eJournals ZNT – Zeitschrift für Neues Testament 16/32

ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
2013
1632 Dronsch Strecker Vogel

»Vergib uns unsere Schulden«

2013
Gary A. Anderson
Zeitschrift für Neues Testament_32 typoscript [AK] - 26.09.2013 - Seite 61 - 2. Korrektur ZNT 32 (16. Jg. 2013) 61 »Gott handelt gnädig nicht in Widerspruch zu seiner Gerechtigkeit, sondern über seine Gerechtigkeit hinaus. Wenn jemand beispielsweise 200 Denare von seinem eigenen Geld einem anderen gibt, der hundert Denare zu bekommen hätte, dann handelt er großzügig oder auch gnädig, nicht aber ungerecht. Dasselbe gilt, wenn jemand eine Beleidigung, die ihm widerfahren ist, verzeiht. Wenn er diese Schuld vergibt, macht er nämlich in gewisser Weise ein Geschenk daraus. So nennt der Apostel in Eph 4,32 die Vergebung ein Geschenk: ›Beschenkt einander, wie Christus euch beschenkt hat‹.« (Thomas von Aquin, Summa Theologiae I q. 21 a.3). Wer die Bibel aufmerksam liest, wird auf die vielfältige Metaphorik zur Bezeichnung menschlicher Sünde aufmerksam. Dies könnte die Annahme nahe legen, dass es in der Antike ein Standard-Repertoire an Sprachbildern gab, aus dem die unterschiedlichen Verfasser entsprechend ihrer jeweiligen rhetorischen Absichten ausgewählt haben. Das trifft aber nur teilweise zu. Die »Sünde« hat nämlich, so meine ich, eine Geschichte in dem Sinne, dass Konzepte von »Sünde« im Laufe der biblischen Geschichte einen Wandel erfahren haben. 1 Im Alten Testament ragt beispielsweise unter den verschiedenen Metaphern diejenige der »Last« hervor. Dagegen nimmt in jüdischen Quellen aus neutestamentlicher Zeit die Metapher der »Schuld« den ersten Platz ein. Das ist insofern erstaunlich, als es für diesen Wandel in den hebräischen Texten aus der Zeit des Ersten Tempels kaum eine philologische Basis gibt. Dieser Wandel kommt sozusagen aus dem Nichts. Seine Bedeutung lässt sich am besten durch einen Blick in das Lexikon des rabbinischen Hebräisch erhellen. Hierzu drei repräsentative Beispiele: (a) Die Bezahlung einer Rechnung, (b) der Status des Schuldners und (c) der Akt, jemanden von seiner Zahlungsverpflichtung zu entbinden. Hier ist eine vollständige Austauschbarkeit ökonomischer und theologischer Terminologie festzustellen, wobei die Bedeutung dieser nur im Lichte jener verstehbar ist: (a) Die Bezahlung einer Rechnung: Das Verb p-raʿ meint üblicherweise »für etwas bezahlen«, d. h. einen Geldwert für eine Schuld entrichten: »Ich habe dir zurückbezahlt (p-raʿt‘îka) [das Geld, das ich dir schuldete]« 2 . In der reflexiven Form (das niphal im Hebräischen) hat derselbe Verbstamm die wörtliche Bedeutung »Schulden von jemandem eintreiben«. Da aber körperliche Strafen als eine Art Währung angesehen werden, mit der man eine Schuld zurückzahlen kann, kann das Verb auch mit »bestrafen« übersetzt werden. In der Mekhilta de Rabbi Ismael, einem rabbinischen Kommentar zum Buch Exodus, erfahren wir, dass Gott die Wasser des Schilfmeeres geteilt hat, um Israel in Sicherheit zu bringen und die »zu bestrafen« (nipraʿ), die darauf aus waren, Israel zu zerstören. 