eJournals ZNT – Zeitschrift für Neues Testament 16/32

ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
2013
1632 Dronsch Strecker Vogel

Wer bin »Ich«?

2013
Stefan Schreiber
Zeitschrift für Neues Testament_32 typoscript [AK] - 26.09.2013 - Seite 49 - 2. Korrektur ZNT 32 (16. Jg. 2013) 49 Ein offener Text: Das »Ich« und seine Befindlichkeit in Römer 7 Die Auslegung von Römer 7 ist auffallend umstritten. Dabei ist noch nicht einmal klar, worin eigentlich die zentrale Thematik des Textabschnitts besteht. Macht Paulus die Abschaffung der Tora durch das Christus- Ereignis bewusst? Entfaltet er-- zum ersten Mal! -- eine christliche Anthropologie, die die Spannung des christlichen Lebens zwischen neuer Existenz und alter Welt beschreibt? Schwierigkeiten bereitet die Sprachform ab Röm 7,7, wo unvorbereitet die 1. Person Singular dominiert, also ein »Ich« spricht. Bei der Identifizierung dieses »Ich« hat die Exegese bislang keinen Konsens erreicht. 1 Zunächst liegt eine biographische Deutung nahe, bei der Paulus selbst als Sprecher angenommen wird. Doch bleibt unklar, ob er seine innere Zerrissenheit in der Zeit vor seiner Berufung rekapituliert, oder ob er seine Erfahrung als Christ in der Gegenwart, die damit auch die Erfahrung anderer Christen einschließt, darstellt: den Widerstreit zwischen Wollen und Misslingen, zwischen Neuwerdung und Sündersein. 2 Das »Ich« lässt sich freilich auch als Stilform im Kontext antiker Rhetorik verstehen, so dass es einen typischen Blick vom Standort des Christen auf die Zeit vor Christus entwirft. Dabei kann man an ein »generisches Ich« denken, das die Situation aller Menschen ohne Christus zur Sprache bringt. Doch bevor das »Ich« spricht, diskutiert Paulus in 7,1-6 ein Fallbeispiel, das den Schlüssel zum Verstehen von Römer 7 bereitstellt. 3 1. Die neue Lebenswirklichkeit und die Tora: Röm 7,1-6 Das in 7,1-6 diskutierte Fallbeispiel gibt das Thema des ganzen Abschnitts 7,1-25 vor. Es geht um die Geltung des nomos (des »Gesetzes«), und aus dem Kontext wird deutlich, dass damit die Tora Israels gemeint ist. Paulus führt mit seinem Beispiel vor Augen, wie die Tora je nach der spezifischen Lebenssituation unterschiedlich angewendet werden muss. Die Erfahrungsaussage in 7,1, dass der nomos das Leben eines Menschen in Israel bestimmt, solange der Mensch lebt, spricht grundsätzlich die Voraussetzungen für die Geltung und Anwendung der Tora an. Paulus nimmt also an der jüdischen Toradiskussion seiner Zeit teil, führt sie jedoch in ganz eigener Weise fort. In 7,2 f. bringt er die Ehetora ins Gespräch, die die Bindung der Frau an ihren Ehemann festlegt (z. B. Dtn 24,1-4). Diese Bindung endet dann, wenn der Ehemann stirbt. Der Tod des Ehemannes bedeutet eine einschneidende Wirklichkeitsveränderung im Leben der Frau-- sie ist nun Witwe--, und damit findet auch die Tora eine andere Anwendung-- sie bindet die Frau nicht mehr an ihren verstorbenen Mann. Wichtig ist in diesem Zusammenhang, dass die Ehetora dadurch nicht ungültig wird; sie betrifft das Leben aber nun in anderer Weise. Die Tora ist also auf die Lebenswirklichkeit anzuwenden. Diese Einsicht überträgt 7,4- 6 auf die neue Lebenswirklichkeit der Christen, deren Existenz sich durch die Zugehörigkeit zu Sterben und Erweckung Christi grundlegend verändert hat (vgl. zuvor Röm 6). Die Übertragung basiert auf den