justification in Paul. 13 Die englisch-sprachige Version, die ich hier zugrunde lege, stellt streckenweise eine erhebliche, radikalisierende Überarbeitung des deutschen Originals von 1966 dar. 14 Barth bezieht sich in diesem Beitrag positiv auf den Aufsatz von Krister Stendahl aus dem Jahr 1963, der eine Generation später als der frühe Auftakt der New Perspective on Paul gewürdigt werden sollte. 15 Auf dieser Grundlage benennt er insbesondere für den US-Kontext der 60er Jahre konkrete Konsequenzen des hier vorgelegten Verständnisses des paulinischen Evangeliums, dessen gesellschaftspolitische Relevanz nicht nur für die Zeit des Paulus, sondern für jede Gegenwart evident scheint: »Rechtfertigung ist ein soziales Geschehen. Sie bindet Mensch und Mensch zusammen. […] Rechtfertigung durch Gnade aber bringt Leute zusammen in einem Versöhnungsgeschehen, selbst jene mit einem fremden Hintergrund, so wie Juden und Heiden. Dieses Versöhnungsgeschehen radiert Verschiedenheit nicht aus; es vereinigt bloß unterschiedliche Menschen.« 16 Für die Gestaltung des gesellschaftlichen Zusammenlebens in der Gegenwart (des Autors) bedeutet diese theologische Einsicht in das paulinische Denken: »Das Kriterium meines Glaubens an Jesus Christus und meines Involvements in Bezug auf Angelegenheiten, die Gerechtigkeit, Freiheit und Frieden betreffen, ist […] nicht der Kampf und der Sieg, für die ich mich engagiere, um mein eigenes Heil zu finden. Es ist vielmehr zu finden in der Dankbarkeit und in der Verpflichtung für die Gerechtigkeit, die Freiheit und den Frieden, die Gott für meinen Mitmenschen vorgesehen hat.« 17 Signifikanter Weise ist dieser Beitrag nicht in einer neutestamentlichen Fachzeitschrift erschienen, sondern in einem ökumenischen Publikationsorgan, das sich dem interreligiösen Dialog verpflichtet weiß. Nur in diesem kirchlich-theologischen Zusammenhang konnten die Thesen Barths in jener Zeit auf eine gewisse Akzeptanz stoßen. 3. Die politische Dimension von Evangelium und Exegese Es erscheint lohnend, im gegenwärtigen exegetischen Diskurs um den neutestamentlichen Politikbegriff die von Käsemann und Barth gesetzten Impulse aufzunehmen. Diese Orientierung wäre m. E. nicht auf ihre exegetischen Sondierungen zu beschränken. Beiden lag daran, die gesellschaftsgestaltende Relevanz ihrer Exegesen für die Gegenwart aufzuzeigen. Zum Ende des 20. Jahrhunderts ist die sich a-politisch gebende, individualisierende Rechtfertigungslehre als hermeneutischer Schlüssel zum Verständnis der paulinischen Schriften und des gesamten neutestamentlichen Schrifttums (sowie des Korpus antik-jüdischer Schriften! ) in Erklärungsnöte geraten. Der Grund hierfür ist vor allem in den Entwürfen der New Perspective on Paul zu verorten. 18 Darüber hinaus haben sozialgeschichtliche, aber mehr noch kulturanthropologisch ausgerichtete Untersuchungen zum Frühchristentum 19 und neue Forschungsperspektiven der klassischen Altertumswissenschaften 20 insbesondere seit den 1990er Jahren auch in der deutsch-sprachigen Exegese die Erkenntnis plausibilisiert, dass es sich bei dem Eintrag eines modernen protestantischen Religionsverständnisses in antike Lebenswelten um einen problematischen Anachronismus handelt. Für den antiken Mittelmeerraum ist nämlich-- wie im Übrigen für viele gegenwärtige traditionale Kulturen des globalen Südens 21 -- eine Durchdringung des Sozialen mit dem Religiösen zu veranschlagen. Danach sind religiöse Handlungen und Glauben an Gottheiten eingebettet zu denken in gesellschaftspolitische Zusammenhänge, bzw.-- aus der Binnenperspektive-- die Gestaltung und das Ergehen innerweltlicher Lebenszusammenhänge ist bleibend bezogen auf numinoses »Zum Ende des 20. Jahrhunderts ist die sich a-politisch gebende, individualisierende Rechtfertigungslehre als hermeneutischer Schlüssel zum Verständnis der paulinischen Schriften und des gesamten neutestamentlichen Schrifttums (sowie des Korpus antik-jüdischer Schriften! ) in Erklärungsnöte geraten.« Zeitschrift für Neues Testament_31 typoscript [AK] - 21.03.2013 - Seite 5 - 2. Korrektur ZNT 31 (16. Jg. 2013) 5 Werner Kahl Gottesgerechtigkeit und politische Kritik Wirken. 22 In diesem Kontext kann es keine nicht immer auch politisch relevanten Glaubensäußerungen und Vollzüge geben. Der US-amerikanische Talmudwissenschaftler Daniel Boyarin hat 1994 eine Paulusmonographie vorgelegt, die in der deutschsprachigen Exegese bisher noch kaum zur Kenntnis genommen und entsprechend gewürdigt worden ist: A Radical Jew. Paul and the Politics of Identity. 