3 Die reflexive Form des Verbs (nipraʿ) impliziert, dass Gott die Schulden, die der Pharao und sein Gefolge bei ihm hatten, eingetrieben hat: Das Entgelt für die Sünde war Tod (vgl. Röm 6,23). (b) Der Status des Schuldners: Der gebräuchlichste Verbstamm ist ḥāb, was normalerweise »etwas schulden« bedeutet. Das substantivierte Adjektiv ḥayyāb bedeutet »Jemand, der etwas schuldig ist«, und das Nomen ḥôb bezeichnet die »Schuld« im Sinne der geschuldeten Sache. Da eine Geldschuld immer mit einem Vertrag einher geht, ist der Gläubiger derjenige, der den Schuldnachweis besitzt (baʿal ḥôb), nämlich das Dokument (šṭar), das bei der vertraglichen Regelung des Darlehens unterschrieben wurde. Vorausgesetzt ist, dass der Gläubiger das Recht hat, seine Schulden einzutreiben, solange er im Besitz der Schuldurkunde ist. Dementsprechend wurde nach Rückzahlung sorgfältig darauf geachtet, dass die Urkunde entweder in zwei Stücke gerissen, die Bezahlung darauf vermerkt oder aber das Dokument an den Schuldner zu dessen freier Verfügung ausgehändigt wurde. In einem weiteren metaphorischen Sinn bedeutete die Bestrafung eines Sünders durch Gott nichts anderes, als dass der göttliche Gläubiger (in Form einer Strafe) seine Schulden eintreibt: »[Wenn jemand im Begriff ist, bestraft zu werden,] sagt Rabbi Isaak: ›Der Gläubiger (baʿal ḥôb) ergreift die Gelegenheit, seine beurkundeten Schulden (šṭar) einzutreiben‹« 4 . (c) Der Akt, jemanden von seiner Zahlungsverpflichtung zu entbinden: Das Verb māḥal bedeutet wörtlich »eine Schuldverschreibung annullieren« und übertragen »eine Sünde vergeben«. Die wörtliche Bedeutung wird durch folgendes Zitat aus dem Babylonischen Talmud illustriert: »Wenn man auf einen Schuldschein (šṭar) [Geld] geborgt und bezahlt hat (pāraʿ), so darf man auf diesen nicht wiederum borgen, weil seine Bürgschaft bereits erloschen ist (nimḥal)« 5 . Die übertragene Bedeutung liegt hier vor: »Der Regen kommt nur dann, wenn Israel seine Sünden vergeben werden (nimḥălû), Gary A. Anderson »Vergib uns unsere Schulden« Hermeneutik und Vermittlung Zeitschrift für Neues Testament_32 typoscript [AK] - 26.09.2013 - Seite 62 - 2. Korrektur 62 ZNT 32 (16. Jg. 2013) Hermeneutik und Vermittlung denn es heißt: ›Du hast dein Land begnadigt, o Herr, hast das Geschick Jakobs gewendet, du hast die Schuld deines Volkes weggetragen, all ihre Sünden bedeckt‹ (Ps 85,1-3)« 6 . Bemerkenswert ist, dass der biblische Begriff von Sünde als »Last« (»du hast die Schuld deines Volkes weggetragen«) ausgeblendet wird zugunsten der Bedeutung »Schuld«. Dieses Beispiel zeigt, dass die Auffassung von Sünde als »Last« bzw. »Gewicht« im rabbinischen Hebräisch umgangssprachlich verschwunden ist, und zwar fast vollständig. Jesus und das Vaterunser Im Neuen Testament ist die Rede von Sünde als »Schuld« allgegenwärtig. Jesus hat immer wieder Geschichten von Schuldnern und Gläubigern erzählt, um die Dynamik von Sünde und Vergebung zu veranschaulichen. Wenn seine Alltagssprache dem Hebräisch der Rabbinen nahe stand, ist dies nicht verwunderlich. Wie Lakoff und Johnson gezeigt haben, bestimmen Metaphern unser alltägliches Denken, Handeln und Erzählen. 7 Schauen wir uns beispielsweise jene berühmte Zeile aus dem Vaterunser in der Fassung des Matthäusevangeliums an: »Erlasse uns unsere Schulden, wie auch wir unseren Schuldnern das Geschuldete erlassen« (6,12). Vergebung ist hier der großzügige Verzicht auf das Eintreiben von Schulden. Wer so betet, bittet darum, dass Gott so handeln möge, und er beteuert zugleich, dass er seinerseits in gleicher Absicht handelt. Die Forschung ist sich weitestgehend darin einig, dass der griechische Text, wie er uns im Neuen Testament vorliegt, nur auf dem Hintergrund seiner semitischen Vorlage eine sinnvolle Aussage ergibt. »Der matthäische