Sinnlinien »Sterben«, das existentielle Veränderung schlechthin bedeutet, und »Beziehung«, wobei die Mann-Frau-Beziehung eine besonders intensive Nähe andeutet. Diese Linien laufen nun in der Beziehung der Christen zu Christus und der neuen Wirklichkeit in seinem Sterben zusammen. Damit ändert sich aber auch die Anwendung der Tora, und zwar so drastisch, wie es der Veränderung der Wirklichkeit in Christus entspricht. Diese Drastik spiegelt sich in den Formulierungen des Paulus: »Ihr seid dem Gesetz gestorben durch den Leib des Christus«, »ihr gehört einem anderen, dem aus Toten Erweckten« (7,4); »ihr seid losgemacht vom Gesetz, ihm gestorben« (7,6). So bringt Paulus die hermeneutische Distanz zum Ausdruck, die aus der neuen Existenz in Christus resultiert und eine neue Freiheit in der Anwendung des Gesetzes, ein Gegenübertreten zur Tora ermöglicht. Der Jude Paulus praktiziert diese Freiheit im Rahmen der Tora und nicht als Freiheit vom Gesetz. 4 Die Gegenüberstellung der alten und der neuen Lebenswirklichkeit in 7,5 f. (»als wir im Fleisch waren«-- »nun«) macht die veränderte Voraussetzung für die Kontroverse Stefan Schreiber Wer bin »Ich«? Die Rolle Adams und die neue Tora-Hermeneutik in Römer 7 Zeitschrift für Neues Testament_32 typoscript [AK] - 26.09.2013 - Seite 50 - 2. Korrektur 50 ZNT 32 (16. Jg. 2013) Kontroverse Anwendung der Tora sichtbar. Hier klingt schon ein Gedanke an, der später ins Zentrum rücken wird: Vor dem Christus-Ereignis war man gerade durch das Gesetz in den Unheilszusammenhang von »Leidenschaften der Sünden« und Tod eingebunden (7,5). 5 Das aber hat sich »nun« geändert, und damit ändert sich auch das Verhältnis zur Tora. Am Ende fasst Paulus seine neue Tora-Hermeneutik in einer prägnanten Opposition zusammen: »dass wir dienen in der Neuheit des Geistes und nicht in der Altheit des Buchstabens« (7,6). Der »Buchstabe« bezeichnet dabei pauschal frühjüdische Tora-Verständnisse, die vom paulinischen Tora-Verständnis abweichen. Der Geist als Instanz des Tora-Verstehens 6 wird zum hermeneutischen Prinzip aus christlicher Perspektive. Auslegungsgeschichtlich bedeutet dies tatsächlich eine »Neuheit«, indem die neue Beziehung zu Gott in Christus die neue Tora-Hermeneutik freisetzt. Der Unterschied zur »alten« Auslegung bedeutet einen hohen Anspruch der neuen Interpretation, die aber immer noch im Diskussionsraum des Frühjudentums bleibt. Die Begründung einer neuen Tora-Hermeneutik lässt sich gut in die historische Gesprächssituation des Römerbriefs einordnen. 7 Heftig umstritten war die paulinische Praxis der Heidenmission, bei der Juden- und Heidenchristen in einer Gemeinschaft zusammenlebten, ohne dass jüdische Identitätsmerkmale wie Beschneidung, Speise- und Reinheitsgebote sowie Sabbatobservanz eine Trennungslinie markierten. Diese Toragebote, die der Abgrenzung jüdischer Identität von den Völkern dienen sollten, verloren in den Gemeinden des Paulus ihre Bedeutung. Damit steht die Anwendung der Tora überhaupt in Frage! Hebt Paulus die Tora nicht faktisch auf? Genau das will Paulus nicht, vielmehr bleibt auch für sein Gottesbild, sein Verständnis Christi und seinen Entwurf eines christlichen Ethos die Tora grundlegend. Er muss allerdings seine neue Anwendung der Tora in der neuen Lebenssituation mit Christus gegenüber Vorwürfen, er hebe die Tora auf (vgl. Röm 3,31), begründen. 