23 Dieser Entwurf stellt einen originären Beitrag zur New Perspective on Paul dar. Boyarin ist insbesondere interessiert an der Frage der Zuordnung jüdischer und pagan-griechischer Traditionen, wie sie durch Paulus im Hinblick auf sein Evangelium von der Einheit von Menschen unterschiedlicher Herkunft in Christus vorgenommen wird. In Aufnahme postkolonialer Erfahrungen, Reflexionen und Bestimmungen von Diasporaexistenz und Identitätskonstitution in multikulturellen Kontexten diskutiert Boyarin gleichzeitig die Bedeutung von Paulus für die Gegenwart. Dabei hat er konkret die Politik des Staates Israel im Blick. Schlüsseltext für das hier entfaltete Paulusverständnis ist Gal 3,28. Nach Boyarin kommt an dieser Stelle prägnant ein spiritualisierender Universalismus zum Ausdruck, der ambivalent ist und der in der Christentumsgeschichte vor allem destruktiv gewirkt hat: »Paulus fühlte sich einer Vision menschlicher Einheit verpflichtet, die zwei Elternteile hatte: den hebräischen Monotheismus und die griechische Sehnsucht nach Universalien. […] Der paulinische Universalismus scheint Zwang ausübende kulturpolitische Systeme zu befördern, die mehr oder weniger gewalttätige Projekte der Einverleibung kultureller Besonderheiten in die dominante Kultur betreiben. Allerdings können Juden die Schlagkraft der paulinischen Kritik allein wegen ihrer negativen Wirkungen nicht ignorieren, denn eine unkritische Verehrung ethnischer Besonderheit verursacht ähnliche negative Resultate.« 24 Ob Paulus so angemessen zu verstehen ist, bleibt weiter zu diskutieren. Die Missionsgeschichte gibt Boyarin weithin Recht. Nach Boyarin können das rabbinische Judentum wie auch das paulinische Christentum »als zwei unterschiedliche hermeneutische Systeme die Bibel zu lesen« sowohl Formen von Rassismus produzieren wie auch »zwei dialektische Möglichkeiten von Anti-Rassismus«. 25 Boyarin benennt die-- aufeinander zu beziehenden-- Stärken beider Traditionen in Bezug auf eine Bejahung der Würde aller Menschen mit ihren jeweiligen kulturellen Besonderheiten: »Der Genius des Christentums besteht in seiner Sorge für alle Menschen der Welt; der Genius des rabbinischen Judentums in seiner Fähigkeit andere Menschen in Ruhe zu lassen.« 26 Beides ist für die politische Gestaltung der Gegenwart von Bedeutung. Boyarin zelebriert den Wert der Differenz versus Vereinheitlichung: »Das Bestehen des rabbinischen Judentums darauf, dass es eine Differenz zwischen Juden und Griechen gibt und dass diese Differenz einen Wert hat, kann eine befreiende Kraft in der Welt entfalten, eine Kraft die zugunsten einer Politik der Würdigung von Differenz in der Gegenwart-- feministisch, schwul, multikulturell, postkolonial-- agiert, und zwar gegen aufgezwungene Gleichheit.« 27 Nicht nur die Paulusbriefe scheinen für eine politische bzw. politologische Relektüre des Neuen Testaments interessant zu sein. Neutestamentler haben unter dieser Fragestellung auch die Verkündigung Jesu in den Blick genommen. So verortet Wolfgang Stegemann Jesus in seiner Monographie von 2010, Jesus und seine Zeit, konsequent innerhalb der Matrix des äußerst disparaten antiken Judentums galiläischer Prägung. 28 Hintergrund für diese Grundsatzentscheidung sind neuere Untersuchungen zum antiken Judentum und die kritische Aufarbeitung starker antijüdischer Tendenzen in der deutschsprachigen Exegese des 20. Jahrhunderts. 29 In Anknüpfung an seine Publikation zur politischen Dimension der Verkündigung Jesu aus den 70er Jahren 30 hebt Stegemann in diesem Zusammenhang vor allem auf das Reich Gottes als »heterotoper Gesellschaftsentwurf« 31 bzw. als «soziale Heterotopie« ab. 32 Die Jesusbewegung hatte, wie Stegemann an den Seligpreisungen des LkEv und MtEv aufzeigt, die »soziale Situation der Menschen im Blick« 33 , und zwar motiviert durch die erwartete Nähe des Reiches Gottes: »Die mit der Erwartung der kommenden Etablierung der Herrschaft Gottes verbundene Projektion einer sozial gerechte(re)n Gesellschaft (bzw. Herrschaftsausübung) zeigt eine über die eigenen Interessen hinausgehende politische Verantwortung für die Gesellschaft.« 34 In der Jesusverkündigung ging es nicht nur um die Zusage baldiger ökonomischer Gerechtigkeit, sondern- - so Stegemann in ausdrücklicher Korrektur seiner vormaligen Position und in Aufnahme des postkolonialen Begriffs der Subalternität 35 -- auch um die Überwindung von dem mit Armut verbundenen Status- und Ehrverlust einerseits und um die Ermutigung und Befähigung der sozial Ausgegrenzten, sich aufzurichten und ihre Stimme zu erheben, andererseits: »Die frohe Botschaft für die Subalternen (= das Evangelium der Armen) besteht einerseits in dem Versprechen der Transformation ihrer sozioökonomischen Lage, andererseits auch darin, dass sie sich in ihrer Gesellschaft Gehör verschaffen und als politische Subjekte sehen können, die selbst zur Herrschaft kommen (vgl. Mk 10,35 ff.).