eJournals ZNT – Zeitschrift für Neues Testament 16/32

ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
2013
1632 Dronsch Strecker Vogel

Sünde im Jakobusbrief

2013
Matthias Konnradt
Zeitschrift für Neues Testament_32 typoscript [AK] - 04.10.2013 - Seite 21 - 2. Korrektur ZNT 32 (16. Jg. 2013) 21 Wer von Paulus’ Sündenverständnis herkommt, wie der Apostel es tiefschürfend insbesondere in Röm 7 entfaltet, wird die Rede von der Sünde im Jakobusbrief je nach eigenem Sündenverständnis als oberflächlich oder als wohltuend nüchtern empfinden. Für Jakobus 1 ist Sünde nämlich »weder überindividuelle Macht noch individuelle Sucht (so Röm 7,7-25)« 2 , sondern schlicht Übertretung des Willens Gottes, »Handeln wider Gottes Gesetz« 3 . Der Konkordanzbefund ist schnell notiert: Von hamartia(i) (»Sünde[n]«) ist in 1,15; 2,9; 4,17; 5,15. 16. 20 die Rede, vom hamartōlos (»Sünder«) spricht Jakobus in 4,8 und 5,20; das Verb fehlt. Angesichts der Kürze des Briefes ist die Zahl der Belege relativ hoch; unter den Paulusbriefen weist nur der Römerbrief eine höhere Belegdichte auf. Sieht man von der Nennung konkreter Vergehen oder Laster ab, so ist ergänzend zudem noch auf die Rede vom ptaiein (»sich verfehlen«: 2,10; 3,2), vom parabatēs (»Übertreter«: 2,9.11), von der adikia (»Unrecht«: 3,6), von der kakia (»Schlechtigkeit«: 1,21; vgl. 1,13) oder auch auf die Wertung eines Verhaltens als ponēros (»böse«: 4,16; vgl. 2,4) hinzuweisen. Die relative Häufigkeit des Vorkommens von »Sünde/ r« spiegelt die Ausrichtung des Jakobusbriefes, angesichts von ethischen Missständen, die der Verfasser in den ihm vor Augen stehenden Gemeinden meint diagnostizieren zu können, korrigierend eingreifen zu wollen. Von grundlegender Bedeutung für das jakobeische Sündenverständnis ist 1,15: »Dann, wenn die Begierde empfangen hat, gebiert sie Sünde, die Sünde aber, wenn sie groß geworden ist, gebiert den Tod.« Ich setze daher mit dieser Aussage ein. Im zweiten Abschnitt werde ich mich dann der Problematik des Umgangs mit und der Stellung zum Besitz als dem ethischen Feld zuwenden, auf dem Jakobus sündhaftes Verhalten seiner Adressaten hauptsächlich feststellt. Der Schlussabschnitt stellt die Sündenproblematik in den soteriologischen Horizont des Gerichts ein. 1. Die Begierde als Quellgrund der Sünde Jak 1,13-25 bildet die theologische Grundlegung des Briefes, die die von 1,26 an folgenden konkreten ethischen Mahnungen und Argumentationen fundiert. Man kann darüber streiten, ob 1,13-25 zusammen mit 1,2-12 zum dann zweiteiligen Prolog gehört oder ob der Passus das Briefkorpus eröffnet und dann die erste Entfaltung des Programms des Briefes bietet, das in 1,2- 4 summarisch dargelegt wurde: Die Adressaten sollen sich in den mannigfaltigen Versuchungen, mit denen sie als Fremdlinge in der »Diaspora« (1,1) der gottfernen Welt konfrontiert sind, als standhaft erweisen, und diese Standhaftigkeit soll mit einem vollkommenen Werk einhergehen, damit sie selbst der Vollkommenheit entgegenstreben. 4 Unabhängig davon, ob man 1,13-25 zum Prolog oder zum Korpus zieht, kommt dem Passus zur Erfassung der theologischen Konzeption des Jakobusbriefs fundamentale Bedeutung zu. Jakobus setzt in 1,13 damit ein, dass er der Ausflucht wehrt, sich im Falle eines Scheiterns in den in 1,2 genannten Versuchungen zu Lasten Gottes selbst zu entlasten, indem man sagt, man sei von Gott versucht worden. Jakobus bezeichnet mit dem Substantiv »Versuchung/ Prüfung« (1,2.12) die an sich neutrale Situation, die im Falle des Standhaltens positiv zu werten und daher für lauter Freude zu erachten ist (1,2), weil das Standhalten in den Versuchungen das »Immunsystem« stärkt. Das in 1,13 f. verwendete Verb hingegen meint das tatsächliche »Versucht-werden« im Sinne des Scheiterns in der Versuchung. Da nach dem jakobeischen Gottesbild 5 von Gott ausschließlich Gutes kommt (1,17), ist ausgeschlossen, dass Gott jemanden (zum Bösen) versucht. Wenn also jemand der Versuchung unterliegt, liegt das, wie 1,14 ausführt, an der eigenen Begierde: »Jeder wird aber versucht, indem er von seiner eigenen Begierde herausgelockt und geködert wird.« Von »Begierde« und »Begehren« spricht Jakobus allein in rein negativer Ausrichtung. »Begehren« bedeutet für Jakobus, nach Dingen zu streben, die dem Willen Gottes widersprechen, bzw. in einer Weise nach Dingen zu streben, die Gottes Willen verletzt. Zu beachten ist, dass Jakobus in 1,14 f.-- im Unterschied zur unter den frühchristlichen Belegen verbreiteten pluralischen Rede von Begierden im Sinne der einzelnen bösen Leidenschaften 6 -- im Singular (vgl. 2Petr 1,4; 1Joh 2,16) und in personifizierter Weise von der Begierde spricht. 