eJournals ZNT – Zeitschrift für Neues Testament 16/32

ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
2013
1632 Dronsch Strecker Vogel

Von der »Sünde« zur »Tugend«: Worum geht es eigentlich bei Paulus?

2013
Troels Engberg-Pedersen
Zeitschrift für Neues Testament_32 typoscript [AK] - 04.10.2013 - Seite 37 - 2. Korrektur ZNT 32 (16. Jg. 2013) 37 Die Frage Begriffe wie »Sünde« und »Tugend« sind aus der heutigen Reflexion über das menschliche Leben fast ganz verschwunden. Man kann fragen: Gehört »Sünde« nicht einer spezifisch »religiösen« Gedankenwelt an, die fast ausgestorben ist? Und entstammt nicht »Tugend« einer »bürgerlichen« Gedankenwelt des 19. Jahrhunderts, die im Laufe des 20. Jahrhunderts glücklicherweise überwunden wurde, zumal »Tugend« in spezifischer Weise mit sexueller Reinheit assoziiert wurde? Geben wir also diese Begriffe auf und denken besser ohne sie über die ethischen Aspekte des menschlichen Lebens nach! Das wäre eine mögliche Reaktion. Eine andere Möglichkeit bestünde darin, die Begriffe zu hinterfragen, um herauszufinden, worum es eigentlich den Leuten ging, die sie verwendeten. Diesen Weg möchte ich in meinem Aufsatz beschreiten und die Bedeutung der beiden Begriffe in der Antike erheben. Dort spielten sie nämlich nicht nur eine zentrale Rolle, sie sind auch in der griechisch-römischen Antike überhaupt gebildet worden. Wenn wir hier aus dem Neuen Testament Paulus und dazu einige wichtige Köpfe der griechischrömischen Philosophie aufgreifen-- darunter Aristoteles und die Stoiker-- dann ist zu zeigen, worum es ihnen über die Verwendung der Begriffe hinaus in der Sache ging. Was die Begriffsverwendung betrifft, so ist die Situation geradezu paradox: Bei Paulus ist der Begriff »Sünde« fast überall zu finden, der Begriff »Tugend« aber nicht. Und doch stößt man auf letzteren Begriff an einigen Stellen, sowohl terminologisch als auch der Sache nach, so zum Beispiel in der Rede von der »Frucht des Geistes« in dem Text aus dem Galaterbrief, mit dem wir uns näher befassen wollen. 1 Bei Aristoteles und den Stoikern ist der Begriff »Tugend« fast überall zu finden, der Begriff »Sünde« aber nicht. Und doch findet man auch hier den zweiten Begriff an einigen Stellen, sowohl wörtlich (oft als »Fehler« übersetzt) als auch der Sache nach. 2 Diese Tatsache deutet darauf hin, dass es keinen radikalen Gegensatz zwischen dem christlichen und dem nicht-christlichen, philosophischen Denken auf diesem Felde gibt. Im Gegenteil kann man, wie wir sehen werden, Grundzüge des philosophischen Denkens mit einbeziehen, um zu zeigen, worum es Paulus auf diesem ganzen Feld des christlichen Lebens im Lichte des Christus-Ereignisses ging, jenseits der für uns recht problematischen Begriffe. Wenn es gelingt, in dieser Weise hinter die Begriffe zurückzufragen, kann man dann aber auch schon sicher sein, dass man auf Gedankengut stößt, das ohne weiteres in modernes Denken übernommen werden kann? Gewiss nicht. Es mag sehr wohl sein, dass das alte Gedankengut uns nicht mehr zugänglich ist, dass es so veraltet ist, dass es zwar zur antiken Kultur passte, aber eben nicht unbesehen in der Moderne rezipierbar ist. Das ist in der Tat teilweise der Fall. Dann müssen wir auch bereit sein, beiseite zu lassen, was nicht mehr zugänglich ist, und einzugestehen, dass es einige-- mehr oder wenig zentrale-- Ideen sowohl bei Paulus wie auch bei den antiken Philosophen gibt, die wir ganz einfach nicht übernehmen können. Dennoch scheint es mir mehr als der Mühe wert, diesem ganzen Begriffsfeld bei Paulus und den Philosophen nachzugehen. Es ging ihnen nämlich um zwei Fragen, die auch uns Heutige intensiv beschäftigen. Erstens: Was ist ethisch gut und schlecht (wobei das ethisch Schlechte bei Paulus unter den Begriff der »Sünde« fällt)? Und zweitens: Wie bringt man Leute (zum Beispiel Kinder), die zunächst das Gute nur unter (»gesetzlichem«, d. h. psychischem und eventuell auch physischem) Zwang tun, dazu, aus eigenem, freien Willen das Gute-- und nur das Gute-- zu tun? Kurz gesagt: Wie bringt man die Leute zur »Tugend«? Obwohl uns die Antworten der alten Texte auf beide Fragen nicht in jeder Hinsicht befriedigen können, ist doch nicht zu übersehen, dass beide Fragen und auch Teile der Antworten uns direkt angehen. Im Folgenden werde ich einen Text aus dem Galaterbrief des Paulus aus verschiedenen Perspektiven analysieren. Zuerst werden wir unter inhaltlichem Gesichtspunkt den Charakter der »Sünde« bestimmen. Dann werden wir in mehr formaler, moralpsychologischer Hinsicht die Frage beantworten, wie man Paulus zufolge von der »Sünde« zur »Tugend« (bzw. in paulinischer Formulierung: zur »Frucht des Geistes«) hinübergelangen kann. Unterwegs werden wir von Zeit zu Zeit überlegen, was wir selbst aus diesem Gedankengut übernehmen können, und was wir beiseite lassen müssen. 3 Troels Engberg-Pedersen Von der »Sünde« zur »Tugend«: Worum geht es eigentlich bei Paulus? Zum Thema Zeitschrift für Neues Testament_32 typoscript [AK] - 04.10.2013 - Seite 38 - 2. Korrektur 38 ZNT 32 (16. Jg. 2013) Zum Thema Galater 5,13-26 Der Text lautet wie folgt: 4 13 Ihr seid ja zur Freiheit berufen, Brüder; nur macht die Freiheit nicht zu einem Vorwand für das Fleisch, sondern dient einander durch die Liebe. 14 Denn das ganze Gesetz wird in einem Wort erfüllt, in dem: »Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst«. 15 Wenn ihr aber einander beißt und fresst, so habt Acht, dass ihr nicht voneinander aufgezehrt werdet! 16 Was ich meine: 5 Wandelt im Geist, so werdet ihr die Lust des Fleisches nicht vollbringen. 17 Denn das Fleisch begehrt gegen den Geist und der Geist gegen das Fleisch; und diese widerstreben einander, damit ihr nicht das tut, was ihr wollt. 6 18 Wenn ihr aber vom Geist geleitet werdet, so seid ihr nicht unter dem Gesetz. 19 Offenbar sind ja die Werke des Fleisches, welche sind: Unzucht (porneia), Unreinheit (akatharsia), Zügellosigkeit (aselgeia), 20 Götzendienst (eidōlolatria), Zauberei (pharmakeia), Feindschaften (echthrai), Streit (eris), Eifersucht, Fälle des Zorns, der Selbstsucht, der Zwietracht, Parteiungen, 21 Fälle des Neides, der Trunkenheit (methai), Gelagen und dergleichen, 7 wovon ich euch voraussage, wie ich schon zuvor gesagt habe, dass die, welche solche Dinge tun, das Reich Gottes nicht erben werden. 22 Die Frucht des Geistes aber ist Liebe, Freude, Friede, Langmut, Freundlichkeit, Güte, Treue, 23 Sanftmut, Selbstbeherrschung. Über solche Dinge ist das Gesetz nicht. 8 24 Die aber Christus angehören, die haben das Fleisch gekreuzigt zusammen mit den Leidenschaften und Begierden. 25 Wenn wir im Geist leben, so lasst uns auch im Geist wandeln. 