2. Die Rolle Adams, die Sünde und das Gesetz in Röm 7,7-13 Die Formulierungen in 7,5 f. könnten leicht zu einem Missverständnis führen, das Paulus in 7,7a mit der Frage »Ist das Gesetz Sünde? « anspricht. Diese Folgerung lehnt Paulus sofort klar ab. Das Verhältnis von Gesetz und Sünde bleibt aber das Problem, das in den folgenden Ausführungen behandelt wird. Es geht also nicht um Fragen christlicher Anthropologie, wie in der Forschung häufig angenommen. Der Abschnitt 7,7-13 will den Gedanken plausibel machen: Die Sünde als handelndes Subjekt instrumentalisiert das in sich gute Gesetz und wirkt damit Begierde und Tod. Damit kann Paulus auf der einen Seite ohne Einschränkung die Gültigkeit und Würde der Tora, die Gottes Heilswillen für Israel repräsentiert, festhalten: »das Gesetz ist heilig« und »das Gebot« (gr.: entolē)-- das hier metonymisch für das Gesetz steht-- »ist heilig, gerecht und gut« (7,12). Auf der anderen Seite bereitet Paulus aber schon den Gedanken vor, dass erst das Christus-Ereignis die Macht der Sünde brechen konnte (vgl. 8,3 f.). Doch welche Sprecherperspektive signalisiert das »Ich« ab 7,7? Meine These ist, dass es sich dabei um ein rhetorisches Stilmittel handelt, das die Hörer/ innen des Briefs am abrupten Wechsel zum »Ich« und an dem im Griechischen betonten egō in 7,9.10 wahrnehmen konnten. Paulus wendet die aus dem antiken Drama und der Schullektüre bekannte Form der Prosopopoiie an. Bei diesem Rollenspiel repräsentiert das sprechende »Ich« eine andere Person oder einen Rollentypus, um Prof. Dr. Stefan Schreiber, Studium der Katholischen Theologie in Augsburg und Vallendar 1988-1993. Promotion 1995 an der Universität Augsburg mit der Arbeit »Paulus als Wundertäter. Redaktionsgeschichtliche Untersuchungen zur Apostelgeschichte und den authentischen Paulusbriefen« (BZNW 79, Berlin/ New York 1996). Habilitation 1999 an der Universität Augsburg mit der Arbeit »König und Gesalbter. Titel und Konzeptionen der königlichen Gesalbtenerwartung im Frühjudentum« (unter dem Titel »Gesalbter und König« BZNW 105, Berlin/ New York 2000). 2003-2010 Universitätsprofessor und Direktor des Seminars für Zeit- und Religionsgeschichte des Neuen Testaments an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Seit 2010 Lehrstuhlinhaber für Neutestamentliche Wissenschaft an der Universität Augsburg Stefan Schreiber Zeitschrift für Neues Testament_32 typoscript [AK] - 26.09.2013 - Seite 51 - 2. Korrektur ZNT 32 (16. Jg. 2013) 51 Stefan Schreiber Wer bin »Ich«? (typische) Standpunkte oder Verhaltensweisen zu demonstrieren. 8 Vor Gericht kann der Anwalt die Rolle seines Klienten übernehmen; so kann Quintilian die Prosopopoiie definieren als »erfundene Reden fremder Personen, wie sie der Anwalt den Prozessierenden in den Mund legt« (Quint. inst. 6,1,25). Er betont dabei auch die emotionale Wirkung dieser Redeweise. Welche Rolle das »Ich« ab Röm 7,7 spielt, dürfte den Hörer/ innen schnell klar geworden sein. Paulus spielt die Rolle Adams, der nach dem »Sündenfall« das Gesetz beurteilt-- und typologisch für alle auf der Basis des Gesetzes Lebenden steht. In der Aussage von 7,9 (»ich lebte einst ohne Gesetz«) wird dies deutlich: Das Gebot kam im Paradies hinzu. 