7 Die Begierde erscheint als die im Innern des Menschen verortete, zugleich aber vom Ich des Menschen unterschiedene Instanz, 8 die ihn zu einem dem Willen Gottes entgegenstehenden Verhalten zu Matthias Konradt Sünde im Jakobusbrief Zum Thema Zeitschrift für Neues Testament_32 typoscript [AK] - 04.10.2013 - Seite 22 - 2. Korrektur 22 ZNT 32 (16. Jg. 2013) Zum Thema verleiten sucht. Die der Fischereisprache entnommene Metaphorik des Fortreißens und Köderns stellt dabei anschaulich das versucherisch-verführerische Potential der Begierde heraus. Wie sich dieses Treiben der Begierde im Menschen und das Wirken des in 4,7 erwähnten Teufels, der durch Widerstand gegen ihn in die Flucht geschlagen werden soll, genau zueinander verhalten, ist dem Jakobusbrief nicht zu entnehmen. Führt Jakobus mit V. 14 das Versucht-werden auf die Begierde zurück, so wendet er sich in V. 15 mittels eines klimaktischen Kettenschlusses den Folgen zu. Wenn- - um im Bilde von V. 14fin zu bleiben- - der Christ »anbeißt«, dann empfängt die Begierde, wie Jakobus in veränderter Bildsprache sagt, und sie gebiert Sünde. Eine wichtige Frage ist, ob man aus V. 15a den Umkehrschluss ziehen darf, dass jede Sünde auf die Begierde zurückzuführen ist. Eine solche Annahme liegt gleich aus mehreren Gründen nahe. Erstens wurde die Begierde in 1,14, wie gesehen, personifiziert als Instanz im Menschen eingeführt. Zweitens ist zu beachten, dass sich in 1,13-25 mit der nachfolgenden Rede von der Einstiftung des Wortes in 1,18.21 ein konzeptioneller Zusammenhang ergibt: Begierde und Wort stehen einander gegenüber, diese als Instanz im Menschen, die zur Sünde verleitet und darüber zum Tod führt, jenes als dem Christen eingestiftete Größe, die zum Tun des Guten verhilft und zum Leben führt. Kurz gesagt: Begierde und Wort stehen einander als Todeskeim und Lebenskeim gegenüber. Drittens wird in 4,1-3 das Begehren als Wurzel des Fehlverhaltens der Adressaten benannt. Nicht zuletzt lässt sich viertens ein Verständnis der Begierde als des Quellgrundes des Sündigens traditionsgeschichtlich plausibilisieren. Denn die Vorstellung, dass sündhaftes Verhalten in der Begierde wurzelt, lässt sich in mehreren frühjüdischen Schriften nachweisen: • Nach der Paraphrase der biblischen »Sündenfallgeschichte« (Gen 3) in der Apokalypse des Mose »kontaminierte« die Schlange die Frucht, bevor sie sie Eva gab, mit dem »Gift ihrer Bosheit, d. h. der Begierde«, woran als Erklärung angefügt wird: »Denn die Begierde ist (Ursache) jeder Sünde« (ApkMos 19,3). • Nach ApkAbr 24,8 hält die Begierde »in ihrer Hand das Haupt jeder Gesetzlosigkeit«. • Im hellenistischen Judentum konnte das zehnte Gebot, indem »du sollst nicht begehren« ohne Objekt zitiert wurde, als Zusammenfassung der zweiten Tafel des Dekalogs aufgefasst werden (4Makk 2,6; Philo, Dec 142). Auch Paulus zitiert das Gebot in dieser verkürzten Fassung (Röm 7,7; 13,9). Entsprechend resümiert Philo in seiner Gebotsauslegung: »Ein so großes und überragendes Übel ist also die Begierde oder vielmehr, um es richtig zu bezeichnen, sie ist die Quelle aller Übel; denn Raub, Plünderei und Nichtbezahlen von Schulden, Verleumdung und Beschimpfung, ferner Verführung, Ehebruch, Mord und alle die anderen Verbrechen […], aus welch anderer (Quelle) fließen sie? « (SpecLeg 4,84). Ganz ähnlich heißt es in der Schrift Über den Dekalog 173: »Das fünfte Gebot [sc. der zweiten Tafel] endlich sucht die Quelle alles Unrechts, die unlautere Begierde, zurückzudrängen, von der die gesetzwidrigsten Handlungen ausgehen«. Überblickt man die Streuung der Belege, so erscheint es auch traditionsgeschichtlich als plausibel, dass Jakobus die Begierde als den Quellgrund der Sünde betrachtete. Als Hintergrund von Jak 1,13-15 im Ganzen wird häufig auf Sir 15,11-20 verwiesen, 9 wo ebenfalls eine Rückführung der Sünde auf Gott abgewehrt wird (15,11f.20), doch begegnet dieses Motiv auch anderorts (z. B. äthHen 98,4; Philo, Fug 79 f.). Zugleich sind Differenzen zwischen Jak 1,13-15 und Sir 15,11-20 nicht zu übersehen. Gerade die Differenzen helfen freilich, Jak 1,13-15 Profil zu geben: Während Sir 15 vom Menschen allgemein spricht, also schöpfungstheologisch orientiert ist und in diesem Kontext auf den freien Willen des Menschen abhebt (V. 14-17), hat Jakobus in 1,13-15 speziell den Christen im Blick und thematisiert die Be- Prof. Dr. Matthias Konradt, Jahrgang 1967, studierte Evangelische Theologie in Bochum sowie Heidelberg und wurde 1996 in Heidelberg promoviert. Nach seinem Vikariat war er von 1999 bis 2003 am Sonderforschungsbereich »Judentum - Christentum« an der Universität Bonn tätig, wo er sich Ende 2002 habilitierte. Von 2003 bis 2009 war er Ordinarius für Neues Testament an der Universität Bern. Seit dem Wintersemester 2009/ 10 lehrt er an der Theologischen Fakultät der Universität Heidelberg. Aktuelle Forschungsschwerpunkte sind die Neutestamentliche Ethik, das Matthäusevangelium, Paulus, Corpus Judaeo-Hellenisticum Novi Testamenti. Matthias Konradt Zeitschrift für Neues Testament_32 typoscript [AK] - 04.10.2013 - Seite 23 - 2. Korrektur ZNT 32 (16. Jg. 2013) 23 Matthias Konradt Sünde im Jakobusbrief gierde, die auch diesem noch Schwierigkeiten bereiten kann. Dem Christen ist allerdings mit dem wirkmächtigen, »eingeborenen« Wort (1,18.21) 10 eine Gegenmacht zur Begierde eingestiftet, so dass es ihm grundsätzlich möglich ist, sich von der Begierde nicht zum Sündigen verführen zu lassen. Wenn Jakobus das Gesetz in 1,25 als »Gesetz der Freiheit« bezeichnet, so wird damit die Überzeugung auf den Punkt gebracht, dass der, der sich in das Gesetz vertieft und es entsprechend befolgt, Freiheit von der Begierde samt ihren Folgeerscheinungen Sünde und Tod (1,15) gewinnt. 