26 Lasst uns nicht nach leerem Ruhm streben, einander nicht herausfordern noch einander beneiden! Der inhaltliche Charakter der »Sünde« In den Versen 19-21 des zitierten Textes zählt Paulus eine Reihe von Phänomenen auf, die er »Werke des Fleisches« nennt. Man hat hier traditionell von einem »Lasterkatalog« gesprochen. In der Tat sind die »Werke des Fleisches« sämtlich Formen dessen, was Paulus unter »Sünde« versteht, obwohl er das Wort »Sünde« hier nicht verwendet. Doch müssen wir schon hier feststellen, dass die genannten Phänomene in Wirklichkeit keine »Laster« sind, sondern eher lasterhafte-- und das heißt, sündhafte-- Handlungs-Typen. Die später genannten Beispiele von der »Frucht des Geistes« dagegen-- wie zum Beispiel die Liebe- - sind im präzisen Wortsinn »Tugenden«, also moralpsychologisch betrachtet mentale »Haltungen«, obwohl auch sie von Paulus nicht so genannt sind. Dieser Unterschied zwischen Handlungs- Typen und mentalen Haltungen wird uns später beschäftigen. Hier geht es vielmehr darum, ob wir einen Gesamt-Charakter der lasterhaften Handlungs-Typen feststellen können. Nun können wir tatsächlich unschwer drei fundamental verschiedene Typen isolieren. Erstens gibt es einige Handlungs-Typen-- wie porneia, akatharsia, aselgeia, methai und dergleichen--, die alle spezifisch auf den eigenen Leib gerichtet sind. Zweitens gibt es mehrere Handlungs-Typen-- wie echthrai, eris und dergleichen--, die alle spezifisch gegen andere und an das Selbst gerichtet sind. Drittens gibt es einige wenige Handlungs- Typen-- wie eidōlolatria und pharmakeia--, die gegen Gott gerichtet sind oder vielleicht besser: ein eigenes Interesse in religiösen Belangen reflektieren. Können wir das alles auf einen einzigen Nenner bringen? Hier dürfen wir uns von unseren Philosophen helfen lassen. Die Stoiker hatten eine Theorie entwickelt, die alle menschlichen Handlungen, auch die von neuge- Prof. Dr. Troels Engberg-Pedersen, geboren 1948, Ordinarius für Neues Testament an der Universität Kopenhagen, Dänemark. Engberg-Pedersen hat (ganz ungewöhnlich im dänischen Kontext) zwei Doktorarbeiten vorgelegt: Die erste Arbeit über die Ethik des Aristoteles wurde 1983 eingereicht; die zweite Arbeit über den Zusammenhang von Stoizismus und dem Apostel Paulus erschien 2000. Sein letztes Buch, über Cosmology and Self in the Apostle Paul: The Material Spirit, erschien in 2010 bei Oxford University Press. Gegenwärtig arbeitet er zum Johannesevangelium und plant ein Buch unter dem Titel John and Philosophy, das innerhalb der nächsten beiden Jahre erscheinen soll. 2001 erschien ein von ihm herausgegebener Sammelband, der die grundlegende Hypothese von Engberg-Pedersens Arbeiten zum Neuen Testament im Titel führt: Paul Beyond the Judaism/ Hellenism Divide. Troels Engberg-Pedersen Zeitschrift für Neues Testament_32 typoscript [AK] - 04.10.2013 - Seite 39 - 2. Korrektur ZNT 32 (16. Jg. 2013) 39 Troels Engberg-Pedersen Von der »Sünde« zur »Tugend«: Worum geht es eigentlich bei Paulus? borenen Kindern, auf zwei Grund-Phänomene zurückführte, die beide mit der Leiblichkeit des Menschen zusammenhängen. 9 Erstens gab es eine rudimentäre Art von »Selbstbewusstsein« (bei Cicero sensus sui genannt), das mit einer genauso rudimentären Art von »Selbstliebe« (bei Cicero: diligere se) zusammenhängt. Zweitens gab es eine rudimentäre Art des Bewusstseins von der körperlichen »Struktur« (bei Cicero: constitutio) des Selbst. Auf dieser Basis möchten die Stoiker dann alle menschlichen Handlungen erklären, nämlich als Versuche die körperliche »Selbststruktur« des Lebewesens zu bewahren, indem man entweder alles zu dieser Struktur Gehörige herbeischafft oder aber alles zur Struktur Ungehörige fortschafft. Aus dieser Grundstruktur allen Handelns entwickelt sich dann-- leider allzu oft-- bei heranwachsenden Menschen eine innerlich zusammenhängende Art des Handelns, die entweder auf die Körperlichkeit des Handelnden gerichtet ist oder aber auf das Selbst. Mit Rudolf Bultmann kann man diese beiden Handlungs-Typen als auf »Sinnlichkeit und Selbstsucht« gerichtet verstehen, 10 aber der stoischen Theorie entsprechend können die beiden Handlungs-Typen auf ein einziges Phänomen zurückgeführt werden: auf die Körperlichkeit des Menschen mit seinem rudimentären Selbstbewusstsein und dem Bewusstsein der körperlichen Struktur des Selbst. Auf Grund dieser Theorie schlage ich vor, dass man die beiden nicht-»religiösen« lasterhaften Handlungs- Typen, die Paulus als »Werke des Fleisches« kategorisiert, auf die Körperlichkeit des Menschen, d. h. auf das »Fleisch« als solches, zurückführen kann. Wenn diese Körperlichkeit, die wie gesagt ein rudimentäres Selbstbewusstsein beinhaltet, im Zentrum des menschlichen Bewusstseins steht, dann besteht das Resultat in lasterhaften Handlungs-Typen der Art, die Paulus in seinem Katalog aufzählt. Kann man aber auch die von Paulus genannten, in spezifisch »religiösem« Sinne lasterhaften Handlungs- Typen im selben Zusammenhang verstehen? Hier scheint die paulinische Antwort die zu sein, dass der Blick auf das eigene Selbst und den eigenen Körper ebenso auch hinter den von ihm genannten schlechten »religiösen» Beziehungen liegt. In »Götzendienst« und »Magie« geht es der handelnden Person-- so Paulus-- gerade nicht um die Orientierung »nach außen«, das heißt, weg vom Selbst, um die es in der richtigen Orientierung an (dem jüdischen) Gott geht. Im Gegenteil wird er sowohl »Götzendienst« als auch »Magie« als auf das eigene Selbst hin orientiert verstanden haben. Dass es sich so verhält, wird er später in aller Klarheit im Römerbrief (siehe 1,18-32) ausarbeiten. Hier dürfen wir auf Grund des Gesagten feststellen, dass Paulus alle »Werke des [sündhaften] Fleisches« auf eine einzige Wurzel zurückzuführen beabsichtigt hat: auf das »Fleisch« selbst und damit auf den menschlichen Körper mit dem damit zusammenhängenden elementaren Selbstbewusstsein. Paulus über Körper und Selbst im Vergleich mit den Stoikern Worum aber ging es Paulus eigentlich mit dieser Zurückführung der »Sünde« auf das körperliche Selbst? Anhand der stoischen Theorie erschließt sich präzise, wie das körperliche Selbst als Wurzel aller Handlungen aufgefasst werden kann. Aber heißt das auch, dass alles menschliche Handeln notwendigerweise sündhaft ist, weil es im körperlichen Selbst wurzelt? Zum Beispiel können wir durchaus verstehen, warum alle von Paulus in unserem Text aufgezählten Handlungs-Typen, die gegen andere gerichtet sind, als sündhaft angesehen werden können, nämlich die Typen, die aus »Selbstsucht« entspringen. Diesen Handlungs-Typen wird ja gerade eine Liste guter, nämlich auf andere gerichteter Haltungen in den Versen 5,22-23 gegenüberstellt, die mit Liebe beginnt. Aber sind nicht auch diese guten Haltungen im körperlichen Selbst verankert, zumindest wenn sie in Handlungen Ausdruck finden, so dass man nicht sagen kann, dass das körperliche Selbst an sich und notwendigerweise sündhaft sei? Dieselbe Frage könnte man dann auch für