Sprachgebrauch von ›Schuld‹ hat«, so Raymond Brown, »einen semitischen Klang. Während nämlich ›Schuld‹ im paganen Griechisch keinerlei religiöse Färbung hat, ist das aramäische ḥôbâ ein finanzieller bzw. kommerzieller Ausdruck, der in die religiöse Sprache übernommen wurde […]. Die Bitte um das ›Erlassen‹ (aphiēmi) von Schulden ist dementsprechend stärker semitisch als griechisch gedacht, denn eine religiöse Bedeutung von ›Erlassung‹ finden wir nur im hebräisch grundierten Griechisch der Septuaginta« 8 . Die Bedeutung der »Schuld«-Terminologie ist nicht auf das Vaterunser beschränkt. Am klarsten liegt das Gemeinte in der Parabel vom unbarmherzigen Knecht in Mt 18,23-35 zu Tage. 9 »Darum ist es mit dem Himmelreich wie mit einem König, der mit seinen Knechten abrechnen wollte. Als er abzurechnen begann, wurde einer vor ihn gebracht, der ihm zehntausend Talent schuldig war. Weil er sie nicht zurückzahlen konnte, befahl der Herr, ihn mit Frau und Kind und seiner ganzen Habe zu verkaufen und so die Schuld zu begleichen. Da warf sich der Knecht vor ihm auf die Knie und flehte: ›Hab Geduld mit mir, und ich werde dir alles zurückzahlen! ‹ Da hatte der Herr Mitleid mit jenem Knecht und ließ ihn gehen, und die Schuld erließ er ihm. Als aber der Knecht wegging, traf er einen seiner Mitknechte, der ihm hundert Denare schuldig war; und er packte ihn, würgte ihn und sagte: ›Bezahle, wenn du etwas schuldig bist! ‹ Da fiel sein Mitknecht vor ihm nieder und bat ihn: ›Hab Geduld mit mir, und ich werde es dir zurückzahlen! ‹ Er aber wollte nicht, sondern ging und ließ ihn ins Gefängnis werfen, bis er die Schuld beglichen hätte. Als nun seine Mitknechte sahen, was geschehen war, überkam sie große Trauer, und sie gingen und berichteten ihrem Herrn alles, was geschehen war. Da ließ sein Herr ihn zu sich rufen und sagte zu ihm: ›Du böser Knecht! Die ganze Schuld habe ich dir erlassen, weil du mich gebeten hast! Hättest nicht auch du Erbarmen haben müssen mit deinem Mitknecht, so wie ich Erbarmen hatte mit dir? ‹ Und voller Zorn übergab ihn sein Herr den Folterknechten, bis er ihm die ganze Schuld bezahlt hätte.« Prof. Dr. Gary Anderson ist Professor für katholische Theologie am Department of Theology der Universität Notre Dame. Er erwarb den Ph. D. 1985 an der Harvard University. Seine Forschungsinteressen liegen bei der Religion und Literatur des Alten Testaments mit besonderem Fokus auf seiner Rezeption im Frühen Judentum und Christentum. Darüber hinaus beschäftigt er sich mit kanonischer Exegese, Biblischer Theologie, jüdischer Kultur und Religion sowie den Beziehungen zwischen Judentum und Christentum. 2009 erschien seine Monographie Sin: A History (Yale University Press, 2009), die den Veränderungen in der Metaphorik der Sünde während der Zeit des Zweiten Tempels und den daraus folgenden Verschiebungen der Perspektive auf Sünde und ihre Vergebung in Judentum und Christentum nachgeht. Gary Anderson Zeitschrift für Neues Testament_32 typoscript [AK] - 26.09.2013 - Seite 63 - 2. Korrektur ZNT 32 (16. Jg. 2013) 63 Gary A. Anderson »Vergib uns unsere Schulden« Die Parabel zeigt in aller Deutlichkeit was Jesus meinte, als er seine Jünger unterwies, um Vergebung ihrer Schuld zu beten, so wie auch sie ihren Schuldnern vergeben sollten: Nach der Logik dieser Metaphorik drohen wir in Schuldsklaverei zu fallen, wenn wir sündigen. Wenn die Dinge ihren Lauf nehmen, muss man die »Kosten« des schuldhaften Handelns »bezahlen« mittels einer »Währung«, die durch körperliche Bestrafung generiert wird. Weil aber Gott barmherzig ist, wird er die Schulden erlassen, wenn wir ihn demütig bitten. »Der König, der mit seinen Knechten abrechnen will, steht«, so nochmals Raymond Brown, »offensichtlich für Gott, und die Situation ist die des Gerichts. Die Parabel macht deutlich, dass die Vergebung Gottes gegenüber dem Sklaven in Zusammenhang steht mit des Sklaven Vergebung gegenüber dem Mitsklaven. Wenn diese brüderliche Vergebung unterbleibt, wird er gepeinigt, bis er bezahlt hat« 10 . Die Parabel illustriert also die Logik des Vaterunser, die nicht nur die Bitte eines Sklaven an seinen Herrn um Schuldenerlass enthält (»erlasse uns unsere Schulden«), sondern diesen Erlass vom Verhalten des Sklaven gegenüber seinem bei ihm selbst verschuldeten Mitsklaven abhängig macht (»so wie wir unseren Schuldnern ihre Schulden erlassen«). Man beachte, dass Jesus den Sünder nirgends als jemanden darstellt, der sich mit einer schweren Last abmüht. Auch die Szene vom Sündenbock aus Lev 16 oder die Figur Ezechiels, dem Gott aufträgt, auf der Seite liegend die Schuld Israels zu tragen (Ez 4,4 f.), kommt im Neuen Testament nicht vor, aber nicht nur dort nicht, sondern auch nirgends in der rabbinischen Literatur. Hier kommt die konsequente Ersetzung von »Last« durch »Schulden« in aller Deutlichkeit zur Geltung. Trotz des prominenten Belegs im Vaterunser wurde gegen diesen Sündenbegriff der jüdischen Tradition von Seiten einiger christlicher Denker heftig polemisiert. Zumal Neutestamentler in der Tradition eines protestantischen Gesetzesbegriffs tendierten zu einem wenig schmeichelhaften Bild des rabbinischen Judentums. Die Rede von »Sünde« als »Schuld« evoziere das Bild eines Gottes, der über seinen himmlischen Büchern sitzt und gewissenhaft jede menschliche Handlung auf der Soll- oder Habenseite verbucht. Dann scheint es kaum mehr Raum zu geben für das göttliche Erbarmen. Man muss dann, um diesen Gott zu verstehen, nicht Theologie studieren. Es genügt auch eine Ausbildung zum Buchhalter. Beispiele für diese christliche Sicht des rabbinischen Judentums enthält der mehrbändige Kommentar zum Neuen Testament aus Talmud und Midrasch von Hermann Leberecht Strack und Paul Billerbeck. 11 Billerbeck (1853-1932) untersuchte das Neue Testament Zeile für Zeile im Blick auf rabbinische Parallelen. Dieses überaus gelehrte Werk, von dem die Forschung bis heute regen Gebrauch macht, unterzieht regelmäßig die Auswahl der rabbinischen Textstellen dem theologischen Programm der Autoren. In der Vergangenheit hat man in Unkenntnis dieser unvorteilhaften Tendenz einen vielfach unkritischen Gebrauch von diesem Werk gemacht und sein Bild vom rabbinischen Judentum für bare Münze genommen. Einen Wandel brachte erst das viel beachtete Buch Paul and Palestinian Judaism von E. P. Sanders, das die neutestamentliche Wissenschaft mit einer vernichtenden Kritik dieser Art von Forschung aufgerüttelt hat. 12 Sanders bringt die von Strack und Billerbeck geteilte Sicht des rabbinischen Judentums bündig auf den Begriff: »Gott gab Israel die Tora und damit die Gelegenheit, sich Verdienst und Lohn zu erwerben. Der Einzelne hat die Möglichkeit, das Gute zu wählen, und das gesamte System der ›pharisäischen Soteriologie‹ steht und fällt damit, dass der Mensch in der Lage ist, das Gesetz zu erfüllen. Mit jeder Erfüllung eines Gebotes erwirbt sich ein Israelit ein