11 Anders als für Paulus in Röm 7 ist das Gesetz für Jakobus ein effektives Mittel, um der Begierde und der Sünde Herr zu werden. Allerdings ist zu beachten, dass Röm 7 die Situation des Menschen vor und außerhalb der Christuswirklichkeit thematisiert, während Jakobus in 1,13-25 eben den Christenmenschen im Blick hat. Die Frage, ob der Mensch einen freien Willen hat, wird in Jak 1,13-15 hingegen gar nicht gestellt. Weil Jakobus’ Thema in 1,13-15 der Christ, nicht der Mensch ist, ist dem Passus zugleich allerdings auch keine ausdrückliche Aussage darüber zu entnehmen, inwiefern es dem »natürlichen« Menschen möglich ist, nicht von der Begierde beherrscht zu werden. Man kann nur darauf hinweisen, dass Jakobus nirgends im Brief auf ein dem Menschen eigenes Vermögen, der Begierde Herr zu werden, wie z. B. die Vernunft rekurriert. Ferner wird das von der Begierde angetriebene Verhalten eines Christen in 4,4 pauschal als (Suche nach) Weltfreundschaft bezeichnet, worin impliziert ist, dass der Kosmos grundlegend durch die Begierde und ihre Lüste geprägt und »gezeichnet« ist. Dies muss nicht zu dem Schluss führen, dass der Mensch in seiner natürlichen Ausstattung prinzipiell gegen die Begierde wehrlos ist. Wesentlich wahrscheinlicher ist auf frühjüdischem Hintergrund die Sicht, dass der Mensch die Möglichkeit, der Begierde nicht verfallen zu sein, faktisch nicht nutzt. 12 Die Sünde ist zwar kein Verhängnis, aber faktisch die allgemeine Realität des Menschen und die Begierde dabei das anthropologische Grunddatum. Fragt man, auf welchen Gebieten des Handelns Jakobus im Adressatenkreis sündhaftes Verhalten hauptsächlich diagnostiziert, so ist an erster Stelle das weite Feld des Umgangs mit und der Stellung zum Besitz zu nennen. Konzeptionell wird dabei deutlich, dass Jakobus den sündhaften »Mammondienst« von Christen als Ausdruck von Gespaltenheit zwischen Gott und Welt versteht. 2. Der sündhafte »Mammondienst« von Christen als Gespaltenheit zwischen Gott und Welt Während in der summarischen Exposition der Themen des Briefes in 1,2-12, der theologischen Grundlegung in 1,13-25 und der Entfaltung von 1,2-4 in 1,26-3,12 der Brudertitel die Anrede der Adressaten bestimmt, 13 begegnet dieser in 3,13-5,6 nur in 4,11. Im vorangehenden Abschnitt 4,1-10 hingegen werden die Adressaten als »Ehebrecherinnen« (4,4), »Zweiseeler« (4,8) und eben als »Sünder« (4,8) angeredet. Den Kontext dazu bildet die Thematisierung der »Kriege und Kämpfe«, der sozialen Disharmonie unter den Adressaten, die Jakobus auf die »zu Felde ziehenden« Lüste in den Gliedern 14 zurückführt (V. 1). Diese These wird in V. 2 f. durch eine klimaktische Reihe erläutert, bei der Jakobus, wie oben angedeutet, in Entsprechung zur Rückführung der Sünde auf die Begierde in 1,14 f. mit dem Begehren einsetzt. Jakobus führt hier nicht ausdrücklich aus, worauf sich das Begehren richtet, doch kann man dies aus dem Kontext erschließen. Denn dem Argumentationsduktus nach muss das Begehrte nach V. 2-3 zum einen auch Gegenstand des Gebets sein können. Zum andern ist das Begehrte bzw. Erbetene etwas, das man nach V. 3 »in den Lüsten« verschwenden kann. Es handelt sich also offenbar um materielle Güter. Jakobus kritisiert hier »die leidenschaftliche Gier nach Besitz und Lust« 15 . Die klimaktische Reihe in V. 2-3 besteht aus drei Gliedern. Das Fortschreiten zur nächsten Stufe ist jeweils darin begründet, dass mit dem Vorangehenden das Ziel nicht erreicht wurde. Also: 1.) »Ihr begehrt-- und habt nicht.« 2.) »Ihr tötet und eifert-- und vermögt es nicht zu erlangen.« 3.) »Ihr kämpft und bekriegt.« Dass das erstrebte Ziel nicht erreicht wird, kann objektiv meinen, dass das Begehrte tatsächlich versagt bleibt; oder aber, was wahrscheinlicher ist, in subjektivem Sinn bzw. in psychologischer Hinsicht darauf abheben, dass die Befriedigung eines Begehrens sogleich neue Begehrlichkeit freisetzt und es insofern nie zu einem bleibenden Besitz kommt 16 : Dem Begehrenden ist das Erreichte nie das Begehrte. Dass diese psychologische Einsicht in der antiken Welt nicht unbekannt war, lässt sich exemplarisch anhand von Senecas Epistulae Morales illustrieren. So zitiert Seneca in seinem 94. Brief als Beispiel für einen unmittelbar einleuchtenden Spruch, der in der antiken Welt umläuft: »Einen Habsüchtigen sättigt kein Gewinn« (94,43). 17 »Die Sünde ist zwar kein Verhängnis, aber faktisch die allgemeine Realität des Menschen und die Begierde dabei das anthropologische Grunddatum.