die Handlungs-Typen stellen, die aus »Sinnlichkeit« entspringen. Sind alle Handlungen, die auf den eigenen Körper gerichtet sind, an sich und notwendigerweise sündhaft? Gibt es nicht auf den eigenen Körper gerichtete Handlungen, die an sich gut sind und so in derselben Relation zu den lasterhaften, Körper-orientierten Handlungen stehen, wie zum Beispiel die Liebe zur eris (»Streit«)? Hier müssen wir einen wichtigen Unterschied zwischen Paulus und unseren philosophischen Gewährsmännern, den Stoikern, feststellen, der uns zugleich am Ende unausweichlich vor die Frage stellt, ob wir den ganzen Weg mit Paulus zu gehen bereit sind. In der stoischen Theorie von der Wurzel allen Handelns liegt beschlossen, dass die grundlegende Körper- und Selbstbezogenheit des Menschen in allen Fällen besteht, so lange der Mensch am Leben ist. Dennoch kann diese Körper- und Selbstbezogenheit zwei gegensätzliche Formen annehmen, die beide als Entwicklungen (eine schlechte und eine gute Entwicklung) der permanenten Handlungswurzel zu verstehen sind. Bei der schlechten Entwicklung wird die ursprüngliche Körper- und Zeitschrift für Neues Testament_32 typoscript [AK] - 04.10.2013 - Seite 40 - 2. Korrektur 40 ZNT 32 (16. Jg. 2013) Zum Thema Selbstbezogenheit zur allgemeinen Norm des Menschen, so dass die herangewachsene Person grundsätzlich alle ihre Handlungen auf den eigenen Körper oder das eigene Selbst zu beziehen wünscht. Bei der guten Entwicklung dagegen geschieht eine Art von »Sprung«, der damit zusammenhängt, dass die Person jetzt ihre eigene »Struktur« (die das Selbst ist) ganz anders sieht als zuvor. Wo die schlechte Person ihre eigene Struktur als identisch mit der des körperlichen Selbst ansieht, sieht die gute Person ihre »Struktur« als die eines rationalen Selbst, das die Person mit allen anderen rationalen Wesen verbindet. Diese ganz neue Sicht und dieses Selbstverständnis, das wie gesagt auf eine »sprunghafte« Weise erreicht wird (in Form einer plötzlichen Einsicht), bedeutet dann, dass die »neue« Person grundsätzlich »altruistisch« handelt, das heißt: Handlungen tut, die ebenso auf andere wie auf das eigene rationale Selbst gerichtet sind. Dennoch bleibt natürlich die grundsätzliche Körper- und Selbstbezogenheit bestehen, und das ist auch der Grund, warum die »neue« Person mit Bezug auf andere überhaupt handeln kann. Bei den Stoikern besteht also eine grundsätzliche Körper- und Selbstbezogenheit, die an sich als »neutral« anzusehen ist. Sie wird aber in zwei entgegengesetzte Richtungen entwickelt, von denen die erste eine nur »potenzierte«, aber qualitativ identische, die zweite aber eine qualitativ ganz verschiedene Version der ursprünglichen ist. Dieser Unterschied und zugleich die Tatsache, dass die grundsätzliche Körper- und Selbstbezogenheit überall bestehen bleibt, zeigt sich dann in zwei Begriffsfeldern, die die Beziehungen der »guten« und der »schlechten« Person zu den basalen körper- und selbstbezogenen »Gütern« artikulieren. Die »gute« Person bezieht sich grundsätzlich nur auf das eigentlich Gute, das sie mit allen rationalen Personen teilt, und das in einem Leben »gemäß der Natur«, und das heißt: gemäß der Wirklichkeit von Welt und Mensch, besteht. Im Verhältnis zu diesem einzigen Guten sind alle »Güter«, die die »neue« Person früher als direkt gut ansah, und die aus der ursprünglichen, natürlichen Körper- und Selbstbezogenheit entsprangen, nur »gleichgültig« oder »indifferent« (adiaphora). Ob die »neue« Person zum Beispiel die für den Körper notwendige Nahrung bekommt oder nicht, ist an sich »gleichgültig« für die Person selbst, wenn die Situation der ganzen Lage der Natur entspricht, der die »neue« Person ausschließlich zu folgen wünscht. Dennoch gilt auch, und zwar als Teil der ausschließlichen Beziehung zum einzigen Guten, dass die adiaphora einen jeweils relativ positiven und einen relativ negativen Wert für die »neue« Person besitzen. Sie sind, wie die Stoiker sagten, entweder proēgmena (»zu bevorzugen«) oder apoproēgmena (»zurückzusetzen«). Das ist zum Beispiel der Grund, warum die stoische »neue« Person (der stoische »Weise«) heiraten, Kinder zeugen und eine Familie gründen wird usw. Hier ist die natürliche Beziehung zum eigenen Körper also bewahrt- - obwohl immer nur als Teil der alles übergreifenden Beziehung zum Guten. Ganz anders im Falle der schlechten Person, bei der die ursprüngliche Körper- und Selbstbezogenheit alles bestimmt. Hier gerät die ursprüngliche Körper- und Selbstbezogenheit, die an sich, wie wir sahen, »neutral« ist, außer Kontrolle. In der technischen Sprache der Stoiker wird sie zur »Passion« (pathos). Was ursprünglich da war, und was relativ wertvoll bleibt, wenn es unter der Kontrolle der Einsicht in das einzige Gute steht, gerät jetzt außer Kontrolle und wird damit zu einer »Passion«, die an sich schlecht ist. Deshalb gilt es, diese emotionalen Reaktionen, die genau in die von Paulus aufgezählten, lasterhaften Handlungs-Typen ausmünden, ganz außer Kraft zu setzen. Das ist die berühmte stoische Theorie von der apatheia, das »Ohne-Passionen-sein«. Dennoch gilt wie gesagt, dass es auch innerhalb der apatheia des Weisen legitime Beziehungen zur ursprünglichen Körper- und Selbstbezogenheit gibt. Wie ist nun dies alles für Paulus relevant? In Gal 5,24 sagt er ja, dass die zu Christus Gehörigen »das Fleisch zusammen mit den Passionen und Begierden gekreuzigt haben«. Das könnte man nun ganz analog der stoischen Theorie verstehen. Dann würde Paulus hier prägnant nur über die spezifisch schlechte Entwicklung der ursprünglichen Körper- und Selbstbezogenheit sprechen, und zwar genau über die (stoisch verstandenen) »Passionen«, von der die »Begierde« (epithymia) die prominenteste war. Diese Rechnung geht aber leider nicht auf. Im Unterschied zur stoischen Theorie, die, wie wir gesehen haben, immerhin einen Platz für den menschlichen Körper vorsieht, geht es Paulus nicht nur darum, die »Passionen« und »Begierden«, d. h. das Übermaß an Körper- und Selbstbezogenheit, zu überwinden und außer Kraft zu setzen, sondern auch das Fleisch als Ganzes. Er spricht ja sowohl von dem Fleisch »zusammen mit« den »Passionen« und »Begierden«, im Sinne der »Passionen« und »Begierden«, die von dem Fleisch notwendigerweise erzeugt werden, als auch davon, dass die zu Christus Gehörigen das Fleisch ganz und gar »gekreuzigt« haben. Wir werden gleich mehrere Argumente dafür vorlegen, dass Paulus in der Tat so zu verstehen ist. Zuerst bedenken wir aber die Konsequenzen aus der paulinischen Auffassung: Nehmen wir also an, dass Pau- Zeitschrift für Neues Testament_32 typoscript [AK] - 04.10.2013 - Seite 41 - 2. Korrektur ZNT 32 (16. Jg. 2013) 41 Troels Engberg-Pedersen Von der »Sünde« zur »Tugend«: Worum geht es eigentlich bei Paulus? lus nicht nur die fehlerhaft gegen andere gerichteten Handlungs-Typen außer Kraft zu setzen wünschte, sondern auch alle Handlungs-Typen, die auf irgendwelche Weise gegen den eigenen Körper gerichtet waren. Dann sind alle diese Handlungs-Typen Paulus zufolge von vornherein Fälle von »Unzucht« usw. Das ist auch der Grund, warum es keine guten körper-orientierten Haltungen unter den in Gal 5,22-23 aufgezählten guten Haltungen gibt. Die einzige hier erwähnte Haltung, die direkt mit dem Körper zusammenhängt, ist die enkrateia, und sie bedeutet gerade »Selbstbeherrschung« im Sinne der »Enthaltsamkeit«, also das Nicht-Gebrauchen des Körpers. 