« 36 Insofern erzählen Stegemann zu- Zeitschrift für Neues Testament_31 typoscript [AK] - 21.03.2013 - Seite 6 - 2. Korrektur 6 ZNT 31 (16. Jg. 2013) Neues Testament aktuell folge etwa die synoptischen Wundergeschichten (d. h. Exorzismen, Heilungen, Speisungen) »von geschehenen Transformationen der gesellschaftlichen Ordnung«. 37 Mit der Organisation von interdisziplinären Fachtagungen, der Herausgabe von Sammelbänden und mit zahlreichen eigenen Beiträgen hat sich in den letzten Jahren Eckart Reinmuth um die Erhellung des Politischen im Neuen Testament, im exegetischen Geschäft und in der gegenwärtigen Gesellschaft bemüht und verdient gemacht. 38 In diesem Zusammenhang hat er die neutestamentliche Wissenschaft insbesondere in fruchtbare und anregende hermeneutische Gespräche mit solchen gegenwärtigen philosophischen Entwürfen gebracht, die Paulus politologischen Relektüren unterziehen. Zu nennen sind hier vor allem Giorgio Agamben, Alain Badiou, Jacob Taubes und Slavoj Žižek. 39 Diese Theoretiker lesen Paulus unter Fragestellungen, die aus der Perspektive neutestamtlicher Wissenschaft »schräg« erscheinen mögen, und vor Textvereinnahmungen sind sie sicher nicht gefeit. Dabei leuchten aber mitunter bisher übersehene Aspekte des Politischen in Paulustexten auf. Insofern werden hier Lektüren befördert, die eine so subversive wie konstruktive Kraft zur Gestaltung des Politischen in der Gegenwart entfalten mögen. 4. Die Politik des Evangeliums aus subalternen Perspektiven Im globalen Süden orientieren sich mittlerweile viele Exegeten und Exegetinnen am postkolonialen Diskurs, wie er vor allem durch Edward W. Said 40 , Gayatri Spivak 41 und Homi Bhabha 42 seit etwa 1980 in Gang gesetzt wurde. Hier geht es insbesondere darum, dass sich Repräsentanten der sog. Subalternen oder global Marginalisierten im politischen Diskurs mit eigenen Stimmen zu Wort melden, sie sich selbst repräsentieren und sie eigene Identitäten und Traditionen als Ressourcen zur Gestaltung von Welt begreifen und kommunizieren. Diese philosophischen Entwürfe haben in die deutschsprachige Exegese bisher so wenig Eingang gefunden wie die Arbeiten von Exegetinnen und Exegeten aus dem globalen Süden. 43 Beredter Weise sind grundlegende Beiträge zur postkolonialen Exegese von Kwok Puilan 44 , Fernando F. Segovia 45 und R.S. Sugirtharajah 46 , deren Erstveröffentlichung einige Jahre zurück liegt, hierzulande erst vor kurzem in Übersetzung erschienen- - nicht in einer neutestamentlichen, sondern in einer ökumenischen Fachzeitschrift. Für alle drei ExegetInnen gilt, dass sie die Erfahrungen ihres jeweiligen Kontextes mit der historisch-kritischen Exegese ins Gespräch bringen. So hebt Segovia-- übrigens in kritischer Würdigung von Daniel Boyarins Entwurf (s. oben)-- auf Erfahrungen von Migration und Diasporaexistenz ab. Ihm ist daran gelegen, aus der Perspektive von Marginalisierten die Bibel neu zu lesen, in deren Schriften sich ähnliche Erfahrungen niedergeschlagen haben. Gleichzeitig erwartet er aus diesem »grenzüberschreitenden Interpretieren« entscheidende Impulse für die Gestaltung des gegenwärtigen Zusammenlebens-- »gegen Exklusivismus und Zwang, für Gerechtigkeit und Wohl«. 47 In den Veröffentlichungen dieser Kollegen und Kolleginnen meldet sich eine engagierte Exegese zu Wort: »Die Aufgabe des Postkolonialismus besteht darin sicherzustellen, dass die Sehnsüchte der Armen Priorität gegenüber den Interessen der Wohlhabenden haben, dass die Emanzipation der Unterdrückten Vorrang vor der Freiheit der Mächtigen hat und dass die Teilnahme der Marginalisierten Vorrang hat vor der Aufrechterhaltung eines Systems, das diese systematisch ausschließt.« 48 Die Partizipation der Marginalisierten am exegetischen Diskurs stellt in dieser Perspektive ein politisches Erfordernis des Evangeliums dar. Ihr wird ein gesellschaftsgestaltendes Potenzial beigemessen. Der südafrikanische Exeget Gerald O. West hatte hierzu im Kontext der Post-Apartheit das Modell des Lesens-Mit entworfen und erprobt, d. h. hier kamen meist privilegierte weiße Exegeten zu gemeinsamen Bibellektüren mit unterprivilegierten Gemeindegliedern schwarzer Kirchen zusammen, ohne dass erstere letztere romantisierten oder paternalisierten. 