« Zeitschrift für Neues Testament_32 typoscript [AK] - 04.10.2013 - Seite 24 - 2. Korrektur 24 ZNT 32 (16. Jg. 2013) Zum Thema Steht bei Jakobus am Anfang das bloße Begehren nach Besitz und nach dem damit verbundenem Sozialprestige, so wächst sich diese Disposition in den nächsten Entwicklungsstufen zu einem handfesten, Gemeinschaft zerstörenden Verhalten aus. Die beiden im mittleren Glied genannten Verhaltensweisen sprechen komplementär das Verhalten gegenüber sozial Schwächeren (»töten«) und Bessergestellten (»eifern«) an. »Töten« ist dabei in einem weitgefassten Sinn zu verstehen. In slHen 10,5 wird bereits mangelnde karitative Unterstützung Bedürftiger als »töten« aufgefasst (s. auch Sir 34,21f.). In diese Richtung dürfte auch Jak 4,2 gehen. Neben Defiziten in der Unterstützung Bedürftiger (vgl. Jak 2,15f.) ist ferner auch an die Durchsetzung (vermeintlicher) finanzieller Ansprüche gegenüber Verarmten vor Gericht (vgl. Jak 2,6; 5,6) sowie an Ausbeutung von Armen etwa durch Vorenthaltung von Lohn zu denken (vgl. Jak 5,4 und Sir 34,21 f.: »Brot der Bittenden ist der Lebensunterhalt der Armen; wer ihn raubt, ist ein Blutmensch. Der tötet den Nächsten, der ihm die Nahrung stiehlt, und der vergießt Blut, der dem Lohnarbeiter seinen Lohn raubt«). Kurzum: »Töten« meint hier im weiten Sinne ein rücksichtsloses Verhalten, das sozial Schwächere in ihrer Existenzgrundlage trifft. Wenn Jakobus nun »töten« in diesem Sinn mit »eifern« zusammenstellt, so spricht sich darin die Beobachtung aus, dass der, der gegenüber Armen eine solche Lebensorientierung zeigt, im Regelfall zugleich zum »Eifern« nach Sozialprestige neigt, das von Eifersucht gegenüber den (noch) Bessergestellten angeheizt wird bzw. damit einhergeht. Die »Kämpfe und Kriege« sind letzter Ausdruck dieser Gemeinschaft zerstörenden Disposition, in der die anderen im Wesentlichen als Konkurrenten wahrgenommen und die Armen missachtet werden. Die in 4,1-3 geschilderte verfehlte Lebensorientierung stellt Jakobus in V. 4 in einen theologischen Interpretationsrahmen ein: Der in der skizzierten Weise auf sich selbst bezogene Mensch verschließt und verfehlt sich nicht nur dem Mitmenschen gegenüber, sondern damit (! ) auch Gott gegenüber. Mit der Invektive »Ehebrecherinnen« greift Jakobus auf das Motiv des Ehebundes zwischen Gott und seinem Volk zurück 18 . Die dargelegte sozial destruktive Orientierung am Besitz wird nun als »ehebrecherische« Freundschaft mit der Welt, die gewissermaßen als Nebenbuhlerin Gottes erscheint, klassifiziert. Analog zum Gegenüber von Wort und Begierde in 1,13-25 bewegt sich Jakobus auch hier in einem klaren Entweder-Oder: Freundschaft mit der Welt bedeutet Feindschaft mit Gott. Traditionsgeschichtlich betrachtet, zeigt sich Jak 4,4 als eine Transformation des Mammonwortes Jesu in Mt 6,24 par Lk 16,13. Der Mammondienst wird als die zentrale Signatur der Welt gewertet, so dass die strenge Alternative von Gott und Mammon zum antithetischen Gegenüber von Gott und Welt transformiert werden kann. 19 In V. 7-10 lässt Jakobus eine ausführliche Umkehrmahnung folgen, in der er die Adressaten, wie erwähnt, expressis verbis als »Sünder« und »Zweiseeler« anspricht (4,8). Die beiden Anreden interpretieren sich wechselseitig. »Zweiseeler« bezeichnet das Doppelleben derer, die meinen, ihre Gottesbeziehung würde sich mit »Weltfreundschaft« vertragen. Die Sünde der in 4,1-10 anvisierten Gemeindeglieder wird von Jakobus also als Gespaltenheit zwischen Gott und Welt in der Lebensorientierung aufgefasst. Pointiert kommt hier zum Ausdruck, dass Gottesfreundschaft und Weltfreundschaft zwei miteinander schlechthin unvereinbare Sinnwelten darstellen. Zur weiteren Illustration dieses Ansatzes ist Jakobus’ Opposition gegen das Ansehen der Person, d. h. gegen die Ungleichbehandlung von Armen und Reichen in 2,1-13 instruktiv. In der einleitenden Mahnung weist Jakobus die durch das Beispiel in V. 2 f. illustrierte Bevorzugung von Reichen implizit als mit dem Glauben an die Herrlichkeit unseres Herrn Jesus Christus 20 unvereinbar auf. Denn mit dieser auffälligen inhaltlichen Bestimmung des Glaubens setzt er einen Kontrast zwischen der Herrlichkeit des erhöhten Herrn und der demgegenüber belanglosen und im Grunde lächerlichen »Herrlichkeit« des in seinem glänzenden Gewand daherkommenden Goldfingers. Wie kann man solchem Prunk Beachtung schenken und Wert beimessen, wenn der Glaube auf die einzig wahre, da himmlische Herrlichkeit gerichtet ist, mit der der auferstandene und erhöhte Kyrios Jesus Christus umkleidet ist »Steht bei Jakobus am Anfang das bloße Begehren nach Besitz und nach dem damit verbundenem Sozialprestige, so wächst sich diese Disposition in den nächsten Entwicklungsstufen zu einem handfesten, Gemeinschaft zerstörenden Verhalten aus.« »[M]it dieser auffälligen inhaltlichen Bestimmung des Glaubens setzt er einen Kontrast zwischen der Herrlichkeit des erhöhten Herrn und der demgegenüber belanglosen und im Grunde lächerlichen ›Herrlichkeit‹ des in seinem glänzenden Gewand daherkommenden Goldfingers.