Verdienst (zekût), wohingegen jede Übertretung als Schuld (ḥôbâh) zu Buche schlägt. Gott führt ein Verzeichnis über die Verdienste wie auch über die Schulden. Überwiegen die Verdienste eines Menschen, gilt er als Gerechter, andernfalls als Übeltäter. Besteht ein Gleichgewicht, ist er ein Mittlerer. Der Mensch kann nicht wissen, wie es um sein Konto bei Gott bestellt ist, und dementsprechend kann er sich auf Erden seines Heils nie sicher sein. Jederzeit kann die Waagschale in die eine oder andere Richtung sich neigen. Am Ende entscheiden sich Wohl und Wehe auf der Grundlage der himmlischen Buchführung. Überwiegen die Gebotserfüllungen, geht es in den Garten Eden, überwiegen die Übertretungen, wartet die Gehenna, die Hölle. Bei den Mittleren nimmt Gott Übertretungen weg, sodass die Erfüllungen schwerer wiegen« 13 . Diese Theologie der Buchhaltung wird als Quintessenz des rabbinischen Denkens präsentiert. Billerbeck sagt es so: »Die altjüdische Religion ist hiernach eine »Die Rede von ›Sünde‹ als ›Schuld‹ evoziere das Bild eines Gottes, der über seinen himmlischen Büchern sitzt und gewissenhaft jede menschliche Handlung auf der Soll- oder Habenseite verbucht. Dann scheint es kaum mehr Raum zu geben für das göttliche Erbarmen. Man muss dann, um diesen Gott zu verstehen, nicht Theologie studieren. Es genügt auch eine Ausbildung zum Buchhalter.« Zeitschrift für Neues Testament_32 typoscript [AK] - 26.09.2013 - Seite 64 - 2. Korrektur 64 ZNT 32 (16. Jg. 2013) Hermeneutik und Vermittlung Religion völligster Selbsterlösung; für einen Erlöser- Heiland, der für die Sünde der Welt stirbt, hat sie keinen Raum« 14 . Es gibt rabbinische Texte, die diese Sicht zu stützen scheinen. Andere Texte besagen jedoch, dass Gott seine Buchführung nicht in dieser mechanischen Weise handhabt. Weit entfernt davon, den Buchhalter zu spielen, der jeden Verdienst und jede Schuld vermerkt, ist Gott darauf aus, ausstehende Zahlungen zu ignorieren, um sein Volk zu retten. Während in der Finanzwelt ein derart kreatives Verhalten katastrophale Folgen hätte, gelten in der spirituellen Welt andere Regeln. Gott hat mit Bilanzfälschung kein Problem, wenn sie nur seinem geliebten Volk zugute kommt. Manche Erzählungen des Midrasch lassen jeden kaufmännischen Anstand außer Acht. An seine Stelle tritt eine Findigkeit der Gnade, die unverdiente Verdienste quittiert. Es ist schon merkwürdig, dass Strack und Billerbeck solche Textbeispiele unerwähnt lassen. Um diese andere Seite des rabbinischen Denkens näher zu beleuchten, möchte ich einen Text aus Pesikta Rabbati diskutieren, einer verhältnismäßig späten Sammlung rabbinischer Homilien zu verschiedenen Anlässen des jüdischen Festkreises. Kapitel 45 enthält eine Homilie zum Versöhnungstag. Nach rabbinischer Vorstellung richtet Gott an diesem Tag über die Sünden Israels und entscheidet über das Geschick jedes einzelnen Sünders während des nächsten Jahres. Würde nun Gott wie ein penibler Banker gedacht, der eine gerechte Bestrafung für jede einzelne Person ausarbeitet, dann müsste doch dieser Tag die Gelegenheit für ihn sein, sämtliche Schuldscheine in seinem Besitz zusammenzusuchen und alle Schulden einzutreiben, um sein Geschäftsjahr mit ausgeglichener Bilanz abschließen zu können. Jeder Israelit mit Zahlungsrückständen hätte dann allen Grund, vor Angst zu zittern. Solchen Vorstellungen läuft jedoch die folgende Auslegung von Ps 32,1 f. völlig zuwider: »Eine Unterweisung Davids. Wohl dem, dessen Übertretung vergeben (nĕśûy pešaʿ) und dessen Sünde bedeckt ist (kĕśûy ḥaṭṭāʾt). Dies ist es, was David meint: ›Du hast weggetragen die Sünden (nāśāʾ ʿăwōn) deines Volkes, alle ihre Sünden hast du bedeckt.