49 Dieses Programm hat eine bemerkenswerte Fortsetzung erfahren im Projekt Through the Eyes of Another, einer interkulturellen und globalen Lektüre der Erzählung Jesus und die Frau am Brunnen in Samaria (Joh 4). Je zwei Gemeinden aus unterschiedlichen Regionen der Welt tauschten sich über einen längeren Zeitraum über ihre Interpretationen aus. Dabei machten sie u. a. folgende grundsätzliche Beobachtungen: 1.) der Bibeltext ist begrenzt polyvalent, 2.) alle Lektüren inklusive akademischer Exegesen verdanken sich kontextuellen Impulsen, 3.) durch die je anderen Perspektiven können Bedeutungsdimensionen im biblischen Text erhellt werden, die bisher unterbelichtet waren, und 4.) die je eigene Stimme ist wichtig und die eigene Kultur und Tradition stellen Ressourcen dar zum Schriftverständnis. 50 In diesem Zusammenhang postkolonialer »Die Partizipation der Marginalisierten am exegetischen Diskurs stellt in dieser Perspektive ein politisches Erfordernis des Evangeliums dar.« Zeitschrift für Neues Testament_31 typoscript [AK] - 25.03.2013 - Seite 7 - 2. Korrektur ZNT 31 (16. Jg. 2013) 7 Werner Kahl Gottesgerechtigkeit und politische Kritik Theologie hat Hans de Wit 2008 Reflections on Empirical Hermeneutics, Interculturality, and Holy Scripture veröffentlicht. 51 Die Ausarbeitung eines Gesamtentwurfs zu einer inter- oder besser transkulturellen Hermeneutik des Neuen Testaments steht allerdings noch aus. 52 Die lateinamerikanische, aus Mexiko stammende Neutestamentlerin Elsa Tamez hat in den 90er Jahren eine befreiungstheologische Neuinterpretation des Begriffs Rechtfertigung/ Gerechtigkeit bei Paulus vorgelegt. 53 Nach Tamez wurden- - wie im heutigen Lateinamerika-- so im römischen Reich viele Menschen marginalisiert und von der Teilhabe an einem menschenwürdigen Leben ausgegrenzt. In diesem Kontext deutet sie den paulinischen Gerechtigkeitsbegriff. Damit wächst dem Begriff dikaiosynē vor allem eine politische Bedeutung zu. Paulus geht es hierbei vor allem um die von Gott gewollte Gerechtigkeit, die allen Menschen Anteil am Leben gibt- - nicht erst im Jenseits, sondern bereits in der Gegenwart. Die Fassung von dikaiosynē als »Rechtfertigung« hingegen verschleiert die politische Bedeutung und Relevanz des Begriffs. Durch dieses spiritualisierte und individualisierte Verständnis der Gottesgerechtigkeit erfährt die politische Theologie des Paulus eine Entschärfung und sein eigentliches Anliegen wird im Wesen verkannt. Nach Tamez geht die New Perspective on Paul in der Interpretation der paulinischen Schriften nicht weit genug, denn sie bleibt auf die Dimension der abstrakten theologischen Reflexion um die Gerechtigkeit Gottes in Bezug auf die Einheit aller Menschen beschränkt. Paulus aber geht es, wie Tamez unter Bezugnahme auf Gal 3,28 zeigt, um die Überwindung jeglichen exklusivistischen Heils-, Lebensbzw. Gerechtigkeitsanspruchs. In Entsprechung zu dieser theologischen Einsicht von Paulus haben sich heute Theologie und Kirche in Lateinamerika zu befassen mit der Veränderung der Lebensumstände von »Menschen, die nicht nur wegen ihrer ökonomischen Armut für minderwertig eingeschätzt werden, sondern auch wegen ihrer Hautfarbe, Ethnie oder Geschlechtszugehörigkeit«. 54 Rechtfertigung bedeutet für Tamez die Bejahung von Leben. Dabei erachtet sie nicht den Tod, sondern die Auferweckung Jesu als unerlässliche Bedingung für die Rechtfertigung, »weil sie den Tod besiegen und den Opfern Leben schenken sollte«. 55 In der Auferweckung Jesu kommt die Solidarität Gottes mit den Marginalisierten zum Ausdruck. Jesus Christus ist der »Ausgeschlossene par excellence«. 56 Gott hat jedes System, das Menschen marginalisiert und vom Leben ausgrenzt, zum Tode verurteilt. Ein System, das dem Willen Gottes nach Gerechtigkeit und Leben für alle Menschen entspricht, instand zu setzen-- dazu sind, so Tamez, die Marginalisierten durch die Gnade Gottes befreit und befähigt worden. Damit dringt diese Relektüre von Paulus ganz in der Tradition befreiungstheologischer Entwürfe auf gesellschaftliche Veränderung. Die botswanische Neutestamentlerin Musa W. Dube dekonstruiert in ihrer Monographie Postcolonial Feminist Interpretation of the Bible unterschiedliche Lektüren von Mt 15,21-28 („Die kanaanäische Frau“). 57 Als Kriterium der Analyse des biblischen Textes sowie seiner Interpretationen gilt ihr einzig und allein die Frage danach, ob der Text dazu dient, »Leben in Gottes Schöpfung zu stärken und wiederherzustellen«, und zwar unter Wahrung von Differenz in geschlechtlicher, ethnischer, kultureller usw. Hinsicht. 