« Zeitschrift für Neues Testament_32 typoscript [AK] - 04.10.2013 - Seite 25 - 2. Korrektur ZNT 32 (16. Jg. 2013) 25 Matthias Konradt Sünde im Jakobusbrief und die die Glaubenden selbst am Ende zu empfangen hoffen (vgl. Phil 3,20 f.; 2Thess 2,13 f.) 21 ? Indem Jakobus das Beispiel (V. 2 f.) in V. 4 in die rhetorische Frage einmünden lässt: »seid ihr da nicht in euch zwiespältig und übel gesonnene Richter geworden? « 22 , wird wieder das Motiv der Gespaltenheit vorgebracht, das Jakobus bereits an prominenter, programmatischer Stelle im Rahmen des Prologs eingeführt hat (1,6-8): Wer an die Herrlichkeit des Herrn glaubt und dennoch Reiche bevorzugt-- mit der entsprechenden Konsequenz für die eigene Lebensorientierung--, führt ein »Doppelleben«. Mit der Thematisierung des Ansehens der Person deckt Jakobus dabei die Wurzel der auch in Jak 4 verhandelten Fehlorientierung auf: Wert und Würde eines Menschen werden mit seinem sozialen Stand korreliert. Hingegen weiß der Glaubende darum, dass Gottes Zuwendung gerade den in den Augen der »Welt« Armen gilt (2,5; vgl. 1,27). Kurz gesagt: Wer Reiche hofiert und Arme missachtet, handelt nicht der vom Glauben gestifteten Wirklichkeitsgewissheit entsprechend. In V. 8-11 wird ein solches glaubenswidriges Ansehen der Person dann explizit als Sünde und zugleich als Übertretung des Gesetzes ausgewiesen. Glauben und die sich im Lebenswandel manifestierende Orientierung am Gesetz bilden bei Jakobus eine unauflösliche Einheit. Der Glaube erschließt eine Sicht der Wirklichkeit, mit deren lebenspraktischen Konsequenzen das im Liebesgebot (2,8) zentrierte Gesetz kongruent zusammenklingt. Positiv gefordert ist die barmherzige Zuwendung zu den Bedürftigen, die für Jakobus elementarer Ausdruck des wahren Gottesdienstes ist (1,27; vgl. 2,15 f.). Entsprechend wird wiederum als Sünde gebrandmarkt, wenn der, der wie die Großkaufleute in 4,13-17 in der Lage ist, Gutes zu tun, solches Tun unterlässt (4,17). 23 Zieht man 2,12 f. (sowie 1,22-25 und 2,14-26) hinzu, wird deutlich, dass dort, wo das Tun des Guten, d. h. hier der Barmherzigkeit, ausbleibt, unbarmherzig das Gericht droht. Barmherzigkeit aber »triumphiert über das Gericht« (2,13). Damit ist die im folgenden Abschnitt zu behandelnde Frage aufgeworfen: Welche endgerichtlichen soteriologischen Folgen zeitigt das Begehen von Sünden? 3. Sünden der Gerechten und Sünden von Sündern im Horizont des Gerichts Die Überschrift mag irritierend klingen, denn sie hebt die Gleichung, dass der, der sündigt, ein Sünder ist, auf. Man mag auch gleich kritisch einwenden, dass die in der Überschrift enthaltene Differenzierung schon deshalb problematisch ist, weil die Übergänge fließend sind und es deshalb unmöglich ist, eine klare Grenze zu markieren. Konzeptionell ist die Unterscheidung für Jakobus gleichwohl zwingend, und es ist eben auch nicht Sache von Menschen, das Gericht vorwegzunehmen und die Grenze festzulegen. Konzeptionell zwingend ist die Unterscheidung für Jakobus deshalb, weil für ihn das Bleiben in dem von Gott eröffneten heilvollen Leben (1,18) ohne einen dem Willen Gottes entsprechenden Lebenswandel nicht möglich ist. Das bloße zustimmende Hören des Wortes genügt nicht; das entsprechende Tun ist entscheidend, nur dieses führt zur Seligkeit (1,25). Das ist keine jakobeische Sondermeinung, sondern gut jüdisch und wurde, wenn man Mt 7,24-27 par Lk 6,47-49 folgen darf, auch von Jesus von Nazareth nicht anders gesehen. Das in 2,14-26 entfaltete Insistieren darauf, dass zur Rechtfertigung Werke notwendig sind bzw. Gott einen Menschen nur dann als gerecht anerkennt, wenn er einen durch Werke zur Ganzheit gelangten Glauben (2,22) hat, ist dabei nichts anderes als Variation von 1,22-25. 24 Seine Überzeugung, dass Glaube nur dann rechtfertigt, wenn er mit Werken einhergeht (2,22 f.), oder, kurz gesagt: dass Werke rechtfertigen (2,21.24), geht bei Jakobus aber nicht mit einem ethischen Perfektionismus einher. Vielmehr wird nüchtern konstatiert, dass »wir uns alle viel verfehlen« (3,2). Gerechtsein und Vollkommenheit sind für Jakobus nicht dasselbe. Vollkommenheit (1,4; 3,2) erscheint bei Jakobus als Ideal, das anspornen soll, aber Jakobus ist, wie 3,2 zeigt, Realist genug, um zu wissen, dass dies im Allgemeinen nicht erreicht wird. Als gerecht hingegen erkennt Gott einen Glaubenden an, der sich ungeteilt auf ihn ausrichtet und sich in allem an seinem Wort zu orientieren sucht, auch wenn er hier und da einmal scheitert. Besonders schwierig, ja unmöglich ist es nach 3,1-12, sich auf dem Gebiet der Sprachethik niemals zu verfehlen. Entsprechend ist Vollkommenheit auch mehr als das positive Gegenstück zur Gespaltenheit. Vollkommenheit ist vielmehr erst dann gegeben, wenn die ungeteilte Orientierung des Glaubenden auf Gott hin Tag für Tag in völlig makelloser Weise realisiert wird. Diesen Differenzierungen fügt sich ein, dass es nach Jak 5,15 f. Sünden von Gerechten gibt. Jakobus thematisiert hier zunächst das »Gebet des Glaubens« für einen Kranken, das diesen zu retten vermag. Mit der in V. 15 angefügten Verheißung »und wenn er Sünden begangen hat, wird ihm vergeben werden« schafft Jakobus eine Überleitung zur in V. 16 folgenden Aufforderung, einander die Sünden zu