9 Die zentrale strukturelle Gemeinsamkeit mit der biblischen Erzählung vom Sündenfall (Gen 3) besteht in der Frage, wie das Böse bzw. die Sünde Einfluss auf den Menschen gewinnt trotz bzw. mittels des Gebots. »Adam« beantwortet die Frage nach dem Verhältnis von Sünde und Gesetz in 7,7b-10 in drei Schritten: (1) Erst durch das Gesetz erkannte ich die Sünde (7,7b). Durch das Gesetz wird diese in sprachlichen Kategorien fassbar und damit erfahrbar. (2) Durch das Gebot wirkte die Sünde in mir alle Begierde (7,8). Wichtig ist, dass die Sünde als Subjekt die handelnde Macht darstellt und am Menschen aktiv wird; sie instrumentalisiert das Gebot für ihre Zwecke. Man muss den schwierigen Text genau übersetzen: »Anlass nehmend durch das Gebot wirkte die Sünde in mir alle Begierde«. Die Sünde reizte Adam durch das Gebot zu dessen Übertretung. 10 (3) Durch das Gesetz brachte mir die Sünde den Tod (7,9 f.). Durch das Gebot lebte die Sünde auf, »Adam« aber starb, d. h. seine Existenz geriet unter die Macht der Sünde und des Todes. Und so führt durch das Wirken der Sünde das Gebot, das doch von Gott eigentlich zum Leben gegeben ist, zum Tod. Im jüdischen Kontext bedeutet dies eine Provokation: Die Tora verkörpert doch den Heilswillen Gottes und buchstabiert den Bund Gottes mit Israel aus! Die frühjüdische Adam-Tradition kennt den Zusammenhang von Gebot/ Gesetz, Übertretung und Tod, 11 und auch die Figur eines Verführers (Schlange, Teufel) ist eingeführt. Paulus geht hier aber einen Schritt weiter, indem die Sünde als aktive Macht hinzutritt, die sich der Tora bemächtigt und ihre gute Intention zum Tode verkehrt. In 7,11 fasst »Adam« noch einmal zusammen und greift dabei die Aussage von 7,8 auf: »Die Sünde nahm Anlass durch das Gebot und täuschte mich und tötete mich durch es«. Durch das »Täuschen«- - das Verb apataō verwendet auch Gen 3,13(LXX)-- übernimmt die Sünde die Rolle der Schlange im Paradiesgarten. Das Gesetz wird von der Sünde instrumentalisiert. So bleibt die gute Intention des Gesetzes uneingeschränkt gültig, wie 7,12 folgert. 7,13 hält als Ergebnissicherung fest, dass es die Sünde ist, die in mir durch das gute Gesetz den Tod wirkt. Umso verhängnisvoller ist ihre Macht. 3. Der vernichtende Einfluss der Sünde Die Sünde (gr.: hamartia) gehört zum Figureninventar von Röm 7. Analog zur Schlange in der Erzählung vom Sündenfall in Gen 3, hinter der nach ApkMos 16,1-5; 17,4 der Teufel steht, verkörpert sie eine übernatürliche, dem Menschen feindliche Macht. In Röm 7,7-25 erscheint sie als aktiv handelnde Entität, die über den menschlichen Verfügungsbereich hinausgeht. Sprachlich liegt eine Personifikation des Handelns gegen Gottes Heilswillen vor. Im antiken Kontext ist eine Personifizierung konkreter Erfahrungen oder abstrakter Ideen geläufig, die so als übernatürliche Mächte bzw. Gottheiten vorstellbar wurden. 12 Beispiele sind Thanatos bzw. Mors (»Tod«) oder negative Mächte wie Febris (»Malaria«), Mala Fortuna (»Unglück«) oder Asebeia (»Gottlosigkeit«). Als Gottheiten konnten diese zum Teil anthropomorph dargestellt und kultisch verehrt werden. Dabei leisteten sie eine Integration persönlicher und sozio-politischer Erfahrungen in die Lebenswelt durch eine kultische Rückbindung an verschiedene göttliche Adressaten. Auch hinter der Personifikation der Sünde in Röm 7 dürfte die Erfahrung bzw. Idee einer übernatürlichen Macht stehen, die die gute Intention der Tora in ihr Gegenteil verkehrt und die menschliche Absicht, das Gute zu tun, scheitern lässt. 