11 Die andere Folge der hier vorgelegten Deutung ist, dass es-- stoisch betrachtet-- schwer zu erkennen ist, wie Paulus überhaupt jene Handlungen verstehen konnte, die aus den in Gal 5,22-23 aufgezählten guten Haltungen entspringen. Wenn das Fleisch mit seiner grundlegenden Körper- und Selbstbezogenheit ganz und gar »gekreuzigt« ist, wie kann eine Person dann überhaupt handeln? Allem Anschein nach hat Paulus, um Platz für eine Art von »radikalem Altruismus« zu schaffen, eine Position konstruiert, die als Ganzes jenseits der Möglichkeiten des notwendigerweise körper- und selbstbezogenen Menschen liegt. Eine so scharf pointierte Auffassung wäre aber kein Einzelfall. In Phil 2,3-4 ermahnt Paulus die Philipper, nichts zu tun »aus Selbstsucht (eritheia), auch nicht aus nichtigem Ehrgeiz (kenodoxia), sondern in Demut achte einer den anderen höher als sich selbst./ Jeder schaue nicht auf das Seine, sondern jeder genau auf das des anderen.« 12 Worum es Paulus hier geht, ist nicht eine Art von Gleichgewicht des Bezogenseins auf die anderen und auf sich selbst. Er denkt auch nicht im Modell des stoischen Weisen, dem es immerhin erlaubt war, »Güter« für sich selbst als etwas nur »zu bevorzugendes Gleichgültiges« zu verschaffen. Stattdessen ermahnt er hier die Philipper dazu, überhaupt keinen Bezug auf sich selbst zu pflegen, sondern nur auf die anderen. Natürlich ist hier voraussetzt, dass es irgendeine Art von »Selbstbewusstsein« bei dem so Handelnden gibt-- sonst wüsste die Person ja gar nicht, wer die »anderen« überhaupt sind. Aber die Ermahnung des Paulus läuft darauf hinaus, jeden Bezug auf das eigene Selbst aufzuheben. 13 Wie eine solche Person dann überhaupt handeln könnte, ist nicht ohne weiteres erkennbar. Sind wir aber berechtigt, bei Paulus eine derart radikale Distanz zum menschlichen Körper anzunehmen? Finden wir nicht auch bei ihm eine sehr viel positivere Haltung zu all den Handlungen, die der zu Christus Gehörige als Ausdruck seines Christseins vollzieht? Lesen wir zum Beispiel nicht einige wenige Verse vor unserem Text, dass das, worauf es bei dem Christen ankommt, nur eines ist: Glaube, der durch Liebe »tätig« ist (pistis di` agapēs energoumen), das heißt: ein Glaube, der sich in Handlungen erweist (5,6)? Gewiss. Dennoch bleibt auch hier die Frage, wie man eine solche »Tätigkeit« seitens einer Person verstehen soll, die das ganze Fleisch zusammen mit den »Passionen« und den »Begierden« gekreuzigt hat. Von einer solchen Person, nun durch Paulus selbst exemplifiziert, sagt er früher im selben Brief: »Ich bin mit Christus gekreuzigt; ich lebe nicht mehr, in mir lebt der Christus. In dem Maße, worin ich jetzt im Fleisch lebe, lebe ich im Glauben usw.« (2,19-20). Mit dem »ich« spricht Paulus hier nicht direkt vom Körper, sondern-- ganz analog der von den Stoikern ausgearbeiteten Körper- und Selbstorientierung-- von dem »Selbst«, das zum Körper gehört. Dieses Selbst ist tot, weil mit Christus gekreuzigt. Dann wird es aber auch schwierig zu verstehen, was solch ein Selbst denn tun kann, während es noch »im Fleische lebt«. Dieselbe Frage könnte man angesichts eines Verses (6,14) am Ende des Briefes stellen, der deutlich in den selben Zusammenhang gehört. Hier sagt Paulus, dass durch Christus (oder sein Kreuz) »mir die ganze Welt (kosmos) gekreuzigt ist und ich der Welt«. Paulus gehört also-- sehr überspitzt von ihm selbst formuliert-- überhaupt nicht länger zu »dieser Welt«. Bedenkt man außerdem, dass Christus in diese Welt gekommen ist, »um uns aus dieser schlechten Welt (aiōn) herauszureißen«, wie es am Anfang des Briefes heißt (1,4), dann versteht man sofort, dass es Paulus grundsätzlich um einen »apokalyptischen« Gegensatz zwischen »dieser Welt« geht, die in kosmologischer Hinsicht ganz von physischem Fleisch durchdrungen ist, und einer anderen Welt, die außerhalb der fleischlichen Welt zu finden ist. Es ist dann nicht verwunderlich, dass Paulus das Fleisch in seinen Adressaten ganz und gar außer Kraft setzen wollte, und zwar während sie (wie er selbst) noch »im Fleische« waren. Und doch: Muss man die »apokalyptischen« Äußerungen des Paulus unbedingt in einer solchen Weise verstehen, dass sie das außer-Kraft-Setzen des irdischen, leiblichen Körpers in der Zeit vor dem Ende mit ein- »Allem Anschein nach hat Paulus, um Platz für eine Art von ›radikalem Altruismus‹ zu schaffen, eine Position konstruiert, die als Ganzes jenseits der Möglichkeiten des notwendigerweise körper- und selbstbezogenen Menschen liegt. Eine so scharf pointierte Auffassung wäre aber kein Einzelfall.« Zeitschrift für Neues Testament_32 typoscript [AK] - 04.10.2013 - Seite 42 - 2. Korrektur 42 ZNT 32 (16. Jg. 2013) Zum Thema schließen? Im zweiten Teil dieses Aufsatzes, zu dem wir jetzt übergehen, werden wir sehen, dass es einen weiteren Text gibt (nämlich im Römerbrief: Kap. 7), der eindeutig zeigt, dass der leibliche Körper als solcher notwendigerweise zur Sünde gehört, weil der Mensch, der im leiblichen Körper lebt, immer riskiert, sündhafte Handlungen zu begehen. Dafür steht der Körper. Wenn dem so ist, dann sind gewiss nicht alle Handlungen, die dem Körper entspringen, notwendigerweise auch sündhaft, aber das Risiko ist immer da, weshalb der Körper als solcher ganz und gar außer Kraft gesetzt werden muss. Erste Zusammenfassung Fassen wir kurz zusammen, was wir aus unserem Text aus dem Galaterbrief, der weiter im Zentrum unseres Interesses steht, bis jetzt für das Verständnis der Sünde bei Paulus gelernt haben. Und vergessen wir dabei nicht zu überlegen, was wir selbst aus dem paulinischen Gedankengut problemlos übernehmen können. Der erste Punkt war der, dass Paulus offensichtlich analog der stoischen Sicht eine einzige, gemeinsame Wurzel der verschiedenen in 5,19-21 aufgezählten sündhaften Handlungs-Typen gesehen hat, nämlich die Körper- und Selbstorientierung, die jedem leiblichen menschlichen Körper inhärent ist. Paulus hat diese theoretische Sicht nicht selbst entwickelt. Dennoch scheint sie am besten sowohl den Zusammenhang der aufgezählten Handlungs-Typen als auch den Zusammenhang mit den spezifisch »religiösen« Handlungs- Typen erklären zu können. Wenn wir uns dann fragen, ob wir diese Bestimmung einer einzigen Wurzel der aufgezählten