bekennen. Dieses Bekenntnis soll dann mit der Fürbitte füreinander verbunden Zeitschrift für Neues Testament_32 typoscript [AK] - 04.10.2013 - Seite 26 - 2. Korrektur 26 ZNT 32 (16. Jg. 2013) Zum Thema werden, »damit ihr geheilt werdet«. Die Rede von der Heilung ist offenbar von V. 14 inspiriert, wo es um die Heilung des Kranken ging, doch wechselt Jakobus hier zu einem metaphorischen Gebrauch: Heilung meint die Vergebung der Sünden. Auffallend sind hier die reziproken Formulierungen: Die Christen sollen einander ihre Sünden bekennen und füreinander beten. Hier wird nicht unterteilt in Gerechte und Sünder; es wird nicht gesagt, dass die Sünder ihre Sünden bekennen und dann die anderen für sie beten sollen. Vielmehr macht der Schlusssatz in V. 16 deutlich, dass die Adressaten hier als Gerechte angesprochen werden, die durchaus einmal sündigen können, denn Jakobus motiviert die gegenseitige Fürbitte in V. 16b mit der Zusage: »Viel vermag das wirkmächtige Gebet eines Gerechten.« Die, die hier einander ihre Sünden bekennen und füreinander bitten sollen, sind also Gerechte, deren Gebet viel vermag. Der Text bestätigt damit, dass Gerechtigkeit im Jak nicht mit Vollkommenheit identisch ist und nicht Sündlosigkeit zur Voraussetzung hat. 25 Auch Jak 1,5 fügt sich hier ein: Jakobus fordert den, dem es an Weisheit mangelt, dazu auf, diese von Gott zu erbitten. Weisheit ist bei Jakobus handlungsorientierte Einsicht. Man braucht sie, um die in der Welt lauernden mannigfaltigen Versuchungen (1,2) zu erkennen und zu bestehen und um das von Gott im Gesetz Gebotene situativ angemessen umzusetzen. Fehlt sie, ist die Gefahr von Fehltritten erhöht. Dem, der sie, wie V. 6 ausführt, in ungeteiltem Glauben erbittet, wird sie von Gott gegeben werden. Dass Gott dabei zugeschrieben wird, dass er nicht schilt (1,5), bekräftigt, dass das Gebet um Weisheit nötig ist, wenn es zu einem Fehltritt gekommen ist: Wie im Gleichnis vom verlorenen Sohn (Lk 15,11-32) hält Gott dem, der sich verfehlt hat, aber nun in ungeteiltem Glauben um Weisheit bittet, um es zukünftig besser zu machen, sein Vergehen nicht vor, sondern er gibt vorbehaltlos. In Anlehnung an 5,16 formuliert: Das Gebet des Gerechten (aber keineswegs Vollkommenen) wird erhört. Der sündige »Zweiseeler« (vgl. 4,8) hingegen wird von Gott nichts empfangen (1,7 f.). Es kann vor diesem Hintergrund nicht überraschen, dass Jakobus das Gericht zwar dezidiert an den Lebenswandel bindet und also in fragloser Selbstverständlichkeit ein Gericht nach den Werken mit doppeltem Ausgang vertritt, er zugleich aber das Bestehen (der Gerechten) im Gericht mit Gottes Barmherzigkeit in Zusammenhang bringt, wie dies im antiken Judentum und im entstehenden Christentum auch anderorts der Fall ist (z. B. PsSal 2,33.36; Philo, Imm 75; Mt 5,7; grApkEsr 1,12). Dies gilt nicht nur für Jak 2,13, wo die Drohung, dass den Unbarmherzigen ein unbarmherziges Gericht erwartet, die Überzeugung impliziert, dass Gott im anderen Fall Barmherzigkeit walten lässt, sondern auch für Jak 5,11, wo das dem standhaften Hiob von Gott bereitete gute Ende gerade nicht mit einem Verweis auf Hiobs Verhalten, sondern mit einem Verweis auf Gottes Barmherzigkeit begründet wird. Selbst ein Hiob erwarb sich also kein Anrecht auf Belohnung, sondern blieb auf das Erbarmen Gottes angewiesen. Auf die Adressaten bezogen: Die Rechtfertigung und Rettung aufgrund von Werken (2,14-26) ist für Jakobus keine von Gott in irgendeiner Weise pflichtmäßig geschuldete Anrechnung von Verdiensten, sondern ein Gnadenakt Gottes (vgl. 4,6). Auf dieser Basis ist nun ferner noch einmal auf Jak 1,15 zurückzukommen: Die von der Begierde hervorgebrachte Sünde gebiert ihrerseits den Tod (vgl. Röm 5,12.21; 6,23), allerdings nicht sogleich, sondern erst dann, wenn sie selbst ausgereift, groß geworden ist. Ohne Bild gesprochen: Zum »Tod« führt nicht bereits eine einzelne, gelegentliche Sünde, sondern das Sündigen, das sich bei einem Christenmenschen soweit entwickelt und ausgebreitet hat, dass es geradezu zur Gewohnheit geworden ist, ja das Wesen dieses Menschen betrifft 26 und dieser insofern als ein »Sünder« (4,8; 5,20) zu klassifizieren ist. »Tod« meint in 1,15 offenkundig nicht bloß das Ende des Lebens im physisch-biologischen Sinn, sondern ist im soteriologischen Sinn zu verstehen. Des Näheren geht es nicht erst um die zukünftige endzeitliche Verdammnis, sondern-- wie auch in 5,19 f.-- um die bereits gegenwärtige Unheilssituation des gottfernen Sünders (vgl. Lk 15,24.32; Eph 2,1-3), die durch das Endgericht irreversibel wird. »Tod« meint also die Unheilssituation, aus der Gott die Christen mit der »Geburt« durch das »Wort der Wahrheit« herausgeführt hat (1,18). Wer die durch die Einstiftung des Wortes (1,21) eröffnete Lebenschance nicht ergreift, sondern der Begierde nicht nur einmal erliegt, sondern in seiner Weltliebe das Sündigen zum Habitus werden lässt, fällt in die präkonversionale Todessphäre zurück. Bei den Adressaten, die Jakobus in 4,8 als »Sünder« und »Zweiseeler« bezeichnet, ist dies seines Erachtens der Fall. Fordert Jakobus diese in 4,7-10 zur Umkehr auf, so ist darin impliziert, dass solch ein Rückfall in die Todessphäre kein finales Verdikt bedeutet. Wer umkehrt »Die Rechtfertigung und Rettung aufgrund von Werken (2,14-26) ist für Jakobus keine von Gott in irgendeiner Weise pflichtmäßig geschuldete Anrechnung von Verdiensten, sondern ein Gnadenakt Gottes (vgl. 4,6).