‹ Einst kam Satan am Versöhnungstag, um Israel anzuklagen. Er listete ihre Sünden auf und sprach: ›O Herr des Universums, so wie es Ehebrecher unter den Völkern gibt, so gibt es sie auch in Israel. So wie es Diebe unter den Völkern gibt, so gibt es sie auch in Israel‹. Der Heilige, gepriesen sei er, listete die Verdienste (zĕkûyôt) Israels auf. Und was tat er dann? Er nahm eine Waage und wog die Sünden gegen die Verdienste ab, und die Waage war im Gleichgewicht. Da fing Satan an, weitere Sünden in die Waagschale zu werfen, und sie neigte sich. Und was tat da der Heilige, gepriesen sei er? Als Satan nach weiteren Sünden suchte, nahm er die Sünden und verbarg sie unter seinem Purpurmantel. Als Satan wiederkam, fand er keine Sünde mehr, wie geschrieben steht: ›Man wird nach der Schuld Israels suchen, aber sie ist nicht mehr da‹ (Jer 50,20). Als Satan dies sah, sprach er vor dem Heiligen, gepriesen sei er: ›Herr der Welt, du hast die Freveltaten deines Volkes weggenommen und alle ihre Sünden bedeckt‹ (Ps 85,2). Als David dies sah, sprach er: ›Wohl dem, dessen Übertretung vergeben und dessen Sünde bedeckt ist‹ (Ps 32,1)«. Wichtig ist, dass Satan nicht, wie man erwarten könnte, als Personifikation des Bösen auftritt. Er steht vielmehr für das Prinzip Gerechtigkeit. Er behauptet, dass Israel keine Vergebung verdient, weil die Schulden dieses Volkes sein Guthaben überwiegt. Aber Gott lässt nicht zu, dass die Ergebnisse einer genauen Buchprüfung sein Herz bestimmen. Auch wenn Satan im Recht ist, kann er nicht gewinnen. Gott schafft eine neue Situation, indem er die Sünde Israels »wegnimmt«. In diesem Fall nimmt er aber nicht eine Last von jemandes Schulter, wie der biblische Ausdruck nahelegt, sondern einen Schuldschein. Indem diese Schuldscheine aus der Waagschale genommen werden, hat das Guthaben Israels die Oberhand, und Gott kann »gerecht« seinem Volk vergeben. Das Motiv des Ärgers der Engel über die Generosität Gottes ist in der rabbinischen Literatur keineswegs selten, wie die Textsammlung Peter Schäfers zu diesem Thema eindrucksvoll unter Beweis stellt. 15 In einigen dieser Geschichten werden die Engel bestraft, in anderen werden sie hinters Licht geführt. Entscheidend ist stets, dass der Umgang Gottes mit menschlicher Sünde nicht nach dem von Billerbeck gestrickten Muster vonstatten geht. Obwohl Gott gerecht ist, ist er doch großzügig. Im eingangs zitierten Text notiert Thomas von Aquin, dass diese Großzügigkeit nicht der Gerechtigkeit widerstreitet. Denn wie jemand, der hundert Dollar schuldig ist, die Freiheit hat, zweihundert Dollar zurück zu zahlen, so kann einer, dem jemand hundert Dollar schuldig ist, darauf verzichten, überhaupt etwas zurück zu fordern. Denn beim Vergeben macht der Gläubiger aus der Schuld in gewisser Weise ein Geschenk, und Gott hat jederzeit die Freiheit, Geschenke zu machen. Natürlich gibt es auch viele rabbinische Geschichten von Sündern, die für ihre »Manche Erzählungen des Midrasch lassen jeden kaufmännischen Anstand außer Acht. An seine Stelle tritt eine Findigkeit der Gnade, die unverdiente Verdienste quittiert.