Handlungs-Typen (wie auch immer wir sie sonst kategorisieren mögen) akzeptieren können, scheint es mir, dass wir diese Frage bejahen sollten. Hier ist sowohl Paulus als auch den Stoikern, die wir zur Erklärung herangezogen haben, uneingeschränkt zuzustimmen. Eine rudimentäre Körper- und Selbstorientierung scheint wirklich ein allgemeines Merkmal jedes mit einem leiblichen Körper begabten Menschen (und das heißt natürlich: aller Menschen) zu sein. Der zweite Punkt war der, dass wir zugleich auf einen wichtigen Unterschied zwischen Paulus und den Stoikern gestoßen sind: Paulus ist darauf aus, den ganzen leiblichen Körper hinter sich zu lassen auf dem Weg zum endlichen Ziel, das außerhalb dieser Welt zu finden ist. Die Stoiker dagegen lassen den leiblichen Körper an seinem Platz und sprechen von zwei entgegengesetzten Entwicklungsmöglichkeiten, die beide auf der ursprünglichen Körper- und Selbstorientierung basieren. Wenn wir uns hier fragen, ob uns die eine oder die andere Position zusagt (zumindest als Daseinsbestimmung der Menschen, während sie noch auf dieser Erde weilen), scheint es mir klar, dass wir der stoischen Position den Vorzug geben müssen. Denn wir wollen ja die Menschen so verstehen, wie sie sind, und das heißt hier: als Wesen, die notwendigerweise mit einem leiblichen Körper versehen sind. Die Konsequenz dieses Unterschieds verdient verdeutlicht zu werden. Während wir sowohl Paulus wie auch den Stoikern im Prinzip darin folgen können, dass die von Paulus aufgezählten gegen andere gerichteten Handlungs-Typen tatsächlich verfehlte und lasterhafte (oder auch »sündige«) Handlungs-Typen sind, müssen wir uns von Paulus scheiden, wenn er impliziert, dass alle Handlungs-Typen, die auf den eigenen Körper gerichtet sind, notwendigerweise auch verfehlt und sündig sind. Besser wird man mit den Stoikern einigen dieser Handlungs-Typen einen gewissen, wenn auch nur relativen, positiven Wert beimessen. Ja, man könnte geneigt sein, hier noch einen weiteren Schritt weg von Paulus (und jetzt auch weg von den Stoikern) zu gehen und zum Beispiel mit der Ethik des Aristoteles einigen auf den eigenen Körper gerichteten Handlungs-Typen einen nicht nur relativen, sondern absoluten Wert beizumessen (als Teile des Glücks, wie es Aristoteles verstand), so lange sie-- um mit Aristoteles zu sprechen-- »in der Mitte zwischen einem Zuviel und einem Zuwenig« positioniert sind, was bedeutet: dass sie sich unter Kontrolle befinden. 14 Der dritte Punkt war endlich der, dass wir Schwierigkeiten hatten, zu verstehen, wie bei Paulus Handlungen als solche überhaupt möglich sein sollen, wenn der leibliche Körper in allen relevanten Hinsichten »tot« (nämlich »gekreuzigt«) war. Hier war klarzustellen, dass es einer ausführlicheren Argumentation bedarf, um glaubhaft zu machen, dass die von uns skizzierte Relation zum Körper, aus der diese Schwierigkeit folgt, wirklich die paulinische war. Der formale Charakter der »Sünde« Kehren wir zu unserem Grundtext zurück. Bevor Paulus hier die »Werke des Fleisches« aufzählt und diese der »Frucht des Geistes« gegenüberstellt, beschreibt er auch das Widerspiel der den beiden Paaren zugrundeliegenden Phänomene »Fleisch« und »Geist«. Dies geschieht in einer Weise, die ebenfalls aus der zeitgenössischen Philosophie erhellt werden kann, und die sich auf weite Strecken mit dieser deckt. Zeitschrift für Neues Testament_32 typoscript [AK] - 04.10.2013 - Seite 43 - 2. Korrektur ZNT 32 (16. Jg. 2013) 43 Troels Engberg-Pedersen Von der »Sünde« zur »Tugend«: Worum geht es eigentlich bei Paulus? Was Paulus hier sagt, ist zuerst, dass die Galater nach dem Geist wandeln müssen, weil sie dann die »Begierde des Fleisches« nicht vollziehen werden (5,16). Hier bekommen die Galater also eine Aufgabe, die, falls sie sie erfüllen, ein günstiges Ergebnis erzielen wird in Bezug auf »die Begierde des Fleisches«: Sie wird sicher nicht zum Ziel kommen. Danach begründet Paulus diese Behauptung mit der Aussage, dass Fleisch und Geist wider einander »begehren« und einander konfrontieren, »damit Ihr nicht das tut, was Ihr jeweils wollt« (5,17). Was Paulus hier beschreibt, ist das moralpsychologische Phänomen, das in der griechischen Philosophie seit Sokrates und (nicht zuletzt) Aristoteles intensiv studiert wurde: die Willensschwäche (akrasia), das heißt, dass eine Person etwas (A, zumeist »das Gute«) will, zugleich aber daran gehindert wird, A zu tun, weil sie auch etwas anderes (B, zumeist »das Schlechte«) begehrt. 15 Wie wird bei Paulus die Aussage von Vers 16 nun durch die von Vers 17 begründet? Das zeigt Vers 5,18, wo es heißt, dass die Galater, wenn sie vom Geist geführt werden, nicht länger unter dem Gesetz sind. Der Zusammenhang scheint der folgende zu sein: Geist und Fleisch liegen im Allgemeinen gegen einander im Krieg, um die Menschen zu hindern, das Gegenteil von dem, was sie selbst wollen, zu tun (so: 5,17). Dies würde eine ausweglose Situation erzeugen, wäre es nicht der Fall, dass eine der beiden Kräfte die stärkere ist: der Geist. Deshalb gilt, dass wenn die Galater die Ermahnung des Paulus befolgen und wirklich im Geist wandeln, dann werden sie sicherlich keine Begierde des Fleisches erfüllen, wie es Paulus zuerst gesagt hat (5,16). Aber woher kommt es, dass die Kraft des Geistes stärker ist als die des Fleisches, zumal die beiden einander als Gegensätze gegenüberstehen, wie Vers 17 es beschrieben hat? Diese Frage wird in Vers 18 im weiteren Kontext beantwortet, wo es heißt, dass die Galater, wenn sie sich vom Geist leiten lassen, nicht länger unter dem Gesetze sind, das offensichtlich in den »Werken des Fleisches« zum Erscheinen kommt. Was ist gemeint? Hier müssen wir beachten, dass die in 5,19-21 aufgezählten lasterhaften Handlungs-Typen eben dies sind: Handlungs-Typen, von denen das Gesetz spricht, wenn es sie verbietet. »Du sollst nicht dies oder das tun« (oder »Du sollst dies oder das tun«)- - das sind eben Handlungs-Typen, die unter das Gesetz fallen. Ganz anders verhält es sich mit der »Frucht des Geistes«, die in 5,22-23 aufgezählt wird. Dies sind Haltungen, und »über solche Dinge spricht das Gesetz nicht« (Ende von 5,23). Der allgemeine Gedanke scheint der folgende zu sein: Das Gesetz kann Handlungs-Typen verbieten (oder auch verordnen). Es kann aber niemals das Gebot selbst durchsetzen. Deshalb ist das Risiko immer da, wenn man (nur) unter dem Gesetz lebt, dass das Fleisch sich durchsetzt und vom Gesetz verbotene »Werke des Fleisches« hervorbringt. Ganz anders wenn jemand vom Geist durchdrungen ist und stabile, vom Geist erzeugte Haltungen erworben hat. Dann will diese Person nur das, was der Geist auch »will«. Es bedarf daher überhaupt keines Gesetzes, und diese Person ist deshalb nicht länger »unter dem Gesetz«. Das heißt dann auch, dass wenn jemand nach dem Geist wandelt (und also mit all