« Zeitschrift für Neues Testament_32 typoscript [AK] - 04.10.2013 - Seite 27 - 2. Korrektur ZNT 32 (16. Jg. 2013) 27 Matthias Konradt Sünde im Jakobusbrief und sich in Demut vor Gott erniedrigt, wird erhöht werden (4,10), d. h. durch Gottes Gnadenhandeln (4,6) des Heils (wieder) teilhaftig werden. Der Briefschluss in 5,19 f. nimmt diese Heilsoption auf und leitet daraus einen Appell an die (»gerechten«) Adressaten zur »correctio fraterna« ab. Motiviert wird die Hinwendung zum Sünder dabei nicht mit einer Verbesserung der eigenen Heilsaussichten, sondern ausschließlich mit der möglichen Wendung des Ergehens des anderen: Wer einen Sünder vom Irrtum seines Weges bekehrt, wird seine, d. h. des Sünders, Seele aus dem Tode erretten und eine Menge von Sünden bedecken, d. h. dem sich bekehrenden Sünder wird von Gott vergeben werden. 27 Überblickt man 5,16-20 im Ganzen, so zeigen sich zwei nicht nur graduell unterschiedene Formen der Belastung eines Menschen mit Sünden. Auf der einen Seite stehen für Jakobus gerechte Christen, die sich hier und da verfehlen und denen durch gegenseitiges Bekenntnis der Sünden und Fürbitte Vergebung von Gott zuteil wird. Auf der anderen Seite geht es in 5,19 f. um von der Wahrheit Abgeirrte, die notorisch sündigen und daher förmlich als Sünder rubriziert werden können. Aber nicht nur dem »Gerechten«, sondern auch dem umkehrenden bzw. zurechtgebrachten Apostaten werden die Sünden vergeben, so dass ihm die erneute Rückkehr aus der »Todessphäre«, in die er zurückgefallen ist, in die »Lebenssphäre« nicht verschlossen ist. Zumal der in 4,7-10; 5,19 f. zutage tretende Konnex von Umkehr, Sündenvergebung und Heil macht deutlich, dass die Vorstellung des Gerichts nach den Werken im Jakobusbrief nicht im Sinne einer nach mehr oder weniger strengem oder barmherzigem Maßstab vollzogenen Vergeltung all dessen, was ein Mensch im Laufe seines gesamten Lebens an guten und schlechten Taten angehäuft hat, ausformuliert werden kann. Positiv impliziert dies, dass begangene Sünden nicht als lebenslange Hypothek stehen bleiben. Das, worauf es ankommt, ist, pointiert gesagt, am Ende als Gerechter im Bereich des Lebens angetroffen zu werden (vgl. Ez 18; 33,10-19). Gerechtsein setzt dabei nicht weniger als die ungeteilte Orientierung auf Gott hin und damit an seinem Willen voraus, mit der der Christ das in 1,18 in Erinnerung gerufene Heilshandeln aufnimmt. Der gerechte Lebenswandel eines Christen basiert dabei in Jakobus’ theologischer Konzeption keineswegs allein auf dem eigenen menschlichen Vermögen, sondern er ist durch die Einstiftung des Wortes (1,21) grundsätzlich ermöglicht und er wird ferner durch Gottes Gabe der Weisheit (1,5; 3,17) befördert. Darüber hinaus ist die Anerkennung eines Christen als eines »Gerechten« von der Barmherzigkeit Gottes umfangen, denn auch der Gerechte ist nicht frei von Sünden. Schließlich bleibt auch dem, der, nachdem Gott ihn durch das Wort der Wahrheit ins Leben geführt hat, wieder von der Wahrheit abirrt und in die Todessphäre zurückfällt, der Weg zurück offen. Jakobus’ Rede von den Bedingungen des Heilsempfangs bleibt daher deutlich unterbelichtet, wenn nur auf Sätze geachtet wird, die in eschatologisch-soteriologischer Perspektive das Tun des göttlichen Willens einklagen. 28 Voll ausgeleuchtet ist die Thematik nur, wenn diese Sätze eingeordnet werden in Jakobus’ Gesamtsicht der Beziehung zwischen Gott und Mensch, wenn sie in Beziehung gesetzt werden zu seiner Rede von der Möglichkeit zur Umkehr und der Vergebung der Sünden, wenn Gott nicht nur als fordernder, sondern auch als barmherziger, als den Sündern vergebender Gott in den Blick kommt. 29 Oder anders: Gottes Barmherzigkeit ist ein wesentliches Strukturmoment des gesamten Lebensverhältnisses, das Gott mit der Geburt durch das Wort der Wahrheit eröffnet hat. Anmerkungen 1 »Jakobus« meint den leiblichen Bruder Jesu (Mk 6,3) und Jerusalemer Gemeindeleiter (Apg 12,17; 15,13-21; 21,18-25; Gal 1,19; 2,9.12) namens Jakobus. Gewichtige Gründe sprechen allerdings dafür, dass der Brief als pseudepigraphisch zu werten ist. Siehe dazu M. Konradt, »Jakobus, der Gerechte«: Erwägungen zur Verfasserfiktion des Jakobusbriefes, in: J.Frey, (Hg.) Pseudepigraphie und Verfasserfiktion in frühchristlichen Briefen/ Pseudepigraphy and Author Fiction in Early Christian Letters (WUNT 246), Tübingen 2009, 575-597. 2 C. Burchard, Der Jakobusbrief (HNT 15/ I), Tübingen 2000, 74. 3 Burchard, Jakobusbrief 74. Anders aber H. Lichtenberger, Das Ich Adams und das Ich der Menschheit: Studien zum Menschenbild in Römer 7 (WUNT 164), Tübingen 2004, 252, zu Jak 1,15: »›Sünde‹ ist in dieser Reihe der Personifikationen gewiß nicht lediglich die Tatsünde, sondern die zu ihrem Ziel kommende Macht, die den Tod hervorbringt«. 