« Zeitschrift für Neues Testament_32 typoscript [AK] - 26.09.2013 - Seite 65 - 2. Korrektur ZNT 32 (16. Jg. 2013) 65 Gary A. Anderson »Vergib uns unsere Schulden« Vergehen bestraft werden. Aber um einer ausgewogenen Darstellung willen müssen diese Geschichten zu solchen ins Verhältnis gesetzt werden, in denen Gott die Regeln ändert, sodass die Gnade gewinnen kann. Da in einem letzten Sinn alles Gott geschuldet ist, hat er das Recht, auf die Rückzahlung zu verzichten. Er handelt, wenn er einem Schuldner ein solches Geschenk macht, nicht ungerecht. Man mag einwenden, die Geschichte aus Pesikta Rabbati sei zu spät, um für das rabbinische Judentum insgesamt repräsentativ zu sein. Es gibt jedoch eine Parallele zu Pesikta Rabbati, die aus dem bedeutend älteren Jerusalemer Talmud stammt (5. Jh.). Im Traktat Peah heißt es, dass, wer ein Übermaß an Verdiensten besitzt, das Paradies erben wird, jemand mit einem Übermaß an Übertretungen dagegen die Feuer der Gehenna. Was ist aber mit jenen, die von beidem gleich viel haben? Dazu sagt Rabbi Jose b. Hanina: »Bedenke die Beschreibung von Gottes Eigenschaften [Ex 34,6 f.]: Es heißt nicht: ›Der die Übertretungen [pl.] ergreift und sie fortschafft‹, sondern: ›der die Übertretung [sg.] vergibt‹. Das heißt, dass der Heilige [er sei gepriesen] eine Schuld wegnimmt, sodass die guten Taten überwiegen.« Rabbi Eleazar zitiert den Vers »›Dein, o Herr, ist die Gnade. Denn du vergiltst einem jeden nach seinem Tun‹ (Ps 63,2). Wenn aber jemandem [ausreichende Verdienste] fehlen, gibt Gott etwas von den seinen! Das stimmt mit R. Eleazar überein, denn er hat [auch] mit Bezug auf den Vers ›Gott ist reich an Huld‹ [Ex 34,6] gesagt, dass Gott die Waagschalen der Gerechtigkeit in Richtung einer gnädigen Entscheidung ausschlagen lässt« (jPeah 5a). Im ersten Textbeispiel nimmt Rabbi Jose den biblischen Text allzu wörtlich. Das Nomen in »Der die Übertretung vergibt« steht im Singular, obwohl die hebräische Formulierung sinngemäß eine Mehrzahl meint. Dennoch haftet am grammatischen Singular das besondere Interesse des Rabbi Jose: Warum redet dieser Vers, der Gottes Gnade beschreiben will, davon, dass Gott nur eine einzige Übertretung wegnimmt? Die Antwort des Rabbi lautet, dass der biblische Text eine Person meint, deren Schulden und Verdienste sich die Waage halten. In diesem Fall erweist Gott dadurch seine Gnade, dass er einen einzigen Negativposten wegnimmt, damit die Schulden nicht überwiegen. Rabbi Eleazar kommt zu einem ähnlichen Ergebnis, doch von einem anderen Ausgangspunkt. Ps 62,13 besagt, dass jeder Mensch nach seinen Taten vergolten bekommt, doch wird diese Aussage modifiziert durch die Feststellung: »Dein, o Herr, ist die Gnade.« Was könnte das bedeuten? Für Rabbi Eleazar bedeutet es, dass Gott zwar das Recht hat, der Gerechtigkeit entsprechend der Taten der Menschen Genüge zu tun, dass dies aber kein eisernes Gesetz ist. Wird Gott vom Prinzip der Gnade her verstanden, ist er gänzlich frei, aus seinen eigenen, unendlichen Beständen denjenigen etwas abzugeben, denen es an Verdiensten mangelt. Eleazar bekräftigt dieses Prinzip mit dem Zitat Ex 34,6 über die gnädigen Eigenschaften Gottes. Dass Gott »reich an Huld ist«, bedeutet: Er legt seinen Daumen auf die Waagschale, sodass sie sich zu Gunsten derer neigt, die er so innig liebt. Da zuerst und vor allem Gott der Schuldner ist, ist es ihm auch freigestellt, Schulden zu ignorieren, wann immer er will. Wie Paul Ricœur zutreffend feststellt, gibt es keinen Zugang zum Begriff der Sünde unabhängig von den Metaphern der jeweiligen Sprache. 