den Geist-erzeugten Haltungen erfüllt worden ist), dann wird diese Person gewiss keine Begierde des Fleisches erfüllen. Denn es gibt solche nicht mehr. Der Geist ist also die stärkere Kraft. Und so gilt, wie Paulus die ganze Erörterung schließt, auch das folgende: Die Christus Angehörenden haben das Fleisch ganz und gar gekreuzigt mit den »Passionen« und Begierden (5,24). Deshalb gilt auch: »Da wir im Geist leben, lasst uns auch im Geist wandeln! « (5,25). Was dieser Text bietet, ist also teils eine Ermahnung an die Galater, nach dem Geist, den sie schon haben, im konkreten Alltag auch zu leben, teils ist es eine Erklärung, warum diese Ermahnung am Platze ist und auch erfolgreich sein wird. Denn die Galater haben ja schon den Geist; sie leben nicht (mehr) unter dem Gesetz; die Werke des Fleisches sind bei ihnen schon überwunden; und der Grund dafür ist, dass sie schon das Fleisch mit all seinen »Passionen« und »Begierden« gekreuzigt haben. Was ist dann hier »Sünde«? »Sünde« ist, im Fleisch und unter dem Gesetz zu leben, wo man vielleicht im Prinzip das Gesetz befolgen möchte, dennoch aber immer auch mit dem Risiko lebt, dass Begierden des Fleisches sich in der einen oder anderen Weise gegen das Gesetz durchsetzen, und die Person dann Werke des Fleisches tut. »Sünde« ist also, nicht ganz vom Geist Gottes durchdrungen zu sein, was bedeuten würde, dass man immer Gefahr läuft, anders zu handeln, als der Geist und die Person selbst wollen. Hier, im Durchdrungensein vom Geist Gottes, ist endlich das Risiko eines vom Fleisch bedingten, fehlerhaften Handelns beseitigt. Kann man wirklich all dies aus diesem einzigen Text erheben? Ich glaube, ja. Dennoch ist es natürlich eine beträchtliche Stütze, dass einige der zentrale Pointen »›Sünde‹ ist also, nicht ganz vom Geist Gottes durchdrungen zu sein, was bedeuten würde, dass man immer Gefahr läuft, anders zu handeln, als der Geist und die Person selbst wollen.« Zeitschrift für Neues Testament_32 typoscript [AK] - 04.10.2013 - Seite 44 - 2. Korrektur 44 ZNT 32 (16. Jg. 2013) Zum Thema auch in dem Paralleltext vorkommen, den ich als eine Art von entwickelter »Ausschrift« des Galatertextes ansehe: Röm 7,7-25 (über den fleischlichen Menschen, der eben unter dem Gesetz lebt) und 8,1-13 (über den geisterfüllten Menschen, der nicht mehr fleischlich ist und nicht mehr unter dem Gesetz lebt, sondern das vom Gesetz Intendierte jetzt wirklich tut). 16 Was man hier findet, ist erstens eine überaus intensive Darstellung der Willensschwäche (siehe Röm 7,14-25), das heißt, der psychischen Spaltung, auf die Paulus schon in Gal 5,17 anspielt. Zweitens findet man eine denkbar enge Verbindung des Risikos der Willensschwäche mit dem leiblichen Körper selbst: Die willensschwache Person sieht die entgegengesetzte Begierde in den Gliedern des eigenen Körpers (7,23). Und der Text endet mit dem Hilfeschrei, wer wohl diesem »Leib des Todes« (7,24) Hilfe bringen wird. Drittens findet man auf der anderen Seite auch die Aussage, dass »der Geist Gottes«, »der Geist Christi«, ja »Christus« selbst in den Adressaten »wohnt«, weshalb auch ihr Leib »tot ist (nekron) in Bezug auf (dia) die Sünde« (8,10). Viertens ist das dann auch der Grund, warum das Gesetz nun wirklich auch »erfüllt« wird »in uns, die wir nicht nach dem Fleisch wandeln, sondern nach dem Geist« (8,4). Hier ist also die furchtbare innere Spaltung der Person, die nur unter dem Gesetz lebt, endlich vollständig überwunden in der Person, die vom Geist Gottes erfüllt ist. Paulus über die Überwindung der »Sünde« im Vergleich mit den Stoikern und Aristoteles Die hier vorgelegte Interpretation der Überwindung der »Sünde« bei Paulus integriert das Denken des Apostels in die philosophische Reflexion der Antike. Denn wie wir hier Paulus verstanden haben, sieht er die Überwindung des Risikos der Willensschwäche (akrasia) als den ultimativen Punkt, wo die »Sünde« endgültig überwunden wurde. 17 Wenn dieses Risiko nicht mehr besteht, dann ist die »Sünde« endgültig ausgerottet, dann gibt es keine Möglichkeit mehr zu »sündigen«, das heißt, durch das Fleisch zu »Werken des Fleisches« verleitet zu werden. Um den genauen Charakter dieser Überwindung der »Sünde« bei Paulus zu verstehen, lohnt es sich, sie mit dem Verständnis der akrasia sowohl bei Aristoteles wie bei den Stoikern zu vergleichen. Aristoteles hat-- im Anschluss an den platonischen Sokrates, etwa im Dialog Protagoras-- den Begriff akrasia zu einem Kernbegriff seiner Ethik gemacht. Der Grund dafür war, dass Aristoteles- - wie fast alle griechisch-römischen Philosophen-- in der Ethik vor allem daran interessiert war, darzulegen, wie ein Mensch ein in ethischer Hinsicht guter Mensch werden könnte. Dazu war nach Aristoteles ein Zusammenwirken von zwei Aspekten der menschlichen Seele nötig: von der Vernunft oder der Einsicht in das Gute und vom Willen zum Guten. Aus diesem Grund war der Fall für Aristoteles hochinteressant, dass eine Person eigentlich sowohl die richtige Einsicht in das Gute als auch den Willen dazu hatte- - und dennoch etwas Schlechtes tat. Wie war das zu erklären? Wir brauchen hier nicht auf die Lösung des Aristoteles einzugehen und begnügen uns mit der Feststellung, dass Aristoteles sein Augenmerk auf das Willens-Element richtete und einen Mangel an vollständiger Eindeutigkeit dieses Elementes feststellte. Der Wille war also teilweise zwiespältig. Diese Lösung hängt eng damit zusammen, wie Aristoteles sich vorstellte, dass ein Mensch durch und durch gut werden könnte. Dazu bedarf es der Gewöhnung, damit das Willens-Element in der richtigen Weise geformt werden kann (so am Anfang des zweiten Buches der Nikomachischen Ethik), und für diese Gewöhnung waren mitunter Gesetze nötig, die die Menschen unter eine Art von Zwang stellten (so am Ende des zehnten Buches desselben Werkes). 18 Denn die Vernunft allein war nicht stark genug, um den Willen vollständig formen zu können. Bei Aristoteles sind also Gesetze mitunter nötig, wohingegen sie bei Paulus eben unzulänglich sind. Dennoch war es auch für Aristoteles das Ziel, dass ein Mensch durch und durch gut wird-- durch die richtige Einsicht in das Gute (die man bei Aristoteles aus der Praxis und durch Wahrnehmung gewinnt) und durch die richtige Formung des Willens. Gab es dann bei Aristoteles einen durch und durch guten Menschen? Er hat das nicht ausdrücklich gesagt, und die Forderungen waren natürlich hoch. Dennoch scheint es einem Menschen bei ihm nicht ganz unmöglich, real gut zu werden, zumal man bei Aristoteles gewiss nicht die menschliche Körperlichkeit hinter sich lassen sollte. Bei ihm lag ja das Gute in Bezug auf die ethischen Tugenden, wie wir schon angedeutet haben, in der metriopatheia, das heißt, in der rechten Mitte zwischen einem Zuviel und einem Zuwenig. Ganz anders liegt es dann- - und in viel größerer Nähe zu Paulus-- bei den Stoikern. Hier gab es nicht zwei verschiedene psychische Bereiche (die Einsicht und den Willen), die zum Idealzustand gebracht werden sollten. Vielmehr kam alles auf die Einsicht an. Wenn man wirklich das Gute sah und verstand, dann wollte man auch danach leben. Um so problematischer war es dann auch, wenn eine Person eigentlich das Gute im Allgemeinen erfasst hatte, dennoch aber etwas anderes tat-- also nochmals das Phänomen akrasia. Die Zeitschrift für Neues Testament_32 typoscript [AK] - 04.10.2013 - Seite 45 - 2. Korrektur ZNT 32 (16. Jg. 2013) 45 Troels Engberg-Pedersen Von der »Sünde« zur »Tugend«: Worum geht es eigentlich bei Paulus? »Bei Paulus wie bei den Stoikern geht es darum, dass man die richtige Einsicht bekommt, die in beiden Fällen durch den Geist (der ja auch ein kognitives Phänomen ist) zustande kommt. Hat jemand diese Einsicht erworben, ist das Risiko der akrasia im Prinzip überwunden.