4 Zur Gliederung vgl. M. Konradt, Der Jakobusbrief, in: Einleitung in das Neue Testament (KThSt 6), Stuttgart 2008, 496-510: 496-499. 5 Siehe dazu S. Wenger, Der wesenhaft gute Kyrios: Eine exegetische Studie über das Gottesbild im Jakobusbrief (AThANT 100), Zürich 2011. 6 Mk 4,19; Joh 8,44; Röm 1,24; 6,12; 13,14; Gal 5,24; Eph 2,3; 4,22; 1Tim 6,9; Tit 2,12; 3,3; 1Petr 1,14; 2,11; 4,2.3; 2Petr 2,18; 3,3; Jud 16.18; Did 1,4; 5,1; 1Klem 3,4; 2Klem 16,2; 17,3; 19,2; Polyk; 2Phil 5,3; 7,1; Herm, Vis III 7,2.3; M XI 2 u. ö. 7 Vgl. für viele M. Dibelius, Der Brief des Jakobus (KEK 15), Göttingen 12 1984, 124; H. Frankemölle, Der Brief Zeitschrift für Neues Testament_32 typoscript [AK] - 04.10.2013 - Seite 28 - 2. Korrektur 28 ZNT 32 (16. Jg. 2013) Zum Thema des Jakobus (ÖTBK 17/ 1), Gütersloh 1994, 285-288; W.T. Wilson, Sin as Sex and Sex with Sin: The Anthropology of James 1: 12-15, HThR 95 (2002), 147-168: 159, der zudem betont, dass die Begierde als »a female figure« dargestellt werde. 8 Vgl. F. Mußner, Der Jakobusbrief (HThK XIII/ 1), Freiburg 5 1987, 88; P. Davids, The Epistle of James: A Commentary on the Greek Text (NITGC), Grand Rapids (MI) 1982, 84. 9 Siehe z. B. Mußner, Jakobusbrief 89. Frankemölle denkt sogar an »literarische Rezeption« (Zum Thema des Jakobusbriefes im Kontext der Rezeption von Sir 2,1-18 und 15,11-20, BN 48 (1989), 21-49: 34; vgl. ders., Brief des Jakobus, Bd. 1, 190 ff.278 f.), was bei ihm im Rahmen seiner These zu sehen ist, der Jak sei insgesamt »eine relecture von Jesus Sirach« (a. a. O., 85). 10 Ausführlich dazu M. Konradt, Christliche Existenz nach dem Jakobusbrief: Eine Studie zu seiner soteriologischen und ethischen Konzeption (StUNT 22), Göttingen 1998, 67-100. 11 Ausführlich zur Interpretation der Wendung »Gesetz der Freiheit« Konradt, Existenz 92-99. 12 Der Gedanke der Universalität der Sünde ist in der antiken Welt weit verbreitet. Siehe die Belegsammlung in Konradt, Existenz 275, Anm. 43. 13 Siehe Jak 1,2.16.19; 2,1.5.14; 3,1. 10. 12. 14 Zur Möglichkeit des Bezugs von »in den Gliedern« auf die »Lüste« statt auf das Partizip »die zu Felde ziehenden« s. Konradt, Existenz 87.-- Die Verortung der Begierde im Innern des Menschen in 1,14 f. sowie der Lüste in den Gliedern in 4,1 entspricht anthropologisch der Verbindung der Begierde mit dem »Fleisch« in anderen frühchristlichen Schriften (Gal 5,16.24; Eph 2,3; 1Petr 2,11; 2Petr 2,10.18; 1Joh 2,16; Did 1,4; Barn 10,9; auch Röm 13,14). 15 W. Schrage, Der Jakobusbrief, in: H. Balz (Hg.), Die »Katholischen« Briefe: Die Briefe des Jakobus, Petrus, Johannes und Judas (NTD 10), Göttingen 14 1993, 5-59: 45. 16 Vgl. Mußner, Jakobusbrief 178. 17 Siehe ferner z. B. Philo, All 3,149; Dec 146-151; SpecLeg 4,80-82 oder Sextus, Sentenzen 274b. 18 Vgl. Jer 2,20-33; 3,1-13; 13,27; Ez 16,15-63; (23); Hos 1-3; 4,12 f.; 9,1; TestMos 5,3 und öfter. 19 Vgl. die Rezeption des Mammonwortes in 2Klem 6,1-7. Ausführlich zum traditionsgeschichtlichen Befund zu Jak 4,4 Konradt, Existenz 131-134. 20 Zur Auflösung der Genitivkette s. C. Burchard, Zu einigen christologischen Stellen des Jakobusbriefes, in: Anfänge der Christologie, FS F. Hahn, Göttingen 1991, 353-368: 354-358. 21 Vgl. ferner z. B. äthHen 62,16; syrApkBar 48,49; 51,1-16; Röm 5,2; 8,17 f.21.30; 1Petr 5,1. 4. 10. 22 Zur Deutung s. Konradt, Existenz 138 f. 23 Zur Auslegung des Verses vgl. Konradt Existenz 152-154. 24 Ausführlich zur Deutung von Jak 2,14-26 Konradt, Existenz 207-248. 25 Zur Interpretation von Jak 5,15 f. vgl. Konradt, Existenz, 191; A. Wypadlo, Viel vermag das inständige Gebet eines Gerechten (Jak 5,16): Die Weisung zum Gebet im Jakobusbrief (fzb 110), Würzburg 2006, 290-319: 316-319. 26 Ähnlich W. Beyschlag, Der Brief des Jacobus (KEK 15), Göttingen 4 1882, 68; F. Hauck, Der Brief des Jakobus (KNT 16), Leipzig 1926, 63; J.B. Adamson, James: The Man and His Message, Grand Rapids (MI) 1989, 341; J.B. Mayor, The Epistle of James, Neudr. der 3. Aufl. London 1913, Grand Rapids (MI) 1990, 55: »Sin when full-grown, when it has become a fixed habit determining the character of the man, brings forth death«. 27 Zum Bezug des Personalpronomens in der Rede von »seiner Seele« auf den Sünder sowie dazu, dass »Menge von Sünden« sich nur auf die Sünden des von der Wahrheit Abgeirrten beziehen kann, s. Konradt, Existenz 56 f. 28 Siehe z. B. die Erörterung der Gerichtsthematik bei M. Klein, »Ein vollkommenes Werk«: Vollkommenheit, Gesetz und Gericht als theologische Themen des Jakobusbriefes (BWANT 139), Stuttgart 1995, 163-184, der postuliert: »Einziges Kriterium für den Ausgang des Gerichts ist die Erfüllung der Gebote, des Gesetzes« (178). 29 Treffend M. Karrer, Christus der Herr und die Welt als Stätte der Prüfung: Zur Theologie des Jakobusbriefes, KuD 35 (1989), 166-188: 182: »Das theologische Gesamtprofil des Jak erfährt seine Rundung in der Zuwendung zu den Sündern«.