13 Die Sünde erscheint so als reale Macht, die von außen auf den Menschen einwirkt, in ihm die »Begierde« wirkt und auch auf die Möglichkeiten der Tora, das Leben Israels zum Guten zu führen, zerstörerischen Einfluss nimmt. Durch ihr Wirken steht die personifizierte Sünde in enger Verbindung mit dem Handeln des Menschen. Die Aussage in Röm 7,7 stellt die Sünde parallel zur »Begierde« (gr.: epithymia) und konkretisiert damit ihre Wirkung: Sie setzt im Menschen selbst an. In ethischen Diskursen des Frühjudentums kann die Begier- »Welche Rolle das ›Ich‹ ab Röm 7,7 spielt, dürfte den Hörer/ innen schnell klar geworden sein. Paulus spielt die Rolle Adams, der nach dem ›Sündenfall‹ das Gesetz beurteilt« Zeitschrift für Neues Testament_32 typoscript [AK] - 26.09.2013 - Seite 52 - 2. Korrektur 52 ZNT 32 (16. Jg. 2013) Kontroverse »Auch hinter der Personifikation der Sünde in Röm 7 dürfte die Erfahrung bzw. Idee einer übernatürlichen Macht stehen, die die gute Intention der Tora in ihr Gegenteil verkehrt und die menschliche Absicht, das Gute zu tun, scheitern lässt.« de, das selbstsüchtige Wollen, das nicht an den Mitmenschen und an Gott, sondern nur an sich denkt, als Ursache allen sündigen Tuns verstanden werden (z. B. Philo, spec.leg. 4,82.84 f.; ApkMos 19,3; 4Makk 2,5 f.). Mittels der Begierde nimmt die Sünde Einfluss auf den Menschen, und sie benutzt dazu selbst die Tora, die hier als zusammenfassendes (und um die jeweiligen Objekte verkürztes) Dekalog-Gebot zitiert wird: »Du sollst nicht begehren« (Ex 20,17; Dtn 5,21 LXX). Weil in der Welt »Adams« die Macht der Sünde herrscht, steht ihm nach Paulus der Weg zum rechten Tora-Verständnis und zum guten Verhalten nicht mehr offen, was in der Erzählung vom Sündenfall als Urerfahrung Adams typisiert wird. Dass die Sünde durch die Instrumentalisierung des Gesetzes noch an Gefährlichkeit gewinnt, hält 7,13 fest. Das zentrale Thema von Röm 7 bildet die Begründung für die neue Anwendung der Tora. Daher wird die Frage nach der persönlichen Schuld des Menschen (Röm 1,18-32) hier überhaupt nicht gestellt-- so sehr der Mensch am Prozess des Sündigens beteiligt ist. Aber er ist letztlich nicht frei, sich gegen die Sünde zu entscheiden, denn diese ist unabänderlich an ihm wirksam. Erst das Christus- Ereignis bringt hier Rettung. Auch im folgenden Abschnitt wird die Sünde als Macht, die den Menschen beherrscht, gezeichnet: »verkauft unter die Sünde«; »die Sünde, die in mir wohnt«; »dann bin nicht mehr ich es, der handelt, sondern die Sünde, die in mir wohnt« (7,14. 17. 20). 4. Unter fremder Herrschaft: Die Rolle des »Toratreuen ohne Christus« in Röm 7,14-25 Nach einer kurzen Feststellung im allgemeinen »Wir« beginnt in 7,14 wieder ein »Ich« zu sprechen. Es liegt nahe, dass Paulus damit noch einmal auf die rhetorische Figur der Prosopopoiie zurückgreift. Er nimmt freilich einen Rollenwechsel vor, der am Wechsel des Tempus ins Präsens und an der Bestimmung des »Ich« als »fleischlich« und »verkauft unter die Sünde« kenntlich wird. Es handelt sich demnach um ein zeitgleiches und vorchristliches »Ich«, das ich als die Rolle des »Toratreuen ohne Christus« umschreibe. Der Sprecher kann kein Christus- Anhänger sein, da ein solcher gerade nicht mehr der Sphäre des »Fleisches« zugehört und grundsätzlich von der Macht der Sünde befreit ist (vgl. Röm 3,21-26; 6,1- 11; 8,1-17). Das Thema des Abschnitts bleibt weiter die Tora, denn 7,14 beginnt mit der anerkannten Feststellung, dass der nomos »geistlich« ist. Weil das Gesetz zum Geist Gottes gehört, besitzt es höchste Würde. 