« stoische Erklärung dieses Phänomens bestand darin, auf eine Art Reaktivierung der noch-nicht-guten Sichtweise hinzuweisen, die damit zusammenhängt, dass diese ursprüngliche Sichtweise stark angewöhnt war, und auch damit, dass sie von der »Frische« der in der konkreten Situation wahrgenommenen Objekte direkt reaktiviert wurde. Genauer heißt das, dass die konkret wahrgenommenen Objekte Anstoß zu den von den Stoikern so stark kritisierten »Passionen« gaben. Denn diese waren genau als Fälle von akrasia zu verstehen, wo die richtige Einschätzung der wahrgenommenen Objekte, nämlich als »zu bevorzugende, gleichgültige Dinge«, »außer Kontrolle geriet«. Demgegenüber galt es-- in der stoischen Version der Ermahnung oder eben der »Paränese«, worüber auch sie sprachen-- die Leute an die Einsicht in das Gute zu erinnern, die sie im Prinzip zuvor gewonnen hatten. 19 Aber gab es bei den Stoikern einen durch und durch guten Menschen? Im Prinzip, ja. Dennoch war er-- nämlich der stoische »Weise«-- so selten wie der Vogel Phönix. Und man versteht warum. Denn die Einsicht in das Gute, um die es hier ging, war nicht nur die, dass das Gute in der »Übereinstimmung mit der Natur« bestehe; sie wusste auch davon, worin solche Übereinstimmung konkret besteht. Dazu braucht man aber mehr als eine nur menschliche Einsicht, ja geradezu die Einsicht Gottes. Und so ist der stoische »Weise« als solcher mit Gott identisch. Dennoch können wir feststellen, dass es den Stoikern erstens (wie zuvor auch Aristoteles) darum ging, jenseits des Risikos von akrasia zur vollständigen Einsicht zu gelangen, und zweitens, dass es den Stoikern (anders als Aristoteles, der auch vom Willen sprach) nur darum ging, dass man diese richtige Einsicht in das Gute bekam. Wenn das geschah, würde man sicherlich auch danach handeln. Sieht man nun das paulinische Verständnis im Lichte der beiden anderen Positionen, dann ist ohne weiteres klar, dass es grundsätzlich sehr viel näher bei der stoischen als bei der des Aristoteles liegt. Bei Paulus wie bei den Stoikern geht es darum, dass man die richtige Einsicht bekommt, die in beiden Fällen durch den Geist (der ja auch ein kognitives Phänomen ist) zustande kommt. Hat jemand diese Einsicht erworben, ist das Risiko der akrasia im Prinzip überwunden. Man weiß, was man tun soll, und man will es auch (und zwar durch und durch). Dennoch kann es mitunter auch einiger Ermahnung bedürfen, die aber die logische Form hat, dass sie den Adressaten daran erinnert, was diese Person schon sehr wohl weiß. Sowohl bei den Stoikern wie auch bei Paulus hat die Ermahnung also nicht die Funktion, eine Änderung der Seele zu bewirken; vielmehr setzt sie die volle Einsicht voraus und tut nichts anderes als an diese zu erinnern. Gab es dann bei Paulus den christlichen »Weisen«, oder war diese Figur wie bei den Stoikern ebenso selten wie der Phönix? Nein, den gab es gewiss: Alle zu Christus Gehörenden, die auch das pneuma empfangen hatten, waren paulinische »Weise«. Sie waren pneumatikoi (»vom Geist erfüllt«). So lagen die Dinge also nach Aristoteles, den Stoikern und Paulus. Was sollen wir selbst aber darüber sagen? Geht man davon aus, dass die Menschen physische Wesen sind, die sowohl Individuen als auch soziale Wesen sind, dann könnte man behaupten, dass die aristotelische Position diejenige ist, die am meisten dem Menschen entspricht. Auch könnte man geneigt sein, die aristotelische Moralpsychologie mit ihren beiden Wurzeln des Handelns, darunter auch der des Willens, als die adäquatere anzusehen. Dennoch gilt auch bei den Stoikern, dass dem physischen und individuellen Mensch sein Genüge getan wurde, wenn sie unter den »indifferentia« zwischen »zu bevorzugenden« und »zurück zu setzenden« Objekten unterschieden. Hier wurde die konkrete Menschlichkeit-- allem zum Trotz-- völlig anerkannt, dennoch aber wurde auch das nur Individuelle und Körperliche am Menschen stark relativiert unter dem Gesichtspunkt des universalen Guten. Auch könnte man geneigt sein, das stoische Wertlegen auf die kognitive Dimension des Menschen zu begrüßen, das der praktischen Durchsetzungskraft der Vernunft Genüge tut. Und man könnte der Idee zustimmen, dass es überhaupt Platz für die plötzliche Einsicht gibt, die einen Menschen grundsätzlich verändert. Wenn man auf diese Weise Aristoteles und die Stoiker auf einer Linie sieht, die von zunehmender Radikalität geprägt ist (a) hinsichtlich der Rolle anderer Aspekte des Menschen als dem der individuellen Körperlichkeit und (b) im Blick auf die Rolle, die der Fähigkeit zu einer radikalen, kognitiv herbeigeführten Veränderung des Menschen zukommt, dann befindet sich Paulus am Ende dieser Linie. Bei ihm darf die individuelle menschliche Körperlichkeit überhaupt keine Rolle spielen; dagegen legt er das ganze Gewicht darauf, dass der Mensch die Chance hat, Zeitschrift für Neues Testament_32 typoscript [AK] - 04.10.2013 - Seite 46 - 2. Korrektur 46 ZNT 32 (16. Jg. 2013) Zum Thema durch eine neue Einsicht eine vollständige Änderung zu erfahren. Welche Position innerhalb der Linie von Aristoteles zu Paulus sollte man dann vorziehen? Anstelle des Versuchs einer eindeutigen Antwort sollte man vielleicht auf die jeweilige Stärke der verschiedenen Positionen verweisen und es dem Einzelnen überlassen, zu einer eigenen Auffassung zu gelangen. Unter diesem Gesichtspunkt erscheint es als eine Stärke der aristotelischen Position, dass sie dem faktischen, physischen, individuellen und auch sozialen Charakter des Menschen Rechnung trägt. Eine Stärke der stoischen Position könnte darin liegen, dass das Gewicht ausschließlich auf den gemeinschaftlichen Aspekt des menschlichen Wesens gelegt wird, obwohl, wie wir gesehen haben, es auch den Stoikern gelang, die physischen und individuellen Aspekte des Menschseins unter dieser Perspektive zu integrieren. Schließlich hat die paulinische Position augenscheinlich