16 Ricœur ging es nicht darum, dass Metaphern schematisch einen bestimmten Typ von Erzählungen prädeterminieren. Vielmehr sind Metaphern das Rohmaterial, das durch verschiedene religiöse Traditionen in unterschiedliche Richtungen geformt wird. Der Fehler Stracks und Billerbecks und ganzer nachfolgender Generationen von Neutestamentlern bestand in der Annahme, jüdisches Denken über Sündenvergebung gehorche den strikten Regeln des Finanzwesens. Wie wir aber gesehen haben, wurde dieses Motiv auf komplexe und subtile Weise angewendet. Unbestritten konnte Gott als fordernder Kreditgeber beschrieben werden, der auch noch den letzten Cent zurückforderte. Im selben theologischen Repertoire findet sich aber auch das Bild der weichherzigen Tante, die geneigt ist, die Schulden, die ihr Lieblingsneffe bei ihr hat, dem Vergessen anheim fallen zu lassen. Hier kommt alles auf den literarischen Kontext an, in dem die jeweilige Metaphorik verwendet wird. In einem paränetischen Kontext liegt der Nutzen der Buchführungsmetapher auf der Hand. Aber an Jom-Kippur, dem heiligsten Feiertag des Jahres, wenn Gott die ganze Welt richtet, nimmt die Metapher eine andere Textur an. In diesen Narrationen ist Gott immerzu bereit, die Regeln zu brechen, damit Israel vergeben werden kann. Wo immer die Bewahrung Israels zur Entscheidung steht, ist jede Form der »kreativen Buchführung« statthaft und gerechtfertigt. 17 »Dass Gott ›reich an Huld ist‹, bedeutet: Er legt seinen Daumen auf die Waagschale, sodass sie sich zu Gunsten derer neigt, die er so innig liebt.« Zeitschrift für Neues Testament_32 typoscript [AK] - 26.09.2013 - Seite 66 - 2. Korrektur 66 ZNT 32 (16. Jg. 2013) Hermeneutik und Vermittlung Anmerkungen 1 Grundlage für diesen Essay ist ein Teil meines Buches Sin: A History, New Haven, 2009. Interessierte Leserinnen und Leser finden dort eine ausführlichere Behandlung des Themas. Ausführlicher gehe ich dort auch auf die sprachlichen Verbindungen zwischen der rabbinischen Literatur und dem Hebräischen und Aramäischen zur Zeit des zweiten Tempels ein. Die biblischen und rabbinischen Texte im deutschen Text sind, wenn nicht anders angegeben, aus der englischen Übersetzung übernommen. 2 bBabaBathra 5a. 3 Mekhilta deRabbi Ismael zu Ex 14: 21. 4 Genesis Rabba 85,2 5 bGittin 26b nach der Übersetzung von Goldschmidt. 6 bTaanit 26b nach der Übersetzung von Goldschmidt mit leichten Änderungen. 7 G. Lakoff, Mark Johnson: Metaphors We Live By, Chicago, 1980. 8 Ders., The Pater Noster as an Eschatological Prayer, TS 22 (1961), 175-208. Nachdruck in: New Testament Essays, Milwaukee/ WI, 1965, 217-253, 244. 9 Übersetzung: Neue Züricher Bibel. 10 A. a. O., 245. 11 H.-L. Strack/ P. Billerbeck: Kommentar zum Neuen Testament aus Talmud und Midrasch, 4 Bde. in 5 Teilbdn. und Indexband, München 1924-56. 12 E.P. Sanders, Paul and Palestinian Judaism. A Comparison of Patterns of Religion, Philadelphia, 1977 (deutsche Übersetzung 1985). 13 A. a. O., 42 f. 14 H.-L. Strack/ P. Billerbeck, Kommentar zum Neuen Testament aus Talmud und Midrasch, Bd. 4.1, 6. 15 P. Schäfer, Rivalität zwischen Engeln und Menschen. Untersuchungen zur rabbinischen Engelvorstellung, Berlin, 1975. 16 Paul Ricoeur, The Symbolism of Evil, Boston, 1967, passim. Vorschau auf Heft 33 »Anders Lesen« Mit Beiträgen von: Christian Schramm, Musa Dube, Christian Stein, Stefan Alkier, Marius Reiser, Michael Tilly, Kathrin Oxen/ Karl-Friedrich Ulrichs