14 Der Textteil 7,14b-21 demonstriert die Diskrepanz zwischen Wollen und Tun als Veranschaulichung der Wirkung der Sünde und damit die Ausweglosigkeit des »Ich«. Er erzielt seine rhetorische Wirkung durch eine Doppelung der zentralen Aussagen: 7,14b.15a/ 18 Negative Voraussetzung: »im Fleisch« 7,15b/ 19 Diskrepanz Wollen-- Tun 7,16a.17/ 20ab Sünde wohnt in mir (Ursache) 7,16b/ 21 Blick auf den nomos Paulus greift dabei einen kulturellen Diskurs der Antike auf, der aus Theater und Schullektüre bekannt war und den ich unter Bezug auf ein klassisches Drama des Euripides als »Medea-Motiv« bezeichne. Die Gestalt der Medea wurde zur Verkörperung eines zerstörerischen Zwiespalts im Menschen, einer unbegreiflichen Machtlosigkeit über sich selbst, die im Tod endet. Medea begreift sehr wohl, dass ihr geplantes Tun böse ist (Mord an ihren Kindern), doch die Leidenschaft (Rache an ihrem untreuen Gatten) ist stärker als ihre rationalen Überlegungen. 15 Ovid lässt seine Medea die Spannung auf den Punkt bringen: »Aber gegen meinen Willen zieht mich eine unbekannte Macht, das eine rät mir das Verlangen, die Vernunft das andere: Ich sehe das Bessere und finde es gut, dem Schlechteren folge ich« (Ov. met. 7,19-21). Diese anthropologische Dramatik macht Paulus zum Bestandteil seiner Argumentation. Doch während in den paganen Texten die Affekte (Zorn, Lust) oder die Natur gegen das gute Wollen stehen, tritt bei Paulus die Macht der Sünde auf den Plan, die im »Ich« wohnt, es besetzt hält. Und daher kann es die Tora nicht erfüllen. Das »Ich« gibt folglich zu, dass der nomos an sich gut ist (7,16), aber es findet sich so mit dem nomos konfrontiert, dass ihm, obwohl es das Gute tun will, das Böse nahe liegt (7,21). Nomos kann in 7,21 eine allgemeine anthropologische Gesetzmäßigkeit oder konkret die Tora bedeuten; vielleicht gebraucht Paulus den Begriff bewusst doppeldeutig im Sinne eines Sprachspiels: Was für Medea gilt, gilt auch für die vorchristliche Wahrnehmung der Tora: Gutes Wollen führt nicht zum Guten. Zeitschrift für Neues Testament_32 typoscript [AK] - 26.09.2013 - Seite 53 - 2. Korrektur ZNT 32 (16. Jg. 2013) 53 Stefan Schreiber Wer bin »Ich«? Diese Spannung im »Ich« führt in 7,22 f. zu zwei unterschiedlichen Weisen der Tora-Anwendung: das Gesetz Gottes bzw. das meiner Vernunft und das andere Gesetz bzw. das der Sünde in meinen Gliedern. Die jeweiligen Genitivattribute geben die verschiedenen Existenzweisen an, innerhalb derer die Tora verstanden wird. Für das nichtchristliche »Ich« dominiert das »Gesetz der Sünde« und nimmt das »Ich« gefangen, d. h. die Sünde beherrscht das gute Gesetz. Das »Gesetz Gottes« deutet aber bereits die paulinische Tora-Hermeneutik an-- und zugleich den Rettungsweg für das zerrissene »Ich«. Mit 7,24 gelangt die Prosopopoiie zu ihrem Höhepunkt. Das »Ich« stößt einen Verzweiflungsschrei angesichts seiner aussichtslosen Lage aus: »Wer wird mich retten aus diesem Leib des Todes? « Das Rollen-Ich erkennt, dass Rettung von außen nötig ist. Das Futur belegt, dass diese Rettung für den »Toratreuen ohne Christus« erst noch eintreten muss-- womit implizit auf das