für sich, dass hier das reale Risiko der Selbstbezogenheit, die mit dem »Fleisch«, d. h. mit der mit dem Körper verbundenen Körper- und Selbstorientierung, zusammenhängt, genau diagnostiziert wird, und dass dagegen eine ganz eindeutige Form von »Altruismus« in Anschlag gebracht wird, die in einem jenseits aller Selbstbezogenheit gelegenen, nur auf die anderen gerichteten Gemeinschaftsbezug besteht. Die Wahl zwischen diesen Positionen ist möglicherweise schwieriger als gedacht. Zweite Zusammenfassung »Sünde« bei Paulus wurde auf zwei verschiedene Weisen bestimmt, einmal »substanziell« und einmal »formal«. In substanzieller Hinsicht sündhaft sind alle drei in unserem Text aus dem Galaterbrief (und auch anderswo) aufgezählten schlechten Handlungs-Typen, die alle ihre Wurzel im »Fleisch« haben, d. h. in dem von Körper- und Selbstorientierung durchdrungenen, menschlichen Körper aus Fleisch und Blut. Diesen Körper gilt es dann-- zusammen mit den »Passionen« und »Begierden«, zu denen er Anlass gibt- - ganz und gar außer Kraft zu setzen, und das geschieht, wenn ein Christus- Gläubiger das göttliche pneuma empfängt. In formaler Hinsicht ist jede psychische Spaltung sündhaft, und hier nicht zuletzt die Spaltung der akrasia, die am meisten in der Nähe des Zustandes liegt, wo es überhaupt keine innere Spaltung mehr gibt. Das Risiko dieser Spaltung besteht nach Paulus ständig, wenn jemand unter dem (jüdischen) Gesetz lebt, weil das Gesetz nicht imstande ist, sich selbst durchzusetzen. Dafür braucht es ein anderes, etwas, das eine radikale Veränderung der mentalen Struktur des Menschen herbeiführt, nämlich das pneuma. Gottes Geist kann und will das Fleisch selbst außer Kraft setzen zusammen mit den »Passionen« und »Begierden«, die genau wie bei den Stoikern als Fälle von akrasia (im Verhältnis zu dem Wunsch, nach dem Gesetz zu leben) angesehen werden können. Wir haben diese paulinische Gesamtkonzeption mit den ethischen Theorien des Aristoteles und der Stoiker verglichen, ohne dass wir uns für die eine oder die andere Theorie entschieden hätten. Wir haben aber gesehen, dass es in diesen Theorien hinter den teilweise verschollenen Begriffen um durchaus verständliche und allgemeine Probleme des menschlichen Lebens ging, die hier präzise zu erfassen waren. Die späteren philosophischen Positionen, die dieselben Probleme behandeln, sind nicht weit über die antiken hinausgelangt. Zu ihnen gehört auch, wie wir gesehen haben, die christliche Position, die zuerst von Paulus voll ausgeformt wurde. Anmerkungen 1 Paulus benutzt nur einmal das Wort »Tugend« (aretē): in Phil 4,8. Im Allgemeinen scheut er sich davor, zu »philosophisch« zu sprechen. Der Sache nach liegt es aber anders. 2 Siehe für die Stoiker H. von Armin, Stoicorum Veterum Fragmenta III, Stuttgart 1903, Kap. 8 § 3 (S. 140-145). Die Stoiker sprachen sowohl von hamartēma (so die Mehrzahl der Texte) wie auch von hamartia, aber ohne Bedeutungsunterschied. 3 Diesem Aufsatz liegen mehrere Untersuchungen zu Grunde, die ich anderswo mit erschöpfender Bezugnahme auf die jeweilige Forschungssituation veröffentlicht habe, zum Beispiel: Aristotle’s Theory of Moral Insight, Oxford1983; The Stoic Theory of Oikeiosis. Moral Development and Social Interaction in Early Stoic Philosophy, Aarhus 1990; »Galatians in Romans 5-8 and Paul’s Construction of the Identity of Christ Believers«, in: T. Fornberg/ D. Hellholm (Hgg.), Texts and Contexts. Biblical Texts in Their Textual and Situational Contexts, FS Lars Hartman, Oslo 1995, 477-505; Paul and the Stoics, Edinburgh/ Louisville (KY)/ Westminster 2000; (ed.), Paul Beyond the Judaism/ Hellenism Divide, Louisville/ Westminster 2001; »The Reception of Graeco-Roman Culture in the New Testament: The Case of Romans 7.7-25«, in: M. Müller/ H. Tronier (Hgg.), The New Testament as Reception, London/ New York 2002, 32-57; »Radical Altruism in Philippians 2: 4«, in: J.T. Fitzgerald/ T.H. Olbricht/ L.M. White(Hgg.), Early Christianity and Classical Culture, FS Abraham J. Malherbe, Leiden/ Boston 2003, 197-214; »Stoicism in the Apostle Paul: A Philosophical Reading«, in: S.K. Strange/ J. Zupko (Hgg.), Stoicism. Traditions and Transformations, Cambridge 2004, 52-75; »The Concept of Paraenesis«, in: J. Starr/ T. Engberg-Pedersen (Hgg.), Early Christian Paraenesis in Context, Berlin 2005, 47-72; Cosmology and Self in the Apostle Paul: The Material Spirit, Oxford 2010. Zeitschrift für Neues Testament_32 typoscript [AK] - 04.10.2013 - Seite 47 - 2. Korrektur ZNT 32 (16. Jg. 2013) 47 Troels Engberg-Pedersen Von der »Sünde« zur »Tugend«: Worum geht es eigentlich bei Paulus? 4 Schlachter Version 2000 mit mehreren Änderungen. 5 Für diese Übersetzung siehe: Paul and the Stoics (oben Anm. 3), 341. 6 Für den finalen Sinn des hina (»damit«) siehe: Paul and the Stoics (oben Anm. 3), 162-163 mit Anmerkungen. 7 Hier sollte man beachten, dass viele der von Paulus aufgezählten Phänomene im Plural genannt sind, das heißt: als »Fälle von …«. So werden sie aber nur selten wiedergegeben. 8 Für diesen Sinn des kata (»über«, nicht »gegen«) siehe: Paul and the Stoics (oben Anm. 3), 164 mit Anmerkungen. 9 Ich habe diese Theorie anhand eines zentralen Textes bei Cicero, De Finibus 3.16-21, in: The Stoic Theory of Oikeiosis (oben Anm. 3), Kap. III und IV, in allen Einzelheiten analysiert. 10 R. Bultmann, Theologie des Neuen Testaments, Tübingen 9 1984, 239. 11 Ich habe meine Argumente für diese denkbar radikale Deutung des Verhältnisses zum Körper bei Paulus in einem Aufsatz ausgeführt, der demnächst unter dem Titel »The Sinful Body: Paul on Marriage and Sex« erscheinen wird. 12 Schlachter Version 2000 mit Änderungen, die ich in »Radical Altruism« (oben Anm. 3) verteidigt habe. 13 Siehe meinen Aufsatz, »Radical Altruism« (oben Anm. 3). 14 Dies ist ein Hauptpunkt der Nikomachischen Ethik, siehe: Aristotle’s Theory (oben Anm. 3). 15 Siehe die Nikomachische Ethik VII.1-3 (1145a15- 1147b19). 16 Siehe meinen Aufsatz »Galatians in Romans 5-8« (oben Anm. 3). 17 Siehe meinen Aufsatz »The Reception of Graeco-Roman Culture» (oben Anm. 3). 18 Nikomachische Ethik II.1 (1103a14-b25) und X.9 (1179a33-1181b23). 19 Siehe meinen Aufsatz »The Concept of Paraenesis« (oben Anm. 3). N EUERSCHEI N UN G FEBRU AR 2013 Phi l i ppe Kneubühl er Theologie des Wortes und Sakramentenlehre im Johannesevangelium 2013, 193 Seiten, €[D] 49, 00/ SFr 65, 50 I SBN 978-3-7720-8463-8 A. Francke Verlag • Di schi ngerweg 5 • D-72070 Tübi ngen • Tel . +49 (07071) 9797-0 • Fax +49 (07071) 97 • www. francke. de Di e Frage des Sakramentenverständni sses i m J ohannesevangel i um i st seit l angem bei den Exegeten umstritten. Di ese Stu di e versucht ei ne Antwort aus der neuen Perspekti ve ei ner synchroni schen Si chtwei se zu fi nden, di e von der H ypothese der Kohärenz des textus receptus ausgeht.