58 Geleitet von einer Hermeneutik des Verdachts geht es Dube aus der afrikanischen Perspektive des Kolonialerlebnisses und seiner Auswirkungen um die Entkolonialisierung des Christentums einschließlich seiner Bibelinterpretation. Ein Vergleich von Mt 15,21-28 mit 8,15-30 (»Der Hauptmann von Kapernaum«) ergibt, dass »der implizite Autor des Matthäusevangeliums, der im Kontext imperialer Okkupation schreibt, möglicher Weise religiöse Leitungsfiguren herausfordert, indem er mit anderen Gruppen um Machtgewinn wetteifert und die Aufmerksamkeit der römischen Herrscher zu gewinnen versucht«. 59 Die Tatsache, dass im Matthäusevangelium »Reisen in entfernte und bewohnte Länder« zum Zweck der Missionierung favorisiert werden, macht deutlich, dass »das matthäische Modell imperialistische Werte und Strategien verkörpert«. 60 Diese Machtimplikationen werden-- so der Vorwurf Dubes- - von westlichen Exegeten nicht erkannt. Aber auch in »weißen feministischen Lektüren von Repräsentantinnen der Mittelklasse im Westen« werden sie nicht aufgedeckt. 61 Sie bleiben einem kulturellen und ökonomischen Imperialismus verhaftet, der die Erfassung der der Textpassage zugrunde liegenden Machtverhältnisse verhindert. Dube weist diese Verflochtenheit weißer Feministinnen in den westlichen Machtstrukturen am Beispiel von Veröffentlichungen Elisabeth Schüssler Fiorenza’s »Da die Bibel heute der ganzen Welt und nicht mehr nur dem Westen gehört, ist ein Lektüremodell vonnöten, ›welches die Gegebenheiten von Imperialismus und Patriarchat ernst nimmt und welches nach befreienden wechselseitigen Abhängigkeiten zwischen den Geschlechtern, Rassen, Nationen, Ökonomien, Kulturen, politischen Strukturen usw. sucht.‹« Zeitschrift für Neues Testament_31 typoscript [AK] - 21.03.2013 - Seite 8 - 2. Korrektur 8 ZNT 31 (16. Jg. 2013) Neues Testament aktuell auf. Dube diagnostiziert hier ein Interesse daran, den durch Tradition und Redaktion des Evangelienstoffes überdeckten Beitrag von Frauen in der frühen Missionsbzw. Kirchengeschichte aufzudecken, und zwar ohne die Strategien exklusivistischer und imperialistischer Missionierung selbst in Frage zu stellen: »Schüssler Fiorenza’s feministischer Diskurs ergeht aus der Perspektive der metropolitanen Zentren des Westens. Er versucht letztlich an der Macht zu partizipieren, anstatt ihre patriarchalen und imperialistischen Strategien der Unterdrückung und Beherrschung zu revolutionieren.« 62 Damit aber bleibt »Schüssler Fiorenza’s Lektüre […] eingeschrieben in der imperialen Ideologie der Beherrschung nicht-westlicher und nicht-christlicher Welten«. 63 Dube hingegen widmet sich der Aufgabe einer Befreiung nicht-westlicher Traditionen aus der Gefangenschaft des ökonomischen Machtzentrums. Da die Bibel heute der ganzen Welt und nicht mehr nur dem Westen gehört, ist ein Lektüremodell vonnöten, »welches die Gegebenheiten von Imperialismus und Patriarchat ernst nimmt und welches nach befreienden wechselseitigen Abhängigkeiten zwischen den Geschlechtern, Rassen, Nationen, Ökonomien, Kulturen, politischen Strukturen usw. sucht.« 64 Ein solches Lektüremodell sieht Dube in der Praxis sog. afrikanisch-unabhängigen Kirchen verwirklicht, denn hier sind nach ihrer Beobachtung Machtoppositionen wie ›Mann‹ versus ›Frau‹, ›alt‹ versus ›jung‹, ›schwarz‹ versus ›weiß‹, ›schriftliches‹ versus ›mündliches Wort‹, ›christliches Heil‹ versus ›afrikanische Religiosität‹ weithin aufgehoben. Jeder und jede einzelne wird hier als Person gewürdigt, die am göttlichen Geist partizipiert. Wie in der afrikanischtraditionellen Religion sind hier Kirche und Theologie daran ausgerichtet, Leben zu bewahren und zu fördern. 5. Grenzüberschreitungen, die dem Zusammenleben der Verschiedenen dienlich sind Die neue Paulusperspektive, die Erkenntnis der wechselseitigen Durchdringung religiöser und sozio-politischer Vollzüge in der mediterranen Antike, Impulse des postkolonialen Diskurses und die engagierten Exegesen von NeutestamentlerInnen aus verschiedenen Regionen des globalen Südens haben den Blick geschärft für die eminent politische Dimension und Relevanz aller Schriften des Neuen Testaments-- in Lektürekontexten des ersten wie des einundzwanzigsten Jahrhunderts. Neben den Paulusbriefen und den Evangelien kommt in diesem Zusammenhang der Johannesoffenbarung eine besondere Bedeutung zu als »Zeugnis aktiven Widerstands«. 