Christus-Ereignis verwiesen ist. In 7,25a findet ein kurzer Sprung aus der Rolle statt, in dem der Briefverfasser zeigt, wo diese Rettung zu finden ist: Der Dank dieser kurzen Doxologie geht an Gott durch Jesus Christus. So kann Paulus nur aus christlicher Perspektive sprechen, die bereits auf den Beginn der eschatologischen Herrschaft Gottes, zu dem die grundsätzliche Entmachtung der Sünde zählt, zurückblicken kann. In 7,25b kommt-- durch betontes »Ich selbst« (gr.: autos egō) markiert-- noch ein letztes Mal das Rollen-Ich zu Wort, um sein Fazit zu ziehen: Es dient mit der Vernunft dem Gesetz Gottes, mit dem Fleisch aber dem Gesetz der Sünde. Die beiden unterschiedlichen Existenzweisen-- im Fleisch meint vor Christus, die Vernunft deutet schon die neue Existenz an-- implizieren zwei unterschiedliche Verstehensweisen der Tora. 5. Ausblick auf die neue Tora-Hermeneutik In Röm 7,14-25 liegt eine kunstvolle Argumentation vor, mit der Paulus in der Rolle eines »Toratreuen ohne Christus« spricht und dabei die Notwendigkeit der Rettung durch Christus und einer damit verbundenen neuen Tora-Hermeneutik entwirft. Dabei zeigt Paulus zuerst, dass das Wollen und vor allem das Tun des Menschen von der Sünde besetzt sind. Dann wendet er diese Einsicht auf die Tora an, deren bisheriges Verständnis in die Aporie führt. Dass mit Christus ein neues Verständnis der Tora möglich und gefordert ist, deutet 7,22-25 an und entfaltet dann 8,1-11, wo das neue Leben in Christus beschrieben wird. Jetzt spricht Paulus wieder selbst, aber mit der Anrede »dich« in 8,2 antwortet er dem Rollen-Ich von 7,14-25, setzt also das Rollenspiel noch einmal fort. Er betont dabei die in Christus gesetzte neue Gottes-Beziehung, denn durch die Sendung seines Sohnes in die Sphäre des Fleisches verurteilte und überwand Gott (endgültig) die »Sünde im Fleisch« (8,3) und setzte im Leben im Geist eine neue Lebensweise frei (8,5-11). Dem entspricht die neue Tora-Hermeneutik, die Paulus in 8,2 so formuliert: Das »Gesetz des Geistes des Lebens im Christus Jesus« steht dem »Gesetz der Sünde und des Todes«, der von der Sünde gestörten Tora-Deutung, gegenüber. Der Geist und Christus bestimmen nun die Perspektive auf die Tora, weil sie eine neue Wirklichkeit des Lebens brachten-- der Kreis schließt sich zum Fallbeispiel von 7,1-6. Anmerkungen 1 Zur Auslegung von Röm-7 vgl. H. Lichtenberger, Das Ich Adams und das Ich der Menschheit. Studien zum Menschenbild in Römer 7 (WUNT 164), Tübingen 2004; S. Schreiber, Der Römerbrief, in: Ders./ M. Ebner (Hgg.), Einleitung in das Neue Testament (KStTh 6), Stuttgart 2 2013, 281-307, 300 f. 2 J. Müller, Willensschwäche und innerer Mensch in Röm 7 und bei Origenes. Zur christlichen Tradition des Handelns wider besseres Wissen, ZNW 100 (2009), 223-246, 236 f., denkt an einen Christen, der an sich selbst die Erfahrung der Willensschwäche macht und das neue ethische Handeln noch nicht umsetzen kann. 3 Ich gliedere den Text in die Abschnitte 7,1-6; 7,7-13; 7,14-25. Dabei stellt 7,13 eine Inklusion mit 7,7 dar: Parallel sind jeweils ein Fragesatz, die klar ablehnende Antwort mē genoito und die mit alla eingeleitete Begründung; 7,14 bietet einen Neueinsatz mit »wir wissen«. 4 Das spricht gegen die Forschungsposition, die eine Abschaffung der Tora bei Paulus annimmt; so E. Käsemann, An die Römer (HNT 8a), Tübingen 4 1980, 181; vgl. E. Lohse, Der Brief an die Römer (KEK 4), Göttingen 2003, 204-209; mit starker theoretischer Differenzierung U. Wilckens, Der Brief an die Römer. Bd. 2 (EKK 6/ 2), Zürich/ Neukirchen-Vluyn 3 1993, 67-71. 5 Vgl. schon Röm 5,20; ferner 1Kor 15,56; Röm 3,20; 4,15. 6 Analogien zum Geist als Instanz des gruppenspezifischen Verstehens finden sich in 1QS 3,2b-9a; 4,20-23; 1QH 5,18 f. (vgl. 4,26). 7 Dazu S. Schreiber, Römerbrief, 295 f. »Paulus greift dabei einen kulturellen Diskurs der Antike auf, der aus Theater und Schullektüre bekannt war und den ich unter Bezug auf ein klassisches Drama des Euripides als ›Medea-Motiv‹ bezeichne« Zeitschrift für Neues Testament_32 typoscript [AK] - 26.09.2013 - Seite 54 - 2. Korrektur 54 ZNT 32 (16. Jg. 2013) Kontroverse 8 Die Prosopopoiie als rhetorische Technik beschreiben u. a. Cicero und Quintilian. Dazu S.K. Stowers, Romans 7,7- 25 as a Speech-in-Character (prosōpopoiia), in: T. Engberg- Pedersen (Hg.), Paul in his Hellenistic Context, Edinburgh 1994, 180-202 (mit der Deutung des »Ich« als Heide, der dem Judentum nahe steht); vgl. J. A. Harrill, Slaves in the New Testament. Literary, Social, and Moral Dimensions, Minneapolis 2005, 18-21. 9 Adam als Typos thematisierte bereits Röm 5,12-21; dort ist davon die Rede, dass es für Adam eine Zeit »ohne Gesetz« gab. Die Hörer/ innen sind also auf die Rollenfigur vorbereitet. 10 Dass ein Verbot geradezu seine Übertretung provoziert, war ein in der römischen Literatur verbreiteter Topos. Belege bei K. Haacker, Der Brief des Paulus an die Römer (ThHK 6), Leipzig 4 2012, 143 Anm. 13; M. Theobald, Römerbrief. Bd. 1 (SKK 6/ 1), Stuttgart 2 1998, 207. 11 Gen 2,16 f.; 3,17-19; ApkMos 14,2 f. (vgl. 7,1; 17,5); 4-Esr 3,7. 12 Dazu A. Bendlin, Art. Personifikation I. Begriff. II. Historische Entwicklung, in: DNP 9 (2000), 639-643. 13 Gegen die Sünde als Macht kann die menschliche Seite der Sünde betont werden: E. Wasserman, The Death of the Soul in Romans 7. Sin, Death, and the Law in Light of Hellenistic Moral Psychology (WUNT II/ 256), Tübingen 2008, 81-84. 148, leitet die Sünde aus der platonischen Moralphilosophie ab und identifiziert sie mit den irrationalen Teilen der menschlichen Seele, während das sprechende »Ich« der »innere Mensch« bzw. die Vernunft sei. G. Röhser, Paulus und die Herrschaft der Sünde, ZNW 103 (2012) 84-110, sieht die Sünde als »›Inbegriff‹ […] aller menschlichen Sündentaten« und erkennt darin »eine spezifische anthropologische ›Wirklichkeit‹« (97 f.). 14 Das Thema ist nicht die christliche Anthropologie. Anders jedoch E. Käsemann, Römer 201: jeder Mensch sei im Blick, »verstrickt […] in die eigene Lebensgier«; vgl. E. Lohse, Brief 222. 15 Eur. Med. 1077-1080; zu weiteren Belegen H. Lichtenberger, Ich 176-186. N EUAUFLAGE J U N I 2013 Otfri ed H öffe (H rsg. ) Einführung in die utilitaristische Ethik U TB S 5. , ergänzte u nd aktu al i si erte Aufl age 2013 285 Seiten , €[D] 22, 99/ SFr 31, 90 I SBN 978-3-8252-3985-5 A. Francke Verlag • Di schi ngerweg 5 • D-72070 Tübi ngen • Tel . +49 (07071) 9797-0 • Fax +49 (07071) 97 • www. francke. de Di e bewährte Ei nführu ng versammel t di e wi chti gsten kl assi schen u nd zeitgenössi schen Texte des U ti l itari smus, ergänzt durch ei ne i nstrukti ve u nd kriti sche Ei nl eitu ng des H erausgebers, di e auch neue Entwi ckl u ngen berücksi chti gt.