65 Der Durchgang durch die Beiträge zum Thema hat ergeben, dass Gal 3,28 eine Schlüsselstelle in diesem Diskurs einnimmt. Dieser Vers ist selbstverständlich nicht isoliert zu betrachten, sondern im Kontext des Galaterbriefs nach politischen Implikationen auszuleuchten. Vielversprechend scheint ein je kontextsensibler Vergleich von Gal 3,28 mit 1Kor 12,13 und Philemon 16 zu sein. Tod und Auferweckung Jesu haben deutliche politische Obertöne, denn Gott unterminiert durch sein Auferweckungswunder-- im Übrigen das Basiswunder des Neuen Testaments! -- mit der römischen Gerichtsbarkeit den Machtanspruch des Imperiums auf Leben und Tod. Begriffe wie Gerechtigkeit Gottes (gr. dikaiosynē theou) und Königreich/ Königsherrschaft Gottes (gr. basileia tou theou) sind im ersten Jahrhundert subversiv. Sie kontrastieren die Ungerechtigkeiten und die Willkür der Herrschenden und sie verbieten die Identifizierung der Marginalisierten mit den Werten »dieser Welt« (vgl. Mt 6,33 im Kontext). Aber auch der Freimut zur öffentlichen Rede (gr. parrhesia) 66 und sogar das »Reden in fremden Zungen« (Apg und 1Kor 12-14) stellen Aktualisierungen einer nicht nur erhofften, sondern bereits tief erfahrenen Befreiung dar, die auf Gott zurückgeführt wird. Das Evangelium zielt wie im ersten Jahrhundert so in der Gegenwart auf Grenzüberschreitungen hin zu Menschen-- nicht zu ihrer Beherrschung, sondern zur gemeinsamen Gestaltung und Feier des von Gott verliehenen Lebens in Gerechtigkeit. 67 Daniel Boyarin und Musa Dube haben in ihren unterschiedlichen Kontexten auf die Würdigung von Differenz im Zusammenleben der Verschiedenen abgehoben. Damit könnte- - vom Evangelium her-- ein wichtiger Impuls gesetzt sein für die politische Gestaltung etwa der hiesigen Gesellschaft, die sich aufgrund globaler Migrationsbewegungen von Menschen verschiedenster kultureller und religiöser Prägung in markanten Transformations- und Identitätsfindungsprozessen befindet. »Das Evangelium zielt wie im ersten Jahrhundert so in der Gegenwart auf Grenzüberschreitungen hin zu Menschen-- nicht zu ihrer Beherrschung, sondern zur gemeinsamen Gestaltung und Feier des von Gott verliehenen Lebens in Gerechtigkeit.« Zeitschrift für Neues Testament_31 typoscript [AK] - 21.03.2013 - Seite 9 - 2. Korrektur ZNT 31 (16. Jg. 2013) 9 Werner Kahl Gottesgerechtigkeit und politische Kritik Anmerkungen 1 M. V. Johnson/ J.A. Noel/ D. K. Williams (Hgg.), Onesimus our Brother. Reading Religion, Race, and Culture in Philemon (Paul in Critical Contexts), Minneapolis 2012, 159 (alle Übersetzungen in diesem ZNT Beitrag sind vom Autor angefertigt worden). 2 J. A. Noel, Nat is Back: The Return of the Re/ Oppressed in Philemon, in: Johnson u. a., Onesimus, 59-90, hier: 89. 3 Ebd. 158. 4 E. Schüssler Fiorenza, The Ethics of Biblical Interpretation: Decentering Biblical Scholarship, in: JBL 107 (1988), 3-17. 5 Vgl. beispielhaft die folgenden Publikationen, die in einer politisch besonders aufgeladenen Phase der deutschen Nachkriegszeit zum Thema erschienen: L. Schottroff/ W. Stegemann, Jesus von Nazareth. Hoffnung der Armen, Stuttgart 1978; F. Belo, Das Markus-Evangelium materialistisch gelesen, Stuttgart 1980 (franz. Original: 1974). 6 E. Käsemann, Gottesgerechtigkeit bei Paulus, in: ders. (Hg.), Exegetische Versuche und Besinnungen, Bd. 2, Göttingen 1964, 181-193 (orig. 1961). Vgl. dazu W. Klaiber, Gottes Gerechtigkeit und Gottes Herrschaft. Ernst Käsemann als Ausleger des Neuen Testaments, in: J. Adam/ H.-J. Eckstein u. a. (Hgg.), Dienst in Freiheit. Ernst Käsemann zum 100. Geburtstag (Theologie interdisziplinär 4), Neukirchen-Vluyn 2008, 59-82. 7 Käsemann, Gottesgerechtigkeit, 193; vgl. ähnlich ders., Paulinische Perspektiven, Tübingen 1969, 131-133. 8 E. Käsemann (Hg.), Kirchliche Konflikte, Bd. 1, Göttingen 1982; R. Landau (Hg.), Ernst Käsemann. In der Nachfolge des gekreuzigten Nazareners. Aufsätze und Vorträge aus dem Nachlass, Tübingen 2005. 9 E. Käsemann, Aspekte der Kirche, in: ders., Kirchliche Konflikte, 7-36, hier: 36. 10 E. Käsemann, Evangelische Wahrheit in den Umbrüchen christlicher Theologie, in: Ders., Nachfolge, 25-35, hier: 27. 11 E. Käsemann, Gottes Gerechtigkeit bei Paulus, in: Landau, Käsemann, 13-24, hier: 16. 12 Käsemann, Paulinische Perspektiven, 133. 13 M. Barth, Jews and Gentiles: The Social Character of Justification in Paul, in: Journal of Ecumenical Studies 5 (1968), 241-267. 14 M. Barth, Gott und des Nächsten Recht. Eine Studie über den sozialen Charakter der Rechtfertigung bei Paulus, in: Parrhesia. FS Karl Barth, Zürich 1966, 447-469. 15 K. Stendahl, The Apostle Paul and the Introspective Conscience of the West, in: HThR 56 (1963), 199-215. 16 Barth, Jews and Gentiles, 241. 17 Barth, Jews and Gentiles, 267. 18 Vgl. Ch. Gerber, Blicke auf Paulus. Die New Perspective on Paul in der jüngeren Diskussion, in: Verkündigung und Forschung 55/ 1 (2010), 45-60. 19 Vgl. G. Theißen, Studien zur Soziologie des Urchristentums (WUNT 19), Tübingen 3 1989; E.W. und W. Stegemann, Urchristliche Sozialgeschichte. Die Anfänge im Judentum und die Christusgemeinden in der mediterranen Welt, Stuttgart 2 1997; Ch. Strecker, Die liminale Theologie des Paulus. Zugänge zur paulinischen Theologie aus kulturanthropologischer Perspektive (FRLANT 185), Göttingen 1999; R.A. Horsley (Hg.), Sozialgeschichte des Christentums, Bd 1: Die ersten Christen, Gütersloh 2007; R. DeMaris/ W. Stegemann (Hgg.), Alte Texte in neuen Kontexten. Wo steht die sozialwissenschaftliche Bibelexegese? , Stuttgart 2011. 20 Vgl. S. R.F. Price, Rituals and Power, The Roman Imperial Cult in Asia Minor, Cambridge 1984; M. Beard/ J. North/ S. R. F. Price, Religions of Rome, Bd. 1: A History, Cambridge 1998; J. Rüpke, Die Religion der Römer, München 2001; W. Dahlheim, Geschichte der Römischen Zeit (Oldenbourg Grundriss der Geschichte 3), München 3 2003, 123-134; W.Ch. Schneider, Politik und Religion, in: K. Erlemann u. a. (Hgg.), Neues Testament und Antike Kultur, Bd. 1: Prolegomena, Quellen, Geschichte, Neukirchen-Vluyn 2004, 22-31; H.-J. Gehrke, Geschichte des Hellenismus (Oldenbourg Grundriss der Geschichte 1B), München 4 2008, 78-85. Die Konzeption von NTAK verdankt sich dieser neuen Perspektive: K. Erlemann u. a. (Hgg.), Neues Testament und Antike Kultur, Bd.e 1-5, Neukirchen-Vluyn 2004-2006. 21 Für Westafrika, vgl. W. Kahl, Jesus als Lebensretter. Westafrikanische Bibelinterpretationen und ihre Relevanz für die neutestamentliche Wissenschaft (New Testament Studies in Contextual Exegesis 2), Frankfurt a. M. 2007. 22 Vgl. Ch. Strecker, Taktiken der Aneignung. Politische Implikationen der paulinischen Botschaft im Kontext der römisch imperialen Wirklichkeit, in: E. Reinmuth (Hg.), Neues Testament und Politische Theorie. Interdisziplinäre Beiträge zur Zukunft des Politischen (ReligionsKulturen 9), Stuttgart 2011, 114-161, bes. 133. Zum antiken Gottesbegriff in dieser Hinsicht, vgl. W. Kahl, Gott und göttliche Wesen, in: K. Erlemann u. a. (Hgg.), Neues Testament und Antike Kultur, Bd. 3: Weltauffassung, Kult, Ethos, Neukirchen-Vluyn 2005, 88-109. 23 Berkeley 1994. 24 Boyarin, Radical Jew, 228. 25 Ebd., 232. 26 Ebd., 233. 27 Ebd., 235-236. 28 (Biblische Enzyklopädie 10), Stuttgart 2010. 29 Man darf gespannt sein, wie die neueste Monographie von Daniel Boyarin in der deutschsprachigen Exegese aufgenommen werden wird: The Jewish Gospels. The Story of the Jewish Christ, New York 2012. 30 Siehe Anm. 5. 31 Stegemann, Jesus, 325 ff. 32 Ebd., 345-348. 33 Ebd., 347. 34 Ebd., 346. 35 Ebd., 347. 36 Ebd., 348. 37 Ebd., 351 unter Rekurs auf Ch. Strecker, Jesus und die Besessenen-- Zum Umgang mit Alterität im Neuen Testament am Beispiel der Exorzismen Jesu, in: W. Stegemann/ B. J. Malina/ G. Theißen (Hgg.), Jesus in neuen Kontexten, Stuttgart 2002, 53-63. Tatsächlich zeigt Zeitschrift für Neues Testament_31 typoscript [AK] - 21.03.2013 - Seite 10 - 2. Korrektur 10 ZNT 31 (16. Jg. 2013) Neues Testament aktuell eine Analyse der sogenannten Wundererzählungen aus ethnologischer Perspektive, dass sie als Verfahren des In- Ordnung-Bringens von aus dem Lot geratenen Beziehungen (zwischenmenschlich sowie zwischen Menschen und der numinosen Sphäre) begriffen werden können, vgl. W. Kahl, Neutestamentliche Wunder als Verfahren des In- Ordnung-Bringens, in: Interkulturelle Theologie. Zeitschrift für Missionswissenschaft 37/ 1 (2011), 19-30. 38 E. Reinmuth (Hg.), Politische Horizonte des Neuen Testaments, Darmstadt 2010; ders., (Hg.), Neues Testament und Politische Theorie. Interdisziplinäre Beiträge zur Zukunft des Politischen (ReligionsKulturen 9), Stuttgart 2011; ders., Neues Testament, Theologie und Gesellschaft. Hermeneutische und diskurstheoretische Reflexionen, Stuttgart 2012. Zur Reflexion der Bedeutung politischer Kontexte für das Geschäft der neutestamentlichen Wissenschaft in Deutschland, vgl. L. Bormann, Der Politikbegriff der neutestamentlichen Wissenschaft in Deutschland, in: Reinmuth, Horizonte, 28-49. 39 Vgl. die kritische Darstellung von H. Seubert, Politische Theologie bei Paulus? Ein neuerer philosophischer Diskurs, in: Verkündigung und Forschung 55/ 1 (2010), 60-70. 40 E. W. Said, Orientalism. Western Conceptions of the Orient, London 1978. 41 G. Ch. Spivak, Can the Subaltern Speak? , in: G. Nelson/ L. Grossberg (Hgg.), Marxism and the Interpretation of Culture, London 1988, 271-315 (orig.: 1985); dies., In Other Worlds: Essays in Cultural Politics, London 1988. 42 H. K. Bhabha, The Location of Culture, London 1994. 43 Vgl. aber Th. Schmeller, Das Recht der Anderen. Befreiungstheologische Lektüre des Neuen Testaments in Lateinamerika (Neutestamentliche Abhandlungen, N. F. 27), Münster 1994; S. Alkier, Neues Testament (UTB basics), Tübingen/ Basel, 2010, 67-72; S. Feder, Neue Perspektiven von Frauen. Exegesen afrikanischer Bibelwissenschaftlerinnen aus westlicher Sicht, in: Bibel und Kirche 3 (2012), 154-159. In einer kulturwissenschaftlichen Einführung zum Postkolonialismus werden interessanter Weise die exegetischen Arbeiten von Musa W. Dube, Fernando F. Segovia und R.S. Sugirtharajah zur Kenntnis genommen: D. Bachmann-Medick, Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften (rowohlts enzyklopädie), Reinbek bei Hamburg 4 2010, 208.229 f. 44 K. Pui-lan, Die Verbindungen herstellen: Postkolonialismus-Studien und feministische Bibelinterpretation, in: Interkulturelle Theologie. Zeitschrift für Missionswissenschaft 38/ 1-2 (2012), 34-62. 45 F. F. Segovia, Grenzüberschreitendes Interpretieren: Postkolonialismus-Studien und Diaspora-Studien in historisch-kritischer Bibelexegese, in: Interkulturelle Theologie. Zeitschrift für Missionswissenschaft 38/ 1-2 (2012), 110-135. Siehe auch ders./ M.A. Tolbert (Hg.), Reading from this Place, Vol. I: Social Location and Biblical Interpretation in the United States und Vol. II: Social Location and Biblical Interpretation in Global Perspective, Minneapolis 1995; ders., Decolonizing Biblical Studies: A View from the Margins, Maryknoll 2000; ders./ R.S. Sugirtharajah (Hgg.), A Postcolonial Commentary on the New Testament Writings, London 2007. 46 R.S. Sugirtharajah, Eine postkoloniale Untersuchung von Kollusion und Konstruktion in biblischer Interpretation, in: Interkulturelle Theologie. Zeitschrift für Missionswissenschaft 38/ 1-2 (2012), 136-162; ders., (Hg.), The Postcolonial Bible, Sheffield 1998; ders., Postcolonial Reconfigurations. An Alternative Way of Reading the Bible and Doing Theology, London 2003. 47 Segovia, Grenzüberschreitendes Interpretieren, 135. 48 Sugirtharajah, Eine postkoloniale Untersuchung, 161. 49 G. O. West/ M.W. Dube (Hgg.), »Reading With«. An Exploration of the Interface between Critical and Ordinary Readers of the Bible. African Overtures (Semeia 73), Atlanta 1996; vgl. in globaler Perspektive, ders., (Hg.), Reading Other-Wise. Socially Engaged Biblical Scholars Reading with Their Local Communities (Semeia Studies 62), Society of Biblical Literature Atlanta 2007. 50 H. de Wit u. a. (Hgg.), Through the Eyes of Another. Intercultural Reading of the Bible, Elkhart/ Indiana 2004. Im Februar fand an der freien Universität Amsterdam die internationale Konferenz »Bible and Transformation« in Fortführung dieses Projekts statt. 51 H. de Wit, »My God,« she saids, »ships make me so crazy.« Reflections on Empirical Hermeneutics, Interculturality, and Holy Scripture, Amsterdam 2008. 52 Zu dem in diesem Zusammenhang vielversprechenden Konzept der Transkulturalität, vgl. W. Welsch, Transkulturalität. Zwischen Globalisierung und Partikularisierung, in: Jahrbuch Deutsch als Fremdsprache 26 (2000), 327- 351. 53 E. Tamez, Gegen die Verurteilung zum Tod. Paulus oder die Rechtfertigung durch den Glauben aus der Perspektive der Unterdrückten und Ausgeschlossenen, Luzern 1998 (spanisches Orig.: 1991). Vgl. die ausführlicheren Präsentationen und Diskussionen der Beiträge von Tamez und Dube (s. unten) von W. Kahl, Akademische Bibelinterpretationen in Afrika, Lateinamerika und Asien angesichts der Globalisierung, in: VuF 54/ 1 (2009), 45-58, hier: 48-52. 54 Ebd., 173. 55 Ebd., 241. 56 Ebd., 242. 57 M. W. Dube, Postcolonial Feminist Interpretation of the Bible, St. Louis 2000; vgl. dies. (Hg.in), Other Ways of Reading. African Women and the Bible, Atlanta 2001. 58 Dube, Postcolonial, 40. 59 Ebd., 182. 60 Ebd., 153-154. 61 Ebd., 182. 62 Ebd., 182. 63 Ebd., 38. 64 Ebd., 39. 65 So B. K. Blount, Then the Whisper Put on Flesh. New Testament Ethics in an African American Context, Nashville 2001, 158-191; vgl. auch S. Alkier, Macht und Martyrium oder: die prophetische Zurückweisung des Evangeliums der Römer durch die Johannesapokalypse, in: Reinmuth, Politische Theorie, 61-82. 66 So auch Käsemann